Andreas Wirsching
DEUTSCHE GESCHICHTE
IM 20. JAHRHUNDERT
C.H.Beck
Diese kleine Geschichte des 20. Jahrhunderts beschreibt den Weg der Deutschen von der obrigkeitsstaatlich geprägten Monarchie zur fest im Westen verankerten demokratischen und sozialen Republik. Dazwischen liegen jene Erfahrungen, die für die deutsche und europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts prägend geworden sind: Weltkrieg und Demokratieverlust, Diktatur und Verbrechen, Teilung und Wiedervereinigung. Andreas Wirschings Darstellung stellt leitmotivisch die Frage nach einem deutschen «Sonderweg» und widmet dabei den langfristigen und häufig widersprüchlichen gesellschaftlichen Entwicklungen besondere Beachtung.
Andreas Wirsching, geb. 1959, ist Direktor des Instituts für Zeitgeschichte und Professor für Neueste Geschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Zuletzt erschien von ihm der Band «Demokratie und Globalisierung. Europa seit 1989» (2015).
Vorwort zur 1. Auflage 2011
Vorwort zur 4., überarbeiteten Auflage 2018
I. Ein deutscher «Sonderweg» in das 20. Jahrhundert? Strukturprobleme des wilhelminischen Deutschland
II. Weltkrieg und Demokratie (1914–1933)
1. Deutschland im Ersten Weltkrieg
2. Die Weimarer Republik
III. Diktatur und Weltkrieg (1933–1945)
1. Herrschaft und Gesellschaft im NS-Regime
2. Zweiter Weltkrieg und Massenmord, Widerstand und «deutsche Katastrophe»
IV. Zwischen Nachkriegszeit und Kaltem Krieg: Zwei deutsche Staatsgründungen (1945–1955)
1. Die Bundesrepublik und die Westintegration
2. Von der SBZ zur DDR
V. Gesellschaft und Politik im geteilten Deutschland
1. Kontinuität und Wandel von Adenauer zur Großen Koalition
2. Die Bundesrepublik auf dem Weg in eine neue Moderne
VI. Ende des «Sonderwegs»? Das deutsche Jahr 1989/90
Epilog: Von der Bonner zur «Berliner Republik»
Literaturhinweise
Personenregister
Gerade erst ist das 20. Jahrhundert zu Ende gegangen. Eine «Deutsche Geschichte» über diese Zeit zu schreiben ist daher ein nicht unbeträchtliches Risiko, und dies gilt um so mehr, wenn sie auf knappstem Raum abgehandelt werden muss. Jeder Kenner wird daher unvermeidlich auf den folgenden Blättern eine Fülle von Ungesagtem vermissen und zugleich manches als allzu holzschnittartig, vielleicht auch einseitig beklagen. Gleichwohl hoffe ich, dass die kleine Schrift ihren Zweck erfüllt, indem sie gewisse Basisinformationen vermittelt und zugleich einige Interpretationsmöglichkeiten aufweist.
Der Mühe, eine erste Fassung zu lesen, unterzog sich Dr. Volker Dotterweich (Augsburg), dem ich für seine kritischen Anregungen sehr danke. Heike Veh-Agbeille bin ich für ihre stetige engagierte Mitarbeit und Unterstützung sehr verbunden. Schließlich danke ich meiner Mutter, Rosemarie Wirsching, für das Mitlesen der Korrekturen.
Es freut den Autor, dass diese kleine Deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert offensichtlich ihren Zweck erfüllt: in knapper Form über die wichtigsten historischen Stationen und Probleme zu informieren und einige Hinweise zur interpretatorischen Einordnung zu geben. Wie in den letzten beiden Jahrzehnten wieder einmal zu lernen war, bleibt der Blick auf die Geschichte allerdings zeit- und standortgebunden. Und in dieser Hinsicht hat sich auch die Perspektive auf die jüngste deutsche Geschichte verändert. Längst steht sie nicht mehr unter dem Eindruck der Ereignisse von 1989/90, sondern die vielfältigen Herausforderungen, die sich aus der neuen Zeit ergeben haben, bestimmen unsere Gegenwart. Dem versuchen einige kleine Änderungen gerecht zu werden, ohne dass der Text wesentlich geändert worden wäre.
Gab es einen deutschen «Sonderweg» in die Moderne? In der Geschichtswissenschaft der siebziger und frühen achtziger Jahre war dies eine stark umstrittene Frage. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts aber hätte sie die Mehrzahl der gebildeten Deutschen wohl bejaht. Nur eine Minderheit hielt die Methoden der westlichen Demokratie für geeignet, um die Probleme der modernen Gesellschaft in Deutschland politisch, sozial und kulturell zu bewältigen. Die Mehrheit erblickte dagegen in der westlichen Zivilisation Züge der Dekadenz und der materialistischen Maßlosigkeit. Der preußisch-deutsche «Beruf» schien es demgegenüber zu sein, eine neue Synthese aus Kultur und Macht, aus Autorität und Freiheit, aus Tradition und Moderne zu schmieden, der die Zukunft gehören würde. Die ideologische Klammer dieser Synthese bildete die Nation: Ihre Einheit galt es in einem starken Staat zu sichern, um kommende Herausforderungen zu meistern und den Deutschen ihren wohlverdienten «Platz an der Sonne» zu sichern.
Seine geistesgeschichtlichen Wurzeln besaß das Konstrukt eines solchen deutschen Eigenweges u.a. im Historismus, der das Besondere, das Individuelle gegenüber dem Allgemeinen betonte. Darüber hinaus aber lässt es sich als Reflex eines tiefen Misstrauens begreifen, das große Teile der deutschen Eliten ganz grundsätzlich gegen den Interessenpluralismus der modernen industriellen Massengesellschaft hegten. Allzu leicht schienen Demokratie und Parlamentarismus zur Plutokratie und zum Parteienegoismus zu degenerieren; allzu offenkundig schienen die Organisation konkurrierender Einzelinteressen und deren kollektiver Austrag den materialistischen Ungeist der Zeit widerzuspiegeln. Auch hiergegen half die Vorstellung eines starken Staates: Repräsentiert in der Monarchie, fungierte er als der «überparteiliche» Sachwalter des Allgemeinwohls, das er gegen jede Form des gesellschaftlichen Partikularismus zu schützen hatte. Schließlich verriet ein solches Verständnis von Nation und Geschichte auch die tiefsitzende Angst vor der politischen Zerreißung von Volk und Staat durch innere Konflikte, seien sie sozialer oder weltanschaulicher, landsmannschaftlicher oder konfessioneller Art. Zu jung war dieser deutsche Nationalstaat noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als dass man ihn als unverrückbar gegebene historische Größe hätte ansehen können. Lauerte nicht hinter dem Pomp der äußeren Machtentfaltung jederzeit die Möglichkeit geschichtlicher Revision? Übertünchte nicht der Glanz des wilhelminischen Deutschland die tiefen Risse seiner sozialen, kulturellen und politischen Architektur?
Tatsächlich ist es leicht, das wilhelminische Reich aufgrund seiner inneren Widersprüche einer schonungslosen Ideologiekritik zu unterwerfen. Schon nicht wenige Zeitgenossen taten dies und betrachteten die «Großmacht ohne Staatsidee» (H. Plessner) mit kritischer Distanz. Wenn es für viele den Anschein haben mochte, im Kaiserreich sei die Synthese von Macht und Geist zur Vollkommenheit gebracht – man denke nur an den unerhörten Aufschwung der deutschen Universität und Wissenschaft –, so blieb dem aufmerksamen Beobachter doch nicht verborgen, dass sich die Gewichte zunehmend von der Kultur auf den Machtgedanken verlagerten. Friedrich Meinecke hat rückblickend geradezu von der «Entartung» des deutschen Bürgertums gesprochen, das seine eigene sittliche und geistige Herkunft verleugnet habe. Und gewiss bildeten ein übersteigerter Machtstaatsgedanke und ein aggressiver Nationalismus feste Bestandteile der politischen Kultur des Wilhelminismus. Daraus erklärt sich auch das Leiden an ihr. Ein Mann wie Theodor Mommsen z.B. ist daran fast zerbrochen: Einst beteiligt an der Revolution von 1848, eine der größten Gestalten der deutschen Wissenschaft des 19. Jahrhunderts, Nobelpreisträger für Literatur, wollte er im Grunde doch etwas anderes sein. «Animal politicum» in seinem Innersten, blieb er den bürgerlich-liberalen Idealen seiner Jugend treu und litt folglich bis zur Depression unter der politischen Wirklichkeit. In seinem politischen Testament von 1899 bekannte Mommsen: «Ich [...] wünschte ein Bürger zu sein. Das ist nicht möglich in unserer Nation, bei der der Einzelne, auch der Beste, über den Dienst im Gliede und den politischen Fetischismus nicht hinauskommt.» Mit dem Volk, dem er angehörte, fühlte sich Mommsen innerlich entzweit. Er verfügte die Verschließung seines Nachlasses, damit seine Persönlichkeit nicht vor ein Publikum trete, «vor dem mir die Achtung fehlt».
Mommsen ist sicher kein repräsentatives, aber doch ein bezeichnendes Beispiel. Die erstrebte Synthese aus Macht und Kultur zerbrach, musste zerbrechen in einer Zeit, die von so rapiden gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und technischen Veränderungen gekennzeichnet war. Denn auch dies gehört zur historischen Bilanz des Kaiserreiches: Man darf den riesigen Veränderungs- und Anpassungsdruck nicht vergessen, dem die wilhelminische Generation ausgesetzt war. Von allen großen europäischen Nationen erfuhr Deutschland den raschesten Wandel und die tiefsten Gegensätze. Innerhalb weniger Jahrzehnte erfolgte der Übergang vom Agrarstaat zum Industriestaat; innerhalb eines Menschenalters veränderten sich Landschaft, Arbeitswelt, soziale Beziehungen, moralische Bindungen, politische Konstellationen. «Es geht», so konstatierte Friedrich Naumann im Jahre 1904, «bis in jeden Kopf hinein der Zwang zur Umgestaltung alter Gedanken, der Drang, aus den alten Verhältnissen herauszukommen.» Vielleicht darf es daher nicht überraschen, dass ein Teil der deutschen «Übergangsmenschen», wie man die wilhelminische Generation genannt hat (Martin Doerry), von dieser Anpassungsarbeit überfordert war. Machtstaat und Volk konnten deshalb leicht zu einer Art Ersatzreligion werden in einer Welt, in der immer mehr überkommene Werte fragwürdig wurden und immer weniger feste Orientierungsmaßstäbe galten.
Einen Eindruck vom Wandel, von der politischen Vielgestaltigkeit und den Gegensätzen der deutschen Verhältnisse vermittelt ein Blick auf den letzten Vorkriegsreichstag, der im Jahre 1912 gewählt wurde. Fast 84,9 % der Wahlberechtigten gaben ihre Stimme ab, mehr als je zuvor in der Geschichte des Kaiserreiches. Diese hohe Wahlbeteiligung weist auf den Grad politischer Mobilisierung und Partizipation hin, den das demokratische Element der Reichsverfassung, das allgemeine gleiche (Männer-)Wahlrecht, förderte. Sensationell aber war das Wahlergebnis der Sozialdemokratie. Die einstmals geächtete Partei, deren Mitglieder als «Reichsfeinde» angeprangert worden waren, avancierte zur stärksten Fraktion des Reichstags. 34,8 % der Stimmen und 110 der insgesamt 397 Mandate fielen den Sozialdemokraten zu. Ihre Wähler rekrutierten sich ganz überwiegend aus der Industriearbeiterschaft der großen Städte und Industriezentren. So gab es sozialdemokratische Hochburgen in Hamburg, Berlin und Teilen Sachsens, in denen mehr als 60 % der Wähler der Sozialdemokratie ihre Stimme gaben; und es gab Wahlkreise, auf dem Land, in Kleinstädten, in katholischen Gebieten, in denen die SPD deutlich unter 10 % blieb. Die Sozialdemokratie war unangefochten die politische Organisation der Arbeiterbewegung, und ihr Anstieg von ca. 350.000 Wählern im Jahre 1874 auf 4,25 Millionen Wähler im Jahre 1912 signalisiert zugleich den rasanten Strukturwandel der deutschen Wirtschaft im Zeichen von Industrialisierung und Urbanisierung.
Erstmals kam es bei den Reichstagswahlen von 1912 auch zu Wahlabsprachen zwischen Sozialdemokraten und Linksliberalen. Zwar stießen diese Absprachen auf beiden Seiten nicht immer auf Gegenliebe; aber sie weisen doch auf eine Verbindung hin, die künftig ein wichtiges, wenn auch in seiner Durchschlagskraft begrenztes politisches Potential bilden sollte: Zwischen 1912 und 1930 stellte die Zusammenarbeit zwischen demokratischem Bürgertum und reformorientierter Arbeiterbewegung immer wieder einen parlamentarisch-politischen Kristallisationspunkt dar, mit dem sich die Hoffnung auf organische Fortentwicklung des Bestehenden, auf Parlamentarisierung und Demokratisierung, verband.
Die Partei der Linksliberalen war die 1910 aus mehreren Vorgängerorganisationen neugegründete Fortschrittliche Volkspartei. Bei den Reichstagswahlen 1912 kam sie auf 12,3 % der gültigen Stimmen und auf 42 Mandate. Ihre Anhänger rekrutierte sie überwiegend aus dem akademisch gebildeten Bürgertum; Professoren, Beamte, Rechtsanwälte und andere Freiberufler waren überproportional vertreten. Von der liberalen Schwesterpartei, den Nationalliberalen, unterschied sich die Fortschrittspartei weniger in ihrer sozialen Struktur als durch ihre konsequente Betonung des wirtschaftlichen Liberalismus und vor allem durch die Forderung nach einer stärkeren Stellung des Reichstages. Hinzu trat die Einsicht in die Notwendigkeit einer begrenzten sozialstaatlichen Transformation des klassischen Liberalismus. Aus Sicht des Fortschritts reichte die freie Entfaltung des Individuums als politisches Credo nicht aus, wenn der großen Masse die hierfür notwendigen materiellen und edukativen Mittel nicht zur Verfügung standen. Liberaler Imperialismus und «Weltpolitik», Fortentwicklung des Parlamentarismus und sozialstaatliche Intervention bildeten mithin die Hauptpunkte eines Programms, das mit den reformorientierten Kräften der Sozialdemokratie nicht wenige Berührungspunkte aufwies. Anders dagegen die Nationalliberalen: In ihrer sozialen Basis sich nur wenig vom Fortschritt unterscheidend, verfolgten sie eine strikt antisozialistische Linie, lehnten eine Parlamentarisierung des Reiches ganz überwiegend ab und waren in wesentlichen Fragen den Konservativen gegenüber offen. 1912 erhielt die Nationalliberale Partei 13,6 % der abgegebenen Stimmen und 45 Mandate.
Die konservativen Parteien erreichten 1912 mit zusammen 12,7 % ihr schlechtestes Ergebnis in der Geschichte des Kaiserreiches. Nur dank der Wahlkreiseinteilung, welche die bevölkerungsarmen Regionen bevorzugte, erhielten Deutsch-Konservative und Freikonservative zusammen immerhin noch 57 Reichstagsmandate. Endpunkt einer langanhaltenden Abwärtsbewegung, offenbarte das Ergebnis von 1912 die schwindende Integrations- und Mobilisierungskraft des adligen Großgrundbesitzes wie des agrarischen Deutschland insgesamt. Daraus erklärt sich denn auch maßgeblich die grundsätzliche und in Friedenszeiten nicht zu überwindende Reformfeindschaft des preußisch-deutschen Konservativismus im Kaiserreich. Die Konservativen verfolgten eine antiparlamentarische, antisozialistische und antiliberale Politik. Im demokratisch gewählten Reichstag nahmen sie ihre daraus folgende zunehmende Isolation in Kauf und zogen sich auf die Vielzahl der ihnen gleichwohl verbleibenden gesellschaftlichen und politischen Machtpositionen zurück – im preußischen Staat, im Umkreis der Monarchie, im Militär, in der hohen Beamtenschaft.
Die parlamentarische Schlüsselposition schließlich besaß im Reichstag seit Beginn des Jahrhunderts die Zentrumspartei. Mit der Partei des politischen Katholizismus ist zugleich eine Besonderheit des deutschen Parteiensystems benannt, die dem Parlamentarismus in Deutschland bis 1933 einen unverwechselbaren Charakter verlieh. 1871 als politische Interessenvertretung der Katholiken gegründet, die sich im kleindeutschen Bismarckreich unvermittelt in einer konfessionellen Minderheitenposition fanden, erfüllte das Zentrum zunächst – hierin der Sozialdemokratie ähnlich – die Funktion einer strukturellen Oppositionspartei. Wie bei der Sozialdemokratie ging dies mit dem Ausbau eines dichten Netzes von Vereinen und sonstigen katholischen Milieuorganisationen einher, die den einzelnen «von der Wiege bis zur Bahre» begleiteten. Doch seit den 1890er Jahren wurde aus der ehemaligen Oppositionspartei – «Reichsfeinde» wie die Sozialdemokraten – allmählich eine regierungsstützende Partei, die sich zur Zusammenarbeit mit Konservativen und Nationalliberalen bereitfand. Seit 1909 fand die Reichsleitung ihre parlamentarischen Mehrheiten im «schwarz-blauen» Block aus Konservativen und Zentrum. 1912 freilich erlitt das Zentrum erhebliche Verluste: Es sank von 19,4 auf 16,4 % der Wählerstimmen und erreichte nur noch 91 Mandate (1907: 105). Zwar war das Zentrum als einzige deutsche Partei auf die soziale Integration seiner heterogenen Anhängerschaft verpflichtet; zugleich aber setzte die strikt konfessionelle und damit auch geographische Gebundenheit seinen politischen Entfaltungsmöglichkeiten Grenzen. Die Forderung des bedeutenden Zentrums-Publizisten Julius Bachem, «aus dem Turm heraus» zu gehen und sich nicht-katholischen Wählerschichten zu öffnen, blieb unerfüllt; bis 1933 blieb das Zentrum eine rein katholische Partei.
Wie in einem Brennglas bündeln sich in diesem letzten kaiserlichen Reichstag die schwerwiegenden Gegensätze, die politischen Blockaden, aber auch die Entwicklungschancen des wilhelminischen Deutschland. Man denke nur an die Polarisierung zwischen modernen Industriegebieten an Rhein und Ruhr, in Sachsen, in Südwestdeutschland oder in Berlin einerseits und dem agrarischen Ostelbien andererseits: Zwischen dem rheinischen Industriellen und dem ostpreußischen Rittergutsbesitzer lagen nicht nur rund 1000 Kilometer Entfernung, sondern auch in kultureller Hinsicht Welten. Ebenso unaufhaltsam wie unwiderruflich verlagerte sich der soziale und ökonomische Schwerpunkt des Kaiserreiches von der Landwirtschaft zur Industrie, vom Land in die Stadt. Bezogen im Jahre 1882 noch 41,6 % der Gesamtbevölkerung ihr Auskommen aus der Landwirtschaft, so waren es 1907 nur noch 28,4 %. Im gleichen Zeitraum stieg der Anteil der in der Industrie Erwerbstätigen und ihrer Angehörigen von 34,8 auf 42,2 %. Und lebten zur Zeit der Reichsgründung nur knapp 2 Millionen Menschen in Großstädten mit mehr als 100.000 Einwohnern, so waren es 1910 schon fast 14 Millionen.
Damit verband sich als weiteres Produkt der Industrialisierung der in Deutschland besonders ausgeprägte Klassengegensatz. Für weiteste Kreise des deutschen Bürgertums sowie für die ländliche Aristokratie stellte die Existenz der weltweit größten und bestorganisierten Arbeiterbewegung eine fundamentale Bedrohung dar. «Unvergessen» blieb dem 1862 geborenen Friedrich Meinecke «der kindliche Schauer, als ich beim Ausgang der Gründerzeit auf dem Schulwege [...] einmal durch Massen streikender, finster blickender Arbeiter mich hindurchdrängen mußte». Und stellte nicht die Arbeiterbewegung tatsächlich alles, was dem Bürger heilig war, radikal in Frage? Bürgerlichem Individualismus und Ordnungsdenken setzte sie Kollektivismus und Klassenkampf entgegen; statt auf nationale Einheit und Stärke pochte sie auf proletarischen Internationalismus. Freiheit und Einheit Deutschlands – die politischen Leitmotive des Bürgertums – schienen durch beides in höchstem Maße gefährdet. Umgekehrt ließen sich viele Unternehmer durch ein verengtes Klasseninteresse und durch einen kompromisslosen «Herr-im-Hause»-Standpunkt leiten. Gewerkschaften und Sozialdemokratie konnten aus dieser Sicht nur Gegner, keinesfalls aber potentielle Partner sein.
Trotz fortschreitender Säkularisierung spielte schließlich der religiös-kirchliche Faktor nach wie vor eine zentrale Rolle. Der Kulturkampf der 1870er Jahre hatte das zur Genüge bewiesen, aber auch in der Folgezeit trennte eine Mauer gegenseitigen Misstrauens das evangelische und das katholische Deutschland. Der Vorwurf «ultramontaner» Tendenzen auf der einen, Furcht vor kultureller Dominanz auf der anderen Seite führten immer wieder zu erbitterten Auseinandersetzungen zwischen den Konfessionen. Der ohnehin schwierigen gesellschaftlichen Integration wie dem parlamentarischen Konfliktaustrag stellten sich dadurch zusätzliche kulturelle Hürden in den Weg. Doch auch über den konfessionellen Dissens hinaus neigten die deutschen Parteien bzw. politischen Lager zum Doktrinarismus. Nicht zufällig war Deutschland das Land des orthodoxen Marxismus. Die Zerklüftung der Klassengesellschaft adelte der Marxismus mit einem geschichtsmetaphysischen «Überbau», der seine Ursprünge in Hegel’scher Dialektik nicht verbergen konnte. Sicher haben auch die nicht endenden ideologischen Auseinandersetzungen, der Streit um den Revisionismus, das steigende Gewicht des linken Flügels die Integration der Sozialdemokratie in die politische Kultur des Kaiserreichs erschwert.
Tatsächlich erwiesen sich die Deutschen als besonders anfällig für Ideologien, die im Namen von Philosophie und Wissenschaft auftraten. Das Deutsche Reich litt unter einem Mangel an Traditionen, der ein übermäßiges «Bedürfnis nach geschichtlicher Rechtfertigung des Lebens» (H. Plessner) hervorbrachte. Hierin trat der Umstand zutage, dass es dem 1871 gegründeten deutschen Nationalstaat an einer gemeinsam durchlebten – und durchlittenen – Geschichte mangelte. Tatsächlich besaßen die Deutschen – anders als Engländer und Franzosen – keine Geschichte, die sich im Sinne einer «Whig Interpretation of History», das heißt als lineare Fortschrittsgeschichte, interpretieren und auch ideologisieren ließ. An ihre Stelle traten allzu oft Utopismus, Doktrinarismus oder auch atavistische Vorstellungen. Oder es blieben die nackten Interessengegensätze übrig, die sich durch keinen gemeinsamen kulturellen Nenner transzendieren ließen.
Wesentliche Elemente eines deutschen «Sonderweges» in das 20. Jahrhundert resultierten also aus den genannten Strukturproblemen, die das Kaiserreich in seinem Innern auszutarieren hatte. Zwar waren diese Probleme im europäischen Vergleich keineswegs singulär; aber in der unerbittlichen Gleichzeitigkeit ihrer Gegensätze, liegt das Besondere der deutschen Geschichte. Das wie Deutschland von tiefen Klassengegensätzen zerklüftete England verfügte demgegenüber nicht nur über eine jahrhundertealte nationalstaatliche Tradition, sondern auch über ein langbewährtes parlamentarisches System. Und das wie Deutschland ebenfalls von tiefen ideologischen Gegensätzen gezeichnete Frankreich kannte dagegen keine auch nur annähernd so stürmisch verlaufende industrielle Entwicklung wie der östliche Nachbar. Demgegenüber hatte das deutsche Kaiserreich als einziges großes europäisches Land – neben Italien – die epochenspezifischen Modernisierungsprobleme der Nationsbildung, der Industrialisierung wie der Konstitutionalisierung gleichzeitig zu lösen.
Angesichts dieser Gleichzeitigkeit ökonomischer, gesellschaftlicher und kultureller Gegensätze drohten im wilhelminischen Deutschland politische Blockaden. Seit dem späten Kaiserreich standen sich in Deutschland zwei ungefähr gleich starke politische Lager gegenüber, welche die gesellschaftlichen Widersprüche abbildeten: Zum einen ein Linksblock, bestehend aus der Sozialdemokratie und dem Linksliberalismus, der programmatisch auf Parlamentarisierung, Demokratie und Sozialstaatlichkeit verpflichtet war. Zum anderen ein Rechtsblock, bestehend aus Konservativismus und Nationalliberalismus, der das parlamentarische System im Grundsatz ablehnte und die Arbeiterbewegung bekämpfte. Dazwischen stand das katholische Zentrum. Mit einem rechten und einem linken Flügel ragte es in beide Blöcke hinein und blieb daher auch mit beiden koalitionsfähig. Tatsächlich mangelte es dem Konstitutionalismus des Kaiserreiches an einer klaren Ausdifferenzierung zwischen Regierungs- und Oppositionsparteien sowie dem regelmäßigen politischen Pendelschlag zwischen ihnen. Die stattdessen existierenden politischen Lager waren für sich genommen zu schwach, um mehrheitsfähig zu sein, jedoch stark genug, um sich gegenseitig zu blockieren.
Die Verfassung des Kaiserreiches und ihre Entwicklung seit 1871 förderten solche politischen Blockaden mehr, als dass sie ihnen entgegengewirkt hätten. Verfassungspolitisch litt das Bismarckreich an seiner komplizierten Kompromissstruktur. In der Anfangszeit konnten die daraus resultierenden Probleme vielleicht noch von der großen Persönlichkeit des Reichsgründers aufgefangen werden; doch schon seit den 1880er Jahren, erst recht nach Bismarcks Entlassung und unter den gewandelten Verhältnissen des Wilhelminismus stellte sich je länger desto mehr die Frage nach der Regierbarkeit des Reiches.
Das verfassungspolitische Kernproblem des Kaiserreiches lag in der Verknüpfung dreier Prinzipien, die auf die Dauer schlecht miteinander harmonierten. Dem monarchischen Prinzip, repräsentiert vor allem durch den Kaiser und die von ihm ernannte «Reichsleitung», stellte die Verfassung, in Gestalt des Reichstages, das demokratisch-parlamentarische Prinzip entgegen. Zwar war der Reichstag im Kaiserreich keine quantité négligeable. Keineswegs konnte an ihm vorbei regiert werden oder ganz ohne ihn wie zu Zeiten des preußischen Verfassungskonfliktes ohne das Abgeordnetenhaus. Zur Feststellung des Haushaltes und bei der Gesetzgebung blieb die kaiserliche Regierung unabweislich auf die Zustimmung des Reichstages angewiesen. Aber der Reichstag und seine Abgeordneten konnten die Regierung nicht selbst stellen. Anders als es in einer parlamentarischen Monarchie wie der englischen der Fall gewesen wäre, brauchte der Reichskanzler zu seiner Amtsführung nicht das Vertrauen des Reichstages. Darüber hinaus war den Reichstagsabgeordneten durch den Inkompatibilitätsartikel der Reichsverfassung auch die Ausübung eines Regierungsamtes verwehrt (Art. 21 RV). In der Praxis richtete dies zwischen Exekutive und Legislative eine unübersteigbare Mauer auf und hinderte den Reichstag daran, aus sich selbst heraus die politische Funktionselite zu stellen.