Matthias Becher
KARL DER GROSSE
C.H.Beck
Als am Weihnachtstag des Jahres 800 Karl in Rom von Papst Leo III. zum Kaiser gekrönt wurde, konnte der Frankenherrscher bereits auf eine eindrucksvolle Karriere zurückblicken. Hinter ihm lagen der Aufstieg vom Sohn eines fränkischen Hausmeiers zum Eroberer Italiens, die erfolgreich betriebene Expansion des Reiches nach Osten und die Überwindung nachhaltiger Widerstände in der eigenen Familie und im Reich. Dem Papst war bewusst, dass er auf diesen mächtigen König aus dem Norden setzen musste und nicht auf den Kaiser im fernen Byzanz, wenn er einen starken Verbündeten für seine Kirche gewinnen wollte, der dauerhaft Schutz und Sicherheit zu garantieren vermochte.
Die vorliegende kleine Biographie Karls des Großen beschreibt die Persönlichkeit und das politische und militärische Wirken des ersten fränkischen Kaisers, bietet aber zudem einen Überblick über die Entwicklung des fränkischen Reiches seit den Tagen der Merowinger und skizziert das Nachleben des Mythos von Kaiser Karl als Held und Heiliger.
Matthias Becher lehrt als Professor für Mittelalterliche Geschichte an der Universität Bonn. Er ist ausgewiesen durch einschlägige Publikationen zur Geschichte des Frühmittelalters und insbesondere zu Karl dem Großen. Von ihm ist ferner im Verlag C.H.Beck erschienen: «Chlodwig I. Der Aufstieg der Merowinger und das Ende der antiken Welt» (2011) und «Otto der Große. Kaiser und Reich» (2012).
Einleitung
1. Der Höhepunkt einer Regierung: Die Kaiserkrönung Karls am Weihnachtstag des Jahres 800
2. Vom Untergang des Römischen Reiches im Westen bis zu Karls Herrschaftsantritt 768: Eine kurze Geschichte des Frankenreiches
3. Karls Jugend und erste Regierungsjahre: Vom Sohn eines Hausmeiers zum Eroberer Italiens
4. Die Ausdehnung des Frankenreiches nach Osten: Sachsen, Bayern und Awaren
5. Karl, das Papsttum und der byzantinische Kaiser
6. Die Lenkung des Reiches
7. Karls Familie und die Regelung seiner Nachfolge
8. Held und Heiliger: Das Nachleben Karls im Mittelalter
Zeittafel
Kommentierte Kurzbibliographie
Gesamtdarstellungen
Literatur zu ausgewählten Einzelaspekten
Personenregister
Fußnoten
Wie kein anderer mittelalterlicher Herrscher ist Karl der Große auch heute noch einem breiteren Publikum bekannt. Mit seiner Person verbindet man fast automatisch die Vorstellung von historischer Größe. In anderen europäischen Sprachen sind Name und Beiname sogar zu einer untrennbaren Einheit verschmolzen: Charlemagne oder Carolomagno. Ohne Zweifel war er ein bedeutender Herrscher, wie ist es aber um seine Persönlichkeit bestellt? Was wissen wir über den Charakter und die menschlichen Qualitäten des «großen Karl»? Anders als bei anderen Herrschern ist für die Beantwortung dieser Frage die Quellenlage für Karl vergleichsweise gut. Besitzen wir doch aus der Feder eines engen Vertrauten eine Lebensbeschreibung Karls, die nahezu zeitgenössisch ist. Der aus einem ostfränkischen Adelsgeschlecht stammende und umfassend gebildete Einhard war Ende des 8. Jahrhunderts an Karls Hof gekommen und hatte rasch Karriere gemacht. Seine Vita Karoli magni verfasste er rund zehn Jahre nach dem Tod des Kaisers. Allgemein beschränkten sich mittelalterliche Beobachter eines Monarchen zumeist darauf, ihn als einen idealen Herrscher darzustellen, der einem allgemeingültigen christlichen Tugendkatalog vorbildlich entsprach. Der individuelle Charakter war dagegen uninteressant. Einhard verzichtete zwar auf die Hervorhebung der christlichen Tugenden, betonte aber auch seinerseits allgemeingültige, statische Eigenschaften: Karl habe etwa «alle Herrscher seiner Zeit an Weisheit und Seelengröße» überragt. Seine Ausführungen über das Privat- und Familienleben des Kaisers leitete Einhard mit einem Verweis auf dessen Beständigkeit in Glück und Unglück ein. Die Feindschaft der byzantinischen Kaiser habe er ebenfalls mit großer Geduld und Seelengröße ertragen. Daneben zeichnet Einhard aber auch ein äußerst lebendiges Bild Karls des Großen:
Er war von breitem und kräftigem Körperbau, hervorragender Größe, die jedoch das richtige Maß nicht überschritt – denn seine Länge betrug, wie man weiß, sieben seiner Füße –, das Oberteil seines Kopfes war rund, seine Augen sehr groß und lebhaft, die Nase ging etwas über das Mittelmaß, er hatte schönes graues Haar und ein freundliches, heiteres Gesicht. So bot seine Gestalt im Stehen wie im Sitzen eine höchst würdige und stattliche Erscheinung, wiewohl sein Nacken feist und zu kurz, sein Bauch etwas hervorzutreten schien: das Ebenmaß der andern Glieder verdeckte das. Er hatte einen festen Gang, eine durchaus männliche Haltung des Körpers und eine helle Stimme, die jedoch zu der ganzen Gestalt nicht recht passen wollte; seine Gesundheit war gut, außer daß er in den vier Jahren vor seinem Tode häufig von Fiebern ergriffen wurde und zuletzt auch mit einem Fuße hinkte. Aber auch damals folgte er mehr seinem eigenen Gutdünken als dem Rat der Ärzte, die ihm beinahe verhaßt waren, weil sie ihm rieten, dem Braten, den er zu speisen pflegte, zu entsagen und sich an gesottenes Fleisch zu halten. Beständig übte er sich im Reiten und Jagen, wie es die Sitte seines Volkes war. (…) Sehr angenehm waren ihm auch die Dämpfe warmer Quellen; er übte sich fleißig im Schwimmen und verstand das so trefflich, daß man ihm keinen darin vorziehen konnte. Darum erbaute er sich auch zu Aachen einen Königspalast und wohnte in seinen letzten Lebensjahren bis zu seinem Tode beständig darin. Und er lud nicht bloß seine Söhne, sondern auch die Vornehmen und seine Freunde, nicht selten auch sein Gefolge und seine Leibwächter zum Bade, so daß bisweilen hundert und mehr Menschen mit ihm badeten.[1]
So groß wird das Gedränge vielleicht doch nicht gewesen sein, da Einhard zu Übertreibungen neigte, oft zugunsten seines Helden und zu dessen Idealisierung. Einhard lehnte sich zudem in seinen Formulierungen eng an die Viten, die Lebensbeschreibungen, der römischen Kaiser aus der Feder des antiken Autors Sueton an. Nur wenige Details hat er frei formuliert. Seine Angabe über Karls Körpergröße wurde durch Messungen an dessen Skelett in etwa bestätigt; der Kaiser war tatsächlich über 1,80 Meter groß, entsprechend sieben Fuß. Immerhin erwähnte er kleine äußerliche Makel des großen Herrschers: die Riesennase, den kurzen Hals, den Hängebauch und die Fistelstimme, so dass vielleicht auch anderen Angaben zu trauen ist. Den Charakter des Herrschers thematisiert unser Gewährsmann nicht eigens, doch lassen sich manche Schwächen zumindest erahnen – Eigensinn, die Neigung zur Völlerei und der Drang, ständig im Mittelpunkt einer großen Gesellschaft stehen zu müssen. Das spiegelt sich in Einhards Feststellung, dass Karl leicht Freundschaften geschlossen habe, also ein sehr offener Mensch gewesen sei. Die Vorliebe für gutes Essen muss sehr eindrücklich gewesen sein, denn Einhard betonte auch an anderer Stelle den Appetit des Kaisers: «Im Essen jedoch konnte er nicht so enthaltsam sein, vielmehr klagte er häufig, das Fasten schade seinem Körper.» Trunkenheit jedoch habe er stets verabscheut, nicht nur bei sich selbst, sondern auch bei anderen.
Auch andere persönliche Züge lässt Einhard aufscheinen, so etwa eine gewisse Redseligkeit: «Reich und überströmend floß ihm die Rede vom Munde, und was er wollte, konnte er leicht und klar ausdrücken. (…) Er war so beredt, daß er sogar geschwätzig erscheinen konnte.» Dieser nach außen gewandte Charakter zeigte sich besonders deutlich bei traurigen Anlässen. Karl habe den Tod seiner Söhne und einer Tochter «mit weitaus weniger Fassung (ertragen), als man bei der bewundernswerten Größe seines Geistes erwartet hätte. Seine Vaterliebe war so groß, und er vergoß viele Tränen. Auch damals, als er vom Tode des römischen Papstes Hadrian erfuhr, den er von allen seinen Freunden am meisten geliebt hatte, weinte er so sehr, als habe er einen Bruder oder seinen liebsten Sohn verloren.» Die Liebe zu seinen Töchtern sei so groß gewesen, dass er ihnen nicht gestattet habe zu heiraten. Das Bild eines geselligen Patriarchen entsteht vor unseren Augen, der in persönlichen Angelegenheiten auch bescheiden sein konnte; so habe Karl große Gastmähler nur an hohen Festtagen veranstaltet, fast immer einfache Kleidung getragen und nur bei feierlichen Gelegenheiten entsprechende Gewänder oder gar fremdländische Roben angelegt.
Weiter pflegte Karl laut Einhard einen unregelmäßigen Lebenswandel, der stark an den des ersten römischen Kaisers Augustus erinnert: Während er im Sommer nach dem Mittagessen zwei bis drei Stunden ruhte, unterbrach er nachts «den Schlaf vier- oder fünfmal, indem er nicht bloß aufwachte, sondern auch aufstand. Während er Schuhe und Kleider anzog, ließ er nicht allein seine Freunde vor, sondern wenn der Pfalzgraf von einem Rechtsstreite sprach, der nicht ohne seinen Ausspruch entschieden werden könne, so hieß er die streitenden Parteien sofort hereinführen und sprach nach Untersuchung des Falls das Urteil, als säße er auf dem Richterstuhl; und das war nicht das einzige, sondern was er für diesen Tag von Geschäften zu tun und einem seiner Diener aufzutragen gab, das besorgte er zu dieser Stunde.» Des Nachts soll Karl auch das Schreiben geübt haben, allerdings mit wenig Erfolg. Schreiben und Lesen bildeten im Mittelalter keine Einheit; so ist es umstritten, wie weit Karls Lesekünste reichten. Seine Wissbegierde trieb ihn jedenfalls dazu, sich mit den Wissenschaften seiner Zeit zu beschäftigen. Selbst für die Astronomie und den Lauf der Gestirne interessierte er sich, und bei Tisch ließ er sich gar aus den Werken des heiligen Augustin vorlesen. Ob er allerdings wirklich ein persönliches Interesse an höherer Bildung hatte, muss dahingestellt bleiben. Zur Tischlektüre gehörten immerhin laut Einhard «die Geschichten und Taten der Alten», und auch Musik wurde zu Gehör gebracht. Mit beidem konnte der Herrscher vermutlich mehr anfangen als mit jenen hochgelehrten Traktaten.
Trotz der eindrücklichen Beschreibung seines Äußeren und mancher Charakterzüge Karls wird es nicht möglich sein, eine Biographie über ihn zu schreiben, die modernen Anforderungen genügt; zu sehr ist Einhards Darstellung bestimmten Stereotypen verhaftet, und zudem fehlen persönliche Dokumente, die über Karls Denken und Fühlen Auskunft geben könnten. Erhalten haben sich lediglich Quellen, die seine Handlungen einigermaßen ausführlich schildern und daher eine politische Biographie zulassen. Doch auch mit diesem reduzierten Anspruch stößt der moderne Historiker bald an seine Grenzen: Über seine Motive schweigen sich die Quellen meist aus. Daher ist auch die Frage nach seinem Erfolg letztlich nicht eindeutig zu beantworten. Sicherlich war etwa die Eroberung Sachsens ein Gewinn für das Frankenreich; aber war es ein Erfolg angesichts der Opfer und angesichts der Tatsache, dass Karl hierfür rund 30 Jahre benötigte? So ist dieses Bändchen wie jede andere moderne Biographie eines früh- oder hochmittelalterlichen Herrschers eine individuelle Interpretation, die auf einer jahrelangen Beschäftigung mit den Quellen und der Literatur beruht.
St. Petrus überreicht Karl dem Großen eine Fahnenlanze und Leo III. die Stola, als Zeichen der weltlichen und geistlichen Herrschaft. Im 18. Jh. restauriertes Mosaikbild vom Triclinium Leos III. im Lateran zu Rom; aus L. Stacke, «Deutsche Geschichte», 1. Band, Bielefeld (41888).
Das Fest der Geburt Jesu im Jahr 800: Am Morgen des Weihnachtstages betrat Karl der Große St. Peter in Rom, um an der dritten Weihnachtsmesse teilzunehmen, die der Papst dort nach altem Brauch feierte. Liegend betete man die Oratio. Als Karl sich erhob, nahm Leo III. eine Krone und setzte sie dem Frankenkönig aufs Haupt. Den anwesenden Römern war die Bedeutung dieser Handlung sogleich bewusst, denn sie akklamierten Karl als Kaiser, indem sie dreimal unter Anrufung der Heiligen riefen: Carolo piissimo augusto, a Deo coronato magno et pacifico imperatore (sic), vita et victoria! – «Karl, dem überaus frommen Augustus, dem von Gott gekrönten großen und Frieden stiftenden Kaiser, Leben und Sieg!» Nach altem Herkommen ehrte der Papst den neuen Kaiser mit einem Fußfall.
Die Ereignisse des Weihnachtstages 800 waren spektakulär und hatten weitreichende Folgen. Damals wurde das mittelalterliche Kaisertum begründet, das in Form des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation bis zum Jahr 1806 fortbestehen sollte. Zugleich wurde dieses Kaisertum eng an das Papsttum gebunden, obschon Karl dies keinesfalls so beabsichtigt hatte. Auch den Zeitgenossen muss die Bedeutung dieses Aktes bewusst gewesen sein; denn mit ihm forderte Karl Byzanz heraus, das sich als bruchlose Fortsetzung des alten Imperium Romanum verstand. Bislang war der in Konstantinopel residierende oströmische Kaiser auch im Westen Europas der allgemein anerkannte Inhaber der höchsten weltlichen Gewalt gewesen. Kein fränkischer, langobardischer oder gotischer König hatte jemals ernsthaft diesen Vorrang bestritten. Auch für die Päpste war der Kaiser bis zu Leos Vorgänger Hadrian in theologischen Angelegenheiten der wichtigste Partner geblieben, während der Frankenkönig den weltlichen Schutz des Papstes und der Stadt Rom übernehmen durfte. Karl blieb ohne den Kaisertitel bei aller realen Macht zweitrangig und musste hinter den alten höchsten Repräsentanten der geistlichen und der weltlichen Gewalt, dem Papst und dem Kaiser im Osten, zurückstehen.
Unruhen in der Ewigen Stadt standen am Anfang einer Entwicklung, die schließlich zur Kaiserkrönung Karls führen sollte. Im Jahr 795 war Papst Hadrian gestorben. Sein Nachfolger Leo III. entstammte im Gegensatz zu seinem Vorgänger nicht den adligen Führungsschichten der Stadt Rom, sondern verdankte seinen Aufstieg ausschließlich dem Dienst in der römischen Kirche. Schon bald kam es zu Spannungen zwischen dem neuen Papst und der Aristokratie, über die uns die zeitgenössischen Quellen im Unklaren lassen, doch dürfte es um die Verteilung von Macht und Einfluss innerhalb der Stadt Rom und in ihrem Umland gegangen sein. An der Spitze der Unzufriedenen standen Paschalis, ein Neffe Hadrians, und Campulus, beide hohe päpstliche Verwaltungsbeamte, die bereits Hadrian gedient hatten. Am Markustag, dem 25. April, des Jahres 799 nutzten die Aufrührer eine Prozession durch Rom, um einen Umsturz herbeizuführen. Der Papst wurde ergriffen und misshandelt, ja man wollte ihn sogar blenden und ihm die Zunge herausschneiden. Solche Verstümmelungen dienten dem Ziel, das Opfer auf Dauer amtsunfähig zu machen. Tatsächlich wurde dem Papst wohl auch in der Kirche des Klosters San Silvestro in Capite ein förmlicher Absetzungsprozess gemacht. Anschließend wurde er zunächst dort, dann im Kloster San Erasmo in Monte Celio inhaftiert.
Doch die Verschwörer wagten nicht, einen neuen Papst einzusetzen, ohne zuvor den Frankenkönig Karl eingeschaltet zu haben, der Ober- und Mittelitalien machtpolitisch beherrschte. Er hatte Leo schließlich förmlich anerkannt, der ihm sogar anlässlich seiner Wahl die Schlüssel zum Grab des hl. Petrus und das Banner der Stadt Rom übersandt und so Karls Rolle als Schutzherr Roms unübersehbar herausgestellt hatte; ihn durften die Umstürzler nicht übergehen, wenn sie mit ihrem Vorhaben Erfolg haben wollten. Paschalis und Campulus mussten die notwendigen Konsultationen nicht fürchten, repräsentierten sie doch auf Grund ihrer Nähe zu dem von Karl geschätzten Papst Hadrian eine Gruppierung, die am fränkischen Hof vermutlich wohlgelitten war. In der Tat erschienen im Frühsommer fränkische Abgesandte in der Ewigen Stadt. Freilich gestaltete sich das weitere Geschehen nicht so, wie es sich die Verschwörer erhofft hatten. Es kam vermutlich zu Spannungen zwischen ihnen und den Vertretern Karls. Zudem hatte deren Anwesenheit, möglicherweise sogar ihr Eingreifen, Leos Befreiung ermöglicht. Die Situation war derart kompliziert geworden, dass nur Karl selbst die Angelegenheit entscheiden konnte. Der Papst und möglicherweise auch eine Abordnung seiner Gegner wurden daher nach Norden geleitet, um ihre Standpunkte am fränkischen Hof zu verteidigen.
König Karl hatte trotz der Nachricht vom Umsturz seinen für 799 anstehenden Zug nach Sachsen nicht aufgegeben, obwohl er zeitweise geplant hatte, in Rom zu erscheinen. Stattdessen überquerte er von Aachen aus den Rhein und verbrachte den Sommer in der Pfalz Paderborn, während sein Sohn Karl weiter zur Elbe zog und die aufständischen Sachsen bekriegte. Solange der Papst und seine Feinde unterwegs waren, wurde am fränkischen Hof über das weitere Vorgehen intensiv beraten, wie wir aus den Briefen Alkuins, des Leiters der Hofschule Karls, erfahren. Alkuin machte sich einen Rechtssatz der berüchtigten «Symmachianischen Fälschungen» vom Anfang des 6. Jahrhunderts zu eigen: Prima sedes a nemine iudicatur, «der erste Sitz (gemeint ist der Papst) wird von niemandem gerichtet». Am Königshof standen dagegen zeitweise Leo selbst und seine Stellung als Papst zur Debatte. Ankläger – wohl Abgesandte der römischen Verschwörer – traten auf, die Leo Ehebruch und Meineid vorwarfen. Die Vorwürfe waren derart gravierend und brisant, dass Alkuin einen Brief darüber verbrannte, «damit nicht etwa durch eine Nachlässigkeit des Briefbewahrers ein Ärgernis entstehen könne». Doch schließlich setzten sich die ‹Verteidiger› des Papstes durch. Zudem wird man davon ausgehen können, dass Leo auf jede erdenkliche Weise versuchte, Karl auf seine Seite zu ziehen. Zu bieten hatte er – das Kaisertum.
Am Ende des 8. Jahrhunderts war in der päpstlichen Kanzlei das Constitutum Constantini entstanden, die sogenannte Konstantinische Schenkung. Der römische Kaiser Konstantin der Große (306–337) soll einst der Legende nach aus Dankbarkeit für seine Heilung vom Aussatz dem römischen Bischof Silvester folgende Zugeständnisse gemacht haben: Er erkannte den Vorrang Roms über alle Kirchen an, verlieh dem römischen Oberhirten die kaiserlichen Abzeichen, schenkte ihm den Lateranpalast und außerdem die Stadt Rom sowie Italien und die abendländischen Provinzen. Anschließend habe sich der Kaiser in die nach ihm benannte Stadt am Bosporus zurückgezogen und sich mit der Herrschaft über den Osten begnügt. Wenn der Papst tatsächlich diese Vorstellungen teilte, dann war es nicht weit zu dem Gedanken, dass ihm bei der Vergabe des Kaisertums ein gewichtiges Mitspracherecht einzuräumen sei. Auch Karl muss dies nicht von vornherein abgelehnt haben, hatte sich doch bereits sein Vater Pippin an Rom gewandt, als er seinen merowingischen Vorgänger stürzen wollte, um selbst die Königswürde zu erwerben. Mochten auch Pippin und Karl dem Willen des Papstes nur dann folgen, wenn es ihnen politisch opportun schien, und ansonsten selbstherrlich ihr Reich und dessen Kirchen regieren – zur Legitimierung neuer Würden war ihnen der Nachfolger des hl. Petrus stets willkommen. Schließlich war der Papst weitgehend auf sein großes geistliches Ansehen beschränkt und von daher keine Gefahr für die reale Macht der Karolinger.
Seine Hinwendung zu den Franken machte Leo III. in Rom selbst symbolisch deutlich. Das Triclinium des Lateran und damit den wichtigsten päpstlichen Repräsentationssaal ließ er wohl gerade in dieser Zeit mit bemerkenswerten Mosaiken schmücken. In der Apsis war die Aussendung der Apostel durch Christus zu sehen. Die Stirnwand links daneben zeigte vermutlich den thronenden Christus, der dem aus seiner Sicht rechts neben ihm knienden hl. Petrus als Zeichen seiner Würde das Pallium (eine Stola) und dem links neben ihm knienden Kaiser Konstantin dem Großen das Labarum (die Kaiserstandarte) verlieh. Entsprechend war auf der rechten Seite der Apsis der thronende hl. Petrus abgebildet, der dem Papst Leo das Pallium, dem König Karl ein vexillum, eine Fahnenlanze, überreichte. Die Inschrift darunter lautete: «Heiliger Petrus gib Papst Leo das Leben und König Karl den Sieg.» Peter Classen hat die Mosaiken folgendermaßen gedeutet: «Hier stellte man wie den Papst zum heiligen Petrus, so den Frankenkönig mit Krone und Schwert in Parallele zu Konstantin, dem Begründer des christlichen Kaisertums, man ließ ihn das Zeichen des weltlichen Schutzes vom heiligen Petrus empfangen. Das war kein Ausdruck staatsrechtlicher Hoheit, wohl aber eine Proklamation, daß der Schutz – d.h. der unmittelbare, von Gott und dem heiligen Petrus herrührende Schutz für die Römische Kirche, den Papst und die Stadt Rom selbst nicht den Nachfolgern Konstantins im Osten, sondern dem König der Franken aufgegeben war (…) Rom brachte mit diesem Bild in aller Deutlichkeit zum Ausdruck, daß es sich von Konstantinopel ab- und den Franken zugewandt hatte, daß Karl an die Stelle Konstantins getreten war.»
Dagegen zeigt der weitere Fortgang der Ereignisse, wie es um die realen Machtverhältnisse bestellt war. Karl bereinigte die Vorwürfe gegen den Papst nicht sofort, sondern behandelte sie gleichsam als Faustpfand. Zwar begleiteten in seinem Auftrag zahlreiche fränkische Bischöfe den Papst noch im Herbst 799 nach Rom und führten dort auch eine Untersuchung durch – bezeichnenderweise im Triclinium des Lateran –, doch das Ergebnis war aus Sicht des Papstes enttäuschend: Die Verschwörer wurden lediglich ins fränkische Exil geschickt und die Vorwürfe gegen ihn nicht endgültig ausgeräumt. Nach wie vor war Leo von der Sympathie und der Hilfe Karls abhängig.
Karl selbst war von Paderborn nach Aachen zurückgekehrt. Anfang des Jahres 800 entließ er eine Gesandtschaft des Patriarchen von Jerusalem, die ihm Reliquien vom hl. Grab überbracht hatte. Als Begleitung gab er ihr den Priester Zacharias mit, der kurz vor der Kaiserkrönung in Rom erschien und seinem König Bericht erstattete. Zacharias hat also möglicherweise schon bei Antritt seiner Reise gewusst, dass sich Karl am Ende des Jahres in Rom aufhalten würde. Auch Karls Aktivitäten während des Jahres 800 weisen darauf hin, dass er große Ziele verfolgte. Im Frühjahr unternahm er eine Rundreise durch sein Reich. In Tours traf er sich nicht nur mit Alkuin, sondern hielt auch eine Art Familienkonferenz mit seinen drei Söhnen Karl, Pippin und Ludwig ab. Ausdrücklich vermerkt der anonyme Biograph Ludwigs, dass das Treffen der Planung des Italienzuges gedient habe.
Eine leichte Verzögerung mag eingetreten sein, weil Karls Gemahlin Liutgard am 4. Juni in Tours starb. Anfang August hielt Karl in Mainz eine Versammlung ab und brach dann nach Italien auf. In Ravenna legte er eine Pause von sieben Tagen ein und entsandte seinen Sohn Pippin in das unabhängige Fürstentum Benevent, um dort Beute zu machen. Er selbst zog nach Rom und wurde vom Papst und den Römern am 23. November in Mentana, zwölf Meilen vor Rom, feierlich empfangen. Nach einem gemeinsamen Essen zog der Papst dem König nach Rom voraus und schickte ihm zu seinem Einzug am nächsten Tag die Fahnen der Stadt entgegen. Er ließ «an den entsprechenden Stellen Scharen von Fremden und Bürgern» Aufstellung nehmen, die Karl mit Lobgesängen willkommen hießen, während er selbst zusammen mit der Geistlichkeit und den Bischöfen Karl auf den Stufen von St. Peter empfing. Bereits dieses Zeremoniell war eines Kaisers würdig, denn einem Kaiser zog der Papst üblicherweise bis zum sechsten Meilenstein vor der Stadt entgegen, nun sogar bis zum zwölften. Karl selbst war bislang in seiner Eigenschaft als patricius Romanorum, als Schutzherr Roms, am ersten Meilenstein und nicht vom Papst selber empfangen worden. Alle Beteiligten müssen sich über diese Veränderung und ihre Bedeutung im Klaren gewesen sein.
Doch Karl wurde in Rom nicht nur wie ein Kaiser empfangen, er verhielt sich auch schon vor seiner Krönung gerade so wie der höchste Inhaber der weltlichen Gewalt auf Erden. Eine Woche nach seiner Ankunft rief er die anwesenden geistlichen und weltlichen Großen zu einer Synode zusammen, und das auf dem Boden der alten Kaiserstadt Rom am Sitz des Papstes. Auch der wichtigste Gegenstand der Konzilsverhandlungen war eines Kaisers würdig: Verhandelt wurden die Vorwürfe gegen Papst Leo III., die ja – möglicherweise gemäß den Wünschen Karls – noch immer nicht vollständig aus der Welt geschafft waren.
Diese Verhandlungen zogen sich wochenlang hin. Anscheinend konnte die versammelte Elite des Frankenreiches und Roms das wichtigste Problem nicht lösen: die Klärung der gegen den Papst erhobenen Vorwürfe. Niemand wollte ihre Richtigkeit beweisen oder gar als Ankläger gegen den Papst auftreten. Auf der anderen Seite mussten diese Anschuldigungen entkräftet werden, wenn in Rom wieder Ruhe einkehren sollte. Schließlich bequemte sich Leo zu einem Reinigungseid. Am 23. Dezember bestieg er den Ambo – die Kanzel – der Peterskirche und erklärte feierlich, während er die Evangelien hochhielt, dass die gegen ihn erhobenen Vorwürfe nicht zuträfen. Damit waren die Anklagen auf jeden Fall erledigt, denn ein solcher, korrekt und ohne formalen Fehler gesprochener Eid bewies für die Zeitgenossen unzweifelhaft die Richtigkeit der beschworenen Aussage. Die Erleichterung der Kirchenversammlung war so groß, dass sie sogleich einen Dankgottesdienst abhielt. Das Verfahren kehrte sich nun jedoch nicht etwa gegen die römischen Verschwörer, deren Anschuldigungen Leo mit seinem Eid als falsch erwiesen hatte, sondern die Kirchenversammlung behandelte ein anderes Thema.
nomen imperatorisnomen imperatoris