Über das Buch:
Merle und Lu sind schockiert, denn mitten ins Sommerferienerdbeerglück der drei Freundinnen platzt die Nachricht, dass Mis Eltern sich trennen wollen! Umso dankbarer ist Mi jetzt für die Ablenkung, der Club ohne Namen hat nämlich einen neuen Fall: Ein Geist treibt in Bauerbach sein Unwesen – ein guter Geist! Die unbekannte Person tut den Dorfbewohnern heimlich Gefallen und hinterlässt Nachrichten. Da machen sich Merle, Lu und Mi natürlich prompt an die Ermittlungen. Aber das soll nicht ihr einziger Fall bleiben, denn als sie sich bei einem Gewitter zur alten Grillhütte im Wald retten, machen sie eine spannende Entdeckung …
Über die Autorin:
Esther Schuster liebt Bücher und gute Geschichten. Ihre Leidenschaft für Sprache und Geschriebenes ließ sie Deutsch und Englisch studieren und unterrichten. Nach einigen Jahren Familienzeit arbeitet sie als freie Lektorin und schreibt inzwischen auch selbst. Mit ihrem Mann und zwei Kindern lebt sie in Paderborn.
Die Falle
Kaum hatte ich den Schlüssel im Schloss umgedreht und die Tür ein winziges bisschen geöffnet, empfing mich auch schon der herrlichste Geruch der Welt: Das ganze Haus duftete nach Schokoladenkuchen! Ich konnte den Geruch meiner Lieblingsspeise förmlich in mich hineinschweben sehen und fühlte mich sofort, als würde ich selbst auf Wolke sieben schweben. Doch von dort holte mich schnell ein sehr spitzer Schrei meiner Mutter wieder runter.
»Iiih! Nein! Du Mistvieh! Nicht schon wieder! Hilfe!«, hörte ich Mama in den höchsten Tönen kreischen. Das bedeutete, die Maus hatte wohl wieder zugeschlagen, denn so brüllte Mama sonst nie. Wir hatten seit einigen Wochen einen ungebetenen, aber äußerst penetranten kleinen Gast, der sich genüsslich an unseren auf der Veranda zum Abkühlen platzierten Speisen bediente (am liebsten an süßen!).
Zu meinem Glück ging in dem Mäuse-Chaos unter, dass ich viel zu spät nach Hause gekommen war, und so kam ich ganz entspannt in die Küche. Hier lief Mama nun aufgeregt telefonierend hin und her und war so abgelenkt, dass ich mir unauffällig ein Salamibrot machen konnte. (Ich hatte mächtig Kohldampf nach einem Nachmittag nur mit Tee, O-Saft und ein paar Dinkelkräckern!) Je mehr ich allerdings von dem Telefonat mitbekam, desto mehr verging mir der Appetit: Mama diskutierte mit Opa verschiedene Möglichkeiten, die Maus loszuwerden. Und Opa war da nicht zimperlich, das wusste ich genau.
»Jetzt reicht’s«, schimpfte Mama gerade, »diesmal ist sie fast über den ganzen Schokoladenkuchen gelaufen! Ich muss beinahe alles davon wegschmeißen und habe nichts für morgen Nachmittag!«
Ach ja, deshalb hatte sie gebacken: Am letzten Schultag vor den Sommerferien feierten wir traditionell unsere Zeugnisse mit Kaffee und Kuchen bei uns im Garten. Mit Mats und Mama und Papa und Opa.
Mama schaltete Opa auf laut und legte das Telefon ab, bevor sie versuchte, so viel wie möglich vom Kuchen zu retten.
»Das macht doch nichts, dann lad ich euch eben ins Café ein«, sagte Opa. »Ich hol euch um drei ab. Und ich bring ’ne Falle mit, hab ja hier genug. Du weißt, ich bin Experte im Umgang mit Mäusen. Hatte ja auch jahrelang Übung damals auf unserem Hof ...«
»Danke, Papa«, seufzte Mama. »Das ist eine gute Idee – nein, das sind sogar gleich zwei gute Ideen! Bis morgen!« Dann legte sie auf. Mama hatte sich beruhigt – sie lächelte jetzt sogar wieder.
Doch mir war das Lächeln gründlich vergangen.
»Keine Falle!«, rief ich laut.
Mama schaute überrascht und fast erschrocken zu mir herüber.
»Bitte, Mama, stell keine von Opas Tötungsmaschinen auf!«, flehte ich sie an. »Die arme, süße Maus! Du kannst sie doch nicht einfach umbringen! Sie will doch auch leben ...«
»Ja, schon«, sagte Mama, »aber nicht von meinem Schokoladenkuchen!«
»Dann halt von was anderem! Mama, bitte tu das nicht! Nicht töten!« Inzwischen hatte ich Tränen in meinen Augen und in meiner Stimme, was Mama jedoch scheinbar komplett entging.
»Meine liebe Merle, ich dulde keine gefräßigen Mäuse mehr auf meiner Veranda! Das Maß ist voll! Ich weiß, dass du sehr tierlieb bist, aber jetzt reicht’s! Das Vieh muss weg! Basta!«
Ich schwieg. An Mamas »Basta« gab es in der Regel nichts zu rütteln. Aber vielleicht ... Ich spürte da einen Funken Hoffnung.
»Können wir sie nicht lebendig fangen?«, schlug ich vor. »Dann bräuchte ich auch gar kein anderes Haustier mehr! Ich würde mich super kümmern und sie in einem Käfig halten! Bitte, Mama!«
Mama schüttelte langsam den Kopf. Und wegen dieser Langsamkeit verspürte ich immer noch dieses Fünkchen Hoffnung. Ich lag richtig, denn jetzt sagte sie: »Nein, du kannst keine Feldmaus, die, wer weiß, woher kommt, ungeimpft und die Freiheit gewöhnt ist, als Haustier halten. Aber wir können sie lebend fangen, wenn es unbedingt sein muss ...«
An dieser Stelle nickte ich heftig.
»Aber dann muss sie woandershin umziehen, klar?«
Ich nickte wieder und strahlte übers ganze Gesicht. »Du bist die beste Mama der ganzen Welt!«, sagte ich, umarmte sie stürmisch und biss dann endlich in mein Salamibrot.
Nachdem ich es aufgegessen und Mama bei Opa eine Lebendfalle »bestellt« hatte, überraschte sie mich gleich noch einmal: »Und jetzt«, verkündete sie, »essen wir die unberührten Reste des Schokoladenkuchens und feiern die glückliche Rettung eines Mäuselebens!« Dann sah sie mich an und ergänzte: »Und die glückliche Rückkehr meiner Tochter! Sag mal, solltest du nicht eigentlich schon vor einer Dreiviertelstunde zurück sein?«
»Stimmt«, gab ich zu. »Tut mir leid! Wir hatten noch ganz wichtige Club-Angelegenheiten zu besprechen und haben die Zeit vergessen!«
»Natürlich, der Club ohne Namen hat getagt. Da hätte ich ja gern mal Mäuschen gespielt ...« Mama grinste und reichte mir ein Stück vom Schokoladenkuchen.
Der Anschlag
Der nächste Tag war der letzte Schultag unserer Grundschulkarriere und er war von genau zwei Themen beherrscht:
Zum einen natürlich von unserem Abschied! Alle hatten sich schick gemacht und waren aufgeregt – fast wie am allerersten Schultag –, denn jeder spürte, dass das hier ein großer Moment für uns war.
Zum anderen von der neusten Tat unseres »guten Geists von Bauerbach«, von dem schon gleich morgens vor Schulbeginn auf dem Pausenhof die Rede war.
Inzwischen hatten alle im Dorf von dem unbekannten Wohltäter oder der unbekannten Wohltäterin gehört. Und sein allerneuster Streich – ja, diesmal musste man die Aktion wohl so nennen – hatte sich so schnell herumgesprochen wie bisher keiner. Es war aber auch wirklich spektakulär!
Lu kannte alle Details und sprudelte sofort los, als wir sie begrüßt hatten: »Stellt euch vor«, rief sie aufgeregt, »Frau Meier aus dem Höhenrandweg verlässt heute Morgen wie immer um sechs das Haus, um mit ihrem Fifi Gassi zu gehen, und was sieht sie da in Nachbar Pütschkes Einfahrt?« Sie machte eine Pause, um sich die Nase zu putzen. (Wenn ich Lu nicht besser kennen würde, hätte es auch eine Kunstpause sein können.) »Große Buchstaben, quer über die ganze weiß gepflasterte Zufahrt zur Porsche-Garage – mit Gülle geschrieben!«
Lu kicherte (und schniefte dann wieder) und auch Mi und ich mussten jetzt lachen. Stinkende Gülleschrift auf teurem weißen Pflaster? Ausgerechnet bei Pütschke, dem schnöselig-arroganten Fleischzerlegebetriebsbesitzer mit der größten Villa in ganz Bauerbach (er wohnt nicht umsonst im Höhenrandweg, dem »Reichenviertel« in unserem Dörfchen)? Das konnte kein Zufall sein!
»Aber Lu«, sagte ich, »du hast ja das Wichtigste vergessen: Was stand denn da geschrieben?«
Jetzt verdüsterte sich Lus Gesicht ein wenig. »Da muss ich euch enttäuschen«, sagte sie entschuldigend. »Das weiß ich nicht. Es war nicht auf Deutsch und Frau Meier konnte es sich beim besten Willen nicht merken.«
»Oha!«, rief Mi. »Das spricht zumindest sehr dafür, dass es wirklich der ›gute Geist‹ war! Wobei der Rest der Aktion ja eher untypisch ist: kein Geschenk oder andere Nettigkeiten, kein Brief aus Zeitungsbuchstaben ...«
»Doch, doch!«, unterbrach Lu sie da. »Ein Brief war dabei – genau so einer wie sonst auch! Das hat Frau Meier gesehen. Er hing an der Haustür. Mehr konnte sie aber nicht erkennen, denn sie hat sich nicht getraut, näher ranzugehen.«
»Aber ich weiß, was draufstand«, sagte da plötzlich eine Stimme neben uns. Es handelte sich um die von Emma aus unserer Klasse. Wir hatten bis dahin gar nicht bemerkt, dass sie unserem Gespräch zugehört hatte.
Neugierig sahen wir sie an. Emma wohnte mit ihrer Familie gegenüber von Pütschkes und war damit eine gute Informationsquelle.
»Ich hab mir die Nachricht angeschaut, bevor sie sie weggenommen haben. Pecunia olet, stand da als Erstes«, erklärte sie und ihre graugrünen Augen funkelten. »Also dasselbe wie auf der Einfahrt, und daneben: Geld stinkt doch!«
Emma blickte uns triumphierend an.
Mi und Lu sahen aus wie lebende Fragezeichen. Ich vermutlich auch, denn ich fand diese Nachricht genauso rätselhaft. Wobei mir dieses Pecunia olet andererseits auch irgendwie bekannt vorkam. Schließlich dämmerte mir, dass (und wo) ich diesem Teil der Nachricht an Pütschke schon mal begegnet war (in Mats’ Latein für Angeber natürlich). Aber ich konnte mich beim besten Willen nicht mehr an die genaue Bedeutung erinnern.
»Klar ist, dass jemand sich über Geld ärgert«, überlegte ich laut.
»Und was hat das mit Pütschke zu tun?«, wollte Lu wissen.
»Na ja, der Schreiber will halt sagen, dass ihm Pütschkes vieles Geld mitsamt seiner Angeberei stinkt«, vermutete Mi. »Bloß: warum? Und weshalb muss er das so kompliziert ausdrücken?«
»Das frage ich mich allerdings auch!«, stimmte Lu ihr zu und nieste ausgiebig. Als sie damit fertig war, fügte sie noch hinzu: »Und wieso hat er das überhaupt aufgeschrieben? Ich meine, ich hänge doch auch nicht gleich ein Schild mit ’nem hässlichen Spruch an Angelinas Tür, wenn ich wegen ihrer neuen Klamotten ein klitzekleines bisschen neidisch auf sie bin!«
»Vielleicht ...«, setzte ich an. Doch da unterbrach mich die Schulglocke und wir betraten zum allerletzten Mal das alte, vertraute Schulgebäude zu einer Abschiedsfeier. Die war teils langweilig (zum Beispiel die Rede vom Direktor), teils sehr lustig (die Lehrer führten einen Sketch für uns auf!) und teilweise auch traurig. Der Gedanke an den Abschied fiel uns allen mehr oder weniger schwer. Vor allem aber Lu, die jetzt fast nonstop ihre Nase putzte (und das lag nicht mehr nur an ihrem Schnupfen!). Dann übergaben wir den Lehrern unsere Geschenke, bekamen unsere Zeugnisse und durften damit feierlich an den Spalier stehenden Kindern aus den jüngeren Klassen vorbei aus dem Gebäude marschieren.
Lange nach Schulschluss standen wir noch auf dem Schulhof herum und sagten unseren Klassenkameraden und -kameradinnen »Tschüss« und »Alles Gute«, als würden wir uns nie wiedersehen! Vor allem aber versprachen Mi und ich Lu noch einmal ganz fest, dass wir ganz wirklich und echt für immer beste Freundinnen bleiben würden.
Als ich nachmittags mit Opa, Mats, Papa und Mama bei Käsekuchen und Schokohörnchen im Café saß, um das Schuljahresende und die Zeugnisse zu feiern, drehte sich zunächst auch dort alles um die Gülle-Attacke. Inzwischen wusste wirklich jeder im Dorf davon, obwohl Pütschke, sobald er auf die stinkende Schrift aufmerksam geworden war, eigenhändig mit dem Hochdruckreiniger losgelegt hatte, um sie schnellstmöglich wieder zu entfernen. Doch dummerweise lag seine Angebervilla direkt an der wichtigen Kreuzung von Höhenrandweg und Bergstraße, sodass bis halb acht Uhr morgens schon jede Menge Bauerbacher auf dem Weg zur Arbeit daran vorbeigefahren waren und nicht wenige die Neuigkeit gleich beim Bäcker im Ortskern weitererzählt hatten. Und wenn der Dorfklatsch einmal dort angekommen war, wussten es sowieso schon alle! Jetzt tuschelte ganz Bauerbach über den unbeliebten zugezogenen Firmenbesitzer.
Auch Mats meinte: »Also, der wird mir ja immer sympathischer, dieser Geist! Endlich sagt mal jemand was gegen die schlechten Arbeitsbedingungen, die in Pütschkes Fleischfabrik herrschen!«
Und dann erklärte uns mein kluger und politikinteressierter Bruder, was das lateinische Sprichwort bedeutete und was der »gute Geist« seiner Meinung nach in Wahrheit kritisiert hatte. »Pecunia non olet, also: Geld stinkt nicht, heißt der Satz ursprünglich«, sagte Mats. »Und gesagt haben soll ihn der römische Kaiser Vespasian, als er eine Steuer auf öffentliche Toiletten einführte. Er brauchte nämlich Geld für das Kaiserreich. Und es war ihm egal, dass er es aus einer Klogebühr bekam.«
Ich kicherte und Papa schmunzelte in sich hinein. Mama verzog das Gesicht zu einer angewiderten Grimasse, musste aber schließlich doch grinsen. Und Opa konnte sich kaum halten vor Lachen. »Genial, diese Anwendung auf Pütschke!«, rief er. »Ein bisschen fies, aber ziemlich treffend!«
Mats nickte und führte dann aus, dass eine anständige Bezahlung und Unterbringung der Arbeiter sowie vernünftige Hygienemaßnahmen in den meisten Fleischereibetrieben keine Rolle spielten. Nur so, sagte Mats, kann das Fleisch nämlich billig und in Massen verkauft werden. Und wie man am Beispiel von Pütschke sehen konnte, verdiente der Besitzer auf diese Weise außerdem einen ganz schönen Batzen Geld. Das fand der Zettelschreiber verständlicherweise nicht gut und hatte das alte Zitat in Geld stinkt doch! abgeändert. Es ging ihm also weniger darum, dass Pütschke überhaupt so viel Geld hatte, sondern darum, wie er es verdiente – nämlich auf unanständige Art und Weise.
»Letztlich hat der Geist heute Nacht im Grunde doch wieder eine gute Tat getan«, sagte Mats zum Schluss seiner Rede. »Er hat sich für die Arbeiter stark gemacht, die miserabel bezahlt werden und unter üblen Bedingungen schuften müssen.«
»Cool!«, meinte ich.
»Echt dufte«, grinste Opa, mächtig stolz auf sein Wortspiel.
»Na ja ...«, murmelte Mama.
»Mutig!«, sagte Papa. »Mutig, aber auch nicht ganz ohne!«
»Ja, mutig war es ganz sicher«, sagte Mats. »Allerdings hat der Geist jetzt ein Problem: Pütschke hat nämlich eine Belohnung auf ihn ausgesetzt. Wenn ihm jemand meldet, wer dahintersteckt, will er diese Person wegen Beleidigung anzeigen. Ich an seiner Stelle würde mich daher jetzt für länger komplett ins Geisterreich zurückziehen – sprich: erst mal keine Aktionen mehr machen.«
Das hoffte ich nicht, denn so würden wir unseren Geist weder finden noch warnen können.
»So, und nun lasst uns mal von etwas anderem reden«, sagte Mama da. »Immerhin haben wir uns ja nicht versammelt, um über Lokalpolitik zu sprechen!«
»Freust du dich eigentlich auf die neue Schule?«, wollte Opa von mir wissen. »Oder haste Muffensausen?« (Opa verwendet manchmal echt komische alte Wörter! Das hier kannte ich schon, denn er benutzte es ziemlich oft. Es bedeutete so viel wie »Angst haben«.)
»Teils, teils«, antwortete ich wahrheitsgemäß. »Ich hasse Abschiede, aber ich liebe auch Neuanfänge! Ich bin einfach neugierig und gespannt!«
»Das ist eine gute Einstellung, mein Merle-Mädchen«, sagte Papa.
»Als ich von der Schule gegangen bin, also so ganz und für immer, mit 16, hatte ich vor allem ein lachendes und eigentlich kein weinendes Auge«, erzählte Opa. »Endlich ging meine Ausbildung zum Schreiner los, das machte mir mehr Spaß, als Aufsätze zu schreiben. Und außerdem konnte ich ab da Geld sparen für die Hochzeit. Meine Braut hatte ich ja schon längst gefunden!«, sagte er schmunzelnd. (Opa Henry und Oma Heidrun, die leider nicht mehr lebte, hatten sich schon sehr früh kennengelernt und verliebt.)
Mats, der schon seit einiger Zeit wieder gedankenverloren aus dem Fenster geschaut hatte, schaute Opa plötzlich sehr interessiert an. Es sah fast so aus, als ob er etwas sagen wollte, aber dann kam doch nichts aus seinem Mund heraus. (Was ungewöhnlich war. Aber er verhielt sich in letzter Zeit ja ständig ungewöhnlich ...)
Wir sprachen noch eine Weile über Schulerinnerungen und Anekdoten aus alten Zeiten – darüber, was Opa, Mama, Papa und auch Mats so alles erlebt hatten in ihrem Schülerleben. Und auch darüber, was sich in meiner noch kurzen Schulzeit schon ereignet hatte.
Danach diskutierten wir, wie wir das Problem der Kuchendiebin lösen wollten, konkret: welchen Köder wir zu Hause in die Falle packen wollten.
»Mit Speck fängt man Mäuse!«, beharrte Opa.
Doch Mats, der das Internet befragte hatte, hielt dagegen, dass Schokolade oder Erdnussbutter effektiver seien.
»Merle entscheidet«, schlug Papa vor. »Sie hat sich ja auch für die Lebendfalle eingesetzt.«
Ich beschloss, ein Stück Schokolade für den Köder zu opfern und es mit Erdnussbutter zu bestreichen.
Und so machte ich es dann später auch.
Am liebsten hätte ich mich neben die Mausefalle gesetzt und sie die ganze Nacht über beobachtet, so gespannt war ich, ob sie wohl sofort ihre Bestimmung erfüllen würde. Aber das wäre natürlich »kontraproduktiv« gewesen, wie Mats es ausdrückte. (Also dann wäre die Maus vielleicht gar nicht erst aus ihrem Versteck gekommen.) Trotzdem war ich noch ziemlich lange wach. Doch es war nicht die Maus, die mir den Schlaf raubte.
Dicke Luft
Es geschah während meiner abendlichen Lesezeit. Ich musste kurz aufs Klo und als ich aus dem Bad kam, hörte ich aus dem Wohnzimmer laute Stimmen. Papa und Mama, klar. Aber sie klangen nicht wie normalerweise: Sie unterhielten sich nicht – sie stritten. Und zwar ziemlich laut.
»Jetzt nehme ich mir schon mal extra Zeit für euch und kriege dann doch nur Vorwürfe zurück!«, polterte Papa gerade. (So kannte ich ihn sonst gar nicht!)
Mama stand ihm an Lautstärke in nichts nach und antwortete sehr energisch: »Wann soll ich denn auch sonst mal was ansprechen? Ich muss solche Zeiten ja nutzen! Ich kann manche Dinge einfach nicht akzeptieren! Das mache ich nicht länger so mit!«
»Ach, nein?«, rief Papa erbost.
»Nein!«, brüllte Mama zurück.
Darauf folgte eine minutenlange Stille. Danach sprachen meine Eltern weiter, etwas ruhiger jetzt, und ich konnte nichts mehr verstehen. Dennoch stand ich wie angewurzelt im Flur, denn was hier passierte, wühlte mich auf wie ein Sturm das Meer. Nicht dass sich meine Eltern noch nie zuvor gestritten hätten, aber so heftig hatte ich das zumindest noch nicht mitgekriegt. Die Stimmen wurden mal laut, dann wieder leise, und ab und zu herrschte völlige Stille. Ich wusste nicht, was ich schlimmer fand – das Schreien oder das Schweigen.
Plötzlich ging unten die Wohnzimmertür auf und Papa kam heraus. Er sah immer noch sehr ärgerlich aus und hatte ein ganz rotes Gesicht. Schnell wich ich einen Schritt vom Brüstungsgeländer der Treppe zurück, denn ich wollte nicht, dass er mich sah. Doch Papa war sowieso viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Er stapfte durch den Flur, schlüpfte in seine Schuhe, rief mit rauer Stimme: »Ich geh jetzt erst mal ’ne Runde!«, und verließ das Haus.
Rrrrummmms!, knallte die Tür hinter ihm zu.
Ich trat wieder näher zum Treppengeländer und lugte vorsichtig nach unten ins Wohnzimmer, dessen Tür nun offen stand. Dort saß Mama am Tisch. Sie hatte den Kopf in die Hände gestützt und schien ziemlich müde oder traurig oder beides zu sein. (So hatte ich sie selten gesehen: Meine Mama war eigentlich immer stark, nicht schwach, und ihr »Basta!« war in der ganzen Familie gefürchtet.) Am liebsten wäre ich runtergegangen und hätte sie umarmt, aber irgendwie hatte ich das Gefühl, dass ich mich nicht einmischen sollte. Langsam und leise schlich ich in mein Zimmer zurück. Dort schnappte ich mir wieder meinen Krimi. Ich würde jetzt einfach weiterlesen. Lesen war das Beste überhaupt und half auch immer, wenn ich schlechte Laune oder Sorgen hatte.
Doch heute Abend funktionierte es nicht. Die Geschichte kam irgendwie nicht bei mir an. Immer wieder las ich dieselbe Seite, ohne zu verstehen, was dort stand. Stattdessen ertappte ich mich dauernd dabei, durch das Buch »hindurch« zu starren oder mit meinen Haaren zu spielen und sie zu betrachten (braun und lockig wie immer). (Das machte sonst Mi mit Vorliebe, nicht ich.) So viel ging mir durch den Kopf, dass die Geschichte von der Schmugglerbande da einfach nicht mehr reinpasste. Ich musste an Mi und ihre getrennten Eltern denken und dann an meine streitenden ... und ich begann mich zu fragen, ob Trennung wohl ansteckend war. Und als ich das dachte, kriegte ich plötzlich schreckliche Angst. Ich hatte auf einmal das Gefühl, nicht mehr richtig atmen zu können.
»Nein!«, rief ich in meinen Gedanken. »Tut das nicht!« Und dann schleuderte ich das Buch in die Ecke und sprang aus meinem Bett. Ich hätte am liebsten gegen die Wand oder den Schrank oder gegen beides getreten und vielleicht hinterher noch den Schreibtisch umgeschmissen. Stattdessen öffnete ich die Tür und schlich wieder in den Flur. Unten hatte sich noch nichts verändert: Papa war immer noch weg. Mama saß immer noch am Tisch. Ich beschloss, mit Mats zu reden. Leise klopfte ich bei meinem Bruder an.
»Hey, was gibt’s?«, fragte der, als ich die Tür hinter mir geschlossen hatte.
»Mama und Papa streiten«, sagte ich mit zitternder Stimme. »Hast du das denn gar nicht mitgekriegt?« Aber die Frage hätte ich mir eigentlich sparen können, denn Mats hatte noch das Handy in der Hand, und wenn er bis jetzt damit beschäftigt gewesen war, wunderte mich nichts mehr: Mats am Handy – ob bei einem Spiel oder einem Chat oder sonst was –, das bedeutete: Mats in einer anderen Welt!
»Aha«, sagte Mats. »Ja, und? Das kommt halt mal vor, das ist doch ganz normal!«
»Ja, aber ... es ist irgendwie heftig diesmal. Und Papa ist gegangen und ...« Ich konnte plötzlich nicht mehr weitersprechen.
»Merle, Merle, wein doch nicht! Die kriegen sich schon wieder ein!« Mats nahm mich in den Arm und tat sein Bestes, um mich zu beruhigen, dann reichte er mir ein Taschentuch.
»Bist du sicher?«, fragte ich, immer noch schniefend. »Ich dachte, vielleicht ist es jetzt so wie bei Mi, und Papa geht für immer ...«
»Ach, daher weht der Wind!«, sagte Mats. »Da mach dir mal keine Sorgen. Unsere Eltern haben Gott mit im Boot, da passiert eine Trennung nicht so leicht. Glaub mir!«
Ich nickte: »Ich versuch’s. Gute Nacht! Und danke!«
»Gute Nacht!« Mats lächelte mir aufmunternd zu und ich ging.
Im Flur fiel mein Blick auf die Wand gegenüber der Treppe. Hier hing der Trauspruch von Papa und Mama aus Prediger 4, in Lutherdeutsch und in einem goldenen Rahmen. Da stand:
So ist’s ja besser zu zweien als allein ...
Einer mag überwältigt werden,
aber zwei können widerstehen,
und eine dreifache Schnur reißt nicht leicht entzwei.
Gott war der dritte Faden in der Schnur, die bei ihrer Hochzeit geknüpft worden war, das hatten Mama und Papa uns schon erklärt, als wir noch viel jünger waren, und seitdem auch noch ganz oft erwähnt.
»Bitte, Gott, mach, dass die Schnur hält«, flüsterte ich. »Und repariere doch auch die Schnur zwischen Mis Eltern, okay? Bitte! Es ist echt wichtig! Amen.«
Dann schlüpfte ich wieder in mein Bett. Ich fühlte mich jetzt etwas besser. Aber einschlafen konnte ich erst, als ich eine ganze Weile später die Haustür und kurz danach die Stimmen von Mama und Papa im Wohnzimmer hörte. Sie redeten jetzt wieder – in ganz normaler Lautstärke.
Mats behielt recht. Am nächsten Morgen, unserem langen Samstagsfrühstücksvormittag, saßen Mama und Papa ganz entspannt am Tisch. Sie hatten sich anscheinend wieder versöhnt. Die Gewitterwolken hatten sich verzogen und beide strahlten mit der Sonne um die Wette. (Wenn mich nicht alles täuschte, hielten sie unterm Tisch sogar Händchen!)
»Danke, Gott!«, jubelte ich innerlich.
Und dann überraschten uns unsere Eltern mit einer Neuigkeit: »Wir haben beschlossen, mal ganz allein wegzufahren – also: zu zweit allein –, und zwar schon am nächsten Wochenende«, verkündete Papa.
»Ihr beide bleibt hier, und Opa passt auf euch auf«, ergänzte Mama.
»Jippie!«, brüllte ich. (Es kam einfach so aus mir heraus!)
Mats grinste bloß. Aber er dachte sicher dasselbe wie ich: dass nämlich ein Wochenende ohne Eltern und nur mit Opa fast schon sturmfreie Bude war! Und ich hatte auch sofort einen supergenialen, unübertrefflich guten Plan.
»Beste aller Eltern«, fing ich an, und Mama und Papa lachten. Das war schon mal ein guter Anfang. Also ergriff ich die Gelegenheit und fragte mit der liebsten Stimme, die ich zustande brachte: »Dürfen Mi und Lu dann bei mir übernachten?«
Jetzt lachten Mama und Papa noch mehr.
»Das kommt ganz drauf an, ob Opa es erlaubt«, meinte Papa.
»Und ich denke, eine Nacht wäre genug«, ergänzte Mama.
»Jippie!«, rief ich wieder. Ein Tag und eine Nacht mit meinen besten Freundinnen unter Aufsicht von meinem lieben, lustigen und nachts ziemlich fest schlafenden Opa! Das war mindestens so gut wie Schokoeis mit Sahne plus Zartbitterstreusel! Nein, es war sogar noch viel besser!!!
»Darf ich Lu und Mi jetzt gleich sofort anrufen?«, fragte ich daher aufgeregt.
»Nach dem Essen! Und zuerst musst du noch Opa fragen!«, mahnte Mama.
Meine gute Laune wurde noch besser – falls das überhaupt möglich war –, als ich nach der Mausefalle sah. (Darüber vergaß ich zunächst sogar das Telefonieren.) Der Köder war verschwunden und stattdessen saß da eine kleine, aber ziemlich fette, süße graue Maus, die mich mit schwarzen Knopfaugen bettelnd ansah. (So kam es mir jedenfalls vor; Mats wollte mir das absolut nicht glauben, als ich es ihm später erzählte.) Beinahe hätte ich die Falle direkt geöffnet, doch ich konnte mich gerade noch zurückhalten und lief schnell zu Papa, um ihn zu fragen, ob er mit mir zum Feld fahren würde (nicht zum Erdbeerfeld natürlich, sondern zu einem brachliegenden Feld auf der anderen Seite von Bauerbach).
Eine Stunde später war alles geregelt: Die Maus war in Freiheit und unsere Freundinnenübernachtung mit allen besprochen. Einen besseren Start in ein Wochenende und in diesem Fall auch noch in die Sommerferien konnte es gar nicht geben!
Auch der Restsamstag und der Sonntag waren richtig schön: angefüllt mit Lesen und Hängemattenschaukeln, Eisessen, Gottesdienst, Familienradtour ... Ich genoss jede Sekunde. Nur Tabitha fehlte mir. Es war jetzt schon der dritte Sonntag, an dem meine beste Gemeindefreundin nicht im Kindergottesdienst auftauchte, und ohne sie machte der nur halb so viel Spaß. Hatte ihr Fußballcamp etwa schon angefangen? (Eigentlich war das doch für Mitte der Ferien geplant?) Ich beschloss, demnächst mal bei ihr anzurufen. Aber die nächste Woche war so randvoll mit Clubaktivitäten, dass ich das leider komplett vergaß.