Albert Schweitzer gehört zu den wichtigsten Denkern der Tierschutzbewegung. Seine Lehre von der Ehrfurcht vor dem Leben schließt den Respekt vor allen Tieren selbstverständlich ein. Die verstreuten Texte Albert Schweitzers zur Tierethik in einem Band zu versammeln war daher längst überfällig. Der Band enthält autobiographische Texte, in denen Schweitzer eindringlich erzählt, wie er von Kindheit an für das Leiden von Tieren sensibilisiert wurde oder wie in seinem Spital in Lambarene Affen, Gazellen, Pelikane und andere Tiere als Gefährten und Patienten ernst genommen wurden. Den Mittelpunkt bilden philosophische, theologische und kulturgeschichtliche Überlegungen zur Tierethik, in denen Schweitzer nach der Rolle der großen Religionen und des modernen Denkens für unser Verhältnis zu den Tieren fragt. Die von Erich Gräßer ausgewählten und eingeleiteten Texte sprechen den Leser unmittelbar an. In einer Zeit, in der Massentötungen von Tieren an der Tagesordnung sind, haben sie nichts von ihrer Aktualität eingebüßt.
Albert Schweitzer, am 14. Januar 1875 im Oberelsass geboren, studierte Theologie und Philosophie, promovierte in beiden Fächern und habilitierte sich 1902 in Straßburg. Von 1905 bis 1912 studierte er Medizin, um 1913 als Tropenarzt nach Lambarene im heutigen Gabun zu gehen. Im Ersten Weltkrieg als feindlicher Ausländer interniert und dann ausgewiesen, kehrte er 1924 nach Lambarene zurück und lebte und arbeitete dort, von Reisen unterbrochen, bis zu seinem Tod am 4. September 1965.
Erich Gräßer, geb. 1927, ist Professor em. für Neues Testament an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Bonn und war jahrelang Präsident der Wissenschaftlichen Albert-Schweitzer-Gesellschaft. Er ist Mitherausgeber der bei C.H.Beck erschienenen Werke aus dem Nachlaß von Albert Schweitzer. Einer größeren Leser schaft ist er durch zahlreiche Publikationen zum Tierschutz bekannt.
Herausgegeben von Erich Gräßer
Verlag C.H.Beck
VORWORT
AUTOBIOGRAPHISCHE TEXTE
Das Gebet des Kindes
Du sollst nicht töten und nicht quälen!
Auf der Suche nach dem sittlichen Grundprinzip
Förderung und Errettung von Leben
Alles Leben ist heilig
BERICHTE AUS LAMBARENE
Ankunft in Afrika
Verzicht auf Jagd
Der Pelikan
Mitgefühl auch mit den kleinsten Tieren
Von unseren Tieren in Lambarene
PREDIGTEN
Selig sind die Barmherzigen
Die zum Leiden verurteilte Kreatur
Tierschutz als Arbeit am Reich Gottes
Das große Gebot
Gerechtigkeit gegen die Tiere
PHILOSOPHISCHE TEXTE
Wahres Menschsein
Die unvollständige Ethik
Der Konflikt mit der Wirklichkeit
Gütigkeit gegen alle Lebewesen
Verantwortung gegenüber allen Geschöpfen
Humanität
Die Ehrfurchtsethik als Religion
Hingebung an anderes Leben
Die Weite der Ehrfurchtsethik
Falkenjägerei
Stierkampf
Tierschutz
MENSCH UND KREATUR IN DEN WELTRELIGIONEN
Allgemeines
Mensch und Kreatur im chinesischen Denken
Mensch und Kreatur im indischen Denken
Mensch und Kreatur in der Lehre Zarathustras
Mensch und Kreatur im jüdischen [und urchristlichen] Denken
Mensch und Kreatur im antiken europäischen Denken
Mensch und Kreatur im Denken des europäischen Mittelalters [bis zur Neuzeit]
QUELLENNACHWEISE
Der am 14. Januar 1875 in Kaysersberg im Oberelsass geborene Albert Schweitzer ist zweifellos eine der bekanntesten Persönlichkeiten des vorigen Jahrhunderts. Im liberal geprägten protestantischen Pfarrhaus in Günsbach, wohin der Vater, Pfarrer Ludwig Schweitzer, noch im gleichen Jahr überwechselte, verbrachte Schweitzer eine insgesamt glückliche Kindheit und Jugendzeit. Allerdings gesteht er: «Solange ich zurückblicken kann, habe ich unter dem vielen Elend, das ich in der Welt sah, gelitten. Unbefangene, jugendliche Lebensfreude habe ich eigentlich nie gekannt […] Insbesondere litt ich darunter, dass die armen Tiere so viel Schmerz und Not auszustehen haben. Der Anblick eines alten hinkenden Pferdes, das ein Mann hinter sich herzerrte, während ein anderer mit einem Stecken auf es einschlug – es wurde nach Kolmar ins Schlachthaus getrieben –, hat mich wochenlang verfolgt» (GW I, 275).[*] Daher machte die Tierschutzbewegung, die in Schweitzers Jugend aufkam, einen großen Eindruck auf ihn: «Endlich wagten es Menschen, in der Öffentlichkeit aufzutreten und zu verkündigen, dass das Mitleid mit den Tieren etwas Natürliches sei, das zur wahren Menschlichkeit gehöre, und dass man sich dieser Erkenntnis nicht verschließen dürfe. Ich hatte den Eindruck, dass ein neues Licht in dem Dunkel der Ideen aufgegangen sei und stetig zunehmen werde» (GW V, 173). «Was noch vielfach als unangebrachte Sentimentalität angesehen wurde, wird mehr und mehr ernst genommen. Tierschutzvereine treten ins Leben. Sie begnügen sich nicht damit, erzieherisch zu wirken, sondern verlangen und erreichen es, dass die Gesetzgebung sich der Geschöpfe annimmt und das mitleidlose Verfahren mit ihnen ahndet» (Kulturphilosophie III/3, 151).
Günsbach, das kleine elsässische Dorf, in dem Schweitzer seine Kindheit und Jugend verbrachte, wurde ihm später durch den Bau seines eigenen Hauses (1928), das heute Archiv und Museum ist, zur bleibenden Heimat. Ab 1893 studierte der Vielbegabte von hier aus an der Universität Straßburg – kurzzeitig auch in Paris und Berlin – Theologie und Philosophie. Daneben nahm er Orgelunterricht bei Charles-Marie Widor, dem bedeutenden Komponisten und Organisten an der Kirche St. Sulpice in Paris.
In den Pfingstferien 1896 legte Schweitzer vor sich selbst das Gelöbnis ab, sich nach dem dreißigsten Lebensjahr einem «unmittelbaren menschlichen Dienen zu weihen» (GW I, 99). Das führte später (1904) zu der Entscheidung, als Tropenarzt und Missionar nach Afrika zu gehen. Bis dahin aber gab er sich ganz dem von ihm meisterhaft beherrschten Orgelspiel und der Wissenschaft hin. Schweitzer promovierte in drei Fakultäten, in der philosophischen (1899), der theologischen (1900) und der medizinischen (1913). Daneben fand er Zeit für seine Bach-Studien und schrieb das heute noch als Standardwerk geltende musizierpraktische Buch mit dem schlichten Titel J. S. Bach, zunächst in französischer Sprache (Paris/Leipzig 1905), dann – in fast doppelter Länge – auch in deutscher Sprache (Leipzig 1908).
Nach beiden theologischen Examina war Schweitzer bereits 1900 im Alter von fünfundzwanzig Jahren ordiniert und der Kirche St. Nicolai in Straßburg als Vikar zugewiesen worden. Von nun an stand er fast Sonntag für Sonntag als Prediger auf der Kanzel. Das Predigtamt hat er mit großer innerer Überzeugung ununterbrochen bis 1912 beibehalten. Gleichzeitig hielt er als inzwischen für das Fach Neues Testament habilitierter Privatdozent regelmäßig Vorlesungen an der Theologischen Fakultät der Universität Straßburg.
Alle diese Tätigkeiten endeten mit der Ausreise nach Afrika, zu der Schweitzer im März 1913 aufbrach. Nur wenige verstanden damals, dass er seine überaus erfolgreiche Doppelkarriere in Kunst und Wissenschaft aufgab, um stattdessen Kranke im Urwald zu heilen. Er aber war sich sicher, dass er berufen sei, der von Jesus verkündeten Liebe in dessen Nachfolge zu dienen (GW I, 103).
Zusammen mit seiner Frau Helene Schweitzer-Bresslau baute er in Lambarene im zentralafrikanischen Gabun mit eigenen Händen das Urwaldspital, das bald schon als Symbol der Menschlichkeit weltweit bekannt wurde. Hier lebte und arbeitete Schweitzer mehr als dreißig Jahre, unterbrochen nur durch mehrere Europaaufenthalte, bei denen er durch Orgelkonzerte und Vorträge das für sein Spital notwendige Geld erwarb.
Noch bis in die letzten Lebensjahre war er mit Bauarbeiten zur Erweiterung des Spitals beschäftigt. Schweitzer starb am 4. September 1965 im 91. Lebensjahr in Lambarene, wo er am darauf folgenden Tag auf dem kleinen Friedhof vor dem «Doktorhaus» beigesetzt wurde, auf dem schon acht Jahre zuvor seine Frau ihre letzte Ruhestätte gefunden hatte.
Schweitzer war erstaunlich vielseitig begabt: Er war Theologe, Philosoph, Bach-Forscher, Orgelvirtuose, Orgelbaufachmann, Tropenarzt, Baumeister und nicht zuletzt auch Schriftsteller von hohem Rang. Seine beiden Autobiographien Aus meiner Kindheit und Jugendzeit (München 1924) und Aus meinem Leben und Denken (Leipzig 1931) gehören zur Weltliteratur. Was jedoch seinen Namen zu einem Synonym für Humanität werden ließ, war neben den Friedensappellen die ärztliche und missionarische Tätigkeit in Lambarene. Mit ihr richtete er einen Leuchtturm der Menschlichkeit auf, nicht nur im dunklen Afrika, sondern weltweit.
Schon während der Studienjahre hatte Schweitzer das Bewusstsein, in einer Zeit der Dekadenz zu leben, was durch das schon früh entstandene, aber erst 2005 aus dem Nachlass veröffentlichte Werk Wir Epigonen. Kultur und Kulturstaat klassisch bezeugt wird. Den Niedergang der Kultur lastete er der Philosophie an. Ihr warf er vor, sich als reine Wissenschaft zu verstehen, statt als Humanität gestaltend ins Leben einzugreifen.
Den Ausweg aus dieser Krise fand Schweitzer im Vordringen zu einer Idee, «in der Welt- und Lebensbejahung und Ethik miteinander enthalten sind» (GW I, 169). Er war überzeugt, diese Idee mit dem Begriff Ehrfurcht vor dem Leben gefunden zu haben. Schweitzer hat später berichtet, der Begriff sei ihm 1915 während einer Flussfahrt auf dem zentralafrikanischen Ogowe in einer Art Offenbarungserlebnis zugefallen: Beim Anblick von vier Nilpferden mit ihren Jungen, die auf einer Insel am Boot vorüberzogen, sei ihm urplötzlich das Wort «Ehrfurcht vor dem Leben» in den Sinn gekommen (s. unten S. 20f.). In einem Brief vom 1. Februar 1962 schreibt er: «Erst durch das Wort Ehrfurcht vor dem Leben, das in jener Stunde geheimnisvoll und unbewusst in meinem Denken auftauchte, wurde mir klar, dass die Ethik durch die Berücksichtigung der ganzen Kreatur eine viel tiefere, eine größere Energie besitzen würde, weil wir durch sie in ein geistiges Verhältnis zum Universum gelangen würden.» Allerdings ist die Erinnerung Schweitzers, er habe den Begriff der Ehrfurcht vor dem Leben vorher nie gehört, zu korri gieren, denn tatsächlich hat er ihn bereits in einer Vorlesung vom 13. Februar 1912 gebraucht (vgl. Albert Schweitzer, Straßburger Vor lesungen. Hrsg. von E. Gräßer und J. Zürcher, München 1998, 693).
Schweitzer hatte erkannt, dass die bisher gängige Ethik es nicht vermochte, die Kultur wahrhaft ethisch zu beeinflussen. Den Grund dafür sah er darin, dass sie «zu eng» war: Sie beschäftigte sich nur mit dem Verhalten des Menschen zum Menschen, nicht aber mit seinem Verhalten zu allen lebenden Wesen, wodurch sie «vollständig und echt und lebendig» geworden wäre (GW V, 164).
Um sich zu vergewissern, wie es sich tatsächlich in dieser Sache verhält, hatte Schweitzer zu Beginn des vorigen Jahrhunderts die philosophischen Werke über Ethik daraufhin untersucht, was sie über unser Verhalten zur Kreatur zu sagen haben. Das Ergebnis war negativ. Die meisten betrachteten Tierschutz als etwas Nebensächliches, andere gingen erst gar nicht darauf ein. Viele Verfasser jener Werke hielten Mitleid mit den Tieren für keiner Beachtung wert, entweder weil man die Mitgeschöpfe auf einer niederen Daseinsstufe sah oder sie gar – wie der berühmte Philosoph René Descartes (1596–1650) – für bloße Automaten hielt, die nur scheinbar, aber nicht in Wirklichkeit Schmerz fühlen könnten. Mit ihnen dürfe man also nach Belieben verfahren (dagegen Albert Schweitzer, Kultur und Ethik, 215). Unter dem Einfluss des griechischen Denkens (Platon, Aristoteles, die Stoiker) war es zu der auch vom Christentum vertretenen Lehre gekommen, dass allein der Mensch eine unsterbliche Seele besitze, dass es folglich einen absoluten Unterschied zwischen den Menschen und den Geschöpfen gebe, Letztere eben nur – wie Schweitzer kritisiert – «als belebte Dinge» gelten, «die um des Menschen willen da sind und keinen Anspruch auf seine Teilnahme haben» (Kultur und Ethik, 213).
Für Schweitzer dagegen ist Ethik die «ins Grenzenlose erweiterte Verantwortung gegen alles was lebt» (GW II, 661). Sie hat «von der unmittelbarsten und umfassendsten Tatsache des Bewusstseins» auszugehen, die da lautet: «Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will» (GW II, 377). Von da aus war es nur ein kleiner Schritt bis zu der These: «Die wahre Ethik hat Welt-Weite. Alles Ethische geht auf ein einziges Grundprinzip des Ethischen, das der höchsten Erhaltung und Förderung von Leben, zurück. Höchste Erhaltung des eigenen Lebens im Vollkommener-Werden und höchste Erhaltung von anderem Leben, in empfindender und helfender Hingabe an es: dies ist Ethik. Was wir Liebe nennen, ist seinem Wesen nach Ehrfurcht vor dem Leben […] Ihrem Gebiete und ihren Forderungen nach ist die Ethik grenzenlos. Sie hat es mit allen Wesen, die in unseren Bereich treten, zu tun» (GW II, 659f.). Für Schweitzer war es überhaupt keine Frage, «dass man der Forderung des gütigen Verhaltens gegen Tiere einen Platz auch in der philosophischen Ethik zuzugestehen habe». Dieser stünde es gut an, «den Freunden des Tierschutzes zu Hilfe zu kommen und ihr Unternehmen vom Standpunkt des Denkens aus zu rechtfertigen» (GW V, 177).
Schweitzer hält die Brüderlichkeit nur zwischen den Menschen für nicht ausreichend. «Brüderlichkeit ist nur vollständig, wenn wir sie zwischen uns und allen Lebewesen schaffen; denn jedes andere Lebewesen ist wie ich, jedes andere Lebewesen hat ebenfalls Angst davor, vernichtet zu werden. Es fürchtet den Schmerz, es strebt danach, glücklich zu sein. Alle Lebewesen sind gleich, und wenn wir das verstanden haben, dann wird unsere Humanität, werden die humanitären Gefühle so wahrhaftig in uns gegründet sein, dass wir nicht mehr nach dem Wert oder der Bedeutung dieses oder jenes Lebewesens fragen, sondern dass wir wissen, was wir ihm schuldig sind, wenn wir ihm auf unserem Lebensweg begegnen, dass wir uns um sein Schicksal kümmern und dass wir ihm helfen, wenn es uns braucht» (Vorträge, 223f.).
Diese Sätze Schweitzers aus einem Vortrag, den er am 10. November 1959 in Paris gehalten hat, lassen uns verstehen, warum er den Regenwurm vom Asphalt, das Insekt aus dem Tümpel und «Ameisen, Unken und andere Tiere» aus der Baugrube rettete (GW II, 397; I, 667; s. unten S. 32). Er hat keine Möglichkeit ausgelassen, dort, wo es nötig und möglich war, Tieren Hilfe zu bringen, um «damit für einen Augenblick aus dem unbegreiflichen Grauen des Daseins herauszutreten» (GW II, 390).
In seinem Tropenspital in Lambarene war er ein barmherziger Samariter nicht nur für die Patienten, sondern auch für die Tiere. Zie gen, Hühner, Hunde, Katzen, Antilopen, Gazellen, Pelikane, verwaiste Äffchen, ein zugelaufenes Wildschwein, ein Papagei und anderes Getier, sie alle hatten Gastrecht im Spitalgelände, einige davon sogar in seinem Wohnraum. Selbst gegen eine über den Schreibtisch führende Ameisenstraße schritt er nicht ein (Von unseren Tieren, 15f.). Schweitzer führte stets ein Säckchen Reis mit sich. Und wo immer es sich anbot, fütterte er daraus seine kleinen Schützlinge. Das war für ihn gelebte Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben. Er fühlte sich genötigt, «gegen allen Willen zum Leben», der neben dem seinen im Dasein ist, sich teilnahmsvoll zu verhalten. Denn das ist «das Wesen des Guten: Leben erhalten, Leben fördern, Leben auf seinen höchs ten Wert bringen. Das Wesen des Bösen ist: Leben vernichten, Leben schädigen, Leben in seiner Entwicklung hemmen … Alles, was ich einem Lebewesen Gutes erweise, ist im letzten Grunde Hilfe, die ich ihm zur Erhaltung und Förderung seines Daseins zuteil werden lasse» (GW V, 158).
Dabei war sich Schweitzer völlig darüber im Klaren, dass das Grundprinzip der Sittlichkeit – Ehrfurcht vor allem Leben – in unlösbare Konflikte führen kann. Der dafür geprägte Begriff «Selbstentzweiung des Willens zum Leben» (GW II, 381) zeigt das mit aller Klarheit: Leben lebt nur auf Kosten von anderem Leben! Daran wird deutlich: Welt und Ethik lassen sich nicht zusammendenken. Doch Schweitzer lässt das auf sich beruhen, weil es nicht das Entscheidende ist. «Das Entscheidende für unsere Lebensanschauung ist nicht unsere Erkenntnis der Welt, sondern die Bestimmtheit des Wollens, das in unserem Willen zum Leben gegeben ist» (GW II, 107).
Das entsprechende Credo hat Schweitzer bei der Entgegennahme des belgischen Joseph-Lemaire-Preises am 18. November 1955 klar formuliert: «Wir weisen alle Behauptungen zurück, die besagen, der Mensch sei der Herr der Schöpfung und Gebieter über alle anderen Geschöpfe. Wir beugen uns vor der Wirklichkeit. Wir wagen nicht mehr zu sagen, dass es Existenzen ohne Vernunft gibt, mit denen man umgehen kann, wie man will. Denn wir wissen, dass ein jedes Wesen ein Geheimnis ist wie unser eigenes Sein. Die arme Fliege, die herumläuft und die wir mit der Hand töten wollen, ist ins Dasein getreten wie wir. Sie kennt die Angst, sie kennt das Sehnen nach Glück; sie kennt die Angst, nicht mehr zu leben. Also ist unser Nächster nicht nur der Mensch. Unsere Nächsten sind alle Wesen. Deshalb glaube ich, dass der Begriff der Ehrfurcht vor dem Leben unseren Gedanken der Humanität mehr Tiefe, mehr Größe und mehr Wirksamkeit verleiht» (GW V, 165).
Die nachfolgende Textauswahl zeigt uns, wie sehr Albert Schweitzer in der Überzeugung lebte, dass die bisherige relative Ethik eine bereits verlorene Position verteidigt. Er war sich sicher, dass das Vordringen der absoluten Ethik nicht aufzuhalten sei. «Das Denken kann der Ethik der Ehrfurcht vor allem Leben und der Liebe zu allem Leben nicht entgehen.» Trotz aller Schwierigkeiten, welche die Forderungen der Liebe zu allen Geschöpfen mit sich brächten, werde die neue Ethik «die alte, begrenzte Ethik aufgeben und die grenzenlose anerkennen müssen» (GW V, 142).
Bis dahin ist es freilich noch ein weiter Weg! Zwar hat Schweitzer in seinen späten Jahren gerne darauf hingewiesen, er sei bewegt, «dass die Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben kampflos ihren Weg in der Welt macht» (Brief des Neunundachtzigjährigen vom 26. Januar 1964).
Aber darin hat sich Schweitzer getäuscht. Die Ehrfurchtsethik geht – wenn überhaupt – nur mühsam ihren Weg. Nein, Schweitzers Wirkung ist in dieser Hinsicht eher gering. Seine biozentrische Ethik wird erstaunlicherweise nicht abgerufen, obwohl gerade mit ihr der drohenden Umweltzerstörung wirkungsvoll begegnet werden könnte. Gleichwohl gilt unverändert, «dass es noch eine große, leise Gemeinschaft all derer gibt, … die in ihm das große Vorbild eigenen Bemühens um ein menschenwürdiges Dasein ehren» (H. Steffahn, «Mein Leben ist mir ein Rätsel». Begegnungen mit Albert Schweitzer, Neukirchen-Vluyn 2005, 7). Und es gibt die Gemeinschaft derer, die in ihm das große Vorbild für ein tiergerechtes Verhalten sehen. Ihnen ist bewusst, dass die Mensch-Tier-Beziehung im Leben und Denken Schweitzers von zentraler Bedeutung war, dass er den über die menschliche Artgrenze hinaus erweiterten Humanitätsbegriff auch auf den Umgang mit nichtmenschlichem Leben ausgedehnt hat. Die entsprechenden Äußerungen sind zahlreich, finden sich jedoch weit verstreut über das literarische Gesamtwerk. Von daher schien es uns überfällig, sie einmal in einem Band zusammenzufassen. Ihre Sammlung macht deutlich, dass für Schweitzer die Ethik nur dann «wahre und völlige Ethik» ist, wenn sie «die Gütigkeit und das Erbarmen mit aller Kreatur, auch der armseligsten, mit einbezieht» (Brief vom 26. Januar 1964). Und sie stellt uns Schweitzers Zielsetzung klar vor Augen: «Die Ethik der Liebe zu allen Geschöpfen im Einzelnen auszudenken: dies ist die schwere Aufgabe, die unserer Zeit gestellt ist» (GW V, 142).
Die in diesem Buch zusammengestellte Textauswahl zeigt, wie konsequent Schweitzer dieser Zielsetzung gefolgt ist. Wir finden sie ebenso in den frühen Kindheitserinnerungen, in den autobiographischen und philosophischen Schriften, in den Predigten und nicht zuletzt auch in dem relativ umfangreichen systematischen Überblick über das Verhältnis von «Mensch und Kreatur in den Weltreligionen» (s. unten Seite 117–158). Das sind dann auch die Fundorte für unsere Texte. Sie sind fast ausnahmslos Schweitzers Gesammelten Werken in fünf Bänden (München 1974) und den Werken aus dem Nachlaß (München 1995–2006) entnommen. Textkritische Anmerkungen dieser Ausgabe wurden nicht in den vorliegenden Band übernommen; wer sich über sie informieren will, sei auf die wissenschaftliche Ausgabe verwiesen.
Bei so vielfältigen Texten Albert Schweitzers, deren Entstehung sich über Jahrzehnte hinzog, konnten Wiederholungen von Gedanken nicht vermieden werden. Der Leser möge sie als Unterstreichung dessen verstehen, was dem Ethiker Schweitzer besonders wichtig war.
Die Einführungen zu den Texten geben jeweils knapp Auskunft über deren biographischen, theologischen und ideengeschichtlichen Kontext. Die Anordnung der Texte folgt im Wesentlichen der Biographie Schweitzers.
Mir ist mancherlei Hilfe zuteil geworden. Johann Zürcher hat mir einige Texte allererst zugänglich gemacht und Korrekturen zu den Werken Albert Schweitzers übersandt, die mir nützlich waren. Meine Frau Ingeborg half mir beim Korrekturlesen. Ulrich Nolte vom Verlag C.H.Beck hat mir nicht nur durch die freundliche Art der Zusammenarbeit, sondern auch mit mancherlei Verbesserungsvorschlägen die Arbeit erleichtert. Ihnen allen gilt mein herzlicher Dank.
Bonn, im Januar 2006 |
Erich Gräßer |
* Zu diesem Kürzel und den im Folgenden in Klammern stehenden Stichworten siehe die einleitende Bemerkung zum Quellenverzeichnis unten Seite 159
Im Jahr seiner zweiten Ausreise nach Afrika, 1924, veröffentlichte Albert Schweitzer seine erste Autobiographie. Sie trug den Titel Aus meiner Kindheit und Jugendzeit. Das schmale Bändchen von nur 64 Seiten wurde in mehrere Sprachen übersetzt und erreichte eine hohe Auflagenzahl (64.–73. Tsd. 1963). Schweitzer erzählt darin von den Erlebnissen, die er als Kind einer elsässischen Pfarrfamilie, als Bub unter Dorfbuben und als Schüler hatte. Es sind Erlebnisse, die nach der charakterbildenden Seite hin für ihn von Bedeutung waren. Er beließ es jedoch nicht beim bloßen Erzählen, sondern schrieb «als Schlusswort zum Erzählten» auch «Gedanken» nieder, die ihn im Rückblick auf seine Jugend bewegten (GW I, 213). Dazu gehörte auch, dass ihn von Kindesbeinen an das Mitleid mit den gequälten Tieren bedrückte. Dass wir den Schmerz und Not leidenden Kreaturen beizustehen haben, wurde ihm sehr früh schon zur unerschütterlichen Überzeugung.
In den Schlusssätzen der Kindheits- und Jugenderinnerungen kommt es zu einer Art Anverwandlung Schweitzers an Jesus als den Bergprediger. Nicht zu Unrecht wurde bemerkt, es liege «im Hoffnungscharakter dieser Sentenzen und in ihrer sanften Entschiedenheit etwas vom Stil der Seligpreisungen des Neuen Testaments» (H. Steffahn, Albert Schweitzer, Hamburg 1979, 38). In der Tat zitiert Schweitzer ganz am Schluss Jesu Seligpreisung der Sanftmütigen, die das Erdreich besitzen werden (Mt. 5,5). Zur «unermesslich tiefen Wahrheit», die diese Worte aussprechen, gehört für Schweitzer auch, dass es keine Tierquälerei mehr gibt, wo die Sanftmütigkeit in den Menschen zur Herrschaft kommt.
Die 1931 veröffentlichte zweite Autobiographie Albert Schweitzers Aus meinem Leben und Denken ist wohl sein am weitesten verbreitetes Buch. Im Wesentlichen in Lambarene entstanden, berichtet sie von seinen Lebensstationen und dem vielfältigen Denken und Tun als Philosoph, Theologe, Bach-Forscher, Organist, Arzt und Missionar. Im Zentrum steht die Entstehung der Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben. Die unprätentiöse Art des Berichtens vermittelt einen nachhaltigen Eindruck von der genialen Begabung Schweitzers auf all den genannten Gebieten, sowie von seiner entsagungsvollen Lebensführung und Tätigkeit als «Kulturpionier» in Afrika. Getragen wird das alles von einer geradezu unerschöpflichen ethischen Energie, die auch das damals noch gänzlich brachliegende Feld des Tierschutzes selbstverständlich mit einbezieht.
Solange ich zurückblicken kann, habe ich unter dem vielen Elend, das ich in der Welt sah, gelitten. Unbefangene, jugendliche Lebensfreude habe ich eigentlich nie gekannt und glaube, dass es vielen Kindern ebenso ergeht, wenn sie auch äußerlich ganz froh und ganz sorglos scheinen.
Insbesondere litt ich darunter, dass die armen Tiere so viel Schmerz und Not auszustehen haben. Der Anblick eines alten hinkenden Pferdes, das ein Mann hinter sich herzerrte, während ein anderer mit einem Stecken auf es einschlug – es wurde nach Kolmar ins Schlachthaus getrieben –, hat mich wochenlang verfolgt.
Ganz unfassbar erschien mir – dies war schon, ehe ich in die Schule ging –, dass ich in meinem Abendgebete nur für Menschen beten sollte. Darum, wenn meine Mutter mit mir gebetet und mir den Gutenachtkuss gegeben hatte, betete ich heimlich noch ein von mir selbst verfasstes Zusatzgebet für alle lebendigen Wesen. Es lautete: «Lieber Gott. Schütze und segne alles, was Odem hat, bewahre es vor allem Übel, und lass es ruhig schlafen!»
Einen tiefen Eindruck machte mir ein Erlebnis aus meinem siebenten oder achten Jahre. Heinrich Bräsch und ich hatten uns Schleudern aus Gummischnüren gemacht, mit denen man kleine Steine schleuderte. Es war im Frühjahr, in der Passionszeit. An einem Sonntagmorgen sagte er zu mir: «Komm, jetzt gehen wir in den Rebberg und schießen Vögel.» Dieser Vorschlag war mir schrecklich, aber ich wagte nicht zu widersprechen, aus Angst, er könnte mich auslachen. So kamen wir in die Nähe eines kahlen Baumes, auf dem die Vögel, ohne sich vor uns zu fürchten, lieblich in den Morgen hinaussangen. Sich wie ein jagender Indianer duckend, legte mein Begleiter einen Kiesel in das Leder seiner Schleuder und spannte dieselbe. Seinem gebieterischen Blick gehorchend, tat ich unter furchtbaren Gewissensbissen dasselbe, mir fest gelobend, danebenzuschießen. In demselben Augenblicke fingen die Kirchenglocken an, in den Sonnenschein und in den Gesang der Vögel hineinzuläuten. Es war das «Zeichen-Läuten», das dem Hauptläuten eine halbe Stunde voranging. Für mich war es eine Stimme aus dem Himmel. Ich tat die Schleuder weg, scheuchte die Vögel auf, dass sie wegflogen und vor der Schleuder meines Begleiters sicher waren, und floh nach Hause. Und immer wieder, wenn die Glocken der Passionszeit in Sonnenschein und kahle Bäume hinausklingen, denke ich ergriffen und dankbar daran, wie sie mir damals das Gebot «Du sollst nicht töten» ins Herz geläutet haben.
Das Dorf Günsbach im Elsass hat Schweitzer sein Leben lang als seine Heimat betrachtet. Am Rande von Günsbach baute er sich mit dem Geld des Goethe-Preises, der ihm 1928 von der Stadt Frankfurt verliehen wurde, ein Haus (nicht auf dem Bild), in dem heute ein Albert-Schweitzer-Museum und das Albert-Schweitzer-Archiv untergebracht sind.
Von jenem Tage an habe ich gewagt, mich von der Menschenfurcht zu befreien. Wo meine innerste Überzeugung mit im Spiele war, gab ich jetzt auf die Meinung anderer weniger als vorher. Die Scheu vor dem Ausgelachtwerden durch die Kameraden suchte ich zu verlernen.
Die Art, wie das Gebot, dass wir nicht töten und quälen sollen, an mir arbeitete, ist das große Erlebnis meiner Kindheit und Jugend. Neben ihm verblassen alle anderen.
Als ich noch nicht in die Schule ging, hatten wir einen gelben Hund namens Phylax. Wie manche Hunde konnte er keine Uniformen leiden und ging immer auf den Briefträger los. Also wurde ich angestellt, zur Stunde des Briefträgers Phylax, der bissig war und sich schon an einem Gendarmen vergangen hatte, in Zaum zu halten. Mit einer Gerte trieb ich ihn in einen Winkel des Hofs und ließ ihn nicht heraus, bis der Briefträger wieder fort war. Welch stolzes Gefühl, als Tierbändiger vor dem bellenden und zähnefletschenden Hund zu stehen und ihn mit Schlägen zu meistern, wenn er aus dem Winkel ausbrechen wollte! Aber das stolze Gefühl hielt nicht an. Wenn wir nachher wieder als Freunde beieinander saßen, klagte ich mich an, dass ich ihn geschlagen hatte. Ich wusste, dass ich ihn vom Briefträger auch abhalten könnte, wenn ich ihn beim Halsband fasste und streichelte. Wenn die fatale Stunde aber wieder kam, erlag ich wiederum dem Rausch, Tierbändiger zu sein […]
In den Ferien durfte ich beim Nachbar Fuhrmann sein. Sein Brauner war schon etwas alt und engbrüstig. Er sollte nicht viel traben. In der Fuhrmannsleidenschaft ließ ich mich aber immer wieder hinreißen, ihn mit der Peitsche zum Traben anzutreiben, auch wenn ich wusste und fühlte, dass er müde war. Der Stolz, ein trabendes Pferd zu leiten, betörte mich. Der Mann ließ es zu, «um mir die Freude nicht zu verderben». Aber was wurde aus der Freude, wenn wir nach Hause kamen und ich beim Ausschirren bemerkte, was ich auf dem Wagen nicht so gesehen hatte, wie die Flanken des Tieres arbeiteten! Was nützte es, dass ich ihm in die müden Augen schaute und es stumm um Verzeihung bat? […]
Einmal, ich war damals schon auf dem Gymnasium und in den Weihnachtsferien zu Hause, kutschierte ich im Schlitten. Aus dem Hause des Nachbars Löscher heraus sprang kläffend sein als böse bekannter Hund dem Pferde entgegen. Ich glaubte im Recht zu sein, ihm einen gut gezielten Peitschenschlag zu versetzen, obwohl er sichtlich nur aus Mutwillen auf den Schlitten zukam. Zu gut hatte ich gezielt. Ins Auge getroffen, wälzte er sich heulend im Schnee.
Seine klagende Stimme klang mir noch lange nach. Durch Wochen hindurch konnte ich sie nicht loswerden.
Zweimal habe ich mit andern Knaben mit der Angel gefischt. Dann verbot mir das Grauen vor der Misshandlung der aufgespießten Würmer und vor dem Zerreißen der Mäuler der gefangenen Fische, weiter mitzumachen. Ja, ich fand sogar den Mut, andere vom Fischen abzuhalten.
Aus solchen mir das Herz bewegenden und mich oft beschämenden Erlebnissen entstand in mir langsam die unerschütterliche Überzeugung, dass wir Tod und Leid über ein anderes Wesen nur bringen dürfen, wenn eine unentrinnbare Notwendigkeit dafür vorliegt, und dass wir alle das Grausige empfinden müssen, das darin liegt, dass wir aus Gedankenlosigkeit leiden machen und töten. Immer stärker hat mich diese Überzeugung beherrscht. Immer mehr wurde mir gewiss, dass wir im Grunde alle so denken und es nur nicht zu bekennen und zu bestätigen wagen, weil wir fürchten, von den andern als «sentimental» belächelt zu werden, und auch weil wir uns abstumpfen lassen. Ich aber gelobte mir, mich niemals abstumpfen zu lassen und den Vorwurf der Sentimentalität niemals zu fürchten.
Mit dem Kriegsbeginn 1914 wurde der damals deutsche Elsässer Albert Schweitzer im französischen Gabun zum «feindlichen Ausländer». Er musste seine Spitalarbeit vorläufig aufgeben und fand dadurch Zeit, über die ihn lange schon beschäftigenden Fragen nach Ursachen und Folgen des Kulturniedergangs nachzudenken sowie nach Wegen zu suchen, die aus der ethischen Erschlaffung herausführen. Er fragte: Was ist das wahrhaft Ethische? Welches sind die wirklichen Kulturideale? Was ist überhaupt Kultur? Letzteres wurde zu der Schweitzers Denken beherrschenden Leitfrage. Die Definition, das Wesentliche der Kultur sei «die ethische Vollendung der einzelnen wie der Gesellschaft» (GW I, 161), brachte ihn zu der weiteren Frage, mit der er monatelang rang: Gibt es eine ethische Vernunftidee, auf der alle Kultur beruht? Oder anders gefragt: Welches ist das im Denken gründende Grundgesetz des Guten?
Den Durchbruch brachte im September 1915 ein Zufallsereignis, das für Schweitzer zugleich Offenbarungscharakter hatte. Es ließ ihn seine wohl bedeutsamste Intuition beim Anblick von Tieren empfangen: Tiere sind keine Menschen. Aber «es sind Mitgeschöpfe, oft von unerhörter Eigenart und Schönheit, die den Menschen zuweilen zu höchsten geistigen Leistungen inspirieren können. Sie teilen mit ihm eine entscheidende Eigenschaft – das Leben – und erheben daher mit ihm denselben Anspruch: Ehrfurcht vor dem Leben» (Heini Hediger, in: Albert Schweitzer und die Tiere. Hrsg. vom Schweizer Hilfsverein für das Albert-Schweitzer-Spital in Lambarene, Vevey 1997, 30).
Nunmehr hatte ich es mit der fundamentalen Frage zu tun, wie eine Dauer habende, tiefere und lebendigere ethische Kultur aufkommen könne.
Die Genugtuung, das Problem erkannt zu haben, hielt nicht lange an. Monat auf Monat verging, ohne dass ich in seiner Lösung auch nur um einen Schritt vorangekommen war. Alles, was ich aus der Philosophie über Ethik wusste, ließ mich im Stich.
Die armseligen Skizzen der Arbeit nahm ich mit mir, als ich mich mit meiner Frau, ihrer Gesundheit wegen, gegen Ende des Sommers 1915 nach Kap Lopez am Meer begab.
Im September 1915 bekam ich dort Nachricht, dass auf der Missionsstation N’Gômô die Frau des Schweizer Missionars Pelot erkrankt war und man mein Kommen erwartete.
Nun musste ich also auf dem Ogowefluss zweihundert Kilometer stromaufwärts fahren. Als einzige alsbaldige Fahrgelegenheit fand ich einen gerade im Abfahren begriffenen kleinen, alten Dampfer, der zwei überladene große Kähne zu schleppen hatte. An Bord befanden sich außer mir nur einige Schwarze. Da ich mich in der Eile nicht hatte verproviantieren können, erlaubten sie mir, aus ihrem Kochtopf mitzuessen.
Nur langsam kamen wir auf dem Strom, den wir hinauffuhren, voran. Es war die trockene Jahreszeit. Wir mussten uns unseren Weg zwischen großen Sandbänken hindurch suchen.
Ich saß auf einem der Schleppkähne. Ich hatte mir vorgenommen, auf dieser Fahrt ganz in das Problem des Aufkommens einer Kultur, die größere ethische Tiefe und Energie besäße als die unsere, versunken zu bleiben. Blatt um Blatt beschrieb ich mit unzusammenhängenden Sätzen, nur um auf das Problem konzentriert zu bleiben. Müdigkeit und Ratlosigkeit lähmten mein Denken.