Heiner Ullrich, Professor für Erziehungswissenschaften an der Universität Mainz, gilt als einer der besten Kenner der anthroposophischen Pädagogik. Sein Buch Waldorfpädagogik und okkulte Weltanschauung (3. Auflage 1991) hat die Diskussion über Rudolf Steiner nachhaltig beeinflusst. Für die international renommierte Continuum Library of Educational Thought hat er den Band zu Rudolf Steiner verfasst (in englischer Sprache, 2008).
Ob Waldorfpädagogik, biologisch-dynamische Landwirtschaft, ganzheitliche Medizin oder organische Architektur: Fast jeder ist schon – freiwillig oder unfreiwillig – in die Einflusszone Rudolf Steiners geraten. Heiner Ullrich porträtiert knapp und kenntnisreich den Begründer der Anthroposophie und seine umfassende, kaum einen Lebensbereich auslassende Lehre. Besonderes Augenmerk gilt dabei der Waldorfpädagogik, dem größten Erfolg Rudolf Steiners.
Rudolf Steiner (1861–1925) hat sein Leben in seiner Autobiographie als eine geradlinige Entwicklung zu höherer Erkenntnis dargestellt. Spätere Biographen sind diesem Selbstbild gefolgt. Eine kritische Gesamtdarstellung von Leben und Lehre des Esoterikers, den Kurt Tucholsky den «Jesus Christus des kleinen Mannes» nannte, ist dagegen längst überfällig. Heiner Ullrich beschreibt die erstaunliche Karriere Steiners vom Sohn eines kleinen Bahnbeamten in der österreichischen Provinz über den Goethe-Enthusiasten und Prediger der Theosophie bis zum weltweit beachteten Begründer der Anthroposophie. Er bietet einen verständlichen Überblick über die anthroposophische Lehre und beschreibt ihre wichtigsten Anwendungsfelder von der Landwirtschaft über Heilpädagogik und Medizin bis hin zur Waldorfpädagogik.
Rudolf Steiner wurde am 25. Februar 1861 in dem Dorf Kraljevec (heute in Kroatien, damals in Ungarn gelegen) als erstes von drei Kindern eines österreichischen Bahntelegraphisten in bescheidenen, bildungsfernen Verhältnissen geboren und nach römisch-katholischem Ritus getauft. Als der kleine Rudolf das Licht der Welt erblickte, brach in den fernen Vereinigten Staaten von Amerika der Bürgerkrieg aus, und im benachbarten Italien wurde gerade die nationale Einigung vollendet, während die englische Krone schon im dritten Jahr die politische Herrschaft über Indien ausübte. Als berühmte Mitbürger Steiners in der Donaumonarchie wurden etwa zur selben Zeit Sigmund Freud (1856), Edmund Husserl (1859) und Gustav Mahler (1860) geboren. Zu seinen Generationsgefährten und Zeitgenossen im weiteren Sinne darf man auch die Philosophen Henri Bergson (1859) und Benedetto Croce (1866) in Europa und John Dewey (1859) und George Herbert Mead (1863) in Nordamerika zählen, ebenso die soziologischen Klassiker Emile Durkheim (1858) und Max Weber (1864), die pädagogischen Reformer Cecil Reddie (1858) in England, Berthold Otto (1859) in Deutschland, Jane Addams (1860) in den Vereinigten Staaten und Maria Montessori (1870) in Italien oder den spanischen Architekten Antonio Gaudí (1852).

Rudolf Steiners Eltern Franziska Steiner (1834–1918) und Johann Steiner (1829–1910). Seine Mutter beschrieb Steiner als eine stille Frau, die sich ganz Haus und Garten hingab, den Vater als einen wohlwollenden Mann mit einem zuweilen aufbrausenden Temperament.
Im Gegensatz zu den meisten von ihnen wuchs Rudolf Steiner nicht im kunstsinnigen städtischen Bildungsbürgertum auf, sondern im besitzlosen kleinbürgerlich-ländlichen Milieu und in der sprachlichen Diaspora. Als Österreicher in der Fremde geboren, als ein Auswärtiger im Dorf und wegen seiner intellektuellen Interessen ein Fremdling im Elternhaus: so erlebte Rudolf Steiner seine Kindheit und Jugend. Geographische und soziale Heimatlosigkeit kennzeichnete auch seinen weiteren Lebensweg. Die elf Stationen seines Lebens und Wirkens, die ihn über Wien nach Weimar, Berlin, Stuttgart und schließlich nach Dornach bei Basel in die Schweiz führten, ließen ihn nirgendwo feste Wurzeln schlagen. Einen festen Wohnsitz, ein eigenes Haus und einen soliden bürgerlichen Beruf erwarb Steiner nirgendwo. Und beide Ehen, die er in seinem späteren Leben schloss, blieben kinderlos.
Ausschlaggebend für den Lebensweg des jungen Steiner waren seine Lust am Lernen und seine weitgespannten Interessen. Durch seine schulischen Lernerfolge konnte er aus dem dörflichen Milieu herauswachsen und Zugang zum intellektuellen Leben seiner Zeit finden. Sein Vater erkannte früh die Begabung des Sohnes und sorgte dafür, dass er neben dem Unterricht in der Volksschule «Extrastunden» erhielt. Damit sein Sohn die Höhere Schule besuchen und später einmal Eisenbahningenieur werden konnte, ließ sich der Vater an eine Bahnstation in die Nähe von Wiener Neustadt versetzen. Wegen seiner guten Schulnoten wurde Steiner in der lateinlosen, naturwissenschaftlich ausgerichteten Oberrealschule als «Vorzugsschüler» geführt; dadurch mussten seine Eltern kein Schulgeld mehr entrichten. Schon als Fünfzehnjähriger begann er überdies damit, Nachhilfeunterricht zu erteilen und so zu seinem eigenen Unterhalt beizutragen. Seine Maturitätsprüfung, die dem deutschen Abitur entspricht, bestand er «mit Auszeichnung». Damit erfüllte er die Voraussetzung für ein Studienstipendium an einer Technischen Hochschule, das ihm die österreichische Südbahn auf Antrag des Vaters auch prompt gewährte.

Rudolf Steiner als Maturant (Abiturient)
der Oberrealschule Wiener-Neustadt, 1879
Trotz seines schulischen Erfolges blieb jedoch der kulturelle Horizont des jungen Steiner zunächst sehr beschränkt. Den Weg zu Literatur und Geistesgeschichte bahnte sich Steiner unabhängig von der Schule selbst. Als leidenschaftlicher Autodidakt las er sich schon als Schüler in die Philosophie des Deutschen Idealismus (Kant, Herbart u. a.) ein.
Steiner führte sein besonderes Interesse an philosophischen und religiös-weltanschaulichen Fragen in seinen späteren autobiographischen Betrachtungen auf seine von Elternhaus und Schule unbeachtete Fähigkeit zur Erfahrung übersinnlich-geistiger Gegebenheiten zurück, die sich bei ihm angeblich bereits im Alter von sieben Jahren mit der telepathischen Wahrnehmung des Selbstmordes seiner Tante zeigte. Im autobiographischen Rückblick war ihm die Wirklichkeit der geistigen Welt schon früh ebenso gewiss wie die der sinnlichen. Die Spannung zwischen beiden Sphären sollte sein weiteres Leben, Denken und Wirken wie das Hauptthema eine Symphonie durchziehen.
Mit einem Stipendium versehen immatrikulierte sich der naturwissenschaftlich-technisch gebildete, aber viel stärker philosophisch-literarisch interessierte Rudolf Steiner im Jahre 1879 an der Technischen Hochschule in Wien für die Fächer Mathematik, Naturgeschichte und Chemie. Über ein ungeliebtes «Brotstudium» wollte er Realschullehrer werden. Die Tore der ihn eigentlich viel stärker anziehenden Philosophischen Fakultät der Universität Wien blieben dem begabten jungen Studenten verschlossen, weil er nicht die erforderliche gymnasiale Matura in Latein (und Griechisch) erworben hatte.

Student der Mathematik, Naturgeschichte und Chemie:
Rudolf Steiner um 1882
Als armer und zweitklassiger Student vom Lande fand Steiner nur einen schmalen Zugang zum kulturellen Leben in der Metropole der Donaumonarchie. Die Welt der Aristokratie und des industriellen Großbürgertums, in welcher Johann Strauß mit seinen Operetten gerade rauschende Triumphe feierte, blieb ihm ebenso versperrt wie die des Proletariats in den Arbeitervorstädten. Die komplexen sozialen Problemlagen und stetig sich verschärfenden Spannungen in diesem Wiener «Laboratorium der Moderne» registrierte Steiner gleichwohl wach und sensibel. Er befasste sich intensiv mit den politischen Fragen der Zeit, die stark vom erwachenden Nationalismus und Antisemitismus im Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn bestimmt waren.
Doch diese Beschäftigung hatte ihren Preis: Steiner beendete sein naturwissenschaftliches Studium im Jahre 1883 ohne Abschluss. Nunmehr mittellos verdiente er sich seinen Lebensunterhalt von 1884 bis 1890 als Hauslehrer und Erzieher in der großbürgerlichen Familie des jüdischen Baumwollimporteurs Ladislaus Specht in Wien. Hier hatte er vier Knaben zu erziehen, wobei ihm insbesondere die Erziehung und Förderung des jüngsten, an Hydrocephalus – «Wasserkopf» – leidenden Sohnes anvertraut wurde. Im Laufe der Zeit gelang es ihm, den Knaben so zu fördern, dass er das Lernpensum der Volksschule nachholen und das Gymnasium regulär absolvieren konnte.
So ernst der Hauslehrer seine pädagogische Alltagsarbeit auch nahm, band sie keineswegs alle seine intellektuellen Energien. Steiner suchte – und fand – Anschluss an Gleichgesinnte. Die literarischen und weltanschaulichen Kreise, in denen der junge Steiner damals – insbesondere im Umfeld der Dichterin Marie Eugenie delle Grazie (1864–1931) – verkehrte, waren überwiegend von einer rückwärtsgewandten idealistischen und spätromantischen Atmosphäre und von katholisch-theologischen Orientierungen bestimmt. Und so stand auch Steiner selbst, der sich nebenher als Theaterkritiker und Redakteur einer deutsch-national gesonnenen politischen Zeitschrift versuchte, den vielen Gestalten des Fortschritts – zur gleichen Zeit und am gleichen Ort entwickelte Sigmund Freud die Grundlagen der Psychoanalyse – höchst skeptisch gegenüber. In die letzten Jahre seiner Wiener Zeit fielen auch erste Kontakte zur Gruppe der Theosophen, zu deren Ideen Steiner zunächst eine entschieden ablehnende Haltung einnahm.
Während seiner Wiener Studien- und Hauslehrerzeit begann Steiner damit, sich philosophierend mit dem «Geist seiner Zeit» auseinanderzusetzen und eine eigene weltanschauliche Position zu beziehen, die sich als evolutionärer objektiver Idealismus bezeichnen lässt. Das philosophische Denken in Mitteleuropa war in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts durch die Tendenzen der «Verleiblichung» und der Verwissenschaftlichung geprägt. Seit dem Zusammenbruch des Idealismus nach Hegels Tod war die Vernunftmetaphysik fraglich geworden, und es setzte sich mit den philosophischen Lehren Schopenhauers und Nietzsches bis hin zur Psychoanalyse Freuds die Auffassung durch, dass die Vernunft nicht mehr das Erste und Mächtigste sei, was das Handeln bestimmt, sondern vielmehr der Wille im Sinne eines dunklen Dranges der Begierden und Triebe. Damit wurde nicht mehr der Geist, sondern der Leib ausdrücklich als maßgeblich gesetzt; denn dieser ist der Träger des Willens. Nicht mehr die Vergeistigung, sondern die Verleiblichung ist die Aufgabe, die dem Menschen nach Nietzsche gestellt ist. Auch in der materialistischen Geschichtsdeutung durch Karl Marx ist nicht mehr die sich entfaltende Vernunft wie bei Hegel der Bestimmungsfaktor der Geschichte, sondern der jeweilige Stand der Produktivkräfte, der sich von der ökonomischen Wissenschaft objektiv bestimmen lässt. Geschichtsrelevantes Handeln entspringt auch nicht mehr dem Bewusstsein einzelner, sondern den materiellen Interessen der sozialen Klassen.
Parallel zu dieser Entthronung der idealistischen Metaphysik veränderte sich im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts auch das Verhältnis von Philosophie und Wissenschaft. Beide entfremdeten sich zunehmend voneinander. Bis zur Philosophie des Idealismus bei Hegel und Schelling hatte die Naturwissenschaft mit der Philosophie eine Einheit gebildet, weil es beiden um die Erkenntnis der Grundlagen und der ewigen Ordnung der Welt ging. Die Naturwissenschaft erhielt ihren Rang erst, wenn sie von der Philosophie auf ein systematisch begründetes Fundament gestellt wurde. Mit dem Siegeszug der exakten Naturwissenschaften im neunzehnten Jahrhundert, der wesentlich auf der Abwendung von den idealistischen Systemen und auf einer Vergleichgültigung der Frage nach dem Wesen der Dinge beruhte, trennten sich die Wege.
Die rasante eigenständige Entwicklung der Wissenschaft wurde nach der Jahrhundertmitte von den Zeitgenossen als ein sich ständig beschleunigender Erkenntnisfortschritt und als eine explosionsartige Vermehrung von Spezialwissen erfahren, das anders als noch zur Zeit Goethes und Hegels für eine einzelne Person nicht mehr überschaubar war. Philosophie erschien nun vielen nur noch als Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie möglich. Ein allumfassendes wissenschaftliches Weltbild wurde zur Sache von Dilettanten und Wissenschaftspopularisatoren. Zur Befriedigung der Sinnbedürfnisse, die das spezialisierte und professionell erzeugte wissenschaftliche Wissen nicht mehr stillen konnte, entstanden neue Weltanschauungen, die im Unterschied zu den überlieferten religiösen Glaubenslehren mit dem Anspruch auf Wissenschaftlichkeit auftraten.
Die populärste wissenschaftliche Weltanschauung des letzten Jahrhundertdrittels war der Evolutionismus, der sich auf Darwins Forschungen über «Die Entstehung der Arten» berief. Zu Rudolf Steiners Studienzeit war für viele seiner gebildeten Zeitgenossen die Überzeugung maßgebend, dass nicht mehr Religion und Philosophie, sondern die Naturwissenschaft das eigentliche Terrain sei, auf dem sich der denkende Mensch zu bewegen habe. Die Humanisierung der Kultur durch das wissenschaftliche Denken sei der Sinn der Geschichte, der sich aus der Evolution alles Lebendigen ergebe. Der weltanschauliche Evolutionismus verknüpfte erneut Wissenschaft mit Metaphysik, weil er wie die frühere idealistische Geschichtsphilosophie plausibel machte, dass die Entwicklung «nach oben» zu umfassender Humanität führte. Diese Teleologie wird jedoch nicht durch die Objektivierung des Geistes bestimmt, sondern ergibt sich – so suggerieren ihre Verfechter – empirisch aus dem Gang der Natur selber.
Der erfolgreichste Streiter für diesen weltanschaulichen Evolutionismus war der an der Universität Jena lehrende Zoologe Ernst Haeckel (1834–1919). Von der Abstammungslehre Darwins her und auf der Grundlage eigener Studien entwarf Haeckel eine evolutionäre Weltanschauung, die sich mit der monistischen Vorstellung von einer allem Lebendigen zugrunde liegenden sowohl materiellen als auch ideellen Substanz eng an die idealistische Naturauffassung Goethes anlehnte. In Haeckels populärwissenschaftlichen Schriften wurde der Begriff des Monismus zur Chiffre für eine freireligiöse Weltanschauung, in der sich die moderne naturwissenschaftliche Evolutionslehre mit einer pantheistischen Religiosität verband.
Wie viele andere war auch Rudolf Steiner von Haeckels Monismus und vom Grundgedanken der teleologischen Evolution einer zugleich ideellen und materiellen Ursubstanz stark beeindruckt. Seine ersten philosophischen Notizen und Reflexionen zeigen ihn allerdings zunächst noch stärker einem vordarwinistischen idealistischen All-Einheitsdenken verhaftet, als dessen Gewährsmänner er Denker des Deutschen Idealismus wie Fichte und Schelling bemüht. Kurz vor seinem zwanzigsten Geburtstag schrieb Steiner an einen Freund über seine fundamentale philosophische Intuition:
Es war die Nacht vom 10. auf den 11. Januar, in der ich keinen Augenblick schlief. Ich hatte mich bis ½ 1 Uhr mitternachts mit einzelnen philosophischen Problemen beschäftigt, und da warf ich mich endlich auf mein Lager; mein Bestreben war voriges Jahr, zu erforschen, ob es denn wahr wäre, was Schelling sagt: «Uns allen wohnt ein geheimes, wunderbares Vermögen bei, uns aus dem Wechsel der Zeit in unser innerstes, von allem was von außen hinzukam entkleidetes Selbst zurückzuziehen und da unter der Form der Unwandelbarkeit das Ewige in uns anzuschauen.» Ich glaubte und glaube nun noch, jenes innere Vermögen ganz klar an mir entdeckt zu haben – geahnt habe ich es ja schon längst; die ganze idealistische Philosophie steht nun in einer wesentlich modifizierten Gestalt vor mir; was ist eine schlaflose Nacht gegen einen solchen Fund. (GA 38, 13)
Steiner brachte in seinen Wiener Jahren die mystisch-religiöse Dimension seines Denkens unverstellt zum Ausdruck. In seinem «Credo – Der Einzelne und das All», das er als Siebenundzwanzigjähriger niederschrieb, wird der Grundriss seiner idealistischen Weltanschauung, die an den Neuplatonismus erinnert, genauer erkennbar. Zentrale Aussagen sind:
Die Ideenwelt ist der Urquell und das Prinzip alles Seins. In ihr ist unendliche Harmonie und selige Ruhe. […] Die Idee ist der in sich klare, in sich selbst und mit sich selbst sich genügende Geist. […] Der Mensch aber fühlt und erkennt als Einzelnes sich, wenn er zu seinem vollen Bewusstsein erwacht. Dabei aber hat er die Sehnsucht nach der Idee eingepflanzt. […] Lasse die Einzelheit dahinfahren und folge der Stimme in Dir, denn sie nur ist das Göttliche! […] Handelt man «im Geiste», dann lebt man sich hinein das allgemeine Weltwirken. Ertötung aller Selbstheit, das ist die Grundlage für das höhere Leben. Denn wer die Selbstheit abtötet, der lebt ein ewiges Sein. […] Es gibt vier Sphären menschlicher Tätigkeit, in denen der Mensch sich voll hingibt an den Geist mit Ertötung des Eigenlebens: die Erkenntnis, die Kunst, die Religion und die liebevolle Hingabe […]. Hat der Mensch sich durch eine der vier Sphären hindurch, aus der Einzelheit heraus, in das göttliche Leben der Idee eingelebt, dann hat er das erreicht, wozu der Strebenskeim in seiner Brust liegt: seine Vereinigung mit dem Geiste; und dies ist seine wahre Bestimmung. (GA 40, 1981, 274f.)
Steiner sollte in den folgenden Jahren die Möglichkeit und Notwendigkeit der Erfahrung der ewigen Ideenwelt am Beispiel der idealistischen Morphologie des Naturforschers Goethe, aber auch in seinen eigenen «erkenntnistheoretischen» Schriften darlegen.
Credo
Der Einzelne und das All (um 1888)
Die Ideenwelt ist der Urquell und das Prinzip alles Seins. In ihr ist unendliche Harmonie und selige Ruhe. Das Sein, das sie mit ihrem Lichte nicht beleuchtete, wäre ein totes, wesenloses, das keinen Teil hätte an dem Leben des Weltganzen. Nur, was sein Dasein von der Idee herleitet, das bedeutet etwas am Schöpfungsbaume des Universums. Die Idee ist der in sich klare, in sich selbst und mit sich selbst sich genügende Geist. Das Einzelne muß den Geist in sich haben, sonst fällt es ab, wie ein dürres Blatt von jenem Baume, und war umsonst da.
Der Mensch aber fühlt und erkennt als Einzelnes sich, wenn er zu seinem vollen Bewußtsein erwacht. Dabei aber hat er die Sehnsucht nach der Idee eingepflanzt. Diese Sehnsucht treibt ihn an, die Einzelheit zu überwinden und den Geist in sich aufleben zu lassen, dem Geiste gemäß zu sein. Alles, was selbstisch ist, was ihn zu diesem bestimmten, einzelnen Wesen macht, das muß der Mensch in sich aufheben, bei sich abstreifen, denn dieses ist es, was das Licht des Geistes verdunkelt. Was aus der Sinnlichkeit, aus Trieb, Begierde, Leidenschaft hervorgeht, das will nur dieses egoistische Individuum. Daher muß der Mensch dieses selbstische Wollen in sich abtöten, er muß statt dessen, was er als Einzelner will, das wollen, was der Geist, die Idee in ihm will. Lasse die Einzelheit dahinfahren und folge der Stimme der Idee in Dir, denn sie nur ist das Göttliche! Was man als Einzelner will, das ist am Umfange des Weltganzen ein wertloser, im Strom der Zeit verschwindender Punkt; was man « im Geiste » will, das ist im Zentrum, denn es lebt in uns das Zentrallicht des Universums auf; eine solche Tat unterliegt nicht der Zeit. Handelt man als Einzelner, dann schließt man sich aus der geschlossenen Kette des Weltwirkens aus, man sondert sich ab. Handelt man «im Geiste», dann lebt man sich hinein in das allgemeine Weltwirken. Ertötung aller Selbstheit, das ist die Grundlage für das höhere Leben. Denn wer die Selbstheit abtötet, der lebt ein ewiges Sein. Wir sind in dem Maße unsterblich, in welchem Maße wir in uns die Selbstheit ersterben lassen. Das an uns Sterbliche ist die Selbstheit. Dies ist der wahre Sinn des Ausspruches: «Wer nicht stirbt, bevor er stirbt, der verdirbt, wenn er stirbt.» Das heißt, wer nicht die Selbstheit in sich aufhören läßt während der Zeit seines Lebens, der hat keinen Teil an dem allgemeinen Leben, das unsterblich ist, der ist nie dagewesen, hat kein wahrhaftes Sein gehabt.
Es gibt vier Sphären menschlicher Tätigkeit, in denen der Mensch sich voll hingibt an den Geist mit Ertötung alles Eigenlebens: die Erkenntnis, die Kunst, die Religion und die liebevolle Hingabe an eine Persönlichkeit im Geiste. Wer nicht wenigstens in einer dieser vier Sphären lebt, lebt überhaupt nicht. Erkenntnis ist Hingabe an das Universum in Gedanken, Kunst in der Anschauung, Religion im Gemüte, Liebe mit der Summe aller Geisteskräfte an etwas, was uns als ein für uns schätzenswertes Wesen des Weltganzen erscheint. Erkenntnis ist die geistigste, Liebe die schönste Form selbstloser Hingabe. Denn Liebe ist ein wahrhaftes Himmelslicht in dem Leben der Alltäglichkeit. Fromme, wahrhaft geistige Liebe veredelt unser Sein bis in seine innerste Faser, sie erhöht alles, was in uns lebt. Diese reine fromme Liebe verwandelt das ganze Seelenleben in ein anderes, das zum Weltgeiste Verwandtschaft hat. In diesem höchsten Sinne lieben, heißt den Hauch des Gotteslebens dahin tragen, wo zumeist nur der verabscheuungswürdigste Egoismus und die achtungslose Leidenschaft zu finden ist. Man muß etwas wissen von der Heiligkeit der Liebe, dann erst kann man von Frommsein sprechen.
Hat der Mensch sich durch eine der vier Sphären hindurch, aus der Einzelheit heraus, in das göttliche Leben der Idee eingelebt, dann hat er das erreicht, wozu der Strebenskeim in seiner Brust liegt: seine Vereinigung mit dem Geiste; und dies ist seine wahre Bestimmung. Wer aber im Geiste lebt, lebt frei. Denn er hat sich alles Untergeordneten entwunden. Nichts bezwingt ihn, als wovon er gerne den Zwang erleidet, denn er hat es als das Höchste erkannt.
Lasse die Wahrheit zum Leben werden; verliere Dich selbst, um Dich im Weltgeiste wiederzufinden!
Quelle: Rudolf Steiner: Wahrspruchworte (ca. 1886–1925). GA 40. Dornach 1981, S. 274f.
Terminologisch dem Geist seiner Zeit huldigend, stellte Rudolf Steiner seinen fachphilosophisch unzeitgemäßen mystisch-vorkritischen Idealismus als eine «moderne Weltanschauung» dar, die sich durch «Beobachtungs-Resultate nach naturwissenschaftlicher Methode» empirisch beweisen lasse, wie es auf dem Titelblatt der Erstausgabe seiner Philosophie der Freiheit aus dem Jahre 1894 heißt.
Die mathematisch-naturwissenschaftlichen Studien an der Technischen Hochschule Wien boten Steiner für die Entwicklung seiner philosophisch-weltanschaulichen Fragen nicht den geeigneten Raum. Diesen fand er schon früh in den von ihm zusätzlich belegten Vorlesungen des Literaturwissenschaftlers und Volkskundlers Karl Julius Schröer. Dieser hatte sich vor allem als Mundartforscher profiliert, der die Dialekte und Volksdichtungen der deutschen Sprachinseln des Balkans erforschte. Die große Leidenschaft des Literaturwissenschaftlers Schröer aber gehörte Goethe und seiner Zeit. Rudolf Steiner sah mit Schröers Augen die Größe und Erhabenheit der Goethezeit und begriff wie sein akademischer Lehrer die eigene Gegenwart als eine Zeit des Niedergangs. Schröers idealistische Auffassung kam zugleich Steiners Ringen um die Klärung seiner eigenen Weltanschauung entgegen. Der Literaturwissenschaftler Schröer edierte damals gerade die Dramen Goethes in dem monumentalen Sammelwerk der Deutschen National-Litteratur. Er schlug dem Gesamtherausgeber Joseph Kürschner als Bearbeiter für die auf fünf Bände angelegten naturwissenschaftlichen Schriften Goethes den gerade einundzwanzigjährigen Studenten Rudolf Steiner vor. Nachdem Kürschner zugestimmt hatte, entschied sich der philosophische Autodidakt und philologische Laie Steiner für eine wissenschaftliche Karriere, die ihn von Anfang an mit dem Risiko der Mittellosigkeit konfrontierte. Denn auch Steiner musste ja wissen, dass eine solche «Karriere» ohne Promotion in Deutschland und Österreich inzwischen vollkommen unmöglich war.
Nach einer Talentprobe wurde Steiner 1886 zur Mitarbeit an der bis heute größten Goethe-Edition, der «Weimarer- oder Sophien-Ausgabe», aufgefordert: Er sollte sechs Bände mit den morphologischen Schriften Goethes textkritisch edieren. Im Sommer 1889 reiste er zum ersten Mal nach Weimar, in die Stadt der Klassiker Goethe, Schiller und Herder, um seine künftige Arbeitsstätte und seinen Aufgabenbereich kennenzulernen. Im Jahre 1890 begann er mit der Editionsarbeit.
Von 1890 bis 1896 wirkte Steiner als schlecht bezahlter freier Mitarbeiter am Goethe- und Schiller-Archiv in der kleinen thüringischen Residenzstadt Weimar. In einem geistigen Höhenflug begann er damit, aus dem unaufgearbeiteten Material die fünf Bände der naturwissenschaftlichen Schriften Goethes für die «Sophien-Ausgabe» zu edieren. Schon bald wurde die anfangs von ihm als faszinierend empfundene Archivarbeit für ihn jedoch zur Qual. Denn er verstand sich bei seiner Aufgabe nicht primär als quellenkritischer Philologe, sondern als philosophischer Sachwalter der völlig im Gegensatz zu den zeitgenössischen experimentell-quantifizierenden Naturwissenschaften stehenden idealistischen Naturforschung Goethes. Während diese bei den Zeitgenossen Steiners schon in Vergessenheit geraten war oder kaum mehr respektiert wurde, war für ihn «Goethe […] der Kopernikus und Kepler der organischen Welt» (GA 1, 1949, 95).
Tatsächlich widmete Goethe seinen heute zumeist vergessenen, nur noch wissenschaftsgeschichtlich interessanten naturwissenschaftlichen Studien mehr Zeit als seinen klassisch gewordenen Dichtungen. Deshalb darf man ihn mit Recht als einen Naturforscher bezeichnen, der auch Dichter war. Bis ins hohe Alter interessierten ihn naturwissenschaftliche Probleme auf das Lebhafteste: Die letzten Seiten, die er vor seinem Tode im März 1832 niederschrieb, betrafen das biologische Problem der Evolution und Konstanz der Arten. Goethe hat in ganz unterschiedlichen Bereichen der Naturwissenschaften geforscht: der Optik (Farbenlehre), der Geologie und Meteorologie, der Botanik und der Zoologie (Morphologie). Die Naturwissenschaften waren zu seiner Zeit noch nicht zur professionalisierten Forschung von Spezialisten in der Scientific Community ausdifferenziert, sondern galten als ein Bereich der allgemeinen Bildung. Den wesentlichen Gewinn der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse sah auch Goethe primär in der Steigerung der Selbsterkenntnis.

Archivar und Sachwalter der Goetheschen Naturforschung:
Rudolf Steiner in Weimar, um 1892
Die Voraussetzung für diese Ansicht Goethes und vieler seiner Zeitgenossen war die Annahme einer inneren Verwandtschaft von Mensch und Natur. In seiner Farbenlehre brachte Goethe diesen Grundsatz als die Verwandtschaft von Licht und Auge auf den Begriff. In den Zahmen Xenien heißt es mit dem Neuplatoniker Plotin: «Wär’ nicht das Auge sonnengleich, die Sonne könnt’ es nie erblicken.» In seiner Morphologie ging Goethe davon aus, dass sich der Bildungsprozess der organischen Gestalten im Menschen vollende. Die Natur wird in der Nachfolge Spinozas nicht nur als gegebene Dingwelt im Sinne eines fertigen Produkts (natura naturata) betrachtet, sondern auch als der permanente tätige Prozess der Hervorbringung der Gestalten (natura naturans) verstanden. Deshalb muss der Naturforscher über die Kenntnis der Gesetzmäßigkeiten zwischen den Produkten der Natur hinausgehen und diese als Werke einer produzierenden Kraft verstehen, welche allen Wesen ihre Form gibt. Der adäquate Weg zur Erfassung der Gestaltungskräfte, die in den Naturphänomenen zum Ausdruck kommen, ist nicht die objektivierende Messung und Abstraktion, sondern das tief eindringende Verstehen durch inneren Mitvollzug – die «gleichstellende Erkenntnis» (Jonas Cohn). In der demütigen Anschauung der Gestaltenfülle der Natur erscheinen dem Menschen die Urphänomene und Typen, erscheinen Kontinuität und Wandlung, Maß und Wesen der Dinge. Das «sonnenhafte» menschliche Auge erkennt die Farben als «Taten und Leiden des Lichts» in seiner Auseinandersetzung mit der Finsternis, das Leben in uns versteht das andere Lebendige, der emporstrebende Geist des Menschen erlebt die Steigerung in der Natur. Das uralte Bild vom Menschen als Mikrokosmos ist die Grundlage für Goethes «gleichstellendes Erkennen»: Was der Mensch an Kräften besitzt, gehört der großen All-Natur an und ist zum Organ des Erkennens auszubilden – Sinnesempfindung, Phantasie, exakte Beobachtung und logisches Denken.
Den schärfsten Gegensatz zur gleichstellenden Erkenntnis sieht Goethe in der «beherrschenden» Methode der mathematisierenden Physik. Denn hier missachte der Forscher das Phänomen und verfüge experimentell über das ihm innerlich fremde Erkenntnisobjekt. Goethe wirft im historischen Teil seiner Farbenlehre Newton vor, dass dieser sich bei der Erforschung des Lichts von dem zu untersuchenden Phänomen trenne und dabei die Vorstellung von einer harmonischen, sinnlich unmittelbar erfahrbaren Entsprechung zwischen Mensch und Natur – hier zwischen Auge und Licht – eliminiere. Newtons «beherrschende» Forschungsmethode ziele auf Isolierung, analytische Zergliederung und Messbarkeit des Gegenstandes – hier des Lichts. Die experimentelle und quantifizierende Naturwissenschaft Newtons und seiner Nachfolger «[spannt] die Natur auf die Folter, um sie zu dem Bekenntnis dessen zu nötigen, was er schon vorher bei sich festgesetzt hatte» (Goethe).
Während für Newton die Welt der Phänomene nur den subjektiv-trügerischen Schein einer dahinter verborgenen, nur modellhaft-abstrakt erkennbaren und mathematisch formulierbaren Wahrheit darstellt, offenbart sich für Goethe die Wahrheit allein in den sinnlich fassbaren Phänomenen selbst. Im nicht weiter reduzierbaren «Urphänomen» zeige sich der Anschauung unmittelbar die wirkende Gesetzlichkeit der Natur. Die Aufgabe des Naturforschers sei es deshalb, alle Einzelphänomene eines Gegenstandsfeldes genetisch auf das ihnen zugrunde liegende Urphänomen zurückzuführen. In seiner vergleichenden Morphologie erfasst Goethe die Gestaltenfülle der Pflanzenwelt als Modifikationen eines Typus durch Metamorphosen, in deren Steigerungsfolge sich das reine Phänomen manifestiert. Seine genetische Betrachtungsweise zielt auf die Erfassung der Grundgestalten (etwa der «Urpflanze»), das heißt der unbekannten, nur geahnten Ideen, nach denen die immer schaffende Natur (natura naturans) verfährt.
Indem er sich ganz mit diesem «empirischen Idealismus» Goethes identifizierte, resümierte Rudolf Steiner dessen Grundsatz so:
Der Gedanke ist ganz klar: Eine ideelle, typische Form, die als solche selbst nicht sinnenfällig wirklich ist, realisiert sich in einer unendlichen Menge räumlich voneinander getrennter und ihren Eigenschaften nach verschiedener Wesen bis herauf zum Menschen. Auf den niederen Stufen der Organisation verwirklicht sie sich stets nach einer bestimmten Richtung; nach dieser bildet sie sich besonders aus. Indem diese typische Form bis zum Menschen heransteigt, nimmt sie alle Bildungsprinzipien, die sie bei den niederen Organismen immer nur einseitig ausgebildet hat, die sie auf verschiedene Wesen verteilt hat, zusammen, um eine Gestalt zu bilden. Daraus geht auch die Möglichkeit einer so hohen Vollkommenheit beim Menschen hervor. Bei ihm hat die Natur auf ein Wesen verwendet, was sie bei den Tieren auf viele Klassen und Ordnungen zerstreut hat. (GA 1, 1949, 42)
Steiner betrachtete die von ihm edierten naturwissenschaftlichen Schriften Goethes nicht mit den Augen des detailbesessenen, textgetreuen Philologen. Er begriff sich vielmehr als der geistesverwandte philosophische Interpret der Goetheschen Weltanschauung in einer dem Positivismus verfallenen Epoche. Steiner fand gerade in Goethes idealistischer Morphologie empirische und naturphilosophische Antworten auf Fragen nach dem Verhältnis von Idee und Wirklichkeit sowie nach der Stellung und Aufgabe des Menschen in der Welt, die ihn schon seit seiner Wiener Studienzeit bewegt hatten. Die besondere Sendung des Menschen in der Natur ergibt sich für Goethe wie für Steiner aus dem Sachverhalt, dass im Inneren der menschlichen Person wie in einem Mikrokosmos alle Bildungsprinzipien der äußeren Natur zusammenwirken und gleichsam zur Sprache kommen. Gern zitierte Steiner immer wieder den enthusiastischen, menschheitsreligiösen Satz Goethes aus seinem Aufsatz über Winckelmann:
Wenn die gesunde Natur des Menschen als ein Ganzes wirkt, wenn er sich in der Welt als einem großen, schönen, würdigen und werten Ganzen fühlt, wenn das harmonische Behagen ihm ein reines, freies Entzücken gewährt – dann würde das Weltall, wenn es sich selbst empfinden könnte, als an sein Ziel gelangt aufjauchzen und den Gipfel des eigenen Werdens und Wesens bewundern. (Goethe 1989, 98)
Der Naturforscher Goethe erkannte, so Steiners Deutung, mittels seiner produktiven Einbildungskraft überall in der Stufenordnung der Natur das Walten der Ideen. Während aber Goethe sich dabei der Begrenztheit seiner Erkenntnis und des Abstandes seines endlichen Geistes vom absoluten bewusst war und aus Ehrfurcht vor dem Unerforschlichen in der sinnlichen Anschauung der Phänomene verblieb, drängte es Steiner von Anfang an über die von Kant gezogenen Schranken der Verstandeserkenntnis hinaus zur unmittelbaren intellektuellen Anschauung der Ideenwelt. Durch die Konzentration auf die Ideenlehre des frühen Goethe und die Vernachlässigung von Goethes Kant-Rezeption sowie durch die enge Bindung der Metamorphosenlehre Goethes an den Darwinismus nahm Steiner Goethes Vorstellungen für seinen eigenen erkenntnistheoretischen Monismus in Anspruch, welchen er im Jahre 1897 als Goethes Weltanschauung (GA 6) darstellte.
In seinen philosophischen Frühschriften übertrug Steiner die von ihm charakterisierte Forschungsmethode Goethes auf den menschlichen Geist als Forschungsgegenstand. So versuchte er, in der Selbstanschauung des Denkens das Walten der Ideen in der menschlichen Erkenntnistätigkeit «empirisch» nachzuweisen. Selbstbewusst bezog er eine eigene philosophische Position:
Unser Standpunkt ist Idealismus, weil er in der Idee den Weltgrund sieht; er ist Realismus, weil er die Idee als das Reale anspricht; und er ist Positivismus oder Empirismus, weil er zu dem Inhalt der Idee nicht durch apriorische Konstruktion, sondern zu ihm als einem Gegebenen kommen will. Wir haben eine empirische Methode, die in das Reale dringt und sich im idealistischen Forschungsresultat zuletzt befriedigt. (GA 1, 1949,169)
So differenzierte Steiner sein objektiv-idealistisches «Credo» erkenntnistheoretisch weiter aus. Seiner pantheistisch-anthropozentrischen Metaphysik zufolge hatte sich die Idee beziehungsweise der Weltgrund vollständig in die Welt ausgegossen. Die höchste Form, in der sie in der Wirklichkeit auftrete, sei im Stufenreich des Kosmos das menschliche Denken. Deshalb könnten wir uns in der Beobachtung unseres Denkens – ähnlich wie Goethe in der Anschauung der Naturgestalten – der Idee vergewissern, könnten wir uns als Einzelne mit dem Urgrund der Welt, mit dem All-einen Wesen verbinden, das alles durchdringt.
Im Jahre 1893 erschien Steiners philosophisches Hauptwerk Die Philosophie der Freiheit. Grundzüge einer modernen Weltanschauung. Beobachtungsresultate nach naturwissenschaftlicher Methode (GA 4). In der damals vom Neukantianismus und vom Historismus beherrschten Fachwelt fand es keinerlei Beachtung; bis heute bleibt die Resonanz aus. Nur wenige Exemplare der ersten Auflage des Buches wurden verkauft; die Rezensionen der damals renommierten deutschen Philosophen Eduard von Hartmann und Arthur Drews waren vernichtend (siehe GA 28, 1962, 244ff.).
Schon am Ende seiner Wiener Jahre und vor allem während seiner Arbeit an der Herausgabe der naturwissenschaftlichen Schriften Goethes in Weimar träumte Steiner von einer akademischen Karriere. Seine Wünsche richteten sich auf eine Professur für Philosophie. Einige Jahre lang bemühte er sich vergeblich darum, dass für ihn an der Technischen Hochschule Wien ein Lehrstuhl für Philosophie geschaffen würde. Seine «lateinlose» Vorbildung an der Oberrealschule und sein mathematisch-naturwissenschaftliches Studium an der Technischen Hochschule ließen damals keine Promotion an einer Universität zu. Gleichwohl begann Steiner 1890 mit der Abfassung eines schmalen Werkes mit dem Titel Die Grundfrage der Erkenntnistheorie mit besonderer Rücksicht auf Fichtes Wissenschaftslehre. – Prolegomena zur Verständigung des philosophierenden Bewusstsein mit sich selbst, das er im Jahr darauf als Dissertation an der Philosophischen Fakultät der Universität Rostock einreichte.
In dieser Schrift, die er im Jahre 1892 mit einigen Ergänzungen unter dem Titel Wahrheit und Wissenschaft veröffentlichte, entwarf er erstmals im Rückgang auf die Analyse des Erkennens seine objektiv-idealistische Philosophie. Die Rostocker Fakultät erklärte sich schließlich bereit, diese von einem Externen schon fertig vorgelegte Schrift als Dissertation anzunehmen, und beantragte beim Landesfürsten den Dispens des Kandidaten von den üblichen Anforderungen – mit Erfolg. Steiner wurde zur Promotion zugelassen und bestand am 23. Oktober 1894 das Examen, allerdings nur mit der schwächsten Note «rite».
Steiner hatte offensichtlich mehr erhofft als nur den Doktortitel. Doch das Examen ohne Prädikat hindert ihn daran, sich – wie geplant – in der Nähe der Goethestadt Weimar an der Universität Jena habilitieren zu lassen. Seinen lang gehegten Plan, in eine Universitätslaufbahn einzutreten, musste er definitiv begraben. Wie wäre wohl sein weiterer Lebensgang verlaufen, wenn er mit «summa cum laude» zum «philosophiae doctor» promoviert worden wäre? Von einer Professur in Jena aus wäre Steiner wahrscheinlich nicht in Kontakt mit der Theosophischen Gesellschaft geraten, und er wäre wohl auch kaum zur Herausbildung der Anthroposophie mit ihrer internationalen Anhängerschaft veranlasst worden!
Ohne Aussicht auf eine wissenschaftliche Karriere beendete Rudolf Steiner 1896 offiziell seine Editionstätigkeit am Goethe- und Schiller-Archiv in Weimar. Ohne Beschäftigung und ohne klare Zukunftsperspektive versuchte er nun, für sein Leben eine neue Richtung zu entdecken. Nachdem er anfangs in Friedrich Nietzsche und Max Stirner neue Vorbilder gesucht hatte, fand er nach jahrelangem intellektuellen Herumirren durch das ihm innerlich fremd bleibende Berlin schließlich in der Theosophie seine definitive weltanschauliche Heimat. Von dieser Berliner Zeit sprach Steiner später als einer «Höllenfahrt».
Seine Weimarer Jahre beendete Steiner durch den Entschluss, zusammen mit dem Theaterschriftsteller Otto Erich Hartleben (1864–1905) die Herausgabe und Redaktion des in Berlin erscheinenden renommierten, aber kaum rentablen Magazins für Litteratur zu übernehmen. Als er nach seinem Umzug am 1. Juli 1897 seine Redaktionstätigkeit in Berlin aufnahm, fand er sich in der nach London und Paris drittgrößten Metropole Europas wieder, deren Einwohnerzahl gerade auf zwei Millionen anwuchs. Die jahrhundertealte Garnisons- und Residenzstadt hatte sich in einem atemberaubenden Tempo innerhalb weniger Jahrzehnte zu einer Industriestadt mit Firmen von Weltruf wie Siemens, AEG oder Schering entwickelt. Damit verbunden waren der Zuzug und die Proletarisierung vieler Menschen aus dem ländlichen Osten Deutschlands. Berlin war das Regierungszentrum des erst seit 1871 bestehenden, aber bereits um Weltgeltung und Vormachtstellung in Europa ringenden Deutschen Reiches. Hier befand sich der Reichstag, und hier residierte der deutsche Kaiser, der zugleich König von Preußen war. Berlin war die Stadt der Presse, der großen Verlage, der vielen Theater und der Museen. Hier befand sich auch die größte und exzellenteste Universität des Deutschen Reiches mit einer beeindruckenden Forschungsproduktivität sowohl in den Naturals auch in den Geisteswissenschaften.
Während das politische Leben in Berlin stark von den Gegensätzen zwischen Besitz- und Bildungsbürgertum einerseits und dem Proletariat andererseits bestimmt war, gab es im kulturellen Bereich große Differenzen zwischen dem exklusiven großbürgerlichen Establishment und den vielfältigen Mikromilieus der künstlerischen Avantgarde und lebensreformerischen Bohème. In diese letzteren Kreise tauchte Rudolf Steiner als Redakteur seines Literaturjournals und als Mitglied der «Dramatischen Gesellschaft» ein. Man fand ihn nun häufig an den Biertischen der Berliner Künstlerkneipen, in denen bis zum frühen Morgen diskutiert wurde.
In seiner Zeitschrift waren deshalb in besonderem Maße die innovativen naturalistischen, sozialkritischen, impressionistischen und symbolistischen Richtungen der Dichtung vertreten. Steiners eigene Beiträge waren zumeist Buchbesprechungen und handelten von der Notwendigkeit, eine moderne, naturwissenschaftlich begründete Weltanschauung wie zum Beispiel den darwinistisch inspirierten Monismus Haeckels zu entwickeln, den er nunmehr vehement gegen seine Gegner verteidigte. Die traditionellen Positionen der christlichen Kirchen lehnte der Freigeist Steiner damals ebenso scharf ab wie die gerade in großbürgerlichen Kreisen in Mode kommende Theosophie. Im Jahre 1897 schrieb er in seinem «Magazin» voller Verachtung über die Theosophen, deren Generalsekretär er fünf Jahre später werden sollte:
Nicht durch abstraktes Denken, auf das wir Abendländer nun einmal angewiesen sind, sondern durch mystisches Schauen, durch Intuition suchen diese orientalischen Weisheitssucher zu ihrem Ziele zu gelangen. Es wäre vergebens, wenn wir Abendländer es ihnen nachmachen wollten. […] Ich rate jedem, der mit einem Theosophen zusammenkommt, sich vollständig gläubig zu stellen und zu versuchen, etwas von den Offenbarungen zu hören, die ein solcher von morgenländischer Weisheit vollgesogener Esoteriker in seinem Innern erlebt. Man hört nämlich nichts; nichts als Redensarten, die den morgenländischen Schriften entlehnt sind, ohne eine Spur von Inhalt. Die inneren Erlebnisse sind nichts als Heuchelei. (GA 32, 194)
Seit dem Herbst 1898 stand Steiner in einem intensiven Gesprächskontakt mit dem Biographen des anarchistischen deutschen Philosophen Max Stirner, dem Schriftsteller John Henry Mackay (1864–1933). Von der im Rahmen der Philosophie der Freiheit (1893) entworfenen, von seiner Nietzsche-Begeisterung inspirierten Position des ethischen Individualismus aus sah Steiner damals enge Übereinstimmungen mit der anarchistischen Philosophie Stirners und Mackays. In einem offenen Brief, den er in seinem «Magazin» veröffentlichte, bekannte er sich dazu, ein «individualistischer Anarchist» zu sein:
Der «individualistische Anarchist» will, dass kein Mensch durch irgend etwas gehindert werde, die Fähigkeiten und Kräfte zur Entfaltung bringen zu können, die in ihm liegen. Die Individuen sollen in völlig freiem Konkurrenzkampfe sich zur Geltung bringen. Der gegenwärtige Staat hat keinen Sinn für diesen Konkurrenzkampf. Er hindert das Individuum auf Schritt und Tritt an der Entfaltung seiner Fähigkeiten. Er hasst das Individuum. […] Auf die Gewalt und die Autorität aber sind die gegenwärtigen Staaten gegründet. Der individualistische Anarchist steht ihnen feindlich gegenüber, weil sie die Freiheit unterdrücken. Er will nichts als die freie, ungehinderte Entfaltung der Kräfte. Er will die Gewalt, welche die freie Entfaltung niederdrückt, beseitigen. […] Deshalb bekämpft er den Staat, der auf Gewalt beruht (zit. n. Kugler 1980, 171).