image

Romain Rolland

ÜBER DEN GRÄBEN

Aus den Tagebüchern 1914–1919

Mit einem Nachwort von Julia Encke,
herausgegeben von Hans Peter Buohler

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

C.H.BECK textura

Zum Buch

Als der Sommer 1914 mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs ein jähes Ende findet und lauter nationalistischer Jubel die leiseren pazifistischen Stimmen überdröhnt, zeigt sich Romain Rolland, dessen 150. Geburtstag 2016 begangen wird, von euphorischem Überschwang wie hasserfüllter Hysterie unbeeindruckt. Vom Kriegsausbruch in der Schweiz überrascht, bleibt er bewusst dort, arbeitet ehrenamtlich beim Roten Kreuz und steht – wie seine legendäre Schrift – «Über dem Getümmel». Alsbald scheiden sich an ihm die Geister: Als Symbolfigur wird er entweder aufs schärfste bekämpft oder respektvoll verehrt.

Ein Echoraum dieser Stimmen ist Rollands Tagebuch der Kriegsjahre, das auf einzigartige, vielschichtige und vielstimmige Weise die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts dokumentiert. Erstmals erscheint nun eine Auswahl aus den weit über 2000 Seiten umfassenden Aufzeichnungen des Nobelpreisträgers von 1915.

Über den Autor

Romain Rolland (1866–1944) war ein Schriftsteller, Dramatiker, Essayist, Biograf und Musikkritiker französischer Abstammung und europäischer Gesinnung. Berühmt wurde er mit seinem zehnbändigen, in den Jahren 1904 bis 1912 erschienenen Roman «Jean-Christophe», der wie kein anderes Werk seiner Zeit konsequent die Idee einer deutsch-französischen Freundschaft verfolgt. 1916 wurde ihm – rückwirkend für 1915 – der Nobelpreis für Literatur verliehen, «als Anerkennung für den hohen Idealismus seines dichterischen Werkes und für die Wärme und Wahrhaftigkeit, mit der er die Menschen in ihrer Verschiedenartigkeit dargestellt hat». Zu seinen weiteren Werken zählen u.a. Biografien von Michelangelo, Händel, Beethoven, Tolstoi, Essays über Gandhi und das pazifistische Drama «Die Zeit wird kommen».

1914

31. Juli 1914

Vevey, Hotel Mooser

3 Uhr 30. Ein am Bahnhof von Vevey ausgehängtes Telegramm des Bundesrats gibt «die allgemeine Mobilmachung in Russland und die Ausrufung des Kriegszustandes in Deutschland» bekannt. Es ist einer der schönsten Tage des Jahres, ein wunderbarer Abend. Die Berge schweben in lichtem und bläulichem leichtem Nebel; das Mondlicht ergießt über den See einen Strom roten Goldes, der von der savoyischen Küste zwischen Bouveret und Saint-Gingolph ausgeht und bis nach Vevey reicht. Die Luft ist lieblich, der Duft der Glyzinien schwebt in der Nacht; und die Sterne funkeln in so reinem Glanz! In diesem göttlichen Frieden und in dieser zarten Schönheit beginnen die Völker Europas das große Morden.

Samstag, 1. August

Meine Mutter trifft abends um 10 Uhr 30 mit dem letzten Zug ein, der aus Frankreich kommt. Die Mobilmachung Frankreichs ist nachmittags um 4 Uhr 30 verfügt worden, und die Kriegserklärung Deutschlands an Russland ist abends um 7 Uhr überreicht worden.

Heute ist Schweizer Nationalfeiertag. Trauriger Feiertag. Die Schweiz ist vielleicht noch mehr von Sinnen als die unmittelbar beteiligten Nationen. Der Landsturm wird heute einberufen und die allgemeine Mobilmachung für Montag verfügt. […]

Ein kleines Feuer funkelt auf dem Kamm der Alpen oberhalb von Bouveret; und von der Uferstraße in Vevey steigt die Schweizer Nationalhymne in die schöne Nacht. Der Abend ist noch wunderbarer als gestern. […]

Wenn man wie wir zu jedem Rassenhass unfähig ist, wenn man das Volk, das man bekämpfen soll, ebenso achtet wie das Volk, das man verteidigt, wenn man den verbrecherischen und stumpfsinnigen Wahnsinn dieses Krieges sieht und wenn man in sich eine Welt des Denkens, der Schönheit und Güte fühlt, die sich entfalten will, ist es dann nicht das Entsetzlichste, gezwungen zu sein, diese Welt aus einem grässlichen Grunde zu morden?

3.–4. August

Deutschland fällt in Luxemburg ein, richtet ein Ultimatum an Belgien.

Ich bin am Boden. Ich möchte tot sein. Es ist furchtbar, inmitten dieser wahnsinnigen Menschheit zu leben und ohnmächtig dem Bankrott der Zivilisation beizuwohnen. Dieser europäische Krieg ist die größte Katastrophe der Geschichte seit Jahrhunderten, der Zusammenbruch unserer heiligsten Hoffnungen auf die Brüderlichkeit der Menschen.

5.–7. August

Heldentum der Belgier, Einnahme von Lüttich nach erbittertem Widerstand. Belgien muss für Frankreich geheiligte Erde sein. […]

Ich finde mich allein, ausgeschlossen aus dieser blutigen Kommunion. Allein versage ich mir meinen Anteil am Leibe des Menschensohnes. Wieder einmal fühle ich mich, wie in der Dreyfus-Affäre, abgesondert von den übrigen Menschen. Und ich suche zu verstehen, warum ich so bin und woher mir diese unheilvolle Gabe kommt, mich keiner der großen Bewegungen der Menschen anschließen zu können. Dennoch bin ich mehr als ein anderer fähig, sie zu fühlen und sie in meiner Kunst zum Ausdruck zu bringen.

Das kommt daher, weil meine Seele zweifach ist. Ich habe eine Seele, die sich ständig in diese oder jene lebende Gestalt, außerhalb meiner eigenen, verwandelt. Aber diese Seele, nach der allein man mich kennt und nach der man mich beurteilt, ist nicht ich; sie ist mein Spiel, mit dem ich mich vergesse; so wie in der Liebe verliere ich in der Kunst freiwillig das Bewusstsein für das, was ich bin, um mir fremde Seelen zu eigen zu machen. Ich tue dies nicht aus frivolem Zeitvertreib, sondern aus dem instinktiven und tiefen Bedürfnis heraus, mich selber aus der Sicht zu verlieren, mich vorübergehend der Last meiner Persönlichkeit zu entledigen, um ein wenig Luft zu schöpfen und das Leben zu genießen … das Leben der anderen.

22. August

Mein Leid ist eine Summe von Leiden, so dicht und gedrängt, dass es mir keinen Raum mehr lässt zum Atmen. Da ist das Zermalmen meines Frankreichs, sein endgültiger Untergang. Da ist das Schicksal meiner Freunde, die vielleicht tot sind oder verwundet. Da ist das Entsetzen über alle diese Leiden, die herzzerreißende Gemeinschaft mit all diesen Millionen Unglücklichen. Da ist der seelische Todeskampf, den mir der Anblick dieses Bankrotts der Zivilisation, dieser wahnwitzigen Menschheit verursacht, die ihre kostbarsten Schätze, ihre Kräfte, ihren Genius, ihre höchsten Tugenden, ihre Glut heldenhafter Hingebung dem mörderischen und stumpfsinnigen Götzen des Krieges opfert. Da ist die Leere, die mir das Herz abdrückt, die Leere, in der jedes göttliche Wort fehlt, jeder Strahl Christi, jeder moralische Führer, der über dem Getümmel den Gottesstaat zeigt. Und, um zum Ende zu kommen, die Nutzlosigkeit meines Lebens, die Vergeblichkeit meines Werks. Ich möchte einschlafen und nicht mehr die Augen öffnen. […]

Der allgemeine Hass hier richtet sich gegen Österreich. Ich glaube, seine verschlagene Diplomatie und seine erbärmliche Politik haben nicht einen Anhänger in Europa.

29. August

Die Spaltung zwischen der französischen Schweiz und der deutschen Schweiz verschärft sich. In der deutschen Schweiz mehren sich die Bekundungen von Deutschfreundlichkeit. […]

Die Nachricht von der Zerstörung Löwens macht mich krank. Welcher Wahnsinn treibt diese Deutschen in ihren moralischen Ruin? Jeder Schritt, den sie tun, gräbt einen Abgrund von Hass. Wollen sie denn über Trümmer herrschen? Sie rechtfertigen von vornherein die schlimmsten Vergeltungsmaßnahmen; sie beschleunigen das Kommen der Kosaken und der Gelben. Dieses Verbrechen zwingt mich, aus meinem Schweigen herauszutreten. Ich schreibe an Gerhart Hauptmann (Samstag, den 29. August 1914). Da wenig Aussicht besteht, dass ihn dieser Brief erreicht, schicke ich je eine Abschrift an das Journal de Genève, an die Times und an La Voce in Florenz.

Samstag, 12. September

Die Marneschlacht (zwischen Meaux und Nancy), die seit fünf Tagen andauert und in die zwei Millionen Mann verwickelt sind, endet mit einem Sieg auf der ganzen Linie. Es ist, als habe man uns eine Last vom Herzen genommen. Beim Verlassen des Redaktionsbüros kann ich zum ersten Male seit Monaten wieder die Dinge und die Menschen sehen, den Markt auf dem Platz, den vom Föhn aufgewühlten See … […] Übrigens kann ich mich nur über den französischen Sieg freuen. Die deutsche Niederlage kommt mich hart an; ich kann nicht ohne Traurigkeit an alle diese Leiden denken. […] Man sagt übrigens, dass die Bayern unbeschreibliche Dinge getan haben. Seit drei Jahrhunderten hat sich in keinem Krieg des Abendlandes eine solche Grausamkeit gezeigt. Taten aus Wildheit und Sadismus, Verstümmelungen, das Vergnügen, nicht nur zu töten, sondern leiden zu machen.

[Mitte September]

Mehr noch als über die rohe Gewalt der Deutschen bin ich über ihre unerhörte Ungeschicklichkeit verblüfft. Sie sind selber ihre schlimmsten Feinde; sie tun alles, um sich verhasst zu machen, und hinterher wundern sie sich darüber; keinerlei Kenntnis von der Psyche anderer Völker. […] Amtliche deutsche Presseagenturen haben der Welt mit absichtlicher Übertreibung gemeldet, Löwen sei «nur noch ein Haufen Asche». Sie gedachten, auf diese Art die Welt in Schrecken zu versetzen! Sie haben sie in Empörung versetzt.

[20. September]

Die Kathedrale von Reims von Artillerie beschossen und niedergebrannt (20. September). Der Hass steigt wie eine Flut.

24. September

Jean-Richard Bloch, der verwundet ist, schreibt mir aus dem Vorstadtlazarett von Montpellier (16. September):

[…] Als ich, um einen Befehl von meinem Hauptmann einzuholen (ich wusste nicht, dass er tot war), hinter der Hecke aufstand, wo wir, Tote und Lebendige, platt auf dem Bauch lagen, wurden mir im selben Augenblick der Tornister zerfetzt, die Schulterriemen durchschnitten, das Käppi durchlöchert, der Mantel zerfasert und der linke Arm durchschossen. In der Nacht haben wir uns aus dieser kritischen Lage zurückziehen können, indem wir unter den Kugeln eine halbe Stunde lang bis zu unseren Vorposten durch den Dreck krochen …

26. September

Langer Besuch von Igor Strawinski. Plaudernd verbringen wir drei Stunden im Garten des Hotel Mooser. Strawinski ist ungefähr dreißig; er ist klein, sieht kränklich, hässlich aus, hat ein gelbes, mageres und abgespanntes Gesicht, eine schmale Stirn, hochstehendes und spärliches Haar, zusammengekniffene Augen hinter einem Zwicker, eine fleischige Nase, dicke Lippen, ein im Vergleich zur Stirn unverhältnismäßig langes Gesicht. Er ist sehr intelligent und in seinem Benehmen ungekünstelt; er spricht mühelos, obwohl er manchmal dabei nach den französischen Worten sucht; und alles, was er sagt, ist persönlich und überlegt (wahr oder falsch). Der erste Teil unserer Unterhaltung bezieht sich auf politische Fragen. Strawinski erklärt, Deutschland sei kein barbarischer Staat, sondern abgelebt und entartet. Er beansprucht für Russland die Rolle schöner und gesunder Barbarei, die mit neuen Keimen, die das Denken der Welt befruchten werden, schwanger geht. Er rechnet damit, dass nach dem Krieg eine Revolution, die schon im Anzuge ist, die Dynastie stürzen und die Vereinigten Staaten der Slawen gründen wird. Er schreibt übrigens die Grausamkeiten des Zarismus zum Teil den deutschen Elementen zu, die Russland einverleibt sind und die die wichtigsten Teile der Regierungs- und Verwaltungsmaschinerie beherrschen. Die Haltung der deutschen Intellektuellen flößt ihm grenzenlose Verachtung ein. Hauptmann und Strauss, sagt er, haben Lakaienseelen. Er rühmt die alte russische Kultur, die man im Westen nicht kennt, die Kunst- und Literaturdenkmäler der Städte im Norden und Osten. Er verteidigt auch die Kosaken gegen ihren Ruf der Grausamkeit.

Dann sprechen wir von Musik.

Ich rede zu ihm über den Eindruck, den Le Sacre du printemps im Konzert auf mich gemacht hat, und über die Diskrepanz, die ich zwischen dieser Musik und dem veröffentlichten Programm, zwischen dem musikalischen und dem gestalterischen Gebärdenspiel fand. […]

Über die Musik und die Musiker sind seine Urteile unumstößlich und unversöhnlich. Er liebt fast keinen der geheiligten Meister: weder Johann Sebastian Bach noch Beethoven. Dagegen findet er Geschmack an Mozart, dessen schöne Farbe durch die Jahrhunderte nicht verblasst ist.

29. September

Ganz Europa ist ein Irrenhaus. Jeder hält sich für Gottvater.

Niemals habe ich ein so ausgefülltes und so vielschichtiges Leben geführt. Zur gleichen Zeit, da ich von Ängsten zerrissen bin, unterhalte ich mit der lieben T. den verrücktesten und verliebtesten Briefwechsel, habe ich das Herz eines Jünglings. Wer meine Briefe läse, würde kaum etwas von dem tragischen Zeitabschnitt ahnen, in dem sie geschrieben wurden, und von dem Albdruck, der auf meinem Denken lastete. Ach, gepriesen sei der göttliche Wahn, der mir die Fähigkeit gab, aus der einen meiner Seelen, wenn sie zu sehr auf mir lastete, in irgendeine andere zu entweichen und der Reihe nach in jeder ganz zu sein!

8. Oktober 1914

Wir richten uns in Genf ein, in Champel, Hotel Beauséjour. Meine Mutter ist bei mir; meine Schwester und mein Vater sind in einer Pension in Lancy. Ich bin in der Absicht hierhergekommen, mich für ein Werk zu verwenden, das mich durch seinen menschlichen, übernationalen Charakter anzieht: die Kriegsgefangenenauskunftsstelle, die soeben unter der Leitung des Internationalen Roten Kreuzes gegründet worden ist. Sie dient als Vermittler zwischen den Gefangenen aller Nationen und ihren Familien. […]

Neuer Brief von Rodin (1. Oktober, Cheltenham). Peinlich genaue Abschrift:

Mein lieber Romain Rolland, das ist mehr als ein Krieg. Diese Geißel Gottes ist eine Katastrophe der Menschheit, die die Epochen scheidet. Die maßlose Genusssucht der Intelligenz hat diese Sintfluten des Massenselbstmords hervorgebracht. Die Unwissenheit ist überall so groß, dass man glaubt, man könne eine Kathedrale wiederherstellen und neu bauen! Sonst wäre das Übel nicht groß, man würde mit einer Summe Geldes diese Kathedralen neu bauen, wie man ein Panzerschiff neu baut. Aber das Schmerzliche ist, dass man diese Bauten überhaupt nicht mehr versteht.

Rodin […]

In der Kriegsgefangenenauskunftsstelle arbeite ich in der Dienststelle für Zivilpersonen. Es bedurfte Dr. [Frédéric] Ferrières barmherziger Hartnäckigkeit, um diese Abteilung ins Leben zu rufen. Das Rote Kreuz lehnte es ab, sich damit zu befassen: Es war überfordert durch die große Menge der gefangenen Militärpersonen. Die armen Zivilisten, die nichts auf diese Heimsuchungen vorbereitete, sind jäh von zu Hause fortgeführt worden, ohne den geringsten Gegenstand, ohne das Geringste an Kleidung zum Wechseln mitnehmen zu können. Wo sind sie jetzt? Niemand weiß es. Man verhaftete Leute jeden Alters, Frauen, Kinder, Greise. Ganze Dörfer wurden abgeführt. Allein in Amiens hat man 1500 Personen verschleppt. Belgien scheint noch schwerer geprüft zu sein. Von dort fehlt jede Nachricht. Seit zwei Monaten weiß man nichts. Mütter fordern ihre Töchter zurück, die in einer Klosterschule waren. Das Kloster ist verschwunden. Wo sind die Töchter?

9. Oktober

Kapitulation von Antwerpen nach kurzer Beschießung. Keine Festung kann sich angesichts der fürchterlichen deutschen Mörser halten. Das Herz krampft sich zusammen, wenn man sieht, wie Belgien – die Gerechtigkeit – zerschmettert wird, zermalmt von der Gewalt. Man hat keine Lust mehr zu leben.

Mein Lehrer und Freund [Charles] Bayet, Leiter des Unterrichtswesens, meldet sich freiwillig mit 66 Jahren.

[Mitte Oktober]

Große Patrioten fordern, dass Kölnischwasser in Polnischwasser umbenannt werde. […] Indessen beschimpft mich die deutsche Presse mehr denn je. Von meinem Satz an Hauptmann: «Seid ihr Söhne Goethes oder Söhne Attilas?» hat die französische Presse behalten: «Er nennt sie Söhne Goethes!», und die deutsche Presse: «Er nennt uns Söhne Attilas!»

31. Oktober

In meiner Post von heute Morgen finde ich:

1. Einen verängstigten Brief von meinem Verleger [Alfred] Humblot (Ollendorff), der mir sagt, dass die Buchhandlungen den Jean-Christophe zu boykottieren beginnen; er fleht mich an zu schweigen.

2. Einen Brief voller Beleidigungen von einem Unbekannten, einem Pariser Arzt, der sagt, er habe nichts von mir gelesen, weder Bücher noch Artikel; was ihn nicht hindert, mich auf das einfältige Zeugnis des Matin hin zu verurteilen; er fordert mich auf, die Staatsangehörigkeit zu wechseln. […]

Jede Postzustellung bringt mir einen Haufen gemeiner Schmähungen der gegen mich aufgewiegelten französischen Presse. Henry Bérenger in der Action ist der niederträchtigste meiner Gegner. […] Und ich erhalte anonyme Briefe, Postkarten, auf denen man das in Flammen stehende Reims sieht, mit der Aufschrift: «Das Werk Ihrer Freunde.» Ich bewundere, mit welch stumpfsinnigem Vertrauen die Menschen die schlimmste Anschuldigung glauben, die der verworfenste aller in den Zeitungen schreibenden Schufte gegen den ehrbarsten Mann erhebt – ohne dass sie sich die Mühe machen, die Richtigkeit nachzuprüfen. Dieser Pariser Arzt, der mich erst beschimpft und dann hinzufügt: «Ich habe nichts von Ihnen gelesen, ich habe nicht die Zeit dazu, aber das, was der Matin sagt, genügt mir, um Sie zu kennen …!» – Was für eine Verachtung empfindet man für jene Wesen! Wie wenige Menschen gibt es, die einen eigenen Verstand besitzen! Sie denken das, was sie nach dem Willen anderer denken sollen … Aus sich selbst heraus sind sie nichts – nur das uralte blutdürstige Tier, das bellt und beißen will. […]

Bei der Kriegsgefangenenauskunftsstelle:

Leider muss man zugeben, dass den Razzien der Deutschen nach Zivilgefangenen in Amiens usw. Handlungen der gleichen Art vorausgegangen sind, die von den Franzosen begangen wurden. In der Auskunftsstelle habe ich die Beschwerde einer Familie aus dem Elsass in Händen, die berichtet, dass am 15. August Etienne Hellmuth aus Thann, der seit mehreren Jahren schwer tuberkulös und bettlägerig ist, aufstand, um einer allgemeinen Einberufung der französischen Militärbehörde nachzukommen. Kaum hatte man ihn erblickt, hatte man ihn auch schon ergriffen und weggebracht, ohne dass er die Zeit gehabt hätte, seine Frau wiederzusehen, und ohne irgendein Kleidungsstück zum Wechseln. Seither weiß man nichts mehr von ihm.

[Anfang November]

Anlässlich der Angriffe gegen mich in Frankreich sagt mir Stefan Zweig, er selbst werde in Österreich angegriffen, weil er mich bekannt gemacht und immer meinen Gerechtigkeitssinn verteidigt hat.

[Mitte November]

Bei der Kriegsgefangenenauskunftsstelle: […] Ein rührender Brief von einem Hauptmann Hofer vom 19. Bayerischen Infanterieregiment, zurzeit verwundet in Bayreuth. Er schreibt an Frau Julia Dard in Magny-Lambert über Villaine-en-Duesnois (Côte d’Or). Er teilt ihr den Tod ihres Mannes, eines französischen Hauptmanns, mit; er hat gesehen, wie er gefallen ist, und hat ihn unter dem mörderischen Feuer der Franzosen vom Schlachtfeld geholt. Er schickt ihr zusammen mit den Fotos von Frau und Kindern, die er bei dem Toten gefunden hat, Auszüge aus dessen Notizbüchern, die von einer ungemein zärtlichen Liebe für seine Hinterbliebenen zeugen. Der gute Hauptmann Hofer, der verspricht, ihr die Notizbücher nach dem Kriege zurückzugeben, hat einen acht Seiten langen, liebevollen und tieftraurigen Brief geschrieben. […]

Eine düstere Geschichte, die Balzac gereizt hätte. Ein Vater erfährt den Tod seines Sohnes; der Kamerad, der gesehen hat, wie er gefallen ist, beschreibt die fünf Verwundungen, eine davon am Herzen, und die Stelle, wo er begraben liegt. Kein Zweifel möglich. Vierzehn Tage später kommt ein Brief von dem Sohn. Er sei, sagt er, in Köln als Gefangener, sei am rechten Unterarm verwundet, könne nicht selber schreiben, bitte, dass man ihm zwanzig Francs schicke. […] Der Dorfgeistliche wittert den Betrug, bittet uns, eine Untersuchung über den Gauner anzustellen. Aber wir müssen achtgeben, nicht zu offen den deutschen Ortskommandanten auf ihn aufmerksam zu machen; er ließe ihn sofort erschießen. […]

Aus den Briefen der französischen Gefangenen und Verwundeten spricht oft große Erleichterung. Ich lese manche völlig glücklichen Briefe. Ein paar Kumpel aus der gleichen Gegend sind beisammen. Sie sind in ihrer ersten Schlacht, ein paar Tage nachdem sie ins Feld rückten, leicht verwundet worden. Sie haben unter keinen Strapazen gelitten; und sie fühlen sich behaglich, während sie daran denken müssen, dass sich ihre anderen armen Kameraden abmühen und sich hinmetzeln lassen. Einer von ihnen, ein guter Junge, der ziemlich schwer verwundet ist, kann nicht selbst schreiben. Ohne sich verabredet zu haben, schreiben am gleichen Tage zwei seiner Kameraden mit ihrer ungelenken Bauernschrift an die Frau, um ihr zu sagen, sie solle sich keine Sorgen machen, man passe auf ihren Mann auf. Ein anderer ist nur um sein Frauchen besorgt, die er «mein Püppchen» und «mein Häschen» nennt; er macht sich Sorgen, dass sie sich erkälten könne, er empfiehlt ihr, sich pelzgefütterte Schuhe zu kaufen.

Und ich halte den Papierfetzen in Händen, den ein deutscher Soldat in dem Augenblick mit Bleistift beschrieb, da er getötet wurde. Seine letzten Zeilen lauteten: «Gott errette mich davon!» […]

Ein schöner Artikel des deutschen Dichters und Romanschriftstellers Hermann Hesse in der Neuen Zürcher Zeitung vom 3. November unter dem Titel O Freunde, nicht diese Töne! Da er in der Schweiz wohnt, entgeht er der deutschen Seuche. Er richtet sich an die Schriftsteller, Künstler und Denker und klagt darüber, sie so gierig am Kriege teilnehmen zu sehen. In der Ausdrucksweise seines gerechten Denkens neigt er vielleicht dazu, die Pflicht des Künstlers zum Schweigen zu übertreiben, was sich nur zu gut mit dem Geiste deutscher Bravheit verträgt: Wenn sie sich nicht nach der Gewalt richtet, weiß sie ihre Unabhängigkeit nur noch in sich selbst zu verschließen. Ich würde indessen gern einen Denker Deutschlands sehen, der sich laut gegen die Gewalt ausspräche. […]

Stefan Zweig schreibt (11. November), es sei schon zu spät für den Versuch, die Intellektuellen der feindlichen Länder zusammenzufassen. Verhaeren, Maeterlinck, A. France, Hauptmann hätten sich zu sehr bloßgestellt und möchten lieber die Vernichtung als den Frieden[.]

18. November

Die deutsche Ungeschicklichkeit: Der gute Stefan Zweig schickt mir, möglicherweise um mich aufzuklären, eine Nummer der Berliner Neuen Rundschau (November 1914). Darin findet man einen ersten Aufsatz von Thomas Mann, Gedanken im Kriege, der wohl das Schrecklichste ist, was ich bis jetzt von einem deutschen Intellektuellen gelesen habe. Er beginnt mit einer Unterscheidung von Kultur und Zivilisation. Zivilisation sei Vernunft, Aufklärung, Sänftigung, Sittigung, Skeptisierung, Auflösung, Geist. Kultur sei eine geistige Organisation der Welt, ein wilder, blutiger, furchtbarer Drang. Kultur sei die Sublimierung des Dämonischen. Thomas Mann zeigt die Identität des Ideals der Kultur (oder des deutschen Intellektuellen) mit dem Ideal des Militarismus. Beider erstes Prinzip sei Organisation. Das Ineinanderwirken von Begeisterung und Ordnung führe zu Systematik. Es folgen die übrigen Tugenden, darunter die «Verachtung dessen, was im bürgerlichen Leben Sicherheit heißt». Er beschreibt die Verzückung, in die der Krieg die deutschen Künstler gestürzt hat, ihre moralische Wiedergeburt. Der Krieg sei Reinigung, Befreiung gewesen. Er definiert ihn als «Kampf der Zivilisation» (das heißt der Alliierten) «gegen den Militarismus». Den Frieden definiert er als «das Element der zivilen Korruption». […] Anlässlich der Verwüstungen durch die Deutschen fügt er gehässige Witzeleien hinzu. Er vergleicht Frankreich mit einer Frau, die einen herausfordert und schreit, sobald man sie anrührt. Was die Kathedrale von Reims angeht, so erklärt er, dass sie erstens mit der Zivilisation durchaus gar nichts zu tun habe; denn sie sei die Frucht des Fanatismus und sie müsse dem jakobinischen Frankreich doch mindestens höchst gleichgültig sein. Schließlich verwahrt er sich voller Wut gegen Leute wie Bernard Shaw und andere, die davon reden, Deutschland zu demokratisieren und zu zivilisieren. Die Folge einer Niederlage Deutschlands wäre, so sagt er, dass Europa nicht mehr zur Ruhe kommen würde, denn das besiegte Deutschland würde nicht rasten, bis es wieder da stünde, wo es vor dem Kriege stand. Stattdessen verbürge «nur Deutschlands Sieg den Frieden Europas». Er nennt mich […] unter den schlimmsten Feinden Deutschlands.

 

[26. November]

Genf-Champel

Bei der Kriegsgefangenenauskunftsstelle:

Ein schöner Brief von einem französischen Soldaten, der der Frau eines deutschen Soldaten dessen Tod mitteilt. (Der Brief ist in ziemlich fehlerhaftem Deutsch geschrieben.)

 

Vor Richecourt, 10. November 1914

Geehrte Dame, Gott hat mir eine sehr traurige Mission anvertraut. Ich fühle mich verpflichtet, Ihnen zu sagen, was geschehen ist, denn wie Ihr lieber Gatte Fritz bin auch ich Familienvater und lebe in den gleichen Gefahren. Ich bin ein französischer Sergeant. Aber ich bin dennoch kein Feind der Menschen, wie man in Deutschland vielleicht glauben mag. Im Gegenteil. Wir kommen den deutschen Kameraden immer zu Hilfe, sosehr wir nur können … Ich muss Ihnen also schweren Herzens sagen, dass Ihr lieber Fritz bei Richecourt ruht. Eine unserer Kugeln hat ihn getötet … Unsere Leute wollten ihn nicht töten; aber so ist es im Krieg. In jedem Augenblick kann ich an der Reihe sein. Ihr lieber Gatte hat nicht gelitten. (Möge Ihnen das ein Trost sein!) Heute Abend begraben wir ihn, wie sich’s gehört … Verzeihen Sie mir, wenn ich mich nicht gut ausdrücke; und vor allem, verzeihen Sie dem französischen Soldaten, der Ihnen so viel Leid verursacht … […]

Wie schlicht und ergreifend das ist! Wie sehr überragen solche Seelen aus dem Volk die Seelen all unserer Künstler, die Seelen von Leuten wie [Maurice] Barrès, [Paul] Bourget, Thomas Mann oder [Wilhelm] Ostwald!

28. November

Otello