Aus dem Englischen
von Andreas Wirthensohn
C.H.Beck
Spätestens seit Google Earth, könnte man meinen, ist die Welt bis in den letzten Winkel erforscht und vermessen. Es gibt keine unbekannten Orte mehr. Abenteuer beim Entdecken sind jedenfalls nicht mehr zu erleben – oder etwa doch? Alastair Bonnett räumt mit diesen Annahmen gründlich auf und führt in diesem Buch an faszinierende Orte, die gleichsam aus der Reihe tanzen und unsere Vorstellungen von der Welt gehörig durcheinanderbringen. Gewöhnliche Orte zeigen ihre fremdartige, verstörende Seite; das Exotische kann hinter der nächsten Ecke zum Vorschein kommen oder so weit entfernt sein, dass seine Existenz ungewiss wird. Der Globus erscheint als ein rätselhafter Tummelplatz: Orte tauchen auf und unter, wie die Inseln im Gangesdelta, sie sind seit langem auf offiziellen Seekarten verzeichnet, aber auf Satellitenbildern nicht zu entdecken, weil sie real gar nicht existieren, wie Sandy Island vor der australischen Küste, oder sie verstecken sich unter Gebüsch und Gestrüpp, das alle Spuren überwuchert, wie auf der britischen Halbinsel Arne. Es gibt Gebiete wie Bir Tawil in Ostafrika, die partout keine Nation haben will, oder Orte, die scheinbar zu zwei Nationalstaaten gleichzeitig gehören.
Bonnett berichtet von versteckten Labyrinthen, unterirdischen, verlassenen oder überbauten Städten. Er stellt geographische Kuriositäten vor und Orte, die sich Erwartungen verweigern. Wer ihm folgen mag erkennt, dass das Entdecken nie aufhört.
«Bonnetts Buch liest sich fantastisch – als würde man in einem blitzgescheiten Reisemagazin blättern. Es beflügelt die Imagination und ist doch durch und durch real.»
Max Winter, Boston Globe
Alastair Bonnett ist Professor of Social Geography an der Universität Newcastle und Autor zahlreicher wissenschaftlicher Werke und Herausgeber der psychogeographischen Avantgarde-Zeitschrift «Transgressions: A Journal of Urban Exploration». Er lebt in Newcastle upon Tyne, England.
Für Helen und Paul
Einleitung
1. Verlorengegangene Orte
Sandy Island
Leningrad
Arne
Das alte Mekka
New Moore
Time Landscape
Die Aralkum-Wüste
2. Versteckte Geographien
Das Labyrinth
Selenogorsk
Die unterirdischen Städte von Kappadokien
Der Fuchsbau
Der Nordfriedhof in Manila
North Sentinel Island
3. Niemandsländer
Zwischen Grenzposten
Bir Tawil
Nahuaterique
Twail Abu Jarwal
Die Verkehrsinsel
4. Geisterstädte
Wittenoom
Kangbashi
Kijŏng-dong
Ağdam
Prypjat
Der archäologische Park des «Incompiuto Siciliano» (Unfertiges Sizilien)
5. Ausnahmeräume
Camp Zeist
Der Genfer Freihafen
Bright Light, Mures-Straße 4, Bukarest
Der internationale Luftraum
Gutterspaces
Reichlich
Der Berg Athos
Knospen-Farm: Der Quilombo Brotas
Das von der FARC kontrollierte Kolumbien
Hobyo
6. Enklaven und abtrünnige Nationen
Baarle-Nassau und Baarle-Hertog
Chitmahals
Sealand
Das Vereinigte Königreich der Lunda Chokwe
Gagausien
7. Schwimmende Inseln
Bimssteinflöße und Müllinseln
Die schwimmenden Malediven
Nipterk P-32, Sprüheisinsel
«The World»
8. Vergängliche Orte
Der Rastplatz am Hog’s Back
Parkdeck am Flughafen von Los Angeles
Nowhere
Stacey’s Lane
Schluss: Ode an eine Orte liebende Spezies
Literatur
Personenregister
Orts- und Sachregister
Unsere Faszination für ungewöhnliche Orte ist so alt wie die Geographie. In seiner um 200 v. Chr. verfassten Schrift Geographika nimmt uns Eratosthenes mit auf eine Reise zu zahlreichen «berühmten» Städten und «bedeutenden» Flüssen. Und die siebzehn Bände von Strabos Geographie, die in den ersten Jahren des ersten Jahrhunderts unserer Zeitrechnung für Beamte im Römischen Reich geschrieben wurden, stellen ein erschöpfendes Kompendium von Reisen, Städten und Zielen dar. Mein Lieblingsort bei Strabo sind die Goldminen Indiens, die, so weiß er zu berichten, von Ameisen «nicht kleiner als Füchse» und mit Fellen, «die Pantherfellen ähnlich seien», gegraben würden. So alt unser Hunger nach kuriosen Erzählungen aus fernen Gegenden auch sein mag, so ist doch unser heutiges Bedürfnis nach einer geographischen Wiederverzauberung von ganz anderem Kaliber.
Meine Liebe zu Orten wurzelt in Epping. Das ist eine der vielen Pendlerstädte in der Nähe von London, eigentlich ganz nett, aber im Grunde austauschbar und ortlos. Dort kam ich zur Welt und dort wuchs ich auf. Wenn ich mit der Central Line nach Epping zockelte oder auf der Londoner Ringautobahn dorthin fuhr, hatte ich oft das Gefühl, als würde ich von Nirgendwo nach Nirgendwo reisen. Durch Landschaften zu fahren, die einem einmal etwas – manchmal sogar verdammt viel – bedeutet haben, die aber auf Transiträume reduziert wurden, wo alles temporär und jeder nur auf der Durchreise ist, erfüllte mich mit einem Gefühl des Unbehagens und weckte in mir den Hunger nach Orten, die von Bedeutung sind.
Man muss nicht weit in unsere geronnene Straßenlandschaft hineinlaufen, um zu erkennen, dass wir in den letzten gut einhundert Jahren überall auf der Welt deutlich besser darin geworden sind, Orte zu zerstören als sie zu schaffen. Die Titel einiger Bücher aus jüngerer Zeit – Real England von Paul Kingsnorth, Nicht-Orte von Marc Augé und The Geography of Nowhere von James Kunstler – zeugen von einer zunehmenden Angst. Diese Autoren verleihen einem verbreiteten Gefühl Ausdruck, wonach die Ersetzung einzigartiger und spezifischer Orte durch generische blandscapes, also austauschbare, nichtssagende Landschaften, unsere Verbindung zu etwas sehr Wichtigem kappt. Edward Casey, Professor für Philosophie an der Stony Brook University, New York, und einer der weltweit bedeutendsten Theoretiker des Orts, vertritt die Ansicht, die «Ausbreitung einer unterschiedslosen Gleichortigkeit im globalen Maßstab» nage an unserem Selbstempfinden und sorge dafür, dass sich «das menschliche Subjekt nach Ortsvielfalt sehnt». Mit skeptischem Blick verfolgt Casey die intellektuelle Abkehr vom Nachdenken über den Ort. Im antiken und mittelalterlichen Denken stand er häufig im Mittelpunkt, er war Grundlage und Kontext für alles andere. Aristoteles war der Meinung, der Ort müsse allen anderen Dingen «vorgeordnet» sein, denn er gebe der Welt eine Ordnung. Er «sei das unmittelbar Umfassende für das, dessen Ort er ist», heißt es in der Physik. Doch die universalistischen Ansprüche der ersten monotheistischen Religion sowie später dann der Aufklärung machten aus dem Ort etwas Provinzielles, eine prosaische Fußnote im Vergleich zu den großangelegten, aber abstrakten Visionen globaler Einheit. Die meisten modernen Intellektuellen und Wissenschaftler interessieren sich so gut wie gar nicht mehr für den Ort, denn sie halten ihre Theorien für universell anwendbar. Der Ort wurde an den Rand gedrängt und ersetzt, wobei der Aufstieg des etwas pompöseren und abstrakteren geographischen Rivalen, nämlich die Vorstellung vom «Raum», seinen Teil dazu beitrug. Raum klingt auf eine Weise modern, wie das für den Ort nicht gilt: der Begriff lässt an Mobilität und an das Fehlen von Beschränkungen denken; er verspricht leere Landschaften voller Verheißungen. Sahen sich moderne Gesellschaften mit der inhärenten Geschäftigkeit und Seltsamkeit des Ortes konfrontiert, so reagierten sie darauf zumeist mit Geradebiegen und Rationalisieren, sie setzten auf Verbindungen und räumten Hindernisse aus dem Weg, denn sie wollten den Ort durch den Raum ersetzen.
In seiner philosophiegeschichtlichen Abhandlung The Fate of Place konstatiert Casey eine zunehmende «Geringschätzung des genius loci: eine Gleichgültigkeit gegenüber der Besonderheit des Ortes». Wir alle leben mit den Folgen dieser Entwicklung. Die meisten von uns können sie sogar vom Fenster aus beobachten. In einer hypermobilen Welt lässt sich die Liebe zum Ort leicht als überholt abtun, ja sogar als reaktionär. Wo sich menschliche Erfüllung in Flugmeilen bemisst und wo sogar Geographen sich an der Vorstellung erfreuen, dass «Gemeinschaften ihre gemeinsame Grundlage zunehmend im Cyberspace statt auf terra firma finden» (so Professor William J. Mitchell vom MIT), wirkt es fast ein wenig pervers, wenn man über den Ort nachdenken will. Doch Ortlosigkeit ist weder intellektuell noch emotional befriedigend. Utopia, der von Thomas Morus gebildete griechische Neologismus, lässt sich als «Nicht-Ort» übersetzen, aber eine ortlose Welt ist keine Utopie, sondern eine dystopische Vorstellung.
Der Ort ist ein vielgestaltiger und grundlegender Aspekt dessen, was es heißt, Mensch zu sein. Wir sind eine Orte schaffende und Orte liebende Spezies. Der renommierte Evolutionsbiologe Edward O. Wilson bezeichnet die angeborene und biologisch notwendige Liebe des Menschen zu lebendigen Dingen als «Biophilie». Er ist der Ansicht, die Biophilie halte uns Menschen als Spezies zusammen und verbinde uns gleichzeitig mit der übrigen Natur. Ich würde behaupten, dass es eine zu Unrecht ignorierte und gleichermaßen bedeutsame geographische Entsprechung dazu gibt: die «Topophilie» oder Liebe zum Ort. Der Begriff wurde in etwa zur selben Zeit, da Wilson seine Theorie der Biophilie entwickelte, von dem chinesisch-amerikanischen Geographen Yi-Fu Tuan geprägt, und das damit verbundene Konzept steht im Zentrum dieses Buches.
Und noch ein weiterer wichtiger Aspekt zieht sich wie ein roter Faden durch all die hier versammelten Orte – das Bedürfnis zu entfliehen. Dieser Drang ist heute verbreiteter als jemals in der Vergangenheit. Da uns ständig phantastische Urlaubsziele und Lebensstile vor die Nase gehalten werden, überrascht es nicht wirklich, dass viele Menschen mit ihrer Alltagsroutine unzufrieden sind. Das Aufkommen der Ortlosigkeit sowie das Gefühl, dass der gesamte Planet minutiös erforscht und überwacht ist, haben dieser Unzufriedenheit einen radikalen Schub verpasst, wir gieren förmlich danach, Orte zu finden, die ab vom Schuss sind, die irgendwie geheim oder zumindest in der Lage sind, uns zu überraschen.
In seinem Roman Moby Dick beschreibt Herman Melville die Heimatinsel von Ismaels Freund und Verbündetem, dem Eingeborenen Queequeg, folgendermaßen: «Sie ist auf keiner Karte verzeichnet; die richtigen Orte stehen nie darauf.» Das klingt seltsam, aber ich glaube, es erscheint unmittelbar, instinktiv sinnvoll. Dieses Empfinden rührt an ein Misstrauen, das gleich unter der rationalen Oberfläche der Zivilisation lauert. Wenn die Welt vollständig vermessen und sortiert ist, wenn Ambivalenzen und Ambiguitäten weggewischt sind, so dass wir genau und objektiv wissen, wo sich alles befindet und wie es bezeichnet wird, dann regt sich ein Gefühl des Verlusts. Der Anspruch auf Vollständigkeit sorgt dafür, dass wir der Möglichkeit der Erkundung nachtrauern und endlos über die Hoffnung auf Neuheit und Entfliehen nachsinnen. In diesem Kontext bekommen die namenlosen und verworfenen Orte – solche, die weit entfernt sind, und solche, an denen wir jeden Tag vorbeikommen – eine romantische Aura. In einer vollständig entdeckten Welt hört die Erkundung nicht auf; sie muss nur neu erfunden werden.
Anfang der 1990er Jahre stieß ich auf eine der unkonventionelleren Formen dieser Neuerfindung, nämlich die Psychogeographie. Dabei ging es die meiste Zeit darum, entweder umherzustreifen auf der Suche nach dem, was sich einige meiner Kameraden hoffnungsfroh als okkulte Energien vorstellten, oder sich absichtlich zu verirren, indem man die Karte eines bestimmten Ortes dazu nutzte, um sich an einem anderen Ort zurechtzufinden. Beispielsweise mitten durch eine Kindertagesstätte in Gateshead zu wandern und dabei eine Karte der Berliner U-Bahn in Händen zu halten ist wahrlich desorientierend. Wir hielten uns dabei für unglaublich kühn, aber was mir rückblickend auffällt bei dem Versuch, die Landschaft um uns herum radikal neu zu entdecken, ist die Tatsache, wie normal und gewöhnlich dieses Ansinnen eigentlich ist. Das Bedürfnis nach Wiederverzauberung ist etwas, das wir alle gemeinsam haben.
Machen wir uns also auf zu einer Reise – einer Reise an die Enden der Welt und auf die andere Seite der Straße, so weit wir eben gehen müssen, um dem Vertrauten und der Routine zu entkommen. Ob gut oder schlecht, unheimlich oder wunderschön: wir brauchen widerspenstige, ungebärdige Orte, die sich Erwartungen verweigern. Wenn wir sie nicht finden, dann schaffen wir sie uns eben. Unsere Topophilie lässt sich niemals auslöschen oder befriedigen.
Wir brechen auf in unbekanntes Terrain, an Orte, die sich auf Karten nur selten oder gar nicht finden lassen. Sie sind außergewöhnlich und zugleich völlig real. Dieses Buch handelt von schwimmenden Inseln, toten Städten und verborgenen Königreichen. Beginnen wollen wir mit rauem Terrain und zunächst verlorene Orte erkunden, auf die man zufällig gestoßen ist oder die man freigelegt hat, eher wir uns an Orte aufmachen, die bewusster gestaltet wurden. Das ist keine gemütliche Reise, denn fast alle Orte, denen wir begegnen werden, sind paradox und schwer zu definieren, aber gleichzeitig stoßen wir dabei auf eine Welt von irritierender Fülle. Wie wir rasch merken werden, heißt das nicht, dass uns dabei ein rosafarbener Planet glücklicher Länder erwartet. Wirkliche Topophilie lässt sich nicht mit sonnigen Dörfchen abspeisen. Die faszinierendsten Orte sind oft gerade die, die am meisten verstören, verlocken und erschrecken. Sie sind zudem häufig nur temporärer Art. In zehn Jahren werden die meisten der Orte, die wir hier erkunden, völlig anders aussehen; und viele werden überhaupt nicht mehr existieren. So wie die Biophilie nicht nachlässt, obwohl wir wissen, dass die Natur oftmals grausam und alles Leben befristet ist, so weiß auch echte Topophilie, dass unsere Verbundenheit mit dem Ort nicht bedeutet, die geographische Entsprechung von niedlichen kleinen Kätzchen und Welpen vorzufinden. Hier wie dort handelt es sich um eine leidenschaftliche Liebe, um eine dunkle Bezauberung. Sie reicht tief und verlangt unsere ganze Aufmerksamkeit.
Die siebenundvierzig Orte, aus denen dieses Buch besteht, wurden aufgenommen, weil jeder von ihnen mich auf ganz eigene Weise dazu zwang, das, was ich über Orte wusste, zu überdenken. Sie wurden nicht deshalb ausgewählt, weil sie nur ausgefallen oder spektakulär sind, sondern weil sie die Macht besitzen, zu provozieren und zu irritieren. Das Spektrum reicht von höchst exotischen und grandiosen Projekten bis zu den bescheidenen Ecken meiner Heimatstadt, aber sie sind alle gleichermaßen in der Lage, unsere geographische Vorstellungskraft anzuregen und zu verändern. Gemeinsam sorgen sie dafür, dass die Welt fremder, eigenartiger erscheint, dass sie zu einem Ort wird, an dem Entdeckung und Abenteuer sowohl im Nahen wie im Fernen nach wie vor möglich sind.
Hinweis: Wo immer möglich, habe ich die Google-Earth-Koordinaten für das ungefähre Zentrum oder die Lage des jeweiligen Ortes angegeben. Diese Koordinaten sind in sich stimmig, müssen aber nicht unbedingt exakt sein, denn möglicherweise verändern sie sich jedes Mal, wenn Google Earth aktualisiert wird. Für historische Orte oder solche, die beweglich sind, wurden keine Koordinaten angegeben.
Weil die Identität des Menschen eng mit dem Ort verwoben ist, haben die Orte, die verschwinden, diejenigen, die kommen und gehen, etwas besonders Beunruhigendes an sich. Verlorene Orte verweisen auf verborgene Geschichte, aber auch auf eine andere, alternative Zukunft. Mitunter werden sie absichtlich verdrängt (Leningrad, altes Mekka), während andere einfach langsam verschwunden sind, außer Gebrauch kamen und überwuchert wurden (Arne, Time Landscape) oder gelegentlich, grundlegend verändert, wieder auftauchen (die Insel New Moore, die Aralkum-Wüste). Es gibt freilich auch andere wie Sandy Island, die verloren sind, weil sie nie existiert haben.
Die Entdeckung der Nicht-Existenz von Orten ist ein faszinierender Seitenstrang in der Geschichte der Forschungsreisen. Das jüngste Beispiel stammt aus dem Jahr 2012, als ein australisches Forschungsschiff Sandy Island besuchte, mehr als tausend Kilometer östlich von Queensland gelegen, und herausfand, dass dort – nichts war. Und das, obwohl an dieser Stelle ein mehr als zwanzig Kilometer langes und gut fünf Kilometer breites Eiland auf den Karten verzeichnet war, seit die Menschen damit begonnen hatten, diese Meeresregion zu vermessen.
Erstmals gesichtet wurden dort Brandungswellen und sandige Inselchen 1876 von einem Walfangschiff namens «Velocity». Ein paar Jahre später fand Sandy Island in einem australischen Handbuch für die Seefahrt Erwähnung. Noch mehr Legitimation bekam die Insel, als sie 1908 auf einer Karte der britischen Admiralität für diese Region auftauchte. Allerdings waren ihre Umrisse dort mit Punkten markiert, was bedeutete, dass sie als potenzielle Gefahr betrachtet wurde, die weiterer Erkundung bedurfte. Vier Jahre zuvor, 1904, hatte die New York Times über den amerikanischen Kreuzer USS «Tacoma» berichtet, der in der «American Group», einer Inselkette, die angeblich auf halbem Wege zwischen den USA und Hawaii lag, «Hunderte von Phantomen, die als Land verzeichnet waren», verifizieren sollte. Beglaubigt wurde ihre Existenz vor allem durch die Behauptung von Kapitän zur See John DeGreaves, dem «wissenschaftlichen Berater» des hawaiianischen Königs Kamehameha, er habe in Gesellschaft der berühmten «spanischen Tänzerin» und Geliebten des bayerischen Königs Ludwig I., Lola Montez, auf einer dieser Inseln gepicknickt.
Leider erwiesen sich sowohl die Inseln als auch das traute Picknick als reines Wunschdenken des Kapitäns. Detailliert erläuterte die New York Times, warum die Weltmeere jenseits aller Klatschgeschichten noch immer voller kartographischer Fehler steckten. «Lange dunkle oder helle, gelbliche Flecken, die den Seefahrer aus der Ferne glauben lassen, es handle sich um seichte Stellen», eine «Kabbelung, die irrtümlich als Brandungswelle wahrgenommen wird», ja sogar der Rücken eines schwimmenden Wals reichten aus, um einen neuen Mythos zu begründen. In einsamen Meeresregionen, so die New York Times weiter, wo Informationen heiß begehrt und deren Erhärtung oder Entkräftung selten seien, wird noch der kleinste Beleg «eine Zeit lang auf einer Karte weiterleben mit den genannten Buchstaben ‹E.D.› hinter dem Eintrag, die besagen, dass seine Existenz in Zweifel steht».
Weil Seeleute stets hoffnungsvoll nach Land Ausschau halten, werden schon die kleinsten Anzeichen dafür begierig aufgegriffen. Die Zeugnisse für die Existenz von Sandy Island wurden deshalb auch keineswegs angezweifelt, sondern immer wasserdichter. Nachdem die Insel ihren Weg auf eine maßgebliche Karte gefunden hatte, erlangte sie den Status einer bekannten Tatsache, und ihr Mythos wurde bis ins 20. Jahrhundert hinein und darüber hinaus weitergetragen. Sie tauchte auf Karten der National Geographic Society und der Times auf, und niemand beschwerte sich oder bemerkte es auch nur. Augenscheinlich wurde sie auch von den Satelliten erfasst, aus denen allein sich nach Meinung vieler Menschen Google Earth speist. Dr. Maria Seton, die das australische Forscherteam leitete, erklärte gegenüber Journalisten, die Insel finde sich zwar bei Google Earth ebenso wie auf zahlreichen anderen Karten, doch Seekarten gäben an, dass das Wasser an besagter Stelle 1400 Meter tief sei: «Also machten wir uns daran, das zu überprüfen, und es gab dort keine Insel. Wir standen vor einem Rätsel. Die Sache ist wirklich bizarr.»
Am 26. November 2012 schwärzte Google Earth Sandy Island und machte später aus dieser Stelle ganz normales Meer. Eine Zeitlang fand man bei Google Earth an dem Ort, wo Sandy Island einst war, Dutzende Fotos, die von Kartenbrowsern hochgeladen wurden. Die kreativen Möglichkeiten waren dabei offenbar so unwiderstehlich, dass die ehemalige Insel zeitweise mit Bildern von kämpfenden Dinosauriern, düsteren Hinterhöfen und phantastischen Tempeln überzogen war.
Die Geschichte vom Verschwinden von Sandy Island sorgte weltweit für eine kleine Sensation. Wenn Sandy Island nicht existiert, wie können wir dann bei anderen Orten sicher sein? Die plötzliche Tilgung von Sandy Island zwingt uns zu der Erkenntnis, dass unsere Sicht der Welt mitunter noch immer auf nicht verifizierten Berichten von weit her beruht. Die moderne Karte tut so, als würde sie uns allen problemlos einen erschöpfenden und panoptischen, einen «gottgleichen» Blick auf die Welt erlauben. Doch wie sich zeigt, verwenden Unternehmungen wie Google Earth nicht nur Satellitenaufnahmen. Sie stützen sich auf eine ganze Reihe verschiedener Quellen, zu denen auch veraltetes Kartenmaterial zählt.
Dabei wussten einige Leute schon vor 2012, dass die «Sandinsel» ihrem Namen nicht so ganz gerecht wurde. Sie liegt in den bewohnten Gewässern, die sich über Hunderte von Kilometern um die französische «collectivité sui generis» Neukaledonien erstrecken. Doch vor einigen Jahrzehnten wurde die Île de Sable stillschweigend aus französischen Karten entfernt, und auch in einer offiziellen Karte des hydrographischen Amtes, die 1982 erstellte wurde, taucht sie nicht mehr auf. Auch auf einer Karte der Region, die 1967 in der damaligen Sowjetunion produziert wurde, fehlt die Insel. Klar ist: Nicht jeder verwendet die gleichen Quellen. Das heißt jedoch nicht, dass die Franzosen oder die Sowjets deswegen genauer Bescheid gewusst hätten als alle anderen. Auf der Michelin-Weltkarte von 2010 ist die Île de Sable sehr wohl verzeichnet, und für die französische Öffentlichkeit war die Nachricht von ihrer Nicht-Existenz eine ebenso große Überraschung wir für den Rest der Welt. Nach der australischen Nicht-Entdeckung des Eilands verkündete die Tageszeitung Le Figaro am 3. Dezember 2012: «Le mystère de l’île fantôme est résolu.» Das Rätsel der Phantominsel sei gelöst.
Das Ganze ist freilich nicht nur eine rein technische Geschichte über falsche geographische Angaben. Warum sollte es irgendjemanden interessieren, wenn sich herausstellt, dass ein Sandstreifen in einer Tausende von Kilometern entfernten Gegend, von der die meisten vermutlich noch nie gehört haben, gar nicht existiert?
Es ist deshalb von Interesse, weil wir heute zwar in der Erwartung leben, dass die Welt vollständig sichtbar und umfassend bekannt ist, trotzdem aber Orte haben wollen und brauchen, die unsere Gedanken ungehindert schweifen lassen. Die verborgenen und außergewöhnlichen Orte sind eine Art Zufluchtsstätte für die geographische Imagination; eine Festung gegen die zunehmend, wenn nicht gar erschöpfend allsehende Karte, die in den letzten zweihundert Jahren entstanden ist. Dass Sandy Island 1908 in eine Karte der Admiralität aufgenommen wurde, war ein ungeschickter Irrtum, ein für die damalige Zeit untypischer Fehler. Die Seemächte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts wollten den Globus keineswegs mit fabelhaften Inseln übersäen, sondern gingen allen derartigen Gerüchten akribisch nach, um sie entweder zu bestätigen oder zu entkräften. Infolgedessen wurden von der revidierten Admiralty Pacific Chart von 1875 insgesamt 123 in Wirklichkeit nicht existierende Inseln entfernt. Die Geschichte in der New York Times von 1904 führte dazu, dass die Nicht-Existenz einer Inselgruppe südlich von Tasmanien namens Royal Company Islands bestätigt wurde. Nachdem man Schiffe dorthin geschickt hatte, welche die angeblichen Inseln näher in Augenschein nehmen sollten, wurden sie – wie so viele vor ihnen – von den Karten getilgt. Die amerikanischen Schiffe leisteten ihren Beitrag zur Moderne: Zweifel ausräumen und panoptische Erkenntnis erlangen. Doch der Moderne verdanken wir auch das sich selbst in Frage stellende und selbstzweiflerische Bewusstsein, mit dessen Hilfe wir begreifen, dass wir etwas verlieren, wenn wir es erlangen. Wie der Wust an empörten, phantastischen Bildern, die heute bei Google Earth den Platz von Sandy Island belegen, vermuten lässt, macht ihr Verschwinden die «Sandinsel» zu einem Rebellenstützpunkt der Imagination, zu einem Unschuldigen und Parvenü, der sich den umfassenden Technologien des Allwissens entziehen konnte.
Die Geschichte von Sandy Island könnte nahelegen, dass wir eine Erforschung unentdeckter Inseln brauchen, von Orten, die einst als real galten, sich dann aber als unwirklich erwiesen. Wie sich freilich herausstellt, ist dieser Markt durchaus schon recht belebt. Von frühen Schriften wie William Babcocks Legendary Islands of the Atlantic (1922) bis zu vergleichsweise jungen Untersuchungen wie Lost Islands: The Story of Islands That Have Vanished from Nautical Charts des Ozeanographen Henry Stommel und Patrick Nunns Vanished Islands and Hidden Continents of the Pacific verfügen wir über einen umfassenden Katalog der nicht-existierenden Inseln dieser Welt. Einige dieser Studien konzentrieren sich auf die Fehler von Seeleuten, von denen es jede Menge zu geben scheint. Andere wie die von Patrick Nunn verknüpfen das Legendenhafte mit der Wissenschaft. Nunn interessiert sich dafür, inwiefern indigene Legenden von verlorenen Inseln, wie man sie bei vielen Inselvölkern im Pazifik findet, zur Umweltgeschichte dieser Region passen und uns Kenntnisse darüber vermitteln. Dabei zeigt er, dass sich «legendäre Inseln» mitunter durch Veränderungen des Meeresspiegels und seismische Aktivitäten erklären lassen. Längst vergangene topographische Veränderungen sind in lokalen Mythen und Sagen festgehalten und bewahrt. Ähnliche Verbindungen finden sich auch in anderen Teilen der Welt – man denke nur an die berühmte Legende von Atlantis.
Und das Interesse an Phantomorten wie Sandy Island wächst. Das hat zum Teil natürlich damit zu tun, dass solche «Nicht-Entdeckungen» inzwischen eine Seltenheit sind: Es ist eher unwahrscheinlich, dass man noch viele weitere Inseln welcher Größe auch immer «nicht findet». Doch es gibt dort draußen noch immer eine Fülle an sich verändernden und potenziell zweifelhaften Phänomenen, zu denen durchaus auch kartographische «Fakten» gehören, etwa die Form von Nationen, Grenzen, Bergen und Flüssen. Sie werden unsere geographischen Gewissheiten auch weiterhin erschüttern. In Wahrheit aber wünschen wir uns gerade eine Welt, die nicht durch und durch bekannt ist und die in der Lage ist, uns zu überraschen. Je weiter sich unsere Informationsquellen verbessern und je umfassender sie werden, desto stärker wächst das Bedürfnis, neue Orte zu schaffen und herbeizuzaubern, die sich wie zum Trotz auf keiner Karte finden.
Sankt Petersburg geriet nicht in Vergessenheit, als es 1924 in Leningrad umbenannt wurde. Die Stadt hatte ihren Namen schon einmal geändert, nämlich 1914 in das stärker russisch klingende Petrograd. Doch für einen ihrer Söhne, den Dichter Joseph Brodsky, würde sie immer Petersburg bleiben. In seinem Essay Führung durch eine umbenannte Stadt schrieb er 1979, die Bürger der Stadt würden sie weiter «Piter» nennen, und «der Geist Peters des Großen [ist] hier immer noch viel spürbarer als die Kleingeisterei späterer Epochen». Zwölf Jahre später wurde die Stadt wieder in Sankt Petersburg umbenannt. Aber auch Leningrad wird sich nicht leise verabschieden. Es mag von der Karte verschwunden sein, aber das bedeutet nicht, dass es weg wäre.
In Die Stadt und die Stadt, China Miévilles Allegorie zweier verfeindeter Städte, die im Wortsinne zusammen den gleichen Raum besiedeln, bleiben die Bewohner kulturell rein, indem sie die jeweils anderen und den anderen Ort «nicht sehen». Aber die Verlockung, doch einen Blick dorthin zu werfen, ist groß, sie setzt sich in den Köpfen fest und bestimmt jeden ihrer Schritte. Das gilt auch für Orte, die ersetzt und umbenannt wurden; sie schaffen es, gleichzeitig geisterhaft und verführerisch zu sein. Es überrascht allerdings ein wenig, dass wir gegenüber solchen Veränderungen nicht gleichgültig geworden sind. So hat beispielsweise die antike bulgarische Stadt Plowdiw im Laufe ihrer zweitausendjährigen Geschichte zwölf derartige Namenswechsel erlebt. Im 20. Jahrhundert ist die Umbenennung von Orten geradezu zum Ausweis des Fortschritts geworden. Von Dörfern bis Ländern wurde alles mit einem neuen Namen versehen, ein scheinbar einfacher Akt, der für die Bewohner häufig tiefgreifende Konsequenzen hat. Mitunter wurde etwa einem alten Ort eine neue ethnisch-nationale Identität verpasst. Als aus dem Osmanischen Reich 1923 die «Türkei» wurde und aus Siam 1939 «Thailand», verwandelten sich damit, grob gesagt, multiethnische in ethnisch exklusive Kategorien. Bürger, die ethnisch keine Türken oder Thai waren, verloren damit über Nacht ihre Heimat; sie wurden anormal und damit sehr verwundbar.
Von thailändischen und türkischen Nationalisten wurde behauptet, Siam bzw. das Osmanische Reich seien reif für eine Umbenennung. Das Osmanische Reich existierte nicht mehr, und «Siam» schien sich von einem Hindi-Wort für die Region herzuleiten. Ethnische Türken und Thai sahen wenig Grund, die alten Bezeichnungen hochzuhalten, was nicht zuletzt damit zu tun hatte, dass sie die Gewinner in einem Prozess waren, der der Außenwelt als Indigenisierung erschien. Doch ganz so einfach ist die Sache eher selten. Die Ersetzung von «Smyrna» durch «Izmir» 1930 bedeutete die Vertreibung der griechischen Bevölkerung aus der Stadt und ihre Wiedergeburt als rein türkische Metropole. Auch dass «Ostpreußen» 1946 ganz in Ostpolen und der sowjetischen Exklave Kaliningrad aufging, war ein Akt der Rache und der ethnischen Säuberung. Jahrhundertelang war dieser östliche Außenposten Preußens überwiegend deutsch gewesen. Binnen weniger Jahre waren die Deutschen weg, gen Westen geflohen vor der Roten Armee oder von Stalin deportiert. Doch die «flüsternde Vergangenheit» Preußens, wie Max Egremont das nennt, kehrt immer wieder zurück. In schöner Regelmäßigkeit hört man von Plänen, Kaliningrad wieder den alten deutschen Namen Königsberg zu geben – einen Namen, der die Menschen an Philosophen, Klöster und Schlösser und weniger an sowjetische Truppen erinnert –, doch ebenso regelmäßig werden sie wieder fallen gelassen.
Die kommunistische Vergangenheit Petersburgs wird zwar gerne verunglimpft, aber sie weigert sich, sich zu verziehen und das Zeitliche zu segnen. Denn etwas viel zu Wichtiges ist dort begraben: Alltagskämpfe und außergewöhnliche Dramen. Angesichts der Geschichte Leningrads wirkt die Historie Petersburgs geradezu dürftig. Petersburg war eine imperiale neue Stadt, die im 18. Jahrhundert von Peter dem Großen an der Ostseeküste erbaut worden war und einen fremdländischen, holländisch klingenden Namen bekam, Sankt Petersburg. Sie war Richtung Europa, Zukunft und Hochkultur ausgerichtet und kehrte Russland mitsamt seiner phlegmatischen Bauerschaft den Rücken. Der in Leningrad geborene Schriftsteller Michail Kurajew wandte sich vehement dagegen, Leningrad durch den älteren, aber fremden Rivalen Petersburg zu ersetzen: «Vor dreihundert Jahren», so schrieb er polemisch, «klang Sankt Petersburg für russische Ohren in etwa so, wie Tampax, Snickers, Bounty und Marketing für uns Heutige klingen.» Für ihn ist Petersburg ein «Binnenmigrant im eigenen Vaterland», Leningrad hingegen authentisch russisch.
Leningrad hat sich seinen Platz im russischen Gedächtnis redlich verdient; es ist durchdrungen von patriotischem und revolutionärem Blut. Hier wurde während des Zweiten Weltkriegs die neunhundert Tage dauernde Belagerung ertragen, als eine vom Hunger gepeinigte Bevölkerung ihre Stadt verteidigte und sie dann aus den Trümmern wieder aufbaute. Stalin verlieh Leningrad dafür den Status einer «Heldenstadt». Sogar die belagernden Nazis waren beeindruckt, nicht nur von der wilden Entschlossenheit der Menschen dort. Trotz seines revolutionären Leumunds war Leningrad freilich auch Zentrum eines andersgearteten Denkens. Im Zuge der Leningrader Affäre Ende der 1940er, Anfang der 1950er Jahre wurden zahlreiche örtliche Parteigrößen hingerichtet oder ins Lager verbannt, als Moskau dem Anti-Stalinismus den Garaus zu machen versuchte.
Bezeichnenderweise avancierte ausgerechnet eine in Leningrad geborene Exilantin, nämlich Svetlana Boym von der Harvard University, zur Expertin für Nostalgie. In ihrem Buch The Future of Nostalgia bietet sie eine vielschichtige, mitfühlende Darstellung, auf wie vielfältige Weise «das Duell zwischen den beiden Städten Leningrad und Petersburg fortdauert». Besonders interessiert sich Boym für die bohèmehafte Seite der Stadt, wie man sie in den Cafés findet, und sie ist der Ansicht, Leningrad lebe als eine Art alternativer oder zweiter Stadt weiter und erinnere dabei an wichtige «Potenziale, die noch nicht verwirklicht wurden». Sie verkündet uns eine optimistische Botschaft von all den versunkenen Erinnerungen, die in ihren Augen die Ressource für eine liberalere Stadt bilden.
Ich habe jedoch den Verdacht, dass die Verwandlung der usurpierten Stadt in einen bohèmehaften Subtext, der ihrer Rivalin unterlegt ist, nur eine andere Form des Vergessens ist. In Petersburg scheint es jede Menge Leute zu geben, deren Bedauern über den Tod Leningrads nur wenig mit dieser politischen Minderheitsidentität zu tun hat. Sie vermissen das klare Gefühl von Ordnung, das weit gespannte soziale Netz, den Respekt gegenüber den Älteren, das gemächlichere Tempo, die Würde und den Heldenmut. Es kann gut sein, dass die Zunahme von Bindungen und Zuschreibungen Leningrad am Leben hält. Schließlich hatte es, als es 1991 abgeschafft wurde, siebenundsechzig Jahre lang existiert.
Leningrad ist vermutlich nie die nonkonformistische Stadt geworden, von der man einst in ihren alternativen Cafés geträumt hat, aber es war ein Ort langer gewöhnlicher Jahre wie auch enormer Opfer. Im Vergleich dazu wirkt das heutige Petersburg wie eine «Musealisierung unter freiem Himmel», wie der in Leningrad geborene Dichter Alexander Skidan das nennt. Indem man Leningrad auslöschte, hat man den Opfern des Sowjetkommunismus zumindest ein wenig Gerechtigkeit widerfahren lassen. Die gleiche Geste löscht jedoch diese Opfer und unzählige prosaische Erinnerungen aus.
Leningrad lebt weiter. Noch immer steht die weltweit erste Lenin-Statue auf dem Lenin-Platz, auch wenn Vandalen vor ein paar Jahren ein großes Loch in seine Rückseite sprengten. Eine andere Lenin-Statue in der Stadt wurde, ebenfalls bei einem Bombenanschlag, fast entzweigerissen. Klügere Bürger wissen, dass Petersburg auch Leningrad ist, dass die beiden irgendwie miteinander auskommen müssen. Leningrad braucht keine Liebe, nicht einmal Respekt, sondern Anerkennung. Wie in so vielen anderen umbenannten Orten auf dieser Welt wirkt das frühere Ich der Stadt mühseliger, aber auch interessanter und mitunter lebendiger als das, was an seine Stelle trat.
Arne ist das Beispiel für einen Ort, der geopfert wurde. Das Dorf auf einer kleinen Halbinsel, die in den Ärmelkanal ragt, wurde 1942 evakuiert. In unmittelbarer Nachbarschaft des Ortes wurde eine Scheinfabrik gebaut, die deutsche Bomber dazu verleiten sollte, ihre tödliche Ladung kurz vor der Royal Navy Cordite Factory abzuwerfen, einer großen Munitionsfabrik einige Kilometer nördlich in Holton Heath.
Solche Scheinanlagen wurden während des Krieges überall in England errichtet. Viele waren deutlich aufwendiger als Arne, denn um die Bomber von den Städten abzulenken, bedurfte es eines komplexeren Vorgehens. Nach einem Luftangriff auf Coventry im November 1940 begann man damit, außerhalb fast aller größeren Stadtgebiete massive Anlagen namens «Starfish» zu bauen, mit deren Hilfe Piloten fälschlicherweise glauben sollten, sie würden direkt über eine brennende Stadt fliegen. Bis Januar 1943 hatte man mehr als 200 solcher Starfish-«Städte» errichtet. In der Anfangszeit wurde tonnenweise willkürlich zusammengetragenes brennbares Material zu diesem Zweck verwendet, doch je länger der Krieg dauerte, desto ausgeklügelter wurden diese Scheineinrichtungen. Man setzte nun auf Stahltanks, Wannen und Rohre, und in regelmäßigen Abständen wurde Benzin ausgegossen, versprüht oder geträufelt – eine wahre Symphonie der Pyrotechnik, die von einem Kontrollbunker aus dirigiert wurde. Die ausgefeilteste (und am hellsten leuchtende) Vorrichtung trug den Namen «Boiler Fire»: Dabei floss immer wieder Öl aus einem Vorratstank in eine erhitzte Wanne aus Stahl, wo es verdampfte. Genauso oft wurde Wasser in die Wanne gegossen, wodurch riesige weiße und sehr heiße Stichflammen entstanden, die bis zu zwölf Meter emporloderten. Gewöhnlich bestand ein Starfish-Ort aus vierzehn solcher «Boiler Fires» und verbrannte alle vier Stunden fünfundzwanzig Tonnen Treibstoff.
Das Starfish-Projekt war ein großer Erfolg, und bis Juni 1944 waren diese Scheinstädte 730 Mal angegriffen worden. Dass die britischen Städte trotz heftigen Bombardements nicht dem Erdboden gleichgemacht wurden, ist zu einem Gutteil diesen Scheinzielen zu verdanken. Indem sie die Spreng- und Brandbomben auf sich lenkten, retteten sie Tausenden von Menschen das Leben. Heute sind davon noch ein paar Kontrollbunker übrig, doch die Schein-Orte sind verschwunden, zurückgesunken in die Landschaft um sie herum.
Die Vorrichtung in Arne bestand aus einem Netz von Teerfässern und Rohren, in denen Kerosin floss; sie ließen sich in Brand setzen, so dass es aus der Luft so aussah, als würden Häuser in Flammen stehen. Die Strategie funktionierte. Während auf Arne Hunderte von Bomben fielen, kam die Fabrik in Holton Heath fast ungeschoren davon.
Heute ist Arne ein friedlicher und wunderschöner Ort. Nach dem Krieg wurde das Dorf dauerhaft aufgegeben und verfiel bis Ende der 1950er Jahre so vor sich hin. 1966 übernahm die Royal Society for the Protection of Birds das Areal und renovierte die noch verbliebenen Gebäude, darunter eine Kirche aus dem 13. Jahrhundert und eine ehemalige viktorianische Schule. Das verlassene Dorf war damit Teil eines Naturparks geworden, der einen Großteil der Halbinsel umfasst. Die Bombenkrater sind zu Rückzugsräumen wilder Natur geworden, und die Geschützstellungen sind vollständig von Gestrüpp überwachsen. Heerscharen von grün gekleideten Vogelbeobachtern entsteigen auf dem Parkplatz ihren Autos, schultern ihre Fernrohre und machen sich auf die Jagd nach seltenen lokalen Arten wie der kleinen Dartford-Grasmücke.
Doch mag die militärische Landschaft auch verschlungen worden sein, so ist sie doch noch lange nicht verdaut: Wenn sich eine so friedliche Landschaft über eine so gewalterfüllte legt, macht einen das ganz nervös. Die sandige, von Blumen übersäte Heide, die Arne dominiert, ist «erhalten» und «geschützt», doch das Gefühl der Verlassenheit ist immer noch da und stört die Sicherheit und Behaglichkeit, die diese Zustandsbeschreibungen implizieren. Die Erinnerung an erbitterte Gewalt und Verlust ist hier durch neue Assoziationen überdeckt, aber dieser Prozess sorgt auch dafür, dass das heutige Arne zerbrechlich und vorläufig wirkt.
Arne ist eines von 250 verlassenen Dörfern in Dorset. Einige sind kaum mehr als mittelalterliche Bodenunebenheiten, doch manche sind erst in jüngerer Vergangenheit aufgegeben worden. Berühmtestes Beispiel aus dem 20. Jahrhundert ist Tyneham, ein Dorf an der Küste von Arne, das 1943 evakuiert wurde, damit die Armee dort echte Schießübungen praktizieren konnte. Im Vorfeld des D-Day wurde ein Großteil dieses Küstenabschnitts zum Truppenübungsplatz erklärt, weil er den Stränden in der Normandie so ähnlich war. In Tyneham hing an der Kirchentür folgender Hinweis: «Wir haben unser Zuhause aufgegeben, wo viele von uns seit Generationen lebten, damit wir den Krieg gewinnen und die Menschen frei bleiben. Eines Tages werden wir zurückkehren und wären Ihnen sehr dankbar, wenn Sie das Dorf sorgsam behandeln.» Doch die Dorfbewohner kamen nie zurück. Heute ist Tyneham eine Ansammlung verfallener Steinhäuser, die sich noch immer innerhalb eines militärischen Schießplatzes befindet und, wie so vieles in diesem Teil von Dorset, von der British Army kontrolliert wird.
Eine archäologische Untersuchung kam vor kurzem zu dem Ergebnis, dass die Scheinvorrichtung von Arne «der landwirtschaftlichen Nutzung überlassen wurde und von der Scheinanlage nichts übrig geblieben ist». Stundenlang streifte ich durch die Felder, Wälder und Schilfgebiete, wo sich die Anlage befunden haben soll, und fand nicht viel, zumindest nicht viel, das ich verstand. Es gab ein paar riesige Bombenkrater und zwei militärische Sperren, die aus den Angeln hingen und von Zaunwinden überwachsen waren, aber ansonsten waren da nur ein paar große Holzpflöcke, eine Menge verfaultes, grünliches Holz und eklig orange gefärbtes Laub. Ich weiß nicht so recht, warum ich der Meinung war, mein amateurhaftes Vorgehen könnte irgendetwas Aufregendes zu Tage fördern, nachdem die Archäologen den Ort doch bereits abgeschrieben hatten. Ich hatte die Vorstellung, das, was so leuchtend und gefährlich gebrannt hatte, müsse irgendwo doch mehr als nur einen Flecken hinterlassen haben. Doch gefunden habe ich nichts weiter als eine undeutliche und schweigende Spur. Meine Anwesenheit störte ein paar Rehe auf, die ins angrenzende Sumpfgebiet davonstoben. Hier war lange Zeit niemand gewesen. Arne ist ein Ort irritierender Stille, Ort eines verschwundenen Dramas. Seine Vergangenheit aus Feuer, Bomben und Evakuierung umgibt die heutige Ruhe mit einem verstörenden Saum. Ich verließ den Wald und gelangte auf einem schmalen Damm durch Röhricht auf eine kleine, felsige Insel, die üppig mit Ginster bewachsen war. Es war ein warmer, sonniger Tag, ich hätte mich hinlegen und dem Vogelgezwitscher lauschen können, aber Arne hatte mich in Verwirrung gestürzt und ruhelos gemacht.
In den letzten zwanzig Jahren wurden gut fünfundneunzig Prozent der Altstadt von Mekka abgerissen. Die Stadt wurde umgebaut zu einer Ansammlung von breiten Straßen, Parkplätzen, Hotelkomplexen und Einkaufszentren. Selbst der englische Name erfuhr ein Upgrade: Die Saudis sprechen jetzt lieber von «Makkah».
Heute wird die Skyline beherrscht vom massiven Gebäude des Makkah Clock Royal Tower Hotel, einem riesigen Big Ben im Sowjetstil, der die heiligsten Stätten des Islam, die Kaaba und die Heilige Moschee, weit überragt. Die arglose Banalität dieses Profanbaus wird, wenn auch eher unfreiwillig, auf der Website des Hotels beschrieben: «Das Wahrzeichen des Gebäudes ist die 40 Meter (130 Fuß) hohe Turmuhr (‹Royal Clock›), die bis auf eine Entfernung von 17 Kilometern (10 Meilen) sichtbar ist und den Muslimen die täglichen Gebetszeiten anzeigt.»
Treibende Kraft hinter dem Bauboom in Mekka ist die Notwendigkeit, neue Unterkünfte und Einrichtungen für mehr als drei Millionen Pilger zu schaffen, die jedes Jahr in die Stadt kommen, aber auch die Hartgesottenheit des saudischen Ikonoklasmus. Seit Jahrhunderten verbietet der Islam die bildliche Darstellung von Menschen oder Tieren, doch die Puritaner des Königreichs haben sich mit den Immobilienentwicklern zusammengetan, um eine viel weitreichendere Agenda umzusetzen, die auf alle alten Gebäude und Monumente abzielt.
Wie in vielen Städten noch immer zu erleben ist, verliert die Welt mit der Entsorgung der Vergangenheit mehr als nur seltene und wundervolle Landschaften. Man beseitigt damit auch die Erinnerungen, Geschichten und Beziehungen, welche die Menschen sozial wie individuell zusammenhalten. Verwandelt man komplexe, von Vielfalt geprägte Orte in oberflächliche, simple Plätze, so macht das die Bevölkerung kulturell verwundbarer, sie wird zu einer wurzellosen Masse, verbunden allein durch die Ideologie, die ihr von oben eingetrichtert wird.
Besonders gut verstanden haben diesen Prozess all die kommunistischen Regime, die in der Vergangenheit ähnliche Massenabrisse vornahmen. In seinem Buch The Destruction of Memory, in dem es um die Politik des städtischen Wiederaufbaus geht, dokumentiert Robert Bevan das fast schon fetischistische Verlangen, Orte niederzureißen, von dem Aufstieg und Festigung des staatlichen Kommunismus begleitet waren. So seien alle Versuche gescheitert, «Mao davon zu überzeugen, das neue Beijing doch unmittelbar neben der alten, heiligen Stadt zu errichten», denn für Mao habe der Wunsch, das Volk nach seinen Vorstellungen zu modellieren, den Tod der alten Stadt verlangt. Um die «Auslöschung der Vergangenheit ging es dabei genauso wie um den Aufbau des Neuen».
Im Rahmen puritanischer Ideologien, seien sie nun politischer oder religiöser Natur, bekommt die Vergangenheit etwas Subversives und Widerspenstiges. Alte Fotos von Mekka zeigen eine labyrinthische Stadt, auf den niedrigen Hügeln verdichten sich haufenweise Höfe, Moscheen und Gassen zu einem Dickicht aus Epochen und Einflüssen. Das wenige, das heute von dieser vielschichtigen Vergangenheit übrig geblieben ist, überlebt nur durch Glück oder weil es zu prominent ist, um einfach abgerissen zu werden. Selbst das wichtigste Gotteshaus im Islam, die Heilige Moschee, hatte man im Visier. Die saudische Abneigung gegenüber alten Gebäuden ist von einem starken religiösen Eiferertum geprägt und richtet sich gegen den physischen Beleg dafür, dass der Islam einst in der Stadt auf unterschiedliche Weise praktiziert wurde. Alle Hinweise darauf, dass das Kalifat der Abbasiden sowie das osmanische Kalifat und das Osmanische Reich hier lange präsent waren, sind fast völlig getilgt, und in den letzten Jahren wurden die alten abbasidischen und osmanischen Teile auf der Ostseite der Heiligen Moschee abgerissen.
Die Website des Makkah Clock Royal Tower Hotel, die offenbar von einer unbeabsichtigten Liebe zum Paradoxen geprägt ist, präsentiert seinen Besuchern die Handvoll Gebäude, welche die Art von Zerstörung, wie sie durch den Bau des Hotels verursacht wurde, überlebt haben, als «unbedingt sehenswert». Und so werden die Gäste dazu animiert, Qasr as-Saqqaf zu besichtigen, «eines der ältesten Gebäude in Mekka, das in idealer Weise die traditionelle Architektur verkörpert». Eine weitere Sehenswürdigkeit ist der Qasr-Khozam-Palast, der, «vor über achtzig Jahren erbaut», offenkundig schon zum altehrwürdigen Baubestand im modernen Mekka zählt.
Doch alles, was aus der Vergangenheit fortlebt, irritiert die Puristen, welche die Stadt vollständig kontrollieren wollen. Apologeten des saudischen Turbo-Ikonoklasmus behaupten, er sei durch und durch religiös begründet. Die oberste religiöse Instanz des Landes, Scheich Abdul-Aziz Ibn Baz, erließ 1994 eine Fatwa, in der es hieß: «Es ist nicht erlaubt, Gebäude und historische Stätten zu verherrlichen. (…) Ein derartiges Tun würde zum Polytheismus führen.» Damit wiederholte der Scheich ein Mantra, das in diesem Land seit gut zweihundert Jahren gilt. 1803 übernahmen die Wahhabiten, also die Glaubensrichtung des Islam, der das saudische Königshaus angehört, die Kontrolle über Mekka und Medina. Sie waren fest entschlossen, die sichtbaren Assoziationen mit anderen, älteren und weniger puritanischen Spielarten des Islam abzureißen. Das richtete sich insbesondere gegen die Mausoleen und Moscheen, die von den Osmanen betrieben und oftmals kunstvoll ausgeschmückt worden waren, darunter auch das Grabmal des Propheten selbst. Der Streit zwischen Osmanen und Wahhabiten darüber, ob man das physische Erbe des Islam verehren oder zerstören sollte, trat in eine neue Phase, als die Osmanen zwischen 1848 und 1860 Mekka und Medina zurückeroberten. Doch am Ende des Jahrhunderts waren die beiden heiligsten Stätten des Islam wieder fest in der Hand der Sekte, die den Respekt gegenüber der Vergangenheit Mekkas als Götzendienerei betrachtete.