Linda Maria Koldau rollt in ihrem glänzend geschriebenen Buch den Fall „Titanic“ neu auf. Sie erklärt anschaulich, was wir über den Luxusdampfer, seine Passagiere, die Umstände des Untergangs und das Wrack wissen und macht deutlich, warum die Katastrophe so viele anrührende Geschichten rund um Liebe und Tod hervorgebracht hat.
Montag, 15. April 1912, 2 Uhr 18: Die Titanic zerbricht drei Stunden nach der Kollision mit einem Eisberg und sinkt. Nur rund 700 der 2200 Passagiere überleben. Die Umstände der Katastrophe werden aus Haftungsgründen verschleiert, Legenden überdecken schnell das wahre Geschehen. Linda Maria Koldau hat die Dokumente über den Untergang neu gesichtet. Sie versteht es meisterhaft, die letzten Stunden auf dem schwimmenden Luxushotel lebendig werden zu lassen und dabei zu zeigen, welche realen Anknüpfungspunkte die Legenden, Filme und Romane über das Unglück genutzt haben. So entsteht über den Tatsachenbericht hinaus eine eindrucksvolle Kulturgeschichte der Schifffahrtskatastrophe, die bis in unsere Gegenwart reicht.
Linda Maria Koldau, Kulturwissenschaftlerin und Journalistin, ist Professorin für Musikwissenschaft und Kulturgeschichte an der Universität Aarhus in Dänemark. Einem größeren Publikum ist sie durch Artikel in der FAZ und zahlreiche Radiosendungen bekannt.
Für Claudius und Ta
EINLEITUNG
Die größte Schiffskatastrophe aller Zeiten?
ERSTES KAPITEL
Wettbewerb: Die Atlantikschifffahrt und die Olympic-Klasse
ZWEITES KAPITEL
Die Titanic: Ein Schiff als Mikrokosmos der Gesellschaft
DRITTES KAPITEL
Die Protagonisten: Passagiere, Besatzung und ihre Legenden
VIERTES KAPITEL
Jungfernfahrt: Auslaufen, Leben an Bord und nautische Fakten
FÜNFTES KAPITEL
Von Eisbergen, Eisfeldern und Eiswarnungen
SECHSTES KAPITEL
Die Kollision: Reaktion, Schaden und Folgen
SIEBENTES KAPITEL
Notfall auf See: Funkverkehr, Signalraketen und Bergelohn
ACHTES KAPITEL
Das Schweigen der umliegenden Schiffe
NEUNTES KAPITEL
Evakuierung: Die Rettungsboote und ihre Bemannung
ZEHNTES KAPITEL
Der Untergang
ELFTES KAPITEL
Rettung und Ankunft in New York
ZWÖLFTES KAPITEL
Schadensbegrenzung: Die offiziellen Untersuchungen
DREIZEHNTES KAPITEL
Fingerzeig Gottes? Der Mythos Titanic
VIERZEHNTES KAPITEL
Die wahre Geschichte: Die Titanic im Film
FÜNFZEHNTES KAPITEL
Die Entdeckung des Wracks
SECHZEHNTES KAPITEL
Camerons Titanic: Kitsch mit Klasse
SIEBZEHNTES KAPITEL
Titanic-Kult und Titanic-Tourismus
EPILOG
Unsinkbar
Dank
ANHANG
Zeittafel
Literaturhinweise
Zitatnachweis
Bildnachweis
Register
Die Titanic war das größte Schiff ihrer Zeit und der Stolz der englischen White Star Line. Das mit Kohle betriebene Dampfschiff war das zweite von drei Schiffen der Olympic-Klasse, einer besonders luxuriös ausgestatteten Schiffsklasse, die White Star von der Werft Harland & Wolff in Belfast bauen ließ. Die Titanic war für den regulären Liniendienst zwischen Southampton und New York (über Cherbourg und Queenstown oder Plymouth und Cherbourg) bestimmt. Am 10. April 1912 trat sie ihre Jungfernfahrt nach New York an, erreichte jedoch nie ihr Ziel. Am 14. April gegen 23.40 Uhr kollidierte sie ungefähr dreihundert Seemeilen südöstlich von Neufundland mit einem Eisberg und sank nach zwei Stunden und vierzig Minuten. Über 1500 Menschen verloren bei dem Untergang ihr Leben; die rund 700 Überlebenden, viele von ihnen auf Jahre traumatisiert, wurden in den Morgenstunden des 15. April von dem britischen Schiff Carpathia aufgenommen.
Der Untergang der Titanic gilt als die größte Schiffskatastrophe aller Zeiten. Das ist Unsinn. Seit 1912 sind zahlreiche größere Schiffe mit jeweils mehreren tausend Passagieren gesunken. Und selbst wenn man die Verluste in Kriegszeiten als «Kollateralschaden» der allgemeinen Kriegssituation ausklammert: Wer fragt nach den knapp 4400 Toten der philippinischen Fähre Doña Paz, die am 20. Dezember 1987 nach einer Kollision mit einem Öltanker innerhalb von zwei Stunden sank? Die Frage, warum ausgerechnet die Titanic so berühmt geworden ist, wird in Literatur und Medien seit Jahrzehnten erörtert. Eine Verkettung besonderer nautischer Umstände, eine sich verdichtende Konstellation gesellschaftlicher Konflikte auf beiden Seiten des Atlantiks, eine Verklärung des Untergangs, die noch vor dem Versinken des Hecks begann – all dies hat dazu beigetragen, dass der Untergang der Titanic zum Schiffsunglück schlechthin geworden ist, zum Symbol für den Hochmut einer zukunftsgläubigen Zivilisation, aber auch für Edelmut, Mitmenschlichkeit und Aufopferung.
Um die Titanic hat sich ein Mythos entwickelt, der aus der Kultur des 20. Jahrhunderts nicht mehr wegzudenken ist. Die Titanic war ein Schiff wie unzählige andere im harten Wettkampf um Passagiere, Geld und Renommee. Ausgerechnet ihr Untergang auf der Jungfernreise hat sie herausgehoben und zu einem Sinnbild für eine vergangene, bessere Welt gemacht. Dieser Mythos entstand nicht von ungefähr: Die Fakten und Ursachen der Katastrophe wurden verschleiert und beschönigt; dahinter standen die Interessen eines Konzerns und seiner Führung. Der Mythos machte aus dem Unglück eine Erzählung von Heldentum und tragischem Schicksal – ein Trost für die Hinterbliebenen und eine ewige Mahnung an die Lebenden.
Die Realität ist nüchtern: Sie folgt den Regeln des wirtschaftlichen Wettbewerbs, der technologischen Entwicklung und nautischer Professionalität. Die Atlantikschifffahrt war im frühen 20. Jahrhundert ein bedeutender Wirtschaftsfaktor, da sie im Passagier- und Güterverkehr die einzige Verbindung zwischen Europa und Amerika darstellte. Die White Star Line stand in harter Konkurrenz zu anderen Reedereien; vor diesem Hintergrund entstand die Idee der Olympic-Klasse – noch größere und noch luxuriösere Schiffe, um sowohl die Masse der Emigranten als auch die zahlungskräftige Oberschicht anzuziehen. So spiegelte die Titanic schon in ihrer Konstruktion die Klassen der Gesellschaft – ein Luxushotel mit mehreren Stockwerken, klaren Schranken zwischen den verschiedenen Klassen und deutlichem Abstand zwischen Personal und Passagieren. Die Titanic verkörperte das Selbstbewusstsein einer fortschrittsgläubigen, optimistischen westlichen Gesellschaft. Ein Schiff als Symbol für die Gesellschaft seiner Zeit – sein Untergang ein Fingerzeig Gottes?
In Wirklichkeit war die Titanic überhaupt keine Sensation – bis sie im Atlantik versank: Das öffentliche Interesse an der neuen Luxusklasse war auf das erste Schiff gerichtet, die Olympic, die 1911 ihre Jungfernreise antrat und mit Jubel in New York begrüßt wurde. Die Jungfernfahrt der Titanic war fast schon Routine – natürlich unter der Erwartung der White Star Line, dass sie die Leistung ihres Schwesterschiffs möglichst noch übertreffen würde. Ebenso selbstverständlich setzte der Konzern die besten Kräfte für diese erste Reise ein: erfahrene Offiziere, denen die Routinen auf dem nahezu identischen Schwesterschiff bereits vertraut waren. Sie wussten, wo auf den Atlantikrouten die Gefahren lagen und wie das Schiff in diesen Gebieten zu führen war. Ebenso wussten sie, wie man im Falle einer unerwarteten Situation zu reagieren hatte. Das Handeln der Offiziere im Augenblick der Kollision war vorbildlich. Dennoch ging die Titanic innerhalb von weniger als drei Stunden unter – obwohl sich andere Schiffe in vergleichbaren Situationen mehrere Tage gehalten hatten. Viele Rettungsboote verließen nur mit der Hälfte ihrer Kapazität das Schiff; die 1500 übrigen Menschen hatten im eiskalten Wasser keine Chance. Die Verkettung unglücklicher, aber auch von menschlichem Versagen geprägter Umstände ist komplex. Zwei offizielle Untersuchungen, die von April bis Juli 1912 in New York und London stattfanden, sollten die Ursachen des Unglücks und die Frage der Schuld klären. Sie haben eine Vielzahl an Informationen über die Gründe und den Verlauf des Untergangs festgehalten. Viele Details aber blieben offen und sind bis heute Gegenstand für Spekulationen und Verschwörungstheorien. Fakten wurden verzerrt oder bewusst verschleiert, um eine Haftung der White Star Line auszuschließen.
Demgegenüber entstand innerhalb weniger Tage ein Mythos um die Umstände des Untergangs, der aktuelle Zeitfragen aufnahm und aus der Katastrophe ein Plädoyer für konservative Wertvorstellungen machte. Europa und die USA befanden sich in einer Zeit des Umbruchs: Arbeiterunruhen, rassistische Ausschreitungen, die Einforderung von Frauenrechten – das Establishment antwortete darauf mit einem Wort: «Titanic!» Die Ritterlichkeit der reichen Passagiere und die Professionalität der Crew «bewiesen» die Überlegenheit eines Wertesystems, in dem weiße Männer angloamerikanischer Herkunft «von Natur aus» das Sagen haben. Und der protestantische Gott, geehrt durch den «Choral am Ende der Reise», gab seinen Segen dazu. Natürlich nicht, ohne die Besinnung auf die wahren Werte in einem Zeitalter hemmungslosen Fortschrittsglaubens und menschlichen Hochmuts anzumahnen. Die Titanic war das ideale Thema für Presse und Publizistik – vor allem aber griff das junge Medium Film das Potenzial auf, das in der spektakulären Katastrophe lag. Bereits am 14. Mai 1912, exakt einen Monat nach der Katastrophe, kam der erste Titanic-Film ins Kino: Saved from the Titanic, mit der Schauspielerin Dorothy Gibson als Star, die den Untergang der Titanic überlebt hatte. Insgesamt zehn Spielfilme um den Untergang der Titanic entstanden im Zeitraum von 1912 bis 1997. In ihnen wird das Geschehen in vielfacher Weise für die jeweiligen Fragen der Gesellschaft aufbereitet, von einem NS-Propagandafilm über ein amerikanisches Melodram der fünfziger Jahre bis hin zu der großen Romanze von James Cameron. Im Verein mit zahlreichen Titanic-Romanen und -Gedichten zeichnen sie ein populäres Bild der Katastrophe, in dem es immer wieder um Liebe jenseits von Klassenschranken und Tod geht.
Einen entscheidenden Impuls für die Entwicklung und weltweite Verbreitung des Titanic-Mythos gab die Veröffentlichung von Walter Lords Buch A Night to Remember im Jahr 1955 – einerseits der erste Versuch, den Stunden des Untergangs mit Hilfe von Zeugenaussagen dokumentarisch auf den Grund zu gehen, andererseits die endgültige Festlegung des Titanic-Mythos auf die nostalgische Trauer um eine verlorene, bessere Welt. Lords Bestseller wurde zur «Bibel» der Titanic-Forschung und löste eine wahre Lawine von historischer und pseudohistorischer Beschäftigung mit dem Unglück aus. Die neue Welle des Titanic-Kults gipfelte in der Entdeckung des Wracks im Jahr 1985, um das seitdem ein wahrer Totenkult entstanden ist. James Camerons Welterfolg Titanic (1997) lebt von der Faszination des Unterwassermausoleums, vom Kontrast zwischen hochmoderner Hightech und nostalgischer Traumwelt, in der zuletzt allein die Liebe zählt. Mit diesem Film scheint das letzte Wort gesprochen – gleichzeitig boomt der Titanic-Kult wie nie zuvor. Internet und Computersimulationen öffnen ungeahnte Möglichkeiten in der virtuellen Welt; demgegenüber bieten Museen, Gedenkstätten und die Position des Wracks ideale Ziele für den Titanic-Tourismus.
Der Titanic-Mythos hat geradezu religiöse Dimensionen. Die Opfer sind die Märtyrer, die Überlebenden die Heiligen, Lords Buch ist die Bibel, die historischen Orte sind Pilgerstätten – und das Wrack ist der nahezu unerreichbare Tempel. Der Untergang der Titanic ist ein Stück Geschichte, nachprüfbar bis in die Details der Biographien von Passagieren und Crew – und er ist ein Stück Paradies, entrückt in eine ferne Vergangenheit und in geheimnisvolle Tiefen.
Die Titanic 1912 im Dock von Southampton. Das Schiff der Träume ist bis heute ein Symbol für eine verlorene, bessere Welt.
Gleichzeitig wurde der Mythos banalisiert wie kaum ein anderer. In Politik, Wirtschaft und Publizistik ist «Titanic» zum geflügelten Wort geworden, um Inkompetenz, blinden Ehrgeiz und sinnloses Handeln angesichts einer längst aussichtslosen Lage anzuprangern. Cartoons und Karikaturen bemühen das Schiff in unendlicher Variation; und sogar die Bild-Zeitung hat das Potenzial von Schiff und Eisberg entdeckt, um für ihre Rolle als Informant und Aufklärer zu werben. Titanic kennt jeder, und sogar die Kleinsten bekommen das Unglück in Form leicht lesbarer Bilderbücher serviert – Grundlagenwissen für das Vorschulalter. Amerikaner meinen, die Titanic gehöre mit Jesus Christus und dem Amerikanischen Bürgerkrieg zu den drei meistdiskutierten Themen aller Zeiten; angeblich erscheint jede Woche ein neues Buch über ihren Untergang und seine Gründe.
Der Mythos ist komplexer, als es scheint, und hartnäckig wie kaum ein anderer. Erstaunlich selten wird er in der Literatur kritisch reflektiert. Artikel, Bücher und Abhandlungen sind fast immer aus der Sicht des nautischen Laien geschrieben, so spezialisierten Fragen sie sich auch widmen mögen. Im Mittelpunkt steht das «human interest», die persönlichen Schicksale, die Prominenz, die Kluft zwischen Erster und Dritter Klasse, das menschliche Drama im Angesicht der Katastrophe. Historiker haben alle erdenklichen Details über die rund 2200 Menschen an Bord der Titanic ausgegraben, Biographien verfasst, sie durch Einzelheiten über die Carpathia und deren Besatzung ergänzt, die Geschichte von Southampton und Belfast veröffentlicht. Oder sie konzentrieren sich auf das Schiff: die makellose Titanic mit ihrem stolzen – und darum tragischen – Namen, die in ihrer unvergleichlichen Pracht jungfräulich in den Fluten des Atlantik versank. Diese Darstellungen nehmen den Mythos zum Ausgangspunkt und damit den Standpunkt der Opfer ein: der Passagiere, die das Schiff in atemloser Ehrfurcht bestaunten und sich mit dem Business der Atlantikschifffahrt um 1900 ebenso wenig auskannten wie mit dem Beruf des Seemanns, dem Dienstleistungsbetrieb des Passagierverkehrs oder den juristischen Belangen von Seerecht und Haftung im Schadensfall. Tatsächlich aber standen diese Aspekte bei der Titanic – wie bei jedem anderen Linienschiff – an erster Stelle: Sie war ein Verkehrsmittel in einem hochkomplexen wirtschaftlichen, juristischen und nautischen Gefüge. Wäre sie unbeschadet über den Atlantik gekommen, hätte sie wie ihr Schwesterschiff, die Olympic, ihren Dienst treu und brav ein Vierteljahrhundert lang versehen, niemand hätte je danach gefragt. Ihr Untergang aber erforderte eine Entflechtung des Gefüges – eine Aufgabe, die durch den «menschlichen Faktor» der Passagiere und ihre Schicksale um ein Vielfaches erschwert wurde; zudem standen der Erfüllung dieser Aufgabe von vornherein die handfesten Interessen der White Star Line und ihres Mutterkonzerns nachdrücklich entgegen. Die beiden offiziellen Untersuchungen im Jahr 1912 machen vor allem eines klar, und das hat Hans Magnus Enzensberger in seiner «Komödie» Der Untergang der Titanic aus der historischen Begebenheit ins Universelle erhoben: Nicht eine einzige Erinnerung und Schilderung des Geschehens ist «objektiv»; aus der Vielzahl der Splitter entsteht ein ständig changierendes Bild. «Die» Geschichte, «die» Wahrheit der Titanic gibt es nicht. Denn der Mythos ist so übermächtig geworden, dass Fakten untrennbar mit Legenden verschmolzen sind.
Nicht einmal auf die Zahlen ist Verlass. Der Werbeprospekt der White Star Line gibt feste Preise für die Erste, die Zweite und die Dritte Klasse an. Dennoch zahlte fast jeder Passagier einen anderen Preis, sei es wegen Abstufungen in der Unterbringung (die Ticketpreise derjenigen, die auf der Titanic in der Ersten Klasse reisten, variieren zwischen rund 25 und rund 512 britischen Pfund, das wären heute zwischen 9700 und 225.000 Euro), sei es wegen des eingerechneten Eisenbahntransports zum Ausreisehafen. Ebenso herrscht über die eigentliche Passagierkapazität der Titanic Unklarheit; die Angaben, die bei der britischen Untersuchung des Unglücks festgelegt wurden, weichen von anderen ab. Fest steht, dass ihre Kapazität bei der Jungfernreise – glücklicherweise – nur zu zwei Dritteln ausgeschöpft war. Am gravierendsten aber ist die Unsicherheit über die eigentliche Zahl der Passagiere, die Zahl der Toten und der Überlebenden – es ist nicht davon auszugehen, dass irgendeine der verschiedenen kursierenden Angaben wirklich hundertprozentig korrekt ist. Ob es 1490 oder 1517 Menschen waren, die beim Untergang starben, lässt sich nicht mehr feststellen, ebenso wenig, wie viele genau überlebt haben. Bei der Geschichte der Titanic kommt es jedoch nicht auf mathematische Genauigkeit an – selbstverständlich war jedes einzelne Opfer zu viel. Und um die Bedeutung des Passagierschiffs Titanic im Atlantikverkehr von 1912 sowie die anschließende Verklärung des Schiffs und seines tragischen Schicksals zu verstehen, spielt es auch keine Rolle, wie viele Pfund, Schilling und Pennies ein einzelner Passagier nun wirklich bezahlt hat.
Dass Details diskutabel sind, steht außer Frage. Ein «Ausdiskutieren» und eine «endgültige Version» aber würden der Natur des Titanic-Mythos widersprechen. Er lebt von der Vielschichtigkeit. So werden sich viele der ungelösten Fragen nie beantworten lassen. Dennoch kann eine Betrachtung des Unglücks unter Berücksichtigung der nautischen Fakten, des entsprechenden Verhaltens von Offizieren und Besatzung und des dokumentarisch belegten Kontexts zu einem weitaus deutlicheren Bild verhelfen, als es durch den Mythos verbreitet wurde, sodass sich zuletzt doch klare Linien abzeichnen. Hier geht es darum, das Netz von Legenden, die sich um Schiff, Passagiere und Besatzung ranken, zu entflechten und in erster Linie darzustellen, was passierte, wer beteiligt war, wie die Beteiligten reagierten. Dabei wird sichtbar, wie und warum die Legenden um die Titanic entstanden sind und wie sie sich schließlich zu einem Mythos von historischen Ausmaßen verdichtet haben. Und daraus wiederum ergibt sich, warum der Untergang der Titanic – bis heute – «die größte Schiffskatastrophe aller Zeiten» ist.
Die Titanic war nicht einzigartig. Sie war ein kleines Puzzleteil im harten Wettbewerb der Transatlantik-Linien, die in den Jahrzehnten um 1900 zentrale Bedeutung für den internationalen Güter- und Personenverkehr besaßen. Im frühen 20. Jahrhundert standen englische, amerikanische, deutsche und französische Reedereien im Konkurrenzkampf um Passagiere und Fracht. Die White Star Line, der die Titanic und ihre Schwesterschiffe gehörten, war eigentlich keine Reederei, sondern das Markenzeichen der Oceanic Steam Navigation Company. Diese Gesellschaft wurde 1869 von dem Reeder Thomas Ismay mit Sitz in Liverpool gegründet; darum wurde als Heimathafen der White-Star-Schiffe stets Liverpool angegeben, auch wenn sie dort nie vor Anker lagen. Von Anbeginn ging Ismay eine enge Zusammenarbeit mit der Werft Harland & Wolff im nordirischen Belfast ein, die später auch die Titanic baute. 1899 übernahm Ismays Sohn Joseph Bruce die Leitung der Reederei.
1901 akzeptierte Bruce Ismay das verlockende Angebot des amerikanischen Bankiers und Eisenbahnmagnaten John Pierpont Morgan, die Oceanic Steam Navigation Company und somit die White Star Line für eine gehörige Summe in Morgans Firmentrust zu integrieren. Morgan betrieb eine gezielte Monopolisierung des Eisenbahn- und Schiffsverkehrs; sein Ziel war es, das von ihm dominierte nordamerikanische Eisenbahnnetz durch die Übernahme aller wichtigen Reedereien mit dem Schiffsliniendienst zwischen Nordamerika und Europa zu verbinden. 1901/02 gelang es ihm, zusätzlich zu den Reedereien, die sich bereits in seinem Besitz befanden, die amerikanischen Reedereien Atlantic Transport Line und International Navigation Company sowie die englischen Reedereien Leyland Line (vor allem Frachtverkehr), White Star Line (Personenverkehr) und Dominion Line (Fracht- und Personenverkehr) aufzukaufen. Unter seinem Vorsitz wurden die Reedereien in der Holdinggesellschaft International Mercantile Marine Company (IMM) zusammengefasst. Bruce Ismay behielt innerhalb dieses Trusts den Vorsitz seiner Reederei und wurde zudem General Manager der IMM. Für die Titanic und ihre Schwesterschiffe galt somit der komplizierte Sachverhalt, dass sie als Schiffe eines britischen Unternehmens in England registriert waren, dass sie eigentlich aber einem amerikanischen Trust gehörten, der über das Kapital der White Star Line verfügte. Da die Titanic jedoch entsprechend ihrer Registrierung unter britischer Flagge fuhr und ihre Führungsoffiziere sämtlich Engländer waren, wird sie in der Öffentlichkeit bis heute als englisches Schiff betrachtet.
J.P. Morgans Versuch, die gesamte Atlantikschifffahrt zu monopolisieren, misslang. Zwar trafen die beiden großen deutschen Reedereien, die Hamburg-Amerika-Linie und der Norddeutsche Lloyd, ein Zehn-Jahres-Abkommen mit Morgans Trust; die erfolgreiche britische Cunard Line jedoch wehrte sich vehement gegen Morgans Kaufangebote. Um der «Morganisierung» des Atlantiks entgegenzuwirken, übte Cunards Präsident Druck auf das britische Parlament aus, das der Reederei schließlich ein umfassendes Darlehen und zusätzliche Subventionen gewährte, um einen unabhängigen britischen Personen- und Postverkehr über den Atlantik zu sichern. Diese Unterstützung finanzierte den Bau zweier neuer Schiffe, der RMS Lusitania und der RMS Mauretania, die 1907 ihre Jungfernreise antraten (RMS steht für Royal Mail Ship und zeigt an, dass die Schiffe – wie später auch die Titanic – Post der britischen Royal Mail beförderten). Beide Schiffe waren der Konkurrenz ein Stachel im Fleisch – 1907 waren die Lusitania und die Mauretania nicht nur die größten Schiffe des Atlantikverkehrs, sondern vor allem auch die schnellsten. Mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 26 Knoten (48 km/h) konnten sie Geschäftsleute, Vergnügungsreisende und Auswanderer in weniger als fünf Tagen über den Atlantik bringen. Damit standen sie im erbittert ausgefochtenen Kampf um das Blaue Band – seit den 1860er Jahren die internationale Auszeichnung für die schnellste Atlantiküberquerung – ganz vorne, und das insgesamt zweiundzwanzig Jahre lang.
Dem Präsidenten der White Star Line war klar, dass er dem Geschwindigkeitsrekord der beiden Cunard-Schiffe nichts entgegensetzen konnte. Stattdessen verfolgte Bruce Ismay eine andere Strategie: Zusammen mit dem Vorsitzenden der Werft Harland & Wolff, Lord William James Pirrie, entwarf er im Frühjahr des Jahres 1907 – also wenige Monate nach dem Stapellauf der beiden Cunard-Konkurrenzschiffe – den Plan einer neuen Klasse von Passagierschiffen. Die drei Schiffe der Olympic-Klasse sollten für die Überfahrt nur wenig länger brauchen, dafür aber einen bislang unerreichten Luxus bieten, um so die zahlungskräftigen amerikanischen Kunden anzulocken – Geschäftsreisende und vor allem die reiche und neureiche High Society, die ständig zwischen den USA und Europa pendelte und die Schiffsreise als gesellschaftliches Ereignis nutzte. Beeindruckende Größe, atemberaubender Luxus, erheblich größerer Fahrkomfort (die geringere Geschwindigkeit und die größeren Maße des Schiffs sorgten für eine ruhigere Lage in der See), dazu – und das war ein zentraler Punkt im Wettbewerb – ein regulärer wöchentlicher Fahrplan: Diese Kriterien sollten die Passagiere der Ersten Klasse anziehen. Noch wichtiger aber, wenn auch diskret verschwiegen, waren für die White Star Line die Passagiere Dritter Klasse. Die Titanic und ihre beiden Schwestern waren, ebenso wie die Cunard-Dampfer, Auswandererschiffe: Gemäß den Regulierungen des British Board of Trade, des Handelsministeriums, wurde jedes Schiff, das einen britischen Hafen mit mehr als fünfzig Passagieren in der Dritten Klasse verließ, als «Auswandererschiff» registriert. Und hier lag auch das wesentliche wirtschaftliche Interesse der White Star Line. Nach außen wurde natürlich der Luxus der Ersten Klasse hervorgehoben. Tatsächlich aber machten die großen Reedereien ihren Gewinn mit den Abertausenden von Auswanderern, die Europa mit dem Ziel USA verließen. Der Wettbewerb galt primär dieser unterprivilegierten Klasse – die gerade dank des Wettbewerbs durchaus die Möglichkeit hatte, das Schiff nach Preis und Unterbringung zu wählen. Auch deshalb war die Größe so entscheidend: Die Titanic konnte rund 1030 Passagiere Erster Klasse, 510 Zweiter Klasse und 1020 Dritter Klasse unterbringen, insgesamt also über 2500 Passagiere pro Fahrt; hinzu kam der Raum für bis zu 945 Besatzungsmitglieder. Gleichzeitig war dieser Aspekt wiederum attraktiv für die Reisenden: Größe beeindruckt und vermittelt das Gefühl von Sicherheit, sie ermöglicht komfortablere Lösungen für Unterbringung und Aufenthaltsräume und reduziert die Empfindlichkeit des Schiffs für den Seegang. 1907 faszinierten die Mauretania und die Lusitania mit ihren über 30.000 Bruttoregistertonnen (BRT) die Öffentlichkeit – ihnen wollte Ismay mit seiner Olympic-Klasse etwas entgegensetzen, das jenseits aller Diskussion stand. Deswegen das Konzept dreier Schiffe mit jeweils 45.000 BRT: Die Konkurrenten der Cunard Line sollten angesichts dieser Schiffe wie Zwerge aussehen.
Dass die White Star Line keine Chance hatte, den Geschwindigkeitsrekord der beiden Cunarder zu brechen, war durchaus kein Nachteil: Hohe Geschwindigkeit bedeutet hohe Kosten durch hohen Energieverbrauch. Ismay hatte seit seiner Übernahme der White Star Line im Jahr 1899 eine Firmenpolitik durchgesetzt, in der Größe und Komfort, nicht aber Geschwindigkeit an erster Stelle standen, um so einen möglichst wirtschaftlichen Betrieb der Linienschiffe zu garantieren. Die Atlantiküberfahrt mochte dadurch anderthalb Tage länger dauern – wenn dies aber in einem Luxushotel beziehungsweise in ungewöhnlich komfortabler Ausstattung der Dritten Klasse geschah und wenn weder starke Motorenvibrationen noch das ewige Geschaukel an den Nerven zerrten, so nahmen sowohl die zahlungskräftigen Passagiere der Ersten Klasse als auch die Auswanderer diese etwas längere Reise gerne in Kauf.
Die drei Schiffe sollten Olympic, Titanic und Gigantic heißen. Die Endungen entsprachen dem Markenzeichen der White Star Line, deren Schiffsnamen alle auf «-ic» endeten – gleichzeitig wurden aus den Namen damit Adjektive, die in Verbindung mit den Bezeichnungen aus der griechischen Mythologie die megalomanen Ambitionen der Reederei verkörperten: olympisch, titanisch, gigantisch. Nach dem Untergang der Titanic war damit Schluss: Das dritte Schiff, seit November 1911 im Bau, wurde in aller Diskretion «Britannic» genannt. (Es kam freilich als Passagierschiff nie zum Einsatz; die Britannic lief als Hospitalschiff der Royal Navy im November 1916 vor Griechenland auf eine Mine und sank in weniger als einer Stunde.) Die Titanic mit ihren 46.328 BRT wurde gerne als «größtes Schiff der Welt» angepriesen. Allerdings hätte sie diesen Ehrentitel nur kurz getragen: Bereits am 23. Mai 1912 lief die Imperator vom Stapel, ein Schiff der deutschen Hamburg-Amerika-Linie, das mit 52.117 BRT erheblich größer war als die Titanic. 1938 wurde die Imperator dann von der Queen Elizabeth (Cunard Line) ausgestochen: 83.673 BRT. Und gegenüber der Oasis of the Seas (Royal Caribbean Cruise Line, in Dienst seit November 2009) mit ihrer Länge von 361 Meter und ihrer Größe von 225.285 BRZ hätte sich die Titanic geradezu bescheiden ausgenommen (BRZ steht für Bruttoraumzahl und ist eine neue Maßeinheit für Schiffsgrößen, die bei Passagierschiffen ungefähr der alten Bruttoregistertonne entspricht).
Die Größe der Titanic ist bis heute beeindruckend.
1912 aber waren die Olympic und ihr jüngeres Schwesterschiff atemberaubend. Fast 270 Meter lang, von der Wasseroberfläche bis zur Oberkante der gewaltigen Schornsteine ein Koloss von über 40 Meter Höhe. Auch heute wären sie noch beeindruckend. Der Vergleich mit der Queen Mary 2, dem aktuellen Flaggschiff der Cunard Line, erfreut sich in den aktuellen Medien großer Beliebtheit und veranschaulicht die Größendimensionen. Dass die Titanic faktisch größer war als ihre ältere Schwester, liegt an gewissen Modifikationen innerhalb des Schiffs: Bei exakt gleichen Außenmaßen hatte sie 46328 BRT umbauten Schiffsraum gegenüber den 45.325 BRT der Olympic. Dass die exakte Größe für die Berühmtheit aber letzten Endes nicht die entscheidende Rolle spielte, zeigt das dritte Schiff der Olympic-Klasse: Als die Britannic im Dezember 1915 in Dienst gestellt wurde, wies sie stolze 48.158 BRT auf – zu diesem Zeitpunkt fragte jedoch keiner mehr danach. Längst war der Krieg ausgebrochen; der Wettbewerb um Größe, Luxus und Geschwindigkeit war in den Hintergrund gerückt. Das Wesentliche war nun Sicherheit, und diese konnten die Atlantikschiffe – wie der Fall Lusitania zeigen sollte – ihren Passagieren im Krieg nicht mehr garantieren.
White Star aber machte Gewinn, zumindest mit der Olympic, die bis zum Kriegsausbruch unzählige Male den Atlantik querte. Durch die geringere Geschwindigkeit – vorgesehen war ein Durchschnitt von 21 Knoten (39 km/h), tatsächlich fuhr die Olympic häufig etwas schneller – war der Kohleverbrauch erheblich niedriger als bei den schnelleren Cunard-Schiffen. Gleichzeitig war die neuartige Antriebsanlage mit drei Propellern, die von zwei Kolbendampfmaschinen und einer Turbine angetrieben wurden, weit effektiver als erwartet: Bei den Probefahrten wurden höhere Geschwindigkeiten erreicht, in Notfällen kam die Olympic sogar auf über 25 Knoten (46 km/h). Sie konnte dadurch einen guten Durchschnitt für die Überfahrt erreichen, ohne dass die White Star Line gezwungen war, so hohe Betriebskosten einzukalkulieren wie die Cunard Line.
Auch in Friedenszeiten spielte der Aspekt der Sicherheit selbstverständlich eine zentrale Rolle im Wettbewerb um die Transatlantikreisenden. Ungeachtet aller Größe und allen Komforts war den Passagieren bewusst, dass sie sich während ihrer Reise mehrere Tage lang über einem eisigen Abgrund bewegten. Pannen und Unfälle gehörten zu den täglichen Risiken der internationalen Passagierschifffahrt; zu den natürlichen Gefahren Sturm, Nebel und Eis trat die Gefahr der Kollision, die auf den dicht befahrenen Atlantikrouten und insbesondere an Meerengen und Buchteingängen stets drohte. 1909, zwei Jahre vor der Jungfernreise der Olympic, war die Republic, ebenfalls ein Schiff der White Star Line, nach der Kollision mit einem italienischen Passagierschiff gesunken. Zwar hatten fast sämtliche Reisende und Besatzungsmitglieder das Unglück überlebt. Dennoch stand White Star unter starkem Druck, den Kunden glaubwürdig zu versichern, dass die neuen Schiffe alle bisherigen Sicherheitsstandards übertrafen – die Legende von der «Unsinkbarkeit» der Titanic nimmt hier ihren Ausgangspunkt. Der Rumpf der Olympic-Klasse-Schiffe war in sechzehn wasserdichte Abteilungen aufgeteilt, die mit doppeltem Boden ausgestattet waren und bis zum E-Deck, das heißt bis über die Wasserlinie, reichten. Fünfzehn Querschotten, zwölf davon mit elektrisch ausfahrbaren wasserdichten Stahltüren versehen, sorgten dafür, dass die Abteilungen bei Wassereinbruch versiegelt werden konnten. Der elektrische Mechanismus dieser Türen, der von der Brücke wie auch direkt von der jeweiligen Abteilung aus in Gang gesetzt werden konnte, wurde in der Werbebroschüre der White Star Line vorgestellt. Hier fiel nun das fatale Wort «unsinkable»; allerdings wurde es durch das modifizierende «practically» eingeschränkt, also «nahezu unsinkbar». Unmittelbar nach der Katastrophe entstand daraus der Mythos von der menschlichen Hybris, die nur zum Untergang führen konnte. 1911 aber brüstete sich die White Star Line keineswegs mit dem Wunder eines unsinkbaren Schiffes: die Präsentation in der Broschüre sollte lediglich glaubhaft machen, dass für die Sicherheit der Passagiere die neueste Technik eingesetzt wurde und das Schiff dadurch alles Bisherige übertraf.
Populäre Erklärungsmodelle für den Untergang des Schiffs heben hervor, dass die wasserdichten Abteilungen nach oben offen waren und das Wasser ab einer bestimmten Höhe daher ungehindert von einer Abteilung in die nächste fließen konnte. Diese Vorstellung ist falsch. Selbstverständlich besaßen die durch Schotten abgesicherten Räume Decken. Aber die Abgrenzung nach oben war nicht wasserdicht, sodass bei einem Sinken unter die Wasserlinie das Meerwasser durch Ritzen, Abzugsluken und andere für den Schiffsbetrieb notwendige Öffnungen eindringen konnte und das Schiff allmählich immer weiter nach unten zog. Ein Szenarium, bei dem das Schiff überhaupt so tief absinken könnte, dass die Decke der wasserdichten Abteilungen erreicht würde, war für die Entwerfer ebenso undenkbar wie eine Kollision, bei der mehr als zwei nebeneinanderliegende Abteilungen beschädigt würden. Da zeitgenössische Schiffsmagazine immer wieder das Loblied von den elektrisch ausfahrbaren Türen sangen, gab es für die Passagiere keinen Grund, an der Sicherheit des neuen Luxusliners zu zweifeln.
Außerdem waren da die Rettungsboote. Nach populärer Auffassung (die auch die Überlebenden teilten) kamen beim Untergang der Titanic so viele Menschen ums Leben, weil es nicht genügend Rettungsboote gab. Zwar entsprach die White Star Line den Vorschriften des British Board of Trade: Nach einer Verordnung aus dem Jahr 1894 hatten Passagierschiffe von über 10.000 BRT sechzehn Rettungsboote mitzuführen. Diese Verordnung war allerdings längst veraltet; die vorgeschriebene Zahl der Rettungsboote wurde im frühen 20. Jahrhundert nicht der ständig wachsenden Größe der Passagierschiffe angepasst. Der Hintergrund waren – wieder einmal – Geschäftsinteressen: In den entscheidenden Gremien saßen Vertreter der führenden Reedereien, die keinerlei Interesse daran hatten, zugunsten von Rettungsbooten den Platz für Luxuskabinen auf den obersten Decks zu opfern. Außerdem befürchtete man die abschreckende Wirkung von allzu vielen Rettungsbooten.
Tatsächlich ging aber die White Star Line bei der Olympic-Klasse über das rechtskonforme Minimum hinaus: Die vorgeschriebenen 16 Boote wurden durch 14 Rettungsboote mit Platz für 65 Menschen und 2 Notboote für je 40 Passagiere abgedeckt, hinzu kamen 4 Faltboote für je 47 Passagiere. Freilich wäre durch die neuartigen Kräne, die Harland & Wolff für das Fieren der Boote eingebaut hatte, eine Anzahl von 64 Rettungsbooten möglich gewesen: Diese hätten bei voller Auslastung des Schiffs Platz für alle Passagiere und Besatzungsmitglieder geboten. Bei der Entscheidung über die letztendliche Ausstattung des Schiffs wurde das Thema von der White Star Line diskret umgangen; 20 Rettungsboote schienen mehr als genug. Der immer wieder zitierte Ausspruch, die Titanic brauche keine Rettungsboote, weil sie selbst eines sei, hat hier seinen Ursprung; belegt ist er nicht.
Da die Olympic und die Titanic mit wenigen Monaten Abstand vom Stapel liefen und fast identisch ausgestattet waren, wurden sie von der White Star Line 1911 in einer gemeinsamen, mit zahlreichen Fotos und bunten Zeichnungen versehenen Broschüre beworben (White Star Line Royal and United States Steamers Olympic and Titanic). Dennoch war die Olympic der eigentliche Star. Als erstes Schiff der neuen Klasse bannte sie die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit: das Schiff der Superlative, so groß und so luxuriös wie kein anderes Schiff der Welt. Unmittelbar vor dem Probelauf wurde sie in Belfast zur Besichtigung für die Öffentlichkeit freigegeben. Eintritt 5 Schilling für die ersten beiden Stunden, weitere 2 Schilling, wenn man fünf Stunden an Bord bleiben wollte; die Einkünfte galten einem guten Zweck, nämlich der Unterstützung für die Belfaster Krankenhäuser. Und die Öffentlichkeit staunte. Ein prachtvolles offenes Treppenhaus führte in der Ersten Klasse über sechs Decks nach unten, erfüllt von sanftem Licht, das durch eine riesige Glaskuppel in das Innere des Schiffs fiel. Salons und Suiten, Marmor, feine Teppiche, edle Hölzer wie Mahagoni, Teak und Pinie, seidene Vorhänge, Stuck und Schnitzereien, Ausstattung der Kabinen mit Telefon und elektrischen Heizöfen, ein Schwimmbad, ein Türkisches Bad, ein Squash Court und ein Gymnastikraum mit vielerlei Geräten. Kein Schiff der Cunard Line oder der deutschen Reedereien konnte mit diesem Luxus mithalten. Die Presse stürzte sich auf die Sensation – unzählige Fotos und Filme wurden gemacht; vor dem Antritt der Jungfernreise posierten Kapitän Edward J. Smith und seine Offiziere wie Filmstars. Als die Olympic schließlich am 14. Juni 1911 von Southampton auslief, säumten Tausende von Schaulustigen die Ufer, Jubel brauste auf, als sie die Isle of Wight passierte, und am Flottenstützpunkt Spithead wurde sie mit einem Salut der Britischen Flotte geehrt. Obwohl die White Star Line dem amerikanischen Trust von J. P. Morgan angehörte, war die Olympic ein britisches Schiff unter britischer Flagge – sichtbarer Beweis der Größe und Überlegenheit britischer Seefahrt.
Ihre vier Schornsteine waren übrigens schöner Schein – nur drei dienten dem notwendigen Rauchabzug von den neunundzwanzig Kesseln. Der vierte war eine Attrappe, die der Ästhetik und der Attraktivität diente. Vier Schornsteine galten als das Nonplusultra im Atlantikverkehr – und wenn die Flaggschiffe der Cunard-Reederei vier hatten, konnte sich die Olympic-Klasse unmöglich mit drei begnügen. So wurde der vierte der gewaltigen Schornsteine – nebeneinander passten zwei Lokomotiven hindurch – lediglich für die Entlüftung von Kessel-, Maschinen- und Küchenräumen genutzt.
Wäre die Titanic nicht untergegangen, so hätte sie in relativer Ruhe und ohne großen Medienrummel über Jahrzehnte ihren Dienst versehen. So wie die Olympic, die sich den Zunamen «the Old Reliable» (die alte Zuverlässige) verdiente. Nach der Titanic-Katastrophe zusätzlich durch eine doppelte Außenhaut und verstärkte Schotten gesichert, überstand die Olympic als Truppentransportschiff den Ersten Weltkrieg und nahm 1919 den Passagierdienst wieder auf. Luxuriös, wie es auch die Titanic gewesen war, zählte sie in den zwanziger Jahren zu den bevorzugten Linienschiffen im Transatlantikverkehr; in ihrer gesamten Dienstzeit bis April 1935 kam es seit dem Ersten Weltkrieg nur zu zwei kleineren Unfällen. Ironischerweise fuhr sie in ihren letzten Monaten für die Cunard Line, die 1934 auf Druck der britischen Regierung mit White Star fusionierte (die International Mercantile Marine Company hatte zu dieser Zeit längst alle nichtamerikanischen Reedereien abgestoßen; die White Star Line war dadurch Teil der britischen Royal-Mail-Gruppe geworden). Dieser Fusion fielen die meisten Schiffe der White Star Line zum Opfer, so auch die Olympic, von deren Abwrackung unter anderem der Bau des neuen Flaggschiffes, der Queen Mary, finanziert wurde. Zuletzt blieb von dem Trust nur die Cunard Line übrig, die bis heute Kreuzfahrtschiffe betreibt – am spektakulärsten die Queen Mary 2, die aktuell zu den größten Passagierschiffen der Welt zählt.
Wer Titanic denkt, sollte die Olympic immer mitdenken: Ihr verdankt die Titanic-interessierte Öffentlichkeit die detailliertesten Informationen über das zweite Schiff der Olympic-Klasse, das erst die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf sich zog, als es untergegangen war. So finden sich unter der Flut von Gedenkbildern, Postkarten, Broschüren und Büchern zahlreiche «Titanic»-Abbildungen, die in Wirklichkeit die Olympic zeigen. Auch die Dokumentarfilme, die nach dem Untergang einer faszinierten Weltöffentlichkeit die Stationen im kurzen Leben der Titanic nahebrachten, greifen vielfach auf Filmmaterial zurück, das auf der Olympic gedreht wurde. Die Titanic war eben nur die jüngere Schwester; das öffentliche Interesse für die Olympic-Klasse hatte sich 1911 an der Olympic berauscht. Am 15. April 1912 aber drehte sich das Verhältnis um: Mit einem Mal war die Titanic das schönste, größte, luxuriöseste Schiff der Welt – eben weil sie in einer sternenklaren Nacht in den eisigen Fluten des Nordatlantiks versunken war. Nun hatte die Olympic nur noch dienende Funktion: Sie gestattete Einblicke in die Ausstattung und Struktur des versunkenen Palastes, ein Abglanz des paradiesischen Schiffes, das seine Jungfräulichkeit – im Gegensatz zur älteren Schwester – niemals verloren hat.
Vor allem aber erlaubte es die Olympic, diesen Abglanz ganz handgreiflich zu erhalten: Nachdem sie 1934 außer Dienst gestellt worden war, wurde 1935 in der nordostenglischen Abwrackwerft Jarrow zunächst die luxuriöse Inneneinrichtung ausgebaut und anschließend versteigert. Dadurch ist das White Swan Hotel im nordenglischen Alnwick zu einem besonderen Anziehungspunkt für Titanic-Freunde geworden: Der Eigentümer kaufte den gesamten Erste-Klasse-Speisesaal der Olympic und baute ihn als «Olympic Suite» in sein Hotel ein. Heute wirbt das traditionsreiche Haus mit seiner «Titanic Connection» – wer von der Titanic träumen will, kann hier die originalen Täfelungen, die Schnitzereien, Spiegel und bunten Glasfenster ihrer älteren Schwester bewundern. Sie stimmen bis auf das i-Tüpfelchen mit der Ausstattung des unsterblich-tragischen Schiffs überein. Ein geradezu unheimliches Erlebnis für Titanic-Liebhaber, die selbstverständlich alle Filme vom Wrack kennen: Am Grunde des Ozeans, im geheimnisvollen Licht der Tiefsee, leuchten ebendiese Glasfenster noch einmal in ihrer Farbenpracht auf.
Dass die Titanic mit zusätzlichen 1003 BRT noch ein bisschen größer war als die Olympic und damit kurzzeitig den Titel «größtes Schiff der Welt» führen konnte, liegt primär an einigen Modifikationen, die Schiffsarchitekt Thomas Andrews nach den ersten Reisen der Olympic vornahm. Der auffälligste Unterschied zwischen beiden Schiffen liegt in der teilweisen Verkleidung des Promenadendecks. Da die vornehmen Reisenden der Ersten Klasse auf der Olympic bei ihren Deckspaziergängen durch sprühendes Meerwasser oder Regen belästigt worden waren, wurde das Promenadendeck der Titanic mit einem Wetterschutz versehen, dessen Fenster bei schönem Wetter geöffnet werden konnten – ein Detail, das bei der Evakuierung der Erste-Klasse-Passagiere eine Rolle spielen sollte. Dieser Wetterschutz ist der einzige äußerlich sichtbare Unterschied zwischen der Titanic und ihrem Schwesterschiff Olympic. Wichtiger für die White Star Line waren jedoch die Unterschiede im Inneren. Die zweite, wettergeschützte Promenade der Olympic, auf dem tieferen B-Deck gelegen, wurde durch zusätzliche Kabinen, vor allem aber durch die beiden teuersten Suiten ersetzt, die über ihre eigene Promenade von über 15 Meter Länge verfügten. Sie bestanden aus zwei Schlafzimmern, zwei Ankleidezimmern, einem Salon, einem privaten Bad mit WC – und eben der privaten Promenade. Auf der Jungfernreise bewohnte Präsident Bruce Ismay eine dieser Suiten; in Camerons Titanic-Film hat der neureiche Bösewicht Cal Hockley mit seiner schönen Verlobten Rose selbstverständlich die andere belegt.
Rein äußerlich war die Titanic – wie ihre ältere Schwester – ein Schiff für die Reichen. Dem unerhörten Luxus in der Ausstattung galten die umfassende Werbung der White Star Line wie auch das brennende Interesse der Öffentlichkeit. Mit ihrer farbigen Broschüre warb die Reederei für «die größten und vornehmsten Dampfschiffe der Welt». Die Aufmerksamkeit ist primär auf die edle Ausstattung der öffentlichen Räume in der Ersten Klasse gerichtet: ein prachtvoller Speisesaal für über 500 Passagiere, mit dickem Teppich, Stuck und lichten Glasfenstern; das noch feinere À-la-carte-Restaurant für diejenigen, die sich von dem – durchaus vornehmen – Tagesmenü im Speisesaal absetzen wollten; ein lichtdurchfluteter Lese- und Schreibsalon; ein Rauchsalon in besonders kostbarer Ausstattung, unter anderem mit prachtvollen Buntglasfenstern; ein großes Foyer mit handgewebten Aubusson-Wandteppichen; ein Empfangssaal; zwei Verandacafés (auch Palmengarten genannt) mit Blattranken und Palmen in Töpfen, aus den großen Fenstern ein atemberaubender Blick auf den vorbeiziehenden Ozean. Eine besondere Attraktion der Titanic stellte das Café Parisien auf dem Promenadendeck dar: ein französisches Straßencafé, original französische Kellner inklusive, das den Passagieren statt der massiven Täfelung und der schweren Möbel in den meisten Innenräumen Luft, Licht und Pariser Flair bot – eine Sensation, die so erfolgreich war, dass nach dem Untergang der Titanic ein gleichartiges Café auf der Olympic eingerichtet wurde.
Die Olympic mit offenem Promenadendeck.
Der Rauchsalon der Ersten Klasse war ein besonders prachtvoller Saal. Die Buntglasfenster sind im Wrack intakt geblieben.
Die Titanic mit teilweise verkleideter Promenade.
Das Café Parisien mit französischem Flair, eine besondere Attraktion auf der Titanic.
Das Zentrum der luxuriösen Ersten Klasse aber bildete das berühmte Große Treppenhaus mit seiner Glaskuppel, den Schnitzereien und der symbolischen Uhr. Als Ort des öffentlichen Auftritts und der Präsentation, der Begegnung und des Übergangs, zuletzt dann der haltlosen Panik und der Katastrophe wird dieses Glanzstück der Olympic-Klasse in den Titanic-Filmen immer wieder zum Brennpunkt des Geschehens. Wer nicht Treppen steigen wollte, konnte die Fahrstühle mit ihren wunderschönen Gittertüren benutzen. Und hinter dem dritten Schornstein gab es ein weiteres Treppenhaus mit edlen Schnitzereien und Glaskuppel, das die Passagiere der Ersten Klasse über drei Decks nach unten führte.
Das Prunkstück der Ersten Klasse: Das Große Treppenhaus verband sechs Decks miteinander.
Für die Freizeit der Reichen war gesorgt: Die vornehmen Salons wurden ergänzt durch Stätten für Sport und «Wellness», wie es eine moderne Kreuzfahrtbroschüre ausdrücken würde. Schwimmbad und Sporträume waren auf den Ozeanschiffen des frühen 20. Jahrhunderts zwar nicht einmalig, aber doch etwas Besonderes, ebenso das Türkische Dampfbad, wenn auch schwitzend nackte Benutzer in den Titanic-Filmen auffallend wenig vorkommen. Die Materialien für die Ausstattung der Ersten Klasse waren vom Feinsten: Täfelungen in edlen Hölzern; Verzierungen mit Perlmutt, Bronze, Kristall und Stuck; Säulen aus Marmor; Vorhänge, Wandteppiche und Bezüge in Samt, Seide und Brokat; viel Tageslicht durch große Glasfenster; abends glitzernde Effekte von Kronleuchtern und Kerzen, deren Glanz sich – so der fromme Wunsch der Werbedesigner – vielfach in den Juwelen der feinen Damen brechen sollte. Man gefiel sich im stilistischen Eklektizismus: Salons im Louis-quinze-Stil (französisches Rokoko), das À-la-carte-Restaurant in Louis-seize (klassizistisch), die Speisesäle dagegen in der robusten Art eines englischen Landhauses im Jacobean Style (englische Renaissance), der Rauchsalon in georgianischem Klassizismus, das Türkische Bad – natürlich – im Oriental Style.
Wohnzimmer einer Suite.
Diese Spielerei mit Stilen und «Themen» europäischer Architektur und Innenausstattung wurde in den Luxussuiten der Ersten Klasse fortgeführt: Die Dekoration ä la Louis XIV, Louis XV, Louis XVI, Empire, Italian Renaissance, Georgian, Regency, Queen Anne, neoklassizistischer Adam Style, Old Dutch oder Modern Dutch sollte die Einmaligkeit der einzelnen «Gemächer», der Staterooms, hervorheben (die White Star Line zog diese Bezeichnung der nüchternen «Kabine» vor). Es war weniger eine Frage des Geschmacks als vielmehr der Individualität, denn natürlich war einem John Jacob Astor nicht zuzumuten, sechs Tage lang in der gleichen Ausstattung wie ein Benjamin Guggenheim zu reisen. Die Broschüre hebt allerdings – wie in der Werbung üblich – nur das Außergewöhnliche hervor. In Wirklichkeit verfügte die Mehrzahl der Erste-Klasse-Kabinen, trotz ihrer breiten Betten und edlen Ausstattung, nicht einmal über ein eigenes Bad mit WC. Die Ticketpreise variierten entsprechend.
Seite 33 bis 35: Die einzelnen Decks der Olympic-Klasse, veröffentlicht in dem Journal The Shipbuilder, Juni 1911. Die zehn Decks sind nacheinander aufgeführt; die Detailunterschiede zwischen der Titanic und der Olympic auf dem Brückendeck (Bridge Deck B) sind in zwei verschiedenen Zeichnungen des gleichen Decks zu erkennen. Deutlich zu sehen sind die sechzehn Rettungsboote und die vier Faltboote auf dem Bootsdeck, dort befinden sich auch der Eingang zum Großen Treppenhaus (1st Class Entrance) und der Gymnastikraum (Gymnasium). Auf den darunterliegenden Decks fallen besonders die großen Gemeinschaftsräume auf: Lounge und Rauchsalon (Smoke Room) sowie Lese- und Schreibsalon (Reading and Writing Room) der Ersten Klasse liegen auf dem Promenadendeck A, die Bibliothek für die Zweite Klasse auf dem Schutzdeck C (Shelter Deck C), der gewaltige Speisesaal der Ersten Klasse sowie der etwas kleinere Zweite-Klasse-Speisesaal auf dem Salondeck D. Auf dem Mitteldeck F ist schließlich der Speisesaal der Dritten Klasse untergebracht. Im Detail eingezeichnet sind die Kabinen mit Bettenzahlen und sämtliche Funktionsräume des Passagier- und Schiffsbetriebs.
Selbstverständlich befanden sich die Aufenthaltsräume und Unterkünfte der Ersten Klasse im obersten Bereich des Schiffes. Die vertikale Struktur der Titanic war über insgesamt zehn Decks verteilt:
1 Bootsdeck
2 A-Deck: Promenadendeck
3 B-Deck: Brückendeck
4 C-Deck: Schutzdeck