C.H.Beck
Erschwindelte Doktortitel, gefälschte Kunstwerke, getürkte Kriegsanlässe – in der Geschichte der Menschheit gibt es nichts, was noch nicht gefälscht worden wäre. Misstrauen ist also angebracht: Wenn Aristoteles plötzlich Französisch schreibt, mag der ein oder andere stutzig werden; dass der Briefträger Gert Postel es zum Oberarzt brachte, ohne je Medizin studiert zu haben, fiel hingegen nur durch Zufall auf.
Mit einem Augenzwinkern durchkämmt Peter Köhler unsere Geschichte, liest das Markus-Evangelium als schlechte Übersetzung einer Cäsar-Biografie und stellt fest, dass die Existenz des heutigen Staates Österreich womöglich auf einer Fälschung beruht. Auf seinem Streifzug von der Steinzeit bis in die Gegenwart enthüllt er, wie sich Dichter und Denker, Künstler und Kaiser, Päpste und Politiker die Wirklichkeit zurechtbogen; er zeigt die Geheimnisse guten Täuschens – und wie selbst aufgeflogene Fälschungen noch Jahrhunderte später Weltgeschichte schrieben.
Peter Köhler ist Journalist und Schriftsteller. Er arbeitet als Literaturkritiker und Satiriker für verschiedene Zeitungen und Zeitschriften und hat zahlreiche Anthologien und Sachbücher veröffentlicht.
Vorwort: «Was wahr und echt, weiß keiner mehr»
Schon die alten Römer …
Die persische Mumie
Die Diepholzer Mumie
Das gefälschte Mittelalter
Die Konstantinische Schenkung
297 Jahre zu viel?
Wilhelm «Toko» Tell
Das Igorlied
Die Patrioten
Die Protokolle der Weisen von Zion
Die Hitler-Tagebücher
Das erste Opfer vor einem Krieg
Die geknechteten Slawonen
Dr. plag.
Grubenhund und Zeitungsente
Eier, flach und in Farben
Die Reportage zwischen Wirklichkeit und Wahrheit
Plagiator Goethe?
Schreiben, Abschreiben und Umschreiben
Ossian und seine blinden Leser
Wer schrieb Scholochows «Stillen Don»?
Die welfische Ente
Als Aldi und Suhrkamp sich fanden
Von Lebens- und Lügenmitteln
Die echten Felix Krulls
Schuhmacher und Hauptmann dazu
«Lügensucht im Dienst der Ich-Erhöhung»
Der Binjamin, dem der Holocaust herzlich Wilkomirski war
Der Rockefeller aus Oberbayern
Hilfsarbeiter und arabischer Prinz
Leute gibt’s, die gibt’s gar nicht
Wer im Lexikon lebt
Die USA in Panik!
Als von Dubček eine Schuhspitze übrig blieb
Wer Lemminge in den Selbstmord treibt
Dosenmilch als Droge und andere Fernsehreportagen
Den Golfkrieg gab es nicht
Der Grubenhund im Fernsehen
Die Ente im Netz
Auf oder hinter dem Mond?
Die Yes Men
Vorsicht, Schreiben vom Amt!
Die Hand Gottes spielte foul
Der Beethoven, der gute Ohren hatte
Wolfgang Beltracchi & Co
Van Gogh oder van jemand anders?
Sie lebten nur in der Kunst
Die Gutenberg-Bibel war nicht schön genug
Michelangelo, der Fälscher
Mehr Giacomettis als von Giacometti
Wer war Jesus?
Das Jesusgrab
Die versauten Christen
Wer war Mohammed?
Die Würzburger Lügensteine
Der Ichthyosaurier, ein armer Sünder
Der amerikanische Goliath
Der erste Engländer: ein Affenmensch
Geprotscherte Frühgeschichte
Moor- oder Papierleichen?
Schwarze Schafe in weißen Kitteln
Der Krebsschaden der medizinischen Forschung
Kein verdoppeltes Lottchen
Kleine Missgriffe großer Forscher
Wissenschaft, die kein Wissen schafft
Kopieren statt studieren
Hauptsache gut formuliert
Postmoderne Grenzüberschreitungen
Kartoffelserver und kranke Kustoden
Steinlaus & Co
Über den Autor
Literaturverzeichnis
Personenregister
Wahrheit ist ein hohes Gut, Wahrheitsliebe eine Tugend. Doch wie jede Tugend stößt sie auf eine Schwierigkeit, die auf den Namen «Praxis» hört. Der lebensnahe Grundsatz zum Beispiel, dass Ehrlichkeit das Wichtigste für einen Kaufmann ist und er gewonnenes Spiel hat, wenn er sie vortäuschen kann: Das gilt ja nicht nur in der Geschäftswelt, sondern scheint sich so ziemlich überall zu bewahrheiten. Durchschnittlich alle acht Minuten und bis zu 200-mal am Tag, das haben grundehrliche Feldforscher in selbstverständlich verlässlichen Studien herausgefunden, sagt der Mensch die Unwahrheit. (Die Dunkelziffer liegt sogar noch höher, denn selbst wenn er nichts sagt, kann das eine Lüge sein, eine durch Verschweigen.)
Obendrein kann man im festen Glauben, ehrlich zu sein, Falsches behaupten: Das Gedächtnis ist kein verlässlicher Informationsspeicher. Es liefert keine korrekte Chronik des eigenen Lebens, sondern klaubt bei Bedarf die passenden Erinnerungen zusammen und arrangiert sie gewissermaßen zu einem Theaterstück über die eigene Vergangenheit, dessen Aufführung jedes Mal etwas anders ausfallen kann – und vielleicht sogar aus der Fantasie eingespielte Szenen enthält, ohne dass es einem bewusst ist.
Auf sich selbst kann man sich also nicht unbedingt verlassen. Auf andere noch weniger. Im Privat- wie im öffentlichen Leben, im persönlichen Alltag wie in Politik und Wirtschaft, in der Kunst und den Massenmedien, in der Wissenschaft und im Sport wird mit böser Absicht oder guten Gewissens manipuliert. Gefälschte Bilder in der Galerie, retuschierte Fotos in der Zeitung, getürkte Reportagen im Fernsehen, Falschmeldungen im Internet, Plagiate in der Literatur, der Musik und der Wissenschaft, unechte Urkunden, fingierte Kriegsanlässe, aber auch falsch deklarierte Lebensmittel… Die Liste ist lang und reicht bis in die Antike, ja noch weiter zurück.
Sie weist Fälschungen von weltgeschichtlicher Tragweite auf wie die Konstantinische Schenkung aus dem 8. Jahrhundert oder die Protokolle der Weisen von Zion; sie verzeichnet große Namen wie Michelangelo, Louis Pasteur oder Bertolt Brecht und lange wie Karl-Theodor Maria Nikolaus Johann Jacob Philipp Franz Joseph Sylvester Freiherr von und zu Guttenberg. Sie enthält Fälle, die eher schmunzeln machen wie die des Hochstaplers Gert Postel oder des Hauptmanns von Köpenick; und sie umfasst Beispiele dafür, dass Fälschung, Betrug und Camouflage der Aufklärung dienen können. Die hatte vor 100 Jahren Arthur Schütz im Sinn, als er der Presse den ersten Grubenhund unterjubelte, heute sind es die Yes Men, die mit ihren Aktionen Weltkonzerne, Wirtschaftsverbände und politische Institutionen bloßstellen.
Es geht eben nicht immer um Geld, Besitz, Macht, Ruhm, Anerkennung, Aufmerksamkeit. Manchmal dient das falsche Spiel einem guten Zweck – was noch im Mittelalter die pia fraus, den frommen Betrug rechtfertigte, den die Kirchenleute ohne Sorge um ihr Seelenheil begingen. Oder man will sich einen Jux machen (und sei’s, um das Gefühl eigener Überlegenheit auszukosten, wenn man andere übertölpelt).
Immer aber gilt: Das Falsche und Unechte muss plausibel sein, es muss einleuchten und überzeugen. Anders gesagt: Jede Zeit hat die Fälscher und die Fälschungen, die sie verdient.
Die Zeiten seit der Antike haben viel verdient, sehr viel. Die Welt steckt bis zum Rand voller Fälschungen. Verständlich ob der Masse an Falschem, Unechtem und Unklarem, dass weithin eine große Sehnsucht nach dem Authentischen und Ursprünglichen waltet – doch vergeblich: Wo «authentisch» draufsteht, ist fast jedes Mal nur glaubhaft Nachgemachtes drin, mit mehr oder weniger Fantasie Nachgespieltes zum Beispiel in manchen Dokumentarfilmen über historische Ereignisse und Persönlichkeiten.
Die folgenden Seiten gewähren einen kleinen Überblick über die großen und kleinen, ernsten und lustigen Fälle, die sich in zweieinhalb Jahrtausenden angesammelt haben und aufgedeckt wurden. Doch so viele Fälschungen auch ans Licht kamen: Man darf davon ausgehen, dass es sich nur um die notorische Spitze des Eisbergs handelt. Jedes Jahr kommen neue Fälle hinzu und werden alte, manchmal Hunderte Jahre zu spät, entdeckt. Noch besser: Wahrheit und Lüge, Wirklichkeit und Fiktion, Original und Kopie, authentisch und nachgeahmt, echt und falsch lassen sich nicht immer unterscheiden. «Was wahr und echt, weiß keiner mehr», sagt Hans Sachs in Richard Wagners Oper «Die Meistersinger von Nürnberg». Ganz so arg ist es nicht, aber einige Beispiele sind auf den folgenden Seiten schon zu finden.
Übrigens: Das Zitat ist falsch.
Wie viel der steinzeitliche Mensch gefälscht hat, weiß man nicht. Dass er es getan hat, schon: Eine hübsche Schummelei hat sich aus dem Neolithikum erhalten, eine Schmuckkette aus 183 Hirschzähnen, von denen allerdings 65 aus Knochen täuschend echt nachgemacht waren.
Unzweifelhaft in großem Stil gefälscht wurde im Altertum. Die römische Oberschicht gierte nach Büsten und Statuen griechischer Art und Herkunft und schmückte ihre Paläste und Gärten nicht nur mit originalen Kunstwerken, sondern auch mit Plagiaten, also vorgeblich von der Hand alter Meister stammenden Stücken. Schon zur Zeit des ersten Kaisers Augustus gab es, wie der Dichter Phaedrus berichtet, einen lebhaften Antiquitätenhandel, der die kunstsinnigen und renommiersüchtigen Patrizier mit Fälschungen versorgte. Desgleichen kamen viele der Edelsteine, die die Reichen zur Schau trugen, aus Werkstätten, die, wie der Philosoph und Staatsmann Seneca erwähnt, sich auf die Fabrikation trügerischen Geschmeides spezialisiert hatten.
Auch literarisch war Griechenland das Vorbild der Römer. Selbst große Autoren scheuten sich nicht abzukupfern, wie Philipp Theisohn in seiner Studie über das «Plagiat. Eine unoriginelle Literaturgeschichte» vor Augen führt. «Vertreib die Kälte, Hölzer auf den Herd/In Fülle lege nach und reichlicher/Bring hervor vier Jahre alten aus dem sabinischen,/o Thaliarch, Wein aus doppelhenkeligem Krug!», dichtete Horaz und wandelte doch bloß in den Spuren oder eher Versen des Alkaios: «Vertreib die Kälte, schüre das Feuer nach/und geiz nicht, wenn du heute den Trunk mir mischst/von süßem Wein». Und wenn Catull schrieb: «Göttergleich, so will es mir scheinen, ja der/Steht noch über den Göttern – wenn dies kein Frevel – /Wer des öftern dir gegenübersitzt, dich/Ansieht und hör, wie//Reizend du lachst, was mich Armen aller/Sinne gleich beraubt; denn wenn ich einmal dich/Nur erblicke, Lesbia, kann ich nicht mehr sprechen//Schwer und lahm wird mir dann die Zunge» – dann hatte der Römer bloß von einer Strophe der Sappho abgeschrieben: «Scheinen will mir, daß er den Göttern gleich ist,/jener Mann, der neben dir sitzt, dir nahe/auf den süßen Klang deiner Stimme lauscht und,/wie du voll Liebreiz//ihm entgegenlachst: doch, fürwahr, in meiner/Brust hat dies die Ruhe geraubt dem Herzen./Wenn ich dich erblicke, geschieht’s mit einmal,/dass ich verstumme.//Denn bewegungslos liegt die Zunge».
Die Epoche der massenhaften Kunstfälschungen begann freilich nicht im 1. Jahrhundert v. Chr., sondern weit früher. Eine wesentliche Voraussetzung war, dass sich – auch wenn der Schritt zu einem richtigen Urheberrecht nicht vollzogen wurde – eine Vorstellung von persönlicher Leistung und geistigem Eigentum herausgebildet hatte. Niemand solle sich mit fremden Federn schmücken, weil Hohn und Verachtung die Folge seien, mahnt eine der Fabeln, die unter dem Namen Äsop überliefert sind und zwischen dem 5. und 1. Jahrhundert v. Chr. in Griechenland entstanden.
Ein anonymes Werk, das Gemeingut ist, darf man verändern, ohne dass eine Fälschung oder widerrechtliche Aneignung vorliegt. Erst mit dem Namen Homer, der die großen Epen «Ilias» und «Odyssee» als Originalschöpfungen markiert, hatte langsam ein kulturelles Bewusstsein vom individuellen künstlerischen Produkt zu entstehen begonnen. Diese Einmaligkeit konnte, Ironie des Schicksals, nun auch bloß vorgetäuscht sein. Im 5. Jahrhundert v. Chr. signierte der Bildhauer Phidias eine Statue seines Schülers Agorakritos, um ihm den Verkauf seines Kunstwerks zu erleichtern. Das Gleiche tat im 4. Jahrhundert v. Chr. der Maler Apelles gleich mehrfach, damit der junge Kollege Protogenes höhere Preise für seine Bilder verlangen konnte.
Auch auf literarischem Gebiet steht das Aufkommen von Fälschungen im Zusammenhang mit der Entstehung eines Marktes und der Nachfrage insbesondere von Sammlern und Bibliotheken. Für Texte kanonisierter klassischer Autoren zahlten sie hohe Preise. Also stempelte man fremde Dramen mit den Namen von Aischylos und Euripides, verteuerte eine philosophische Schrift durch die Verfassernamen Aristoteles oder Demokrit und adelte medizinische Abhandlungen, indem man sie Hippokrates unterschob.
Neben finanziellen gab es selbstredend noch andere Motive: Manche, die ihre Werke einer anerkannten Autorität zuschrieben, waren von dem Wunsch beseelt, ihrem Anliegen ein großes Publikum zu verschaffen – oder wollten sich vor Verfolgung schützen wie die Verfasser von Spottversen, die ihre Schmähgedichte Martial in die Schuhe schoben. Andere waren von Ehrgeiz getrieben und bemächtigten sich deshalb im Gegenteil eines großen Werkes: Die Dialoge des Aischines seien in Wahrheit von Sokrates verfasst (dessen Texte Aischines von Xanthippe zugespielt worden seien), Xenophon habe Bücher des Geschichtsschreibers Thukydides als die seinigen ausgegeben, behaupteten schon antike Kritiker. Oder man wollte den Ruhm der eigenen Schreibernation durch erdichtete Autoren wie Agatharchides von Samos oder Chrysermos von Korinth mehren und schob ihnen erfundene Zitate unter.
Nicht nur eigenem Fortkommen dienlich, sondern auch dem Gemeinwesen nützlich sollten manche politisch begründete Fälschungen sein. Bereits der als Vater der attischen Demokratie geltende Solon soll in den Wortlaut von Homers Epen eingegriffen haben, um Athens Bedeutung in Griechenland hervorzuheben. Ähnlich verfuhren im 5. Jahrhundert v. Chr. andere griechische Städte, indem sie Genealogien von Herrschern, Listen von Priesterinnen und Aufstellungen ihrer Sieger bei Sportfesten erstellten, die zumindest zu Teilen der Fantasie entsprangen. In Rom war es der Emporkömmling Cicero, der einen Erlass mit dem Namen des Volkstribuns Lucius Racilius zeichnete, um seinem Feind Publius Clodius Pulcher von der plebejerfreundlichen Partei der Popularen zu schaden; Marcus Antonius verfälschte das Testament Cäsars, Senatsbeschlüsse und Gesetze.
Vieles, was man heute vom Altertum weiß, ist seinen Geschichtsschreibern zu verdanken. Leicht ausscheiden lassen sich groteske Fälschungen, die eher unter dem Begriff des Lesefutters zu fassen sind, etwa Augenzeugenberichte vom Kampf um Troja, versehen mit einem erfundenen Autornamen. Aber auch die seriösen Werke des Griechen Thukydides oder des Römers Sallust sind nicht frei von Fiktionen. Gerade die dort enthaltenen scheinbar authentischen Briefe und Reden sind selten echt, wiewohl sie einen wahren Kern haben mögen. Sie sind zum mindesten verschönert und ausgeschmückt bzw. im Gegenteil entstellt, wenn sie der Haltung des Historiografen zuwiderliefen: Die Geschichtsschreiber nahmen Partei und frisierten die Vergangenheit.
Ähnlich freizügig verfuhren die antiken Historiker bei der Schilderung von Geschehnissen und der Beschreibung von Personen. Insbesondere bei Horrorgeschichten ist Misstrauen angebracht: Dass im 6. Jahrhundert v. Chr. Phalaris von Akragas angeblich seine Opfer röstete, indem er sie in einen Bronzestier sperrte und darunter ein Feuer entfachen ließ, ist nicht mit dem technikgeschichtlichen Befund zu vereinbaren, dass mit dem damaligen Wissen und Können eine Figur in solcher Größe nicht gegossen werden konnte. Geradeso ein Märchen ist die Erzählung des griechischen Historiografen Polybios im 2. Jahrhundert v. Chr., König Nabis von Sparta (207–192) habe einen Maschinenmenschen konstruieren lassen, der säumige Schuldner erdolchte. Solche gruseligen Erzählungen trafen den Nerv eines auf Unterhaltung erpichten Publikums ähnlich wie die Schauergeschichten über Nero und Caligula: Dass sie wirklich grausam und wahnsinng waren, kann man wenigstens bezweifeln und sich fragen, ob nicht die Geschichtsschreiber aufseiten der von den Kaisern bekämpften Senatorenclique standen und die Vergangenheit entsprechend zurechtbogen.
Tatkräftig nachhelfen musste man auch in religiösen Angelegenheiten. Dass der Hohepriester Hilkia Anfang des 7. Jahrhunderts v. Chr. das alte Gesetzeswerk der Judenheit, das an geblich von Moses’ Hand stammende Deuteronomium, im Jerusalemer Tempel aufgestöbert habe (und die Handschrift nicht etwa von der Priesterschaft soeben fertiggestellt worden war), ist ebenso unglaubhaft wie die Legende des römischen Historiografen Lucius Cassius Hemina, demzufolge ein gewisser Gnaeus Terentius (denn ein Name macht sich immer gut) im Jahr 181 v. Chr. beim Pflügen seines Ackers auf den Sarg des römischen Königs und religiösen Gesetzgebers Numa Pompilius (8. Jh. v. Chr.) gestoßen sei, in dem sich dessen Bücher befanden hätten. Ein wahrlich numinöser Fund – schon der Naturwissenschaftler Plinius der Ältere (†70) wunderte sich, dass die Rollen aus Papyrus so lange gehalten haben sollen.
Das Erbe der Juden, Griechen und Römer traten in der Spätantike die Christen an. Sie erfanden Geschichten über die Taten und Leiden von Märtyrern und Bekennern, fälschten Papstdekrete und fabulierten von kaiserlichen Toleranzedikten, die es nicht gab; der christliche Schriftsteller Tertullian (um 200) dichtete Kaiser Tiberius an, er habe Jesus ins römische Pantheon aufnehmen wollen.
Schon die Augenzeugenberichte von Jesu Leben und Sterben stehen unter dem begründeten Verdacht, fiktiv oder zumindest äußerst großzügig ausgeschmückt zu sein, wie nicht anders die Apostelgeschichte; und dass etliche neutestamentliche Briefe – etwa der zweite Petrusbrief, der im 2. Jahrhundert das Licht der Welt erblickte – mit gutem Gewissen gefälscht wurden, wird in der Theologie nicht bezweifelt. Vom 4. Jahrhundert an wurden Schriften unter dem falschen Namen anerkannter Kirchenschriftsteller veröffentlicht, Konzilsakten erfunden und unechte Zitate ins Schrifttum geschmuggelt. Die sogenannten Häretiker hielten es ähnlich und erfanden beispielsweise Bücher und Evangelien, die sie biblischen Personen zuschrieben, um mit deren erborgtem Nimbus zu punkten: Ein Beispiel ist das im 2. Jahrhundert entstandene und 1978 wiederentdeckte Judas-Evangelium, das Judas als Jesu Vertrauten auszeichnet, während die anderen Jünger, die wohl für die etablierten Christengemein den stehen, als ahnungslos, verstockt und bösartig verleumdet werden.
Mit dem Christentum vollzieht sich der Übergang zum Mittelalter, doch das Kapitel der antiken Fälschungen ist damit nicht zu Ende. An die Stelle der fälschenden Antike treten die gefälschten Antiken. Es beginnt mit der Renaissance, als die Kunst des Altertums wiederentdeckt und kopiert wurde; sogar der junge Michelangelo betätigte sich als Fälscher und versuchte einem Sammler eine eigene Schöpfung als antikes Kunstwerk unterzujubeln.
Seit das über anderthalb Jahrtausende verschüttete Pompeji wiedergefunden worden war, mischten sich vermehrt Falsifikate unter die echten Funde. Eine Büste von Julius Cäsar, die das Britische Museum in London 1818 erworben hatte, musste über 100 Jahre später als Fälschung aus dem 18. Jahrhundert aussortiert werden. 1918 kaufte das Metropolitan Museum in New York die über zwei Meter große Skulptur eines etruskischen Kriegers, die 42 Jahre später als Falsifikat deklariert wurde, als der italienische Bildhauer Alfredo Fioravanti gestand, das antike Standbild zusammen mit fünf Kollegen geschaffen zu haben. Zum Beweis brachte er den abgebrochenen Daumen der Standfigur mit, der sich präzise in die Bruchstelle einfügte.
Im Deutschland der 1920er Jahre tat sich der gebürtige Armenier Oxan Aslanian als Meisterfälscher hervor. Er nutzte die Begeisterung, die nach der Entdeckung des Tut-ench-Amun-Grabes herrschte, spezialisierte sich auf altägyptische Objekte und drehte beispielsweise dem Kestner-Museum in Hannover einen Frauenkopf an – zu spät merkte man, dass dessen moderne Frisur im Altertum unbekannt war.
Vor Aslanian war es der jüdische Goldschmied Israel Rouchomowsky in Odessa, der seit 1890 nicht nur künstlich gealterte Münzen in den Handel brachte, sondern auch antikisierende Kunstwerke schuf. 200.000 Francs zahlte der Louvre für seinen anderthalb Pfund schweren Goldhelm, der mit Szenen aus Homers «Ilias» verziert war und ein Geschenk der griechi schen Schwarzmeerkolonie Olbia an den Skythenkönig Saitaphernes sein sollte.
In diesem Fall wurde der Schwindel aufgedeckt. Bei anderen Exponaten wissen die Museen bis heute nicht, woran sie sind. Das Hildesheimer Römer- und Pelizaeus-Museum besitzt ein ägyptisches Schiffsmodell, dessen Holz tatsächlich 4000 Jahre alt ist. Aber weil die Proportionen nicht stimmen, besteht der Verdacht, dass das Stück vielleicht erst in einem Kairoer Hinterhof aus Einzelteilen zusammengesteckt und teuer verkauft wurde.
Ebenso wenig geklärt ist, was es mit dem «Apoll vom Gazastreifen» auf sich hat. Angeblich entdeckte ein palästinensischer Fischer in vier Meter Wassertiefe die 450 Kilo schwere Statue, deren Wert auf bis zu 40 Millionen Dollar geschätzt wird. An der Fundgeschichte und der Echtheit des Standbildes bestehen jedoch Zweifel: Eine Figur, die 2000 Jahre im Meer lag, müsste von Seepocken bedeckt sein, auch weckt die «aberwitzige Frisur mit Haarsträhnen, die vorn in Drähten auslaufen» (so der Archäologe Stefan Lehmann), Argwohn. Der Verdacht richtet sich auf die in Geldnot steckende Hamas, die mit einem teuren Verkauf ihre Kasse füllen könnte. Tatsächlich ließ im April 2014 das Museum für Tourismus und Altertümer in Gaza-Stadt verlautbaren, es strebe «maximalen Gewinn» an.
Stark nachgefragt auf dem Kunstmarkt sind Bronzebüsten und -standbilder aus der Römerzeit. Da bis heute nur rund 230 erhalten sind, erzielen sie auf Versteigerungen hohe Preise: 28,6 Millionen Dollar wurden im Juni 2007 bei Sotheby’s für eine Artemis-Statue gezahlt. Ein Fälscher, der «Spanischer Meister» genannt wird, scheint die Herstellung solcher Plastiken zu seiner Spezialität gemacht zu haben und liefert den Kunden seit über 30 Jahren hohe Qualität. Ein Bronzekopf, der Kaiser Decius darstellt, eine Büste des Kaisers Balbinus und eine «Afrikanische Prinzessin», gegossen vorgeblich im 2. Jahrhundert, zählen zu den jüngsten, auf Antiquitätenmessen und von Auktionshäusern feilgebotenen oder den Museen offerierten Stücken, die ihm womöglich zugeschrieben werden müssen.
Das Ende ist offen. Geht es schlecht aus, können sich Sammler und Museen den schwachen Trost gönnen, dass sogar eines der berühmtesten antiken Kunstwerke überhaupt sich als Fälschung erwiesen hat: die säugende Wölfin, das Sinnbild Roms. Die Lupa mit den zwei nach ihren Zitzen greifenden Knäblein Romulus und Remus ist keine 2500 Jahre alt, sondern wurde im Mittelalter geschaffen. Sowohl die C-14-Datierung des Materials als auch die verwendete Technik lassen keinen Zweifel, weil das Raubtier keine Lötspuren an Kopf und Beinen aufweist, sondern in einem Stück gegossen wurde, wozu antike Künstler nicht in der Lage waren. Zwar wird gemutmaßt, dass es ein Original gab: Es stand in Konstantinopel und wurde 1204 eingeschmolzen, als Kreuzritter auf ihrem Zug nach Palästina auch das Zentrum des verhassten orthodoxen Christentums eroberten. Die Replik entstand dieser Theorie zufolge noch im 13. Jahrhundert und wurde im Auftrag römischer Patrizier angefertigt. Sie fiel so gut aus, dass bis 2011, als die Wahrheit ans Licht kam, unzählige Gelehrte die vollendete antike Schönheit des Kunstwerks rühmten.
Aufsehen erregte im Jahr 2000 eine Mumie, die in der pakistanischen Stadt Ouetta nahe der Grenze zum Iran entdeckt wurde und anscheinend auf dem Schwarzmarkt verkauft werden sollte. Sie war auf altägyptische Weise präpariert und lag in einem Sarkophag, der sich wiederum in einem reich verzierten Holzschrein befand, dessen persische Keilschriftzeichen besagten: «Ich bin die Tochter des Großkönigs Xerxes. Ich bin Rhodogune.» Xerxes I. regierte 485–465 v. Chr. Sein Reich erstreckte sich bis an den Indus, und als Pharao herrschte er auch über die Provinz Ägypten.
Es war der erste Fund einer mit ägyptischer Technik konservierten Mumie außerhalb des Nillandes. Doch die Begeisterung der Fachleute wich schnell der Skepsis: Es stellte sich heraus, dass das Herz fehlte, was nicht der ägyptischen Tradition entsprach. Auch hätte die Prinzessin persisch Wadugana heißen müssen, nicht Rhodogune, schließlich ist dieser Name bloß eine spätere griechische Übersetzung aus hellenistischer Zeit. Außerdem entdeckte man auf dem Holzschrein Vorzeichnungen mit Bleistift. Nachdem noch ein Genickbruch diagnostiziert und eine Radiokarbonuntersuchung durchgeführt worden war, stand fest: Die angebliche persische Prinzessin war nicht vor 2500, sondern vor höchstens sechs Jahren gestorben. Wer die Frau war, ob sie Opfer eines Verbrechens oder ihre Leiche von einem Friedhof geraubt wurde, ist bis heute ebenso ungeklärt, wie die Fälscher unbekannt sind.
Die einen müssen fern in ägyptischer Erde graben, andere brauchen nur auf den Dachboden zu gehen wie der zehnjährige Alexander Kettler im niedersächsischen Diepholz, um einen sensationellen Fund zu machen: Als er im August 2013 im Haus seiner Großmutter spielte, entdeckte er unter dem Dach in einer Kiste eine ägyptische Mumie.
«So etwas habe ich noch nie gesehen», bekannte Professor Albert Zink aus Bozen, ein Experte von internationalem Ruf, der unter anderem das Erbgut des Ötzi entschlüsselt hatte. Allerdings wunderte er sich über das Stirnband und den metallischen Überzug, der unter der Bandage den Körper bedeckte: «Die Ägypter haben ihre einbalsamierten Toten so niemals geschmückt», gab der Wissenschaftler zu Protokoll, dem auch eine Pfeilspitze in der linken Augenhöhle des Leichnams auffiel.
«Es muss sich um ein mysteriöses Mischwesen handeln!», jubelte der Ufologe Erich von Däniken, nachdem eine Computertomografie im Kreiskrankenhaus Diepholz ergeben hatte, dass dem Körper die Wirbelsäule fehlt. Näher an der Wirklichkeit waren wohl doch die Fachleute, die von einem Menschen ausgingen und der Mumie ein Alter von bis zu 2000 Jahren zubilligten, woraufhin sich Mamdouh Eldamaty, damals Kulturattaché der ägyptischen Botschaft in Berlin (und heute Minister für Antiken und Kulturgut), einschaltete und die Rückführung der archäologischen Kostbarkeit in ihre Heimat am Nil forderte.
Während die Zukunft des Fundes ungewiss war, konnte Licht in seine Vergangenheit gebracht werden: Es stellte sich heraus, dass der Großvater des Jungen, der 2001 im Alter von 80 Jahren verstorbene Zahnarzt Wolfgang Kettler, die Mumie 1955 von einer Nordafrikareise mitgebracht hatte. Auch die Mumie selbst begann ihre Geheimnisse zu offenbaren, nachdem sie im September 2013 in die rechtsmedizinische Abteilung des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf geschafft worden war: Es handelte sich um ein Plastikskelett mit einem echten Schädel, der wahrscheinlich früher in der medizinischen Ausbildung eingesetzt worden war. Dass man das Plastik bei der vorangegangenen CT für Knochen gehalten hatte, lag an der metallenen Beschichtung des Körpers (weshalb Patienten bekanntlich Uhren, Ringe und Halsketten ablegen müssen). Wahrscheinlich war auch das Plastikgerippe im anatomischen Unterricht verwendet worden. Die Pfeilspitze im linken Auge erwies sich als Kinderspielzeug oder Spitze eines Sportpfeils. Die Bandagen schließlich, mit denen die Figur umwickelt war, stammten aus dem 20. Jahrhundert, und ausgestopft war die Mumie mit Küchenpapier. Offenblieb dagegen, ob das Ganze ein Jux war oder der Großvater auf eine groteske Fälschung hereingefallen war. Die Mumie wurde jedenfalls der Familie Kettler zurückgegeben.
«Die Geschichte lehrt, wie man sie fälscht», schrieb der polnische Aphoristiker Stanislaw Jerzy Lec. Das trifft auf alle Epochen zu, auch auf das Mittelalter: Je genauer die Historiker ihre Archivalien besahen, desto klarer erkannten sie, wie viel Blendwerk sich darunter befand.
Von 196 Urkunden aus der Merowingerzeit erwiesen sich zwei Drittel als gefälscht, wie eine Forschungsgruppe der Universität Bonn in 20-jähriger Arbeit herausfand. Die Merowinger regierten vom 5. bis ins 8. Jahrhundert das Frankenreich, doch die fraglichen Diplome entstanden erst im 12. Jahrhundert. Viele konkrete Daten, etwa frühmittelalterlicher Klostergründungen, sind damit zweifelhaft. Eine Weichenstellung für die europäische Geschichte, der Übertritt König Chlodwigs zum Christentum im Jahr 496 oder 497, vielleicht auch 498 oder sogar erst 507, soll allerdings weiterhin als verbürgt gelten dürfen.
Für die den Merowingern nachfolgenden Karolinger sieht es etwas besser aus: Nur 35 Prozent der Urkunden Karls des Großen sind nach einhelligem Urteil der Mediävisten unecht. Aus der Zeit Ludwigs des Frommen (814–840) wurden von 474 urkundlich festgehaltenen Schenkungen, Klosterprivilegien und Zollerlassen bislang 54 aussortiert.
Der Anteil nachgemachter Urkunden, die die Regentschaft Ottos I. (936–973) betreffen, beläuft sich nach gegenwärtigem Erkenntnisstand auf 15 Prozent, und derjenigen, die sich auf die Regierungszeit Friedrichs I. Barbarossa (1152–1190) beziehen, auf zehn Prozent.
Unter diesen zehn Prozent befindet sich der Freibrief von 1189, auf den Hamburg letztlich seinen Beinamen als Freie (und Hanse-)Stadt gründet. Was darin den Hamburgern zugesprochen wurde – die Zollfreiheit bis zur Nordsee und damit verbunden das Hafenrecht, das Fischereirecht, das Rodungsrecht, das Recht, Vieh zu halten sowie die Garantie, dass im Umkreis von 15 Kilometern keine fremde Macht eine Burg errichten dürfe –, haben sich in Wahrheit die Ratsherren und Kaufleute selbst zugesichert, und das nicht 1189, sondern 1265. So steht es auch auf dem Pergament. Um ihrem Streich den Schein der Legalität zu verpassen, behaupteten sie, es handele sich um eine rechtmäßige Kopie, da das Original verloren gegangen sei. Dabei unterlief ihnen ein Flüchtigkeitsfehler, denn das Siegel auf der Urkunde ist das Kaiser Friedrichs II., der aber 1250 gestorben war. Erst im 19. Jahrhundert fiel jemandem der Widerspruch auf. Da hatte sich die Chuzpe der Hamburger längst bezahlt gemacht.
Auch Österreich verdankt seine Sonderstellung unter den deutschsprachigen Territorien letztlich einer Fälschung. In der 1356 erlassenen Goldenen Bulle hatte Kaiser Karl IV. einen Kreis von sieben Kurfürsten bestimmt, die eine Reihe von Vorrechten gegenüber den anderen deutschen Landesherren genießen sollten. Weil er nicht zu diesem erlauchten Gremium zählte, ließ der österreichische Herzog, der Habsburger Rudolf IV., in seiner Kanzlei ein Konvolut von Urkunden erstellen, die bis ins 11. Jahrhundert zurückreichten. Dieses sogenannte Privilegium Maius oder Freiheitsprivileg wertete Österreich zum Erzherzogtum auf und machte Rudolf IV. zum Erzherzog – Titel, die es überhaupt nicht gab. Der Kaiser vermutete zu Recht eine Fälschung und beauftragte den Dichter und Geschichtsschreiber Francesco Petrarca mit einem Gutachten. Das Urteil des Fachmanns fiel vernichtend aus: Zusammengefasst besagte es, dass die Urkunden auf das Konto eines unfähigen, lächerlichen Esels gingen. 100 Jahre später, 1453, wurde das Machwerk dennoch von Kaiser Friedrich III. anerkannt. Dies war kein Zufall, er selbst war vom Stamme Habsburg. Fortan war dem österreichischen Herrscherhaus die Unteilbarkeit seiner Stammlande, die Primogenitur (wonach das erstgeborene Kind alles erbt) und die eigenständige, vom Kaiser unabhängige Gerichtsbarkeit garantiert – drei Bedingungen für den Aufstieg Österreichs zur Großmacht. (Wer weiß, vielleicht wäre sogar die heutige staatliche Selbständigkeit ohne das Privilegium Maius nie zustande gekommen.)
Nicht anders als die Könige und Kaufleute hielten es die Kleriker. Beispielsweise beruht die frühe Geschichte des Papsttums wesentlich auf Fiktionen: Das älteste als authentisch gesicherte Papstdekret stammt aus dem Jahr 385. Alle Papstbriefe und Dekretale aus der Zeit davor – immerhin einige Hundert – dürften unecht sein, die über 200 Erlasse aus dem 1. und 2. Jahrhundert mit ihren Vorschriften zur Abendmahlslehre, den Sakramenten und der Liturgie sind es mit Sicherheit.
Der Grundsatz, dass niemand – nicht der Kaiser noch der Klerus, weder Könige noch das Volk – über den Papst zu Gericht sitzen und ihn absetzen dürfe, geht auf eine unter Papst Symmachus (498–514) entstandene Textsammlung zurück, die sogenannten Symmachianischen Fälschungen. Sie bezogen sich auf eine Synode, die Papst Silvester Anfang des 4. Jahrhunderts einberufen und an der Kaiser Konstantin teilgenommen haben soll. Indes – diese Synode gab es nicht. Der Rechtsgrundsatz der Immunität des römischen Bischofs, also des Papstes, besteht bis heute.
Das Rechtsbuch Decretum Gratiani bildete im Mittelalter die Grundlage des römisch-katholischen Kirchenrechts und war bis 1918 als erster und ältester Teil der Kirchenrechtssammlung Corpus Iuris Canonici gültig. Seinen Namen hat es vom Kamaldulensermönch Gratian, der um 1140 Rechtsdokumente aus antiker römischer Zeit, Zitate aus der Bibel, Briefe von Päpsten sowie Protokolle von Konzilen und Synoden zusammenstellte. Gut 500 seiner Texte sind apokryph, also unecht. Gratian stützte sich zum Beispiel auf rund 100 Papstbriefe von Clemens (88–97) bis Damasus (366–384), die ein «Isidorus Mercator» im 9. Jahrhundert zusammengetragen haben soll und heute «pseudoisidorische Dekretale» genannt werden. Dass es sich bei Isidorus Mercator um ein Phantom handelte, dessen Name aus dem des Bischofs Isidor von Sevilla (†636) und des Schriftstellers Marius Mercator (5. Jahrhundert) zusammengesetzt ist, konnte man damals noch übersehen, aber dass die Briefsammlung in höchstem Maß fraudulös war, hätte man merken können: Die Päpste zitierten die lateinische Bibelübersetzung des Hieronymus, die sogenannte Vulgata, die erst um 400 entstanden war; genauer noch: Sie verwendeten die im Auftrag Karls des Großen vom angelsächsischen Gelehrten Alkuin um 800 überarbeitete Fassung der Hieronymus-Übersetzung. Obendrein kannten die Päpste des 1. bis 4. Jahrhunderts schon das Werk des Kirchenvaters Augustinus (†430), die Schriften Isidors von Sevilla (†636), die Briefe des Germanenmissionars Bonifatius (†754/55) und die Akten der Aachener Synode von 836. Als mutmaßlicher Urheber der pseudoisidorischen Dekretalen wurde erst in jüngster Zeit der Diakon und spätere Abt des an der Somme gelegenen Klosters Corbie überführt: ein gewisser Radbertus, ein belesener, hochgebildeter und schriftstellerisch tätiger Kleriker, Gegner König Ludwigs des Frommen (814–840) und wie andere Bischöfe des Karolingerreichs ein Verfechter kirchlicher Vorrechte gegen die weltliche Macht.
Die Kirchengeschichte überhaupt steht auf unsicherer Grundlage, etwa zwei Drittel aller Urkunden an geistliche Empfänger vor dem Jahr 1100 werden als unzuverlässig oder gefälscht eingestuft. Zahllose bis in die Neuzeit fortgeerbte Besitztitel von Klöstern und Bistümern bestanden womöglich zu Unrecht.
Auch Heilige wurden Opfer von Fälschungen. Um nur ein Beispiel herauszugreifen: Das Kloster Sankt Emmeram setzte Mitte des 11. Jahrhunderts die Legende in die Welt, das Grab des heiligen Dionysius, der Mitte des 3. Jahrhunderts das Martyrium erlitt, befinde sich innerhalb seiner Mauern. Der Märtyrer war zwar in Paris begraben und Schutzpatron der Stadt, doch die Mönche gaben vor, der Leichnam sei entführt worden, fingierten Urkunden und fälschten Zertifikate.
Turin besaß im Mittelalter ein Bild der heiligen Jungfrau Maria, gemalt vom Evangelisten Lukas. Noch im Jahr 1905 präsentierte Rom in der Papstkapelle Sancta Sanctorum neben an deren Reliquien die Vorhaut Christi – nota bene eine von insgesamt dreizehn, die im Lauf der Geschichte Jesus zugeschrieben wurden.
Von heutiger Warte aus erscheint das Mittelalter als eine Epoche der Fälscher und Fälschungen. Die Zeitgenossen verstanden das anders. Bis ins 11. Jahrhundert wurden Rechtsakte selten schriftlich fixiert. Als das erforderlich wurde, fertigte man die benötigten Schriftstücke an und datierte sie zurück. Das wurde nicht unbedingt als Betrug gewertet, sondern konnte als Beurkundung einer bestehenden Tradition durchgehen. Genauso hielt man es, wenn Belege durch Brand, Überschwemmung, Nachlässigkeit oder Raub verloren gegangen waren. Ein neues Dokument wurde ausgearbeitet, um den legal bestehenden Anspruch abzusichern. Mit anderen Worten: Nicht das Falsifikat veränderte dann die Wirklichkeit, sondern die Wirklichkeit spiegelte sich im Falsifikat.
Der Erhalt oder die Mehrung von Macht und Besitz, von Privilegien, Land und Geld spielte immer eine große Rolle. Folglich konnte auch ohne Berufung auf altes Herkommen und ohne die Versicherung, lediglich bestehenden Tatsachen Rechnung zu tragen, mit gutem Gewissen manipuliert werden: «Da Gott kein Lügner ist, lügt nicht, wer in seinem Sinne lügt», wie es Jürgen Roth und Kay Sokolowsky in ihrem Buch «Lügner, Fälscher, Lumpenhunde» auf den Punkt bringen. Die pia fraus, der fromme Betrug, war mitnichten anstößig, und Bistümer und Klöster von weltlicher Einmischung zu befreien, um die göttliche Ordnung zu sichern oder wiederherzustellen, keine Sünde, sondern gottgefällig. Für den guten Zweck konnte im Dienst von Papst und Kirche, aber auch zugunsten der christlichen Könige und Fürsten im großen Stil gefälscht werden.
Dass der Klerus sich besonders hervortat, versteht sich: Lesen und Schreiben war sein Monopol; die Adeligen waren größtenteils Analphabeten und auf ihn angewiesen. Es etablierten sich regelrechte Fälscherzentren wie das Kloster Reichenau. Die dortigen Mönche rüsteten in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts süddeutsche Klöster mit erfundenen Rechtstiteln aus, mit denen diese sich gegen die mächtiger werdenden Vögte wehrten.
Unter den Mächtigen bestand zwar eine Ahnung von der Schädlichkeit der Fälschung. Papst Innozenz III. (1198–1210) drohte den Übeltätern Strafen an, die vom Verlust der rechten Hand bis zur Hinrichtung reichten. Selber stützte er seine Macht und den Anspruch, höher als der Kaiser zu stehen und Herrscher des Abendlandes zu sein, auf das Lügenwerk der Konstantinischen Schenkung, deren Echtheit schon damals angefochten wurde. Die Geschichte lehrt eben nicht nur, wie man sie fälscht, sonden auch, wie nützlich das ist.
Es ist eine Fälschung von welthistorischem Gewicht, hat die Geschichte des Mittelalters und der Neuzeit entscheidend beeinflusst und wirkt bis heute nach: das Constitutum Constantini, die Konstantinische Schenkung.
Konstantin der Große, der das Christentum im Römischen Reich im Jahr 313 den anderen Religionen gleichgestellt hatte, ernennt in dieser Urkunde den Bischof von Rom, also den Papst, zum geistlichen Oberhaupt der gesamten Welt und zum politischen Herrscher über das Abendland. Während Kaiser Konstantin sich die Osthälfte des Römischen Reiches vorbehält, soll der Papst im Westen gebieten. Zu diesem Behufe wird er mit den Insignien der Kaiserwürde ausgestattet: dem Purpurmantel, dem Diadem (d.h. der Krone) und dem Zepter, und erhält den Kaiserpalast auf dem Lateran zum Geschenk.
Der Grund für diese Großzügigkeit lässt sich dem Schriftstück entnehmen, es ist die Geschichte von Konstantins Konversion: Als Gott ihn zur Strafe für seine Christenverfolgungen mit Aussatz schlug, habe Papst Silvester I. den Todgeweihten zum Christentum bekehrt und geheilt. Dass Konstantin, sofern überhaupt, erst 337 auf dem Sterbebett konvertierte und nicht vom 335 gestorbenen Papst Silvester, sondern allenfalls von Bischof Eusebius von Caesarea getauft worden sein konnte, der obendrein kein katholischer, sondern ein arianischer Christ war und damit einer verfemten Richtung angehörte: das störte jahrhundertelang genauso wenig wie der Fakt, dass die Urkunde zwar den 30. März, aber kein Jahr als Zeitpunkt der Ausfertigung nannte.
Als Beweismittel im Machtkampf mit Königen und Kaisern, als Beleg für den Vorrang des römischen Bischofs gegenüber allen anderen kirchlichen Amtsinhabern einschließlich des Patriarchen von Konstantinopel und als Beglaubigung seiner Deutungshoheit in geistlichen Fragen leistete das Schriftstück dem Papsttum bis ins 19. Jahrhundert gute Dienste. Dabei war spätestens im 15. Jahrhundert erwiesen, dass es sich um ein Falsifikat handelte. Der Philosoph und Theologe Nikolaus von Kues war stutzig geworden, weil in dem Erlass von «Konstantinopel» die Rede ist, obwohl die Stadt im 4. Jahrhundert Byzanz hieß, und der italienische Humanist Lorenzo Valla, selbst Domherr am Lateran, stellte fest, dass das Latein nicht das des 4. Jahrhunderts ist, sondern das einer späteren Sprachstufe, der des 8. Jahrhunderts.
Das ist die Zeit, in der die Konstantinische Schenkung erstmals auftauchte. Ein mögliches Szenario sieht so aus: Mitte des 8. Jahrhunderts wurde Papst Stephan II. von den Langobarden bedrängt und rief den fränkischen Usurpator Pippin zu Hilfe. Der erledigte die Drecksarbeit und ging mit dem Papst einen Kuhhandel ein: Er wurde als rechtmäßiger König des Frankenreichs anerkannt, dafür überließ er dem Bischof von Rom weite Teile Italiens. Diese «Pippinsche Schenkung» legte den Grundstein für den Kirchenstaat, der in Gestalt des Vatikans bis heute fortbesteht. Allerdings hatte der Franke dazu kein Recht, weil das Land dem Kaiser von Konstantinopel gehörte. Also schritt die Kirche zur Vorspiegelung falscher Tatsachen und setzte die Legende von der Konstantinischen Schenkung in die Welt. Ende des 8. Jahrhunderts wurde sie erstmals schriftlich erwähnt, als Papst Hadrian I. (772–795) sich in einem Brief an Karl den Großen, einen der beiden Söhne Pippins, darauf berief. Breite und nachhaltige Wirkung in der Kirche und außerhalb begann das Dokument Mitte des 9. Jahrhunderts zu entfalten; unter Papst Gregor VII. (1073–1085) wurde es zum Bestandteil des Kirchenrechts und in seinem Machtkampf mit dem deutschen König und Kaiser Heinrich IV. zum politischen Instrument.
Freilich stützte die Kirche ihre weltlichen Machtansprüche nicht allein auf die Konstantinische Schenkung. Weitere Fälschungen wie die Mitte des 9. Jahrhunderts angefertigten Pseudoisidorischen Dekretalen halfen dem Papsttum zusätzlich. Sie regelten Fragen des Glaubens und des Gemeinschaftslebens und stärkten die päpstliche Zentralgewalt. So durfte nunmehr allein der Papst Synoden einberufen, und angeklagte Bischöfe konnten sich der weltlichen Gerichtsbarkeit entziehen, indem sie an den Papst als obersten Gerichtsherrn appellierten.
Wie die Konstantinische Schenkung entfalteten die Pseudoisidorien große Wirksamkeit. Als Schwindel entlarvt wurden sie erst 1628 durch den Calvinisten David Blondel, der zahlreiche Anachronismen nachwies, etwa: dass in ihnen Texte zitiert werden, deren Verfasser erst Jahrhunderte später geboren wurden.
Unzählige weitere Fälschungen, erfundene Urkunden und manipulierte Annalen pflastern den Weg der Kirche im Mittelalter. Selbst wenn ein Schwindel aufgedeckt wurde, gab die Kurie nicht klein bei: Auf die Konstantinische Schenkung berief sich die katholische Kirche bis ins 19. Jahrhundert mit der Begründung, dass die Urkunde zwar gefälscht, ihr Inhalt aber trotzdem gültig sei. Als 1962 Papst Johannes XXIII. das II. Vatikanische Konzil einberief, tat er das kraft des Katholischen Gesetzbuches, das allein dem Papst dieses Recht einräumt. Drei der sechs dafür herangezogenen Quellentexte entstammten den pseudoisidorischen Dekretalen.
Wir leben im 18. Jahrhundert. Der Erste und der Zweite Weltkrieg fanden im 17. Jahrhundert statt, die Reformation im 13. Im 10. Jahrhundert nach unserer Zeitrechnung, also in Wahrheit dem 7., begann nämlich in Europas Klöstern und Kanzleien eine riesige konzertierte Fälschungsaktion, die dafür sorgte, dass an die 300 Jahre mit inexistenten Herrschern, fiktiven Schlachten und getürkten Geschehnissen erdichtet wurden. 1991 (bzw. 1694) stellte der österreichische Germanist und Systemanalytiker Heribert Illig die These auf, dass die in der Geschichtsforschung als dunkle Jahrhunderte bekannte Epoche, das 7. bis 9. Jahrhundert, exakt: die Jahre von September 614 bis August 911, nicht stattgefunden hätten. Insbesondere sei das Karolingerreich ein Phantom und Karl der Große ein Produkt der Einbildung.
In der Tat sind für die Zeit vom Untergang des Römischen Reiches Ende des 5. Jahrhunderts bis zur Krönung des ersten deutschen Königs Konrad I. (911 n. Chr.) verhältnismäßig wenige als echt verbürgte Urkunden und Artefakte erhalten, und die überlieferte Chronologie ist mitunter widersprüchlich. Allerdings sprechen schon Datierungsmethoden wie die Dendrochronologie (die die Zeit rückwärts mithilfe des Vergleichs der Jahresringe von Bäumen ermittelt), die Radiokarbonmethode (die mithilfe des radioaktiven Zerfalls des Elements Kohlenstoff in Knochen oder totem Holz die verflossene Zeitspanne misst) und die Astronomie (welche in den schriftlichen Quellen erwähnte Ereignisse der Vergangenheit wie zum Beispiel Sonnenfinsternisse aufs Jahr genau rekonstruieren kann) gegen Illigs «Phantomtheorie». Hinzu kommt: Es gibt eben doch eine ausreichende Menge als authentisch eingestufter Dokumente aus den fraglichen Jahrhunderten, dazu eine stetig wachsende Zahl archäologischer Funde – auch aus karolingischer Zeit und der Epoche Karls des Großen. Außerdem beträfe eine gigantische Fälschungsaktion, wie sie Illig annimmt, nicht nur das christliche Abendland. Sie brächte es mit sich, dass auch in der chinesischen oder der persischen Geschichte, die längst mit der europäischen synchronisiert wurden, knapp 300 Jahre zu viel steckten. Das ist für diese Länder oder Völker mit ihrer gut ausgebildeten Historiografie ausgeschlossen. Ohnehin ist es wenig glaubhaft, dass die Verschwörung, die einem Riesenschwindel dieses Ausmaßes zugrunde liegen müsste, überhaupt praktisch durchführbar war. Sämtliche Klöster und Kanzleien Europas hätten mitziehen müssen. Es stellt sich nicht nur die Frage, wer sie dazu hätte anstiften können – weder der Papst noch der Kaiser besaßen diese Macht. Es bleibt auch offen, wie sich die Fälscher im Zeitalter der Fußreisen oder der Fortbewegung mit Ochse oder Pferd miteinander absprechen und ihre Arbeit aufeinander abstimmen hätten können.
Ausgangspunkt von Heribert Illigs Theorie ist die Kalenderreform von Papst Gregor XIII. im Jahr 1582. Der korrigierte den mehr als 1600 Jahre zuvor unter Gaius Julius Cäsar erstellten julianischen Kalender, der alle vier Jahre einen Schalttag, den 29. Februar, vorsah. Weil das auf Dauer zu viele waren, hatte sich Ende des 16. Jahrhunderts der Beginn der Jahreszeiten kalendarisch um mehrere Tage verschoben. Der gregorianische Kalender berichtigte den Fehler, indem er erstens in den Jahrhunderten, die nicht durch 400 teilbar sind, fortan den Schalttag ausfallen ließ; und zweitens, indem Papst Gregor kurzerhand mehrere Tage strich, um Kalender und Jahreszeiten wieder in Einklang zu bringen: Der 5. bis 14. Oktober 1582 entfielen, auf den 4. folgte gleich der 15. Das waren zehn Tage, doch Heribert Illig zufolge hätten es 13 sein müssen; drei Tage entsprechen wiederum ungefähr drei Jahrhunderten.