Angelika Nußberger
DIE MENSCHENRECHTE
Geschichte, Philosophie, Konflikte
C.H.Beck
«Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren», heißt es in Artikel 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Was so selbstverständlich klingt, wurde erst 1948 für alle Staaten festgeschrieben und ist bis heute für unzählige Menschen auf der Welt keine Wirklichkeit. Angelika Nußberger erklärt in ihrem konzisen Überblick, wie die Idee von individuellen Menschenrechten im Mittelalter entstand, in der Aufklärung philosophisch untermauert wurde und mit der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung und der Französischen Revolution erstmals weitreichende politische Folgen hatte. Sie erläutert, wie der Katalog der individuellen Rechte allmählich erweitert wurde, zunächst um wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, dann um das kollektive «Recht auf Selbstbestimmung der Völker», und skizziert die aktuellen Debatten um ein Menschenrecht auf Frieden und Umweltschutz. Zur Sprache kommt dabei auch die Frage, ob die im Westen entstandenen Menschenrechte universal gelten und welchen Anspruch chinesische oder muslimische Menschenrechtskataloge erheben. Das klar und anschaulich geschriebene Buch zeigt an vielen Beispielen, wie die Gerichtshöfe für Menschenrechte in den letzten Jahrzehnten zunehmend die Politik bestimmt haben, etwa bei der Gleichstellung von Homosexuellen, und warum sie in Zukunft eine immer wichtigere Rolle spielen werden.
Angelika Nußberger ist Professorin für Verfassungsrecht, Völkerrecht und Rechtsvergleichung sowie Gründungsdirektorin der Akademie für europäischen Menschenrechtsschutz an der Universität zu Köln. Sie ist Mitglied der Europäischen Kommission für Demokratie durch Recht (Venedig-Kommission) und nimmt daneben weitere internationale Aufgaben wahr. Von 2011 bis 2019 war sie Richterin am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, drei Jahre als dessen Vizepräsidentin (2017–2019).
Vorwort
1. Geschichte der Menschenrechte: Von der Magna Carta bis zur Gegenwart
Erste Garantien politischer Rechte im Mittelalter
Parlamentarismus und Menschenrechte
Der Menschenrechtsmythos in den USA
Absolutismus und Revolution in Frankreich
Verfassungsrechtliche Experimente im 19. und 20. Jahrhundert
Universelle Werte nach dem Zweiten Weltkrieg
Kodifikationen und Kontrollen im 21. Jahrhundert
2. Philosophische Grundlagen und Kritik
Anknüpfungspunkte von der Bibel bis zur Renaissance
Vom Gesellschaftsvertag zum Gemeinwillen: Hobbes, Locke, Rousseau
Freiheit und Vernunft bei Immanuel Kant
Zweifel und Kritik bei Jeremy Bentham
Das Unbehagen der christlichen Kirchen
Karl Marx’ Menschenrechtskritik
Kulturelle Bedingtheit und universaler Geltungsanspruch
Vom Individuum zum Kollektiv: Die drei «Generationen» von Rechten
«Human rights and human wrongs»: Kritik im 21. Jahrhundert
Die Omnipräsenz der Menschenrechte
3. Politik der Menschenrechte: Ein Passepartout für jede Agenda
Streben nach Glück nur für Ausgewählte
Menschenrechte im Schatten des Terrors
Machtfaktor im Ost-West-Konflikt
Ferment des gesellschaftlichen Wandels
Menschenrechte als Kriegsgrund
4. Aktuelle Fragen und Herausforderungen
Migration und Flucht
Terrorismus und Ausnahmezustand
Anfang und Ende des Lebens, Sexualität und Geschlecht
Religiöse und kulturelle Diversität
Digitale Parallelwelten
Vertiefung sozialer Ungleichheit
5. Wunsch und Wirklichkeit
Verfassungsgerichte als Motor oder Bremse gesellschaftlichen Wandels
Zwei europäische Gerichte für Menschenrechte
Menschenrechte in der Außenpolitik
Mit Menschenrechten in eine bessere Welt?
Rechtsprechungsübersicht
Abkürzungen
1. Geschichte der Menschenrechte
2. Philosophische Grundlagen und Kritik
3. Politik der Menschenrechte
4. Aktuelle Fragen und Herausforderungen
5. Wunsch und Wirklichkeit
Literaturhinweise
Textsammlungen
Weiterführende Literatur
Literatur zu Einzelthemen (Auswahl)
Philosophische Grundlagentexte (Auswahl)
Die wichtigsten Dokumente aus der Geschichte der Menschenrechte
Personenregister
Menschenrechte sind Dreh- und Angelpunkt des modernen Gesellschafts- und Staatsverständnisses. Sie prägen den gesellschaftlichen Diskurs nicht nur in Deutschland, sondern weltweit. Aber so sehr es scheint, als gäbe es einen Konsens über das, was Menschenrechte sind und sein sollen, so sehr zeigt sich doch im Detail, dass sich hinter dem Begriff sehr unterschiedliche Vorstellungen von Staat und Individuum verbergen können. Wenn selbst über Grundbegriffe wie das Folterverbot oder die Menschenwürde keine Einigkeit besteht, erstaunt es wenig, dass zu ethischen Grenzfragen wie Abtreibung, Euthanasie und moderner Fortpflanzungsmedizin aus den Menschenrechten sehr unterschiedliche Forderungen abgeleitet werden. Die vielfachen Spannungen zwischen Klarheit und Komplexität, Universalität und Relativität sowie zwischen Wunschdenken und verbindlicher Handlungsanleitung, die die Diskussion über die Menschenrechte bestimmen, gilt es in diesem Buch aus verschiedenen Perspektiven aufzudecken, historisch, philosophisch, politisch und juristisch. Unausweichlich führt die Beschäftigung mit dem Thema am Ende zu der Frage, ob die Menschenrechte einen Weg in eine bessere Welt weisen. Dass sich darauf im Ergebnis wohl nur eine Einerseits-andererseits-Antwort geben lässt, mindert nicht die Bedeutung der Menschenrechte. Falsch wären zu hohe Heilserwartungen; falsch wäre es aber auch, zu resignieren und die tatsächlich erreichten Erfolge nicht zu sehen.
Man kann sich die Geschichte der Menschenrechte als die Geschichte der Arbeit an einem kurzen Dokument vorstellen, das bestimmt, wie Macht durch Recht eingehegt werden kann. Es ist ein virtueller Text, nie zu Ende geschrieben, immer weiterentwickelt, immer in Arbeit. Auch in der Gegenwart ist er nicht «fertig». Die Stufen der Textentwicklung haben Namen, die für verschiedene geschichtliche Epochen stehen – Magna Carta, Bill of Rights, Virginia Declaration of Rights, Déclaration des droits de l’homme et du citoyen, Paulskirchenverfassung, Weimarer Verfassung, Universal Declaration of Human Rights, Grundgesetz und viele mehr. Wenn man diese Texte in ihrem historischen Umfeld betrachtet, wird deutlich, wie Ideen entwickelt, wie Fortschritte und Rückschritte gemacht werden, wie die Einen von den Anderen abschreiben oder Entwürfe verwerfen, um nochmals neu zu beginnen. Es ist keine zielgerichtete Entwicklung. Man sucht, fragt, streitet, meist mit guten, manchmal aber auch mit schlechten Absichten. Und in der Rückschau sieht vieles anders aus als in der jeweiligen Gegenwart.
Im ersten Viertel des 21. Jahrhunderts werden aus den im Grundgesetz niedergelegten Grundrechten verschiedene Rechte abgeleitet: Schwerkranke und Lebensunlustige etwa hätten ein Recht darauf, vom Staat ein todbringendes Medikament zur Verfügung gestellt zu bekommen, wenn sie dies wünschen. In Geburtsurkunden sei für jene, die sich weder als Mann noch als Frau fühlen, eine eigene Kategorie vorzusehen, und der Klimaschutz erfordere Generationengerechtigkeit. Das mutet revolutionär an und ist es auch. Der revolutionäre Geist aber haftet seit jeher dem an, was man mit Grund- und Menschenrechten verband. Er zeigt sich in der aufrechten Empörung der Erniedrigten und Beleidigten, die auf den Barrikaden stehen, Fahnen schwenken und ihre Rechte einfordern, sei es in Frankreich im Jahr 1789, in Deutschland im Jahr 1848, in Hongkong im Jahr 2019 oder in Belarus im Jahr 2020.
Wer verstehen will, was Menschenrechte sind und woher die Wucht kommt, mit der sie Gesellschaften verändern können, muss den Blick zurück richten auf das mittelalterliche England des 13. Jahrhunderts. Die Kämpfe, die damals zwischen Adel und König ausgefochten wurden, sind vergessen. Aber die Magna Carta aus dem Jahr 1215 ist es nicht. Sie hat acht Jahrhunderte überdauert und ist zum Mythos und Markenzeichen für das erfolgreiche Aufbegehren gegen ungerecht ausgeübte Macht geworden, und dies, obwohl sie eigentlich ein Scheitern dokumentiert. König Johann Ohneland war bei seinen Eroberungszügen in der Normandie erfolglos gewesen und versuchte, von den englischen Baronen ein Schildgeld zur Finanzierung weiterer Kriege einzutreiben. Dies führte zu einem erbitterten Streit, bei dem sich auch die City of London auf die Seite der Rebellen stellte. Die Magna Carta sollte Frieden bringen, konnte aber den verheerenden Bürgerkrieg nur für wenige Wochen unterbrechen.
Die Magna Carta ist ein ursprünglich auf Lateinisch verfasster kurzer Text, der über die Jahrhunderte im Großen und Ganzen unverändert geblieben ist. Er wurde vielmals kopiert, bei Thronbesteigungen immer wieder feierlich bestätigt und zweimal im Jahr in den großen Kathedralen Englands verlesen. Es ist ein Text mit historischem Kolorit, in dem bei der Fristenberechnung für Rückgabeforderungen auf die für Kreuzritter geltenden Regeln angespielt wird, in dem Frauen als Witwen vor der Zwangswiederverheiratung geschützt werden und es ihnen verboten ist, Männer eines Mordes anzuklagen, es sei denn, es handele sich um ihren Ehemann. Es ist aber auch ein Text, in dem Eigentumsrechte, Freiheit und Zugang zum Gericht garantiert werden, erstmals und in einer Form, die im Kern spätere Menschenrechtsverbürgungen vorwegnimmt. «Wir werden das Recht oder die Gerechtigkeit an niemanden verkaufen, niemandem verweigern und für niemanden aufschieben», steht da geschrieben. Und: «Kein freier Mann soll verhaftet, gefangen gesetzt, seiner Güter beraubt, geächtet, verbannt oder sonst angegriffen werden; noch werden wir ihm anders etwas zufügen oder ihn ins Gefängnis werfen lassen als durch das gesetzliche Urteil von Seinesgleichen oder durch das Landgesetz.» Was Eigentum ist, wird einzeln aufgezählt – etwa Früchte, Pferde, Wagen und Bauholz für die Schlösser –, und es wird zugesichert, nicht zu enteignen, es sei denn, es würde dafür unmittelbar gezahlt. All dies ist nicht, wie in späteren Dokumenten, abstrakt und allgemein formuliert, sondern auf die Lebenswelt, auf tatsächlich geschehenes Unrecht bezogen.
Die Suche nach Gerechtigkeit wird tief religiös begründet. Die vertraglichen Versprechen der Magna Carta werden «in Gegenwart Gottes und zum Heil unserer Seelen und der Seelen unserer Vorfahren und Erben, zur Ehre Gottes und zur Erhöhung seiner heiligen Kirche und zum Besten unseres Reichs» gegeben. Aber Tradition und Moderne sind nah beisammen. Der Magna Carta ist ein Sanktionsmechanismus beigefügt, der in seiner Radikalität verblüfft. Es gibt nicht nur eine Art «Carta-Gericht», fünfundzwanzig Barone, die dafür Sorge zu tragen haben, «Frieden und Freiheit zu halten, zu beobachten und beobachten zu lassen», sondern auch das verbriefte Recht der Barone, wenn der König Beschwerden vierzig Tage lang nicht abhilft, ihn «vereint mit der Gemeinschaft des ganzen Reichs auf alle mögliche Weise dazu zu zwingen», seine Verpflichtungen einzuhalten. Dies geschehe durch Beschlagnahme seiner Schlösser, Länder, Besitzungen und durch jedes andere den Baronen mögliche Mittel, bis der Beschwerde ganz nach ihrem Willen Genüge getan ist. Das ist im Grunde ein vertraglich zugestandenes Recht zur Rebellion. Auch wenn dieser Teil in späteren Fassungen gestrichen wurde, wurden mit der Magna Carta über die Jahrhunderte immer wieder Aufstände gerechtfertigt, sei es im Verhältnis zwischen Bürgern und König im späten 17. Jahrhundert mit der Glorious Revolution in England oder bei der Loslösung der Vereinigten Staaten von Amerika vom britischen Mutterland ein knappes Jahrhundert später.
Manche Bestimmungen der Carta wie etwa die Garantien des «freien Mannes» sind noch heute Bestandteil des englischen Verfassungsrechts. Dem Erfolg hat es keinen Abbruch getan, dass sich die Formulierung der Garantien auf eine völlig andere Gesellschaft bezieht, wenn etwa nur der «freie Mann» geschützt werden soll und es nur «Seinesgleichen» zusteht, ein Urteil zu fällen.
Vertrag ist nicht gleich Vertrag, Recht ist nicht gleich Recht. Aber besonders wichtige und feierlich bekundete Rechtstexte können als Richtschnur genommen werden, an der es nachfolgendes Recht zu messen gilt. Eine derartige «Normenhierarchie» hat der berühmte Jurist Hans Kelsen im 20. Jahrhundert postuliert und damit die Grundlage für eine Verfassungsgerichtsbarkeit geschaffen, die Recht an Recht misst und Verfassungsrecht Vorrang einräumt. Auch diese Idee ist aber schon mit der Magna Carta verbunden. Eineinhalb Jahrhunderte nach der Magna Carta, im Jahr 1368, wurde ein Gesetz verabschiedet, nach dem jeder der Magna Carta widersprechende Rechtsakt null und nichtig ist.
Den Anspruch, eine Richtschnur für das Recht zu sein, erhebt auch die Bill of Rights von 1689, das nach der Magna Carta zweite grundlegende Dokument der englischen Verfassungs- und zugleich der internationalen Menschenrechtsgeschichte. Es firmiert unter der Bezeichnung «Akt, der die Rechte und Freiheiten des Einzelnen deklariert und die Thronfolge regelt», bestätigt somit die monarchische Regierungsform in England, sichert aber zugleich die Rechte des Parlaments gegenüber der Krone. Wie die Magna Carta entstand auch die Bill of Rights im Kontext eines jahrzehntelang dauernden Bürgerkriegs, dessen grausamer Höhepunkt – aber nicht Ende – die öffentliche Hinrichtung von König Karl I. im Jahr 1649 war. Der nach der Glorious Revolution von 1688/89 verfasste Text beginnt mit der Aufzählung der Missetaten des abgesetzten Königs Jakob II., zieht also wie die Magna Carta Konsequenzen aus konkreten Missständen.
Die schriftliche Fixierung von Rechten ist so auch hier eine Antwort auf erlebtes Unrecht. Zugestanden werden das Petitionsrecht und das Recht zum Waffenbesitz, letzteres mit kritischem Verweis darauf, dass in der Vergangenheit die «guten protestantischen Untertanen entwaffnet worden seien, während gleichzeitig die Papisten Waffen getragen und in ungesetzlicher Weise verwendet hätten». Wichtig und wegweisend ist die Bill of Rights aber vor allem wegen des Rechts der freien Rede und der damit verbundenen Immunität gegen Strafverfolgung, die den Parlamentariern zugebilligt werden, sowie aufgrund der Stärkung des Parlaments im Staat. Grundlegende Entscheidungen wie die Erhebung von Steuern und Abgaben und die Aufstellung eines Heeres dürfen nur noch mit Zustimmung des Parlaments getroffen werden. Zudem werden «grausame und ungewöhnliche Strafen» verboten.
Fortschritte schließen Rückschritte nicht aus. Die Bill of Rights war zwar ein Meilenstein in der Entwicklung des Parlamentarismus, doch zur gleichen Zeit begann der Sklavenhandel und damit eines der schwärzesten Kapitel der europäischen Geschichte. Nichts stand dem Ausbau der weltweit größten Flotte von Sklavenschiffen in England entgegen, auch nicht die Bill of Rights. Es gab (noch) keine Rechte für alle.
Die englische Geschichte der Kodifizierung der Menschenrechte endet im Jahr 1689. Eine weiter ausgearbeitete, differenzierte Aufzählung der einzelnen Rechte und eine explizite Ausweitung über den «freien Mann» hinaus auf alle Menschen wurde nicht für nötig befunden. Anders als die meisten Staaten der Welt hat Großbritannien bis zum heutigen Tag keine schriftliche Verfassung. Der Human Rights Act von 2000 ist ein Import, eine Kopie dessen, was andernorts, in Straßburg, ausgearbeitet wurde. Sehr lange hatte man sich auf den menschenrechtlichen Lorbeeren vergangener Jahrhunderte ausgeruht. In der Gegenwart ist die Verbindung des Musealen mit dem Modernen nicht ohne Spannung.
Während die ersten beiden großen Urkunden zur Verbürgung der Menschenrechte, die Magna Carta und die Bill of Rights, aus sehr unterschiedlichen Epochen der europäischen Geschichte stammen – zwischen dem Jahr 1215 und dem Jahr 1689 liegen die Entdeckung Amerikas, die Renaissance und die Reformation –, folgten in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in einem atemberaubenden Accelerando in nur knapp zwanzig Jahren sechs grundlegende Texte. Der Reigen wird eingeleitet von der Virginia Declaration of Rights (12. Juni 1776), wenige Tage später gefolgt von der Declaration of Independence der Vereinigten Staaten von Amerika (4. Juli 1776). Die französische Déclaration des droits de l’homme et du citoyen (27. August 1789) und die amerikanische Bill of Rights (15. Dezember 1791) wurden etwas mehr als ein Jahrzehnt später fast gleichzeitig ausgearbeitet; Letztere war im Entwurf früher fertig, trat aber erst zwei Jahre später in Kraft. In Frankreich folgten in den Jahren 1793 und 1795 noch zwei weitere Menschenrechtserklärungen, beide wurden mit Referendum angenommen und in jeweils neue Verfassungstexte integriert, beide waren innovativ, aber mehr theoretisch als praktisch von Bedeutung.
Wieder sind all diese Dokumente mit Rebellion und Revolte verbunden. Diesseits und jenseits des Atlantiks wurde Altes zur Seite gestoßen, Neues für Recht erkannt. Die Siedler in Neuengland, die sich als «Amerikaner» fühlten, akzeptierten nicht länger, vom englischen Parlament gegängelt zu werden. Die Franzosen wollten von Sonnenkönigen und sonstigen Formen absoluter Herrschaft nichts mehr wissen. Mit Blick auf das, was «von Natur aus Recht ist», konnten die Rebellen erklären, dass es ihr gutes Recht sei, gegen schlechtes Recht und Unterdrückung aufzubegehren.
Vorreiter in der «Neuen Welt» war Virginia, das älteste englische Siedlungsgebiet, das sich bereits am 15. Mai 1776 für unabhängig vom englischen Mutterland erklärte. Einen knappen Monat später zeichneten in der Virginia Declaration of Rights die selbst ernannten «Vertreter der rechtschaffenen Bevölkerung von Virginia, die sich in vollzähliger und freier Versammlung zusammengefunden haben», selbstbewusst auf, «welche Rechte für sie und ihre Nachkommenschaft als Grundlage und Rechtsquelle ihrer Regierung Geltung besitzen». Sie postulierten als Erstes, dass alle von Natur aus gleich und unabhängig seien und angeborene Rechte besäßen, die ihnen niemand nehmen könne. Dazu zählten sie Leben und Freiheit, Eigentum sowie das Streben nach Glück und Sicherheit. Damit war der Ton gesetzt. Allerdings ist es eine gewisse Ironie der Geschichte, dass die Virginia Declaration of Rights, die auf die Ideen von John Locke zurückgreift, aus der Feder eines Mannes stammt, der selbst Sklavenhalter war: George Mason. Dass Ideal und Realität nicht wirklich zusammenpassen, weiß man; den Schwung bei der Abfassung der Erklärungen mit den großen Worten konnte die Realität nicht dämpfen.
So neu die naturrechtliche Begründung von Menschenrechten auch war, so wenig ist die Virginia Declaration of Rights doch wirklich von der Tradition gelöst. Vielmehr enthält sie wörtliche Übernahmen aus der englischen Bill of Rights, etwa das Verbot der «unbillig hohen Bürgschaften, übermäßigen Geldstrafen» und «grausamen und ungewöhnlichen Strafen». Auch protestantische, puritanische Tugenden lassen sich erkennen, wenn sie ein «strenges Festhalten an den Idealen der Gerechtigkeit, Mäßigung, Enthaltsamkeit, Bescheidenheit und Tugend und ein ständiges Besinnen auf die grundlegenden Prinzipien» als Voraussetzung für die «Segnungen der Freiheit» einfordert. Die Verankerung in protestantischen Konfessionen, die in Europa verfolgt wurden, sich in Amerika aber relativ frei entfalten konnten, zeigt sich an der Art, wie Religionsfreiheit garantiert wird: «Die Religion oder die Ehrfurcht, die wir unserem Schöpfer schulden, und die Art, wie wir sie erfüllen, können nur durch Vernunft und Überzeugung bestimmt sein und nicht durch Zwang oder Gewalt; daher sind alle Menschen gleicherweise zur freien Religionsausübung berechtigt, entsprechend der Stimme ihres Gewissens; es ist die gemeinsame Pflicht aller, christliche Nachsicht, Liebe und Barmherzigkeit aneinander zu üben.»
Dies war der Auftakt oder das Vorspiel. Der erste entscheidende Schritt war dann die Declaration of Independence der Vereinigten Staaten von Amerika von 1776, in der sich gleichermaßen Tradition und Neuanfang, Christentum und Naturrecht, Rebellion und Argumentation in vorgegebenen Mustern verbinden. Schon in Aufbau und Duktus stimmt sie mit der Magna Carta und der englischen Bill of Rights überein. Denn auch hier wird es für nötig befunden, die Vorgeschichte des Unrechts detailliert zu schildern, um damit das Recht zum Widerstand – konkret zur Loslösung vom englischen Mutterland – zu begründen. Mit Pathos wird nicht gespart: «Die Geschichte des gegenwärtigen Königs von Großbritannien [Georg III.] ist eine Geschichte wiederholten Unrechts und wiederholter Übergriffe, die alle unmittelbar auf die Errichtung einer absoluten Tyrannei über diese Staaten gerichtet sind.» Der Erfahrung von Machtmissbrauch wird ein neues Staats- und Menschenbild entgegengestellt mit einem Satz, der zu den berühmtesten der englischen Sprache gehören dürfte: «We hold these truths to be self-evident, that all men are created equal, that they are endowed by their Creator with certain unalienable Rights, that among these are Life, Liberty and the pursuit of Happiness.»
Die Declaration of Independence von 1776 ist zum Grundstein des amerikanischen nationalen Mythos geworden. Zugleich aber war sie mit der Ausrufung eines neuen Staates völkerrechtlich relevant. Und schließlich markiert sie einen neuen Abschnitt in der Definition von Menschenrechten, da sie nicht mehr nur als Antwort auf die konkrete Bedrängnis der auf einem bestimmten Territorium lebenden Menschen verstanden werden wollte, sondern als allgemeingültige Aussage, als Appell an die gesamte Menschheit. Die religiöse Einbindung ist nicht mehr klar konturiert, aber auch nicht völlig entfallen. So wird einerseits mit Blick auf die «Aufrichtigkeit der Absichten» der «allerhöchste Richter der Welt» angerufen – wer immer das sein mag –, andererseits endet die Erklärung mit dem Satz: «Und zur Behauptung und Unterstützung dieser Erklärung verpfänden wir, mit festem Vertrauen auf den Schutz der göttlichen Vorsehung, uns untereinander unser Leben, unser Vermögen und unser geheiligtes Ehrenwort.»
Trotz der allgemeinen Begeisterung für die Menschenrechte konnte man sich nicht darauf einigen, sie auch in die etwas mehr als ein Jahrzehnt später, im Jahr 1787, verabschiedete amerikanische Verfassung aufzunehmen; einmal aufgezeichnet sei genug. Allerdings wurde der Vorschlag James Madisons angenommen, sie bei einer unmittelbar geplanten Verfassungsänderung zu berücksichtigen. Seit 1791 ist so eine Bill of Rights – der Name entspricht der englischen Kodifizierung von 1689 – als First Amendment (Erster Zusatzartikel) Teil der amerikanischen Verfassung. Dies ist nach der Unabhängigkeitserklärung der zweite entscheidende Schritt, auf den der Blick zu richten ist. Dem «First Amendment» folgten neun weitere «Amendments», die denselben Namen tragen wie das englische Vorbild: Bill of Rights.
Auch im «First Amendment» verbindet sich Neues mit Altem. Insbesondere viele der prozeduralen Garantien, etwa zum fairen Gerichtsverfahren oder zum Geschworenenprozess, greifen Elemente der englischen Tradition auf. Eine prominente Stellung wird der Religionsfreiheit sowie der Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit eingeräumt. Dem Gesetzgeber wird kategorisch verboten, regelnd einzugreifen. Für viel Diskussion sorgt bis in die Gegenwart das «Second Amendment» (Zweiter Zusatzartikel) zur amerikanischen Verfassung, nach dem das Recht, Waffen zu besitzen und zu tragen, nicht beeinträchtigt werden darf.
Die Aussagen zu den Menschenrechten in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung sowie die Formulierungen der konkreten Garantien in der Bill of Rights blieben nicht Theorie. In seiner bahnbrechenden Entscheidung im Prozess Marbury gegen Madison im Jahr 1803 sah sich der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten von Amerika in der Verantwortung, die in der Verfassung verbürgten Rechte auszulegen und ihnen entgegenstehendes Gesetzesrecht für nichtig zu erklären. Seitdem galt es, die Menschenrechte bei der Gestaltung der Politik im Blick zu haben. Dennoch wurde aus den Idealen nicht sofort Realität. Es dauerte noch bis zum Ende des amerikanischen Bürgerkriegs im Jahr 1865, bis die Sklaverei endgültig abgeschafft wurde, und bis weit ins 20. Jahrhundert, bis Frauen und schwarzen Menschen die gleichen Rechte zugebilligt wurden wie weißen Männern.
Die Vereinigten Staaten von Amerika haben vom europäischen Erbe profitiert und sind doch ihren ganz eigenen Weg gegangen. Für die Emanzipation des jungen Staates von Europa ebenso wie für die Herausbildung einer neuen nationalen Identität spielten die Menschenrechte eine entscheidende Rolle.
Je nach Perspektive mag man Einflussnahme und Wechselwirkung zwischen amerikanischer und französischer oder zwischen amerikanischer und englischer Tradition für bedeutender halten. Während Letztere darin begründet war, dass die Siedler – bildlich gesprochen – mit der Magna Carta und der Bill of Rights im Handgepäck emigrierten, beruhte der Austausch zwischen Frankreich und Amerika in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts vor allem auf persönlichen Beziehungen. Auf französischer Seite war insbesondere der Marquis de Lafayette, auf amerikanischer Seite Thomas Jefferson Grenzgänger und Überbringer von Ideen. Lafayette war ursprünglich französischer General, kämpfte dann aber im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg und verfasste einen ersten Entwurf der Déclaration des droits de l’homme et du citoyen (Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte), über den er mit Jefferson diskutierte. Dieser kannte Frankreich aus nächster Anschauung, da er von 1785 bis 1789 Botschafter in Paris gewesen war. Er war federführend an der Ausarbeitung der amerikanischen Verfassungstexte beteiligt.
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