Europäische Geschichte
im 20. Jahrhundert
herausgegeben von
Ulrich Herbert
Verlag C. H.Beck
Vorwort
ERSTER TEIL
1898 bis 1923
1. Spanien um 1900: Kolonialverlust, Pessimismus, Regeneration
2. Von der Kolonialkrise zum Systemzusammenbruch
2.1. Das «Desaster von 1898» und die Erneuerungsbewegung
2.2. Das politische System der Restauration
2.3. Restaurationskritik und Regenerationsrhetorik
2.4. Periphere Industrialisierung
2.5. Die Arbeiterbewegung: Anarchismus und Sozialismus
2.6. Die Entstehung ethnischer Nationalismen
2.7. Imperialismus in Marokko und «Tragische Woche» (1909)
2.8. Die Staatskrise (1917–1923)
ZWEITER TEIL
1923 bis 1939
3. Spanien um 1924: Konservativismus, Infrastrukturausbau, Gesellschaftsveränderungen
4. Diktatur – Republik – Bürgerkrieg
4.1. Die Diktatur Primo de Riveras (1923–1930)
4.2. Die Zweite Republik (1931–1936)
4.3. Der Bürgerkrieg (1936–1939)
DRITTER TEIL
1939 bis 1975
5. Die Franco-Ära
5.1. Hungerjahre und Repression
5.2. Der «Neue Staat»: Struktur und Machtträger
5.3. Spaniens «Neutralität» im Zweiten Weltkrieg
5.4. Spanien um 1944: Repression, Korruption, Mangelwirtschaft
5.5. Das Nachkriegsjahrzehnt: Isolierung und Autarkie
5.6. Ein Regime im Wandel: die fünfziger Jahre
5.7. Wirtschaft und Gesellschaft im Umbruch
5.8. Spanien um 1964: Wirtschaftsaufschwung, Konsumorientierung, Protesthaltung
5.9. Die Krise des Franco-Regimes
VIERTER TEIL
1975 bis zur Jahrhundertwende
6. Demokratisierung und Europäisierung
6.1. Erringung und Stabilisierung der Demokratie
6.2. Eine freie Kirche in einem freien Staat
6.3. Dezentralisierung und ethnischer Terrorismus
6.4. Spaniens Rückkehr in supranationale Organisationen
6.5. Wirtschaftskrise, Strukturreformen, sozialistische Modernisierung
6.6. Spanien um 1994: Strukturwandel, Anomie, Modernität
6.7. Die konservativen Regierungsjahre (1996–2004): Kontinuitäten und Brüche
7. Schlussbetrachtung und Ausblick
ANHANG
Siglen- und Abkürzungsverzeichnis
Chronologie
Anmerkungen
Literaturverzeichnis
Personenregister
Karten
Europa ist unsere Gegenwart, aber unsere Geschichte bleibt im Nationalen verwurzelt. Das hat seinen guten Grund, denn persönliche Erfahrungen und gesellschaftliche Traditionen, politische Optionen, kulturelle Orientierung und Alltagsvertrautheit beziehen sich in allen europäischen Ländern, wenn auch in unterschiedlicher Intensität, nach wie vor zuerst auf das Land, aus dem man kommt und in dem man lebt.
Aber offenkundig reicht der nationale Rahmen nicht aus, um die Geschichte des 20. Jahrhunderts zu verstehen, denn wichtige Entwicklungen erweisen sich schon beim zweiten Hinsehen nicht als national spezifische, sondern als gesamteuropäische Phänomene. Wie soll man regionenübergreifende historische Erscheinungen – vom Imperialismus bis zur Europäischen Union, von den großen Diktaturen bis zur Ausbreitung des europäischen Modells der sozialen Demokratie, von den Klassenkonflikten der 1920er bis zur Jugendrebellion der 1960er Jahre und von den Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise bis zum Wirtschaftswunder der 1950er und zum Ölpreisschock der 1970er Jahre – in den Kategorien des Nationalstaats erklären können, wo es sich doch offenkundig eher um gemeinsame Grundprozesse und deren Varianten handelt?
Und doch dominiert in Europa nach wie vor eine Sichtweise, die den Nationalstaat als den vermeintlich natürlichen Aggregatzustand der historischen Entwicklung begreift und sich darum bemüht, nationale Differenzierungen und Sonderwege, Kontingenz und Divergenz als primäre, Konvergenz und Vereinheitlichungen hingegen eher als nachgeordnete Prozesse zu begreifen.
Europa im 20. Jahrhundert hingegen a priori als Einheit zu betrachten und seine Geschichte auch so zu erzählen, ist nicht weniger problematisch. Denn dies transponierte die Vision einer gemeinsamen europäischen Gesellschaft gewissermaßen nach rückwärts, als sei der Nationalstaat lediglich eine Verirrung der vergangenen 150 Jahre gegenüber einer ansonsten im Wesentlichen gemeineuropäischen Erfahrung gewesen. Das vernachlässigte nicht allein die national so extrem unterschiedlichen Entwicklungen, wenn man nur an Jahre wie 1917, 1933 oder 1989 denkt. Es negierte auch die daraus erwachsenen Erfahrungsdifferenzen, die sich nicht nur nach den Kategorien Klasse und Geschlecht, sondern im 20. Jahrhundert in ganz besonderer Weise nach Nationalität und ethnischer Zugehörigkeit ordnen. Tatsächlich sind das 19. und das 20. Jahrhundert in Europa ohne die nationalstaatliche Perspektive nicht entzifferbar.
Um diesem Dilemma zu entkommen, versucht die Reihe «Europäische Geschichte im 20. Jahrhundert» einen anderen Weg: Die Geschichten der europäischen Staaten und Gesellschaften werden je für sich erzählt, aber zugleich im Kontext der europäischen Entwicklung und der globalen Verflechtungen. Um das zu verstärken, haben sich Herausgeber und Autoren auf eine gemeinsame Struktur geeinigt, die allen Bänden in stärkerer oder schwächerer Ausprägung zugrunde liegt: Die politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Entwicklungen werden in klassischer, diachroner Manier erzählt. An einigen, in allen Bänden etwa gleichen Zeitpunkten werden aber Querschnitte eingefügt, die es ermöglichen, Zustand und Zustände in der jeweiligen Gesellschaft synchron darzustellen und dadurch dem Vergleich mit anderen Ländern zu öffnen. Das betrifft die Zeiträume um 1900, Mitte der zwanziger Jahre, im Zweiten Weltkrieg, Mitte der sechziger Jahre und nach 1990. Abweichungen von diesem Raster ergeben sich aus spezifischen Besonderheiten in den einzelnen Ländern.
Auf diese Weise sollen im Konzert der Bände dieser Reihe Differenzen und Ähnlichkeiten, Konvergenzen und Alternativen erkennbar und die Nationalgeschichten aus ihrer Selbstbezogenheit gelöst werden, ohne die Eigendynamik und die spezifischen Traditionen der einzelnen Länder zu vernachlässigen. Bei dem Versuch, nationale Geschichte und europäische Perspektive zu verbinden, wird vielen Lesern das eine oder das andere zu kurz kommen, wie überhaupt das Unterfangen, eine Nationalgeschichte im 20. Jahrhundert in einem Band zu erzählen, einen gewissen Mut erfordert. Aber nur in dieser relativ gedrängten Form ist es möglich, diachrone Entwicklungen zu schildern und Linien durch das Jahrhundert zu zeichnen, die bei erheblich umfangreicheren Bänden angesichts der Vielzahl der Themen und Aspekte nicht erkennbar würden.
Wenn wir vom 20. Jahrhundert sprechen, so in einer spezifischen Weise. Es hat sich vielfach eingebürgert, den Ersten Weltkrieg als Wasserscheide zwischen den Jahrhunderten zu betrachten. Das hat Vorteile, weil dadurch die nachwirkenden Traditionen des «langen» 19. Jahrhunderts besser in Augenschein genommen werden können. Um die Geschichte des 20. Jahrhunderts zu erzählen, ist es aber nötig, die tiefgreifende Veränderungsdynamik der Jahrzehnte zwischen 1890 und 1914 zu berücksichtigen, die jahrzehntelang nachgewirkt hat und in kürzester Zeit eine solche Wucht entfaltete, dass alle europäischen Gesellschaften davon ergriffen und gezwungen wurden, auf diese Herausforderungen zu reagieren. So wird, wer den Aufstieg der Weltanschauungsdiktaturen und die beiden Weltkriege, den Holocaust und die Dekolonialisierung darzustellen und zu erklären hat, vor den Ersten Weltkrieg zurückgehen und die beiden Jahrzehnte vorher betrachten müssen, um die Durchsetzung des modernen Industriekapitalismus, der immer mächtiger werdenden Staatsapparate und den Aufstieg der großen radikalen politischen Massenbewegungen zu verfolgen, die im Laufe des Jahrhunderts eine so zerstörerische Wirkung entfalteten. Daher wird in diesen Bänden die Geschichte des «langen 20. Jahrhunderts» erzählt, die von den 1890er Jahren bis etwa 2000 reicht – wobei der Ausgangspunkt klarer ist als das Ende.
Schließlich hat Autoren und Herausgeber die Frage bewegt, wie man die so verschiedenen beiden Hälften des Jahrhunderts miteinander auf eine Weise verbinden kann, dass die Zusammenhänge zwischen beiden erkennbar werden, ohne den tiefen Einschnitt von 1945 zu relativieren. Hier sind die Unterschiede zwischen den einzelnen Gesellschaften unübersehbar. Aber zugleich lässt sich doch angesichts der vielfältigen politischen Entwürfe und radikalen Alternativen über Jahrzehnte hinweg das Bemühen der Zeitgenossen erkennen, gesellschaftliche Ordnungssysteme zu finden, die den Herausforderungen der modernen Industriegesellschaft angemessen sind. Das hat zu monströsen Gebilden und schrecklichen Opfern geführt.
Aber man kann doch auch erkennen, dass auf viele Herausforderungen, die sich in den beiden Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg so scharf herausgebildet hatten, in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg allmählich Antworten gefunden wurden, die sich bewährten und vermehrt auf Zustimmung stießen. Das betraf sowohl die Ausprägung der politischen Ordnung im Innern wie zwischen den europäischen Staaten, das Verhältnis von wirtschaftlicher Dynamik und sozialer Gerechtigkeit oder den Umgang mit der modernen Massenkultur. Dabei wurden die westeuropäischen Gesellschaften nach den 1960er Jahren einander immer ähnlicher, und zwar in Bezug auf das politische System, die soziale Ordnung, die kulturellen Wertorientierungen ebenso wie hinsichtlich der Wirtschaftsordnung und des Alltagslebens. Solche Tendenzen gab es in Ansätzen in den ostmitteleuropäischen Ländern auch schon während der kommunistischen Herrschaft, und nach 1990 begannen sie sich rasch durchzusetzen. Mit diesen Tendenzen der Konvergenz und Homogenisierung der gesellschaftlichen Ordnungen in Europa, deren Bedeutung in historischer Perspektive deutlicher zu erkennen ist als zeitgenössisch, wuchs aber vielfach auch das Bedürfnis nach Differenz und nach Orientierung an der nationalen Geschichte.
Zugleich aber wurde nach der «goldenen Ära» der 1950er und 1960er Jahre die Brüchigkeit des industriellen Fundaments dieser Gesellschaften sichtbar, und neue Herausforderungen kündigten sich an, die unsere Gegenwart und vermutlich in noch stärkerem Maße unsere Zukunft bestimmen: das Ende der traditionellen Massenfertigungsindustrien, die ökologischen Krisen, die Ausprägung und Folgen der weltweiten Massenmigration, die neuen weltweiten ideologischen Konflikte nach dem Ende des Kalten Krieges, die zunehmende Bedeutung supranationaler Zusammenschlüsse und die globale Vernetzung wirtschaftlichen Handelns.
Soweit man es von heute erkennen kann, werden die Jahre 2000 oder 2001 keine markanten historischen Zäsuren bilden. Aber es wird doch sichtbar, dass im letzten Fünftel des 20. Jahrhunderts etwas zu Ende ging, was 100 Jahre zuvor begonnen hatte, und etwas Neues einsetzte, das wir bislang weder definieren noch historisieren können.
Ulrich Herbert
Das 20. Jahrhundert begann für Spanien schlecht. 1898 waren im Krieg gegen die USA mit Kuba, Puerto Rico und den Philippinen die letzten Kolonien in Übersee verlorengegangen, das Land war auf sich selbst zurückgeworfen, der Traum vom Weltimperium zu Ende. Damit sollte zugleich das ungelöste «Problem Spanien» wieder voll aufbrechen. Wohl kein zweites Ereignis wirkte sich auf die Restaurationsmonarchie und – in einem umfassenderen Sinne – auf die weitere Geschichte Spaniens im 20. Jahrhundert nachhaltiger aus als der Verlust dieser letzten Kolonien. Bis heute werden in der spanischen Historiographie jene Ereignisse als das «Desaster von 1898» bezeichnet. Es ging dabei keineswegs nur um das Ende Spaniens als Kolonialmacht; der koloniale Niedergang wurde vielmehr bereits von Zeitgenossen als Zusammenbruch des Restaurationssystems, von vielen Systemvertretern gar als eine Art finis Hispaniae gedeutet; die vielzitierte spanische «Dekadenz» und der «Verlust der Größe Spaniens» erhielten in der Kriegsniederlage von 1898 ihren symbolhaften Ausdruck. Schlagartig wurde Intellektuellen und Politikern deutlich, dass das Land an einem Tiefpunkt angelangt war und politisch ebenso wie geistig und moralisch grundlegende Änderungen vorgenommen werden mussten. Dabei wurde von vielen Beobachtern schnell ein Zusammenhang zwischen den historisch, kulturell und religiös bedingten Unterschieden in der Einstellung zu modernen Werten, zu Rationalität und Fortschritt auf der einen Seite und dem Zusammenbruch des «Weltreiches» auf der anderen Seite hergestellt und als Aufeinanderprallen der angelsächsisch-germanischen mit der lateinischromanischen «Rasse» gedeutet, wobei letztere materiell und geistig dem «nördlichen» Zivilisationskreis unterlegen sei, möglicherweise der «Fähigkeit zur Moderne» gänzlich entbehre. Die Kirche hatte übrigens sehr schnell eine alternative Interpretation für die spanische Niederlage gegen die USA parat: Sie sei im Wesentlichen als göttliche Strafe für die Ausschweifungen des spanischen Volkes und dessen gottlosen Lebenswandel zu interpretieren. Die Hauptschuld liege beim Liberalismus, der von der Kirche als Sünde verurteilt wurde.
Die Kirche hatte durchaus Anlass zur Klage und Sorge. Als zwischen 1890 und 1918 kirchliche «Missionare» durch Andalusien zogen, waren sie zutiefst erschüttert von dem, was sie sahen und erlebten. Den Süden Spaniens bezeichneten sie als einen «Atlas der Entchristlichung»; in den ländlichen Regionen der Provinz Sevilla wurden die Missionare mit Steinen vertrieben.[1] In den Diözesen Cuenca, Toledo und Ciudad Real lag der Gottesdienstbesuch bei fünf Prozent der erwachsenen Bevölkerung. In Katalonien ging der Prozentsatz der Kinder, die entsprechend den kirchlichen Vorschriften in der ersten Woche nach der Geburt getauft wurden, von 30 Prozent im Jahr 1900 auf 15 Prozent zwanzig Jahre später zurück.[2]
An der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert war im kirchlichen Bereich ein Phänomen zu konstatieren, das hundert Jahre später viel akuter auftreten sollte: die Diskrepanz zwischen äußerem Schein und tatsächlichem Zustand. Symptomatisch für das selbstbewusste Auftreten einer innerlich längst in die Krise geratenen Kirche war etwa das katholische Pressewesen. Die katholische Presse war nämlich in der Restaurationsära ein durchaus bedeutender Faktor. 1891 war ein «Presse-Apostolat» geschaffen worden. Damals gab es bereits 248 katholische Organe, 35 davon erschienen täglich; 1910 gab es 400 (64 davon täglich) und 1913 sogar schon 750. Im Jahr 1908 wurde eine katholische Presse-Agentur (Prensa Asociada) eröffnet. Allerdings gingen diese Bemühungen damals schon an einem Großteil der Arbeiterschichten vorbei.
Die spanische Presse hatte zwischen 1895 und 1898 aus den Kämpfen auf Kuba eine Verteidigung der nationalen Ehre gemacht. Die patriotischen Aufrufe häuften sich. Als schließlich der Krieg im April 1898 zwischen Spanien und Kuba auf die USA ausgeweitet wurde, durchlief Spanien endgültig eine Woge der patriotischen Euphorie. Ein volkstümliches Lied besagte: «Sie haben viele Schiffe, wir aber Recht. Sie haben Waffen, wir Ehre.» Die Kriegsbegeisterung kannte keine Grenzen. Der Triumphalismus der Massenpresse ließ die Spanier in dem wahnwitzigen Irrglauben, sie könnten den Krieg gegen die USA gewinnen. Megalomanie und Demagogie griffen um sich. Die US-Amerikaner wurden in den Zeitungen mit hämischen Zoten überschüttet und verachtungsvoll als Schweine karikiert, die man nicht ernst zu nehmen brauche. Die in ihrem Stolz verletzten Spanier würden «bis auf den letzten Mann» um die «territoriale Integrität» kämpfen. Der größte Teil der Presse gefiel sich in enthusiastischen Aufrufen. Nur einige Arbeiterzeitungen machten Ausnahmen. Unter Verweis auf das ungerechte Rekrutierungssystem forderten sie: «Alle oder keiner» (O todos o nadie) sollten nach Kuba ziehen, oder noch direkter: «Die Reichen sollen in den Krieg ziehen» (Que vayan los ricos).
Spanien musste schon während des Kubakrieges wiederholt feststellen, dass das Land in Europa isoliert war. Kein einziger europäischer Staat war bereit, sich in irgendeiner Weise in diesem Kolonialkonflikt zu engagieren. Und eigentlich hätten die Politiker bemerken müssen, wie wenig Begeisterung die Aussicht, in den Kolonialkrieg geschickt zu werden, in der Masse der Bevölkerung hervorrief. Die Praxis der Wehrdienstrekrutierung spricht Bände: Formal herrschte in Spanien seit 1837 die allgemeine Wehrpflicht. Allerdings konnte man sich davon freikaufen oder einen Stellvertreter schicken; beides war teuer und nur von den Bessergestellten zu leisten. Zeitgenössische Berichte lassen erkennen, wie sich selbst ärmere Familien hoch verschuldeten, nur um ihren Sohn vom Kriegsdienst freizukaufen. Bezeichnenderweise kamen die meisten «Freigekauften» aus den entwickelteren und somit wohlhabenderen Regionen des Landes: aus Katalonien, dem Baskenland, Madrid; der Dienst an der Waffe musste schließlich vor allem von den ärmeren, aus ländlichen Gegenden stammenden Rekruten abgeleistet werden. Die hohe Auswanderungsrate aus Galicien und Asturien nach Lateinamerika im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts dürfte auch mit der Absicht zusammengehangen haben, dem Kriegsdienst ausweichen zu können. Lag der Prozentsatz derer, die den Dienst an der Waffe umgingen, 1895 (zu Beginn des zweiten Kubakrieges) noch bei 2,7 Prozent, so war er bis 1899 auf 5,6 Prozent und 1908 (als der Marokkokrieg in Nordafrika begann) schon auf 10,5 Prozent gestiegen. 1912 wurde das System umgestellt, fortan konnte der dreijährige Dienst durch Barzahlung drastisch auf einige Monate reduziert werden. 1914 machten bereits 22,1 Prozent der Wehrpflichtigen von dieser Möglichkeit Gebrauch.[3]
Als die Nachrichten von den spanischen Niederlagen in den Seeschlachten von Cavite (Philippinen) und Santiago (Kuba) in Spanien eintrafen, änderte sich der Tenor in der Presse schlagartig. Sie stürzte sich, geradezu entfesselt, auf die Politiker und das System der Restauration, das vielfach verteufelt und beschuldigt wurde, am «Desaster» schuld zu sein. Die meisten Intellektuellen hielten damals ihr Land für «schwach», «dekadent», «krank», «ohne Puls» (Silvela), «rückgratlos» (Ortega y Gasset), «zurückgeblieben». Unabhängig davon, ob wirtschaftliche, kulturelle, soziale oder intellektuelle Indikatoren zugrunde gelegt würden: Spanien befinde sich – so ihr Fazit – am Rande der Modernität Europas.
Neo-darwinistische Überzeugungen von der Existenz «agonischer Rassen» (Ramiro de Maeztu), zu denen die spanische gehörte, machten allenthalben die Runde. Der Regenerationist Joaquίn Costa verstärkte diese Überzeugung noch, als er von der «senilen Passivität» des spanischen Volkes sprach. Die in Deutschland und Großbritannien grassierenden Vorstellungen von «lebendigen» und «absterbenden» Nationen wurden nach den militärischen Niederlagen zur See von der spanischen Presse massenhaft übernommen; Fatalismus und biologistische Untergangsszenarien waren allenthalben anzutreffen.
Der letzte Kolonialkrieg des 19. Jahrhunderts kostete Spanien Unsummen und verlangte dem Land hohe Menschenopfer ab. Die reinen Kriegskosten beliefen sich auf über 1,5 Milliarden Peseten. Von den mehr als 200.000 nach Kuba entsandten Soldaten starben im Kampf circa 5000, an tropischen Krankheiten allerdings rund 59.000. Die Kriegsmarine war praktisch total zerstört. Hinzu kam der Verlust der Kolonialterritorien. Zur weit verbreiteten Frustration gesellte sich ein Gefühl der Lächerlichkeit, sich vor der ganzen Welt blamiert zu haben. Was in den vorhergehenden Jahrzehnten allerdings stetig zugenommen hatte, war das Offizierskorps. Die verschiedenen Kolonialkriege, die Karlistenkriege und die wiederholten Militärputsche und Staatsstreiche ließen im 19. Jahrhundert das Offizierskorps nämlich weit überdurchschnittlich anschwellen. Hatte es 1864 «nur» 6100 Offiziere gegeben, so waren es 1900 schon 13.000! Damals kam ein Offizier auf neun Soldaten, während dieses Verhältnis in Österreich-Ungarn 1:17, in Frankreich 1:20 und in Deutschland 1:24 betrug. Zugleich schotteten sich die Offiziere immer deutlicher von der Gesellschaft ab und entwickelten eine korporativistische Mentalität. Nicht nur das Offizierskorps wurde quantitativ aufgestockt, sondern ebenso die Zivilgarde, die Guardia Civil. In der Restaurationsära erfolgte nämlich zum ersten Mal in der spanischen Geschichte die systematische Zentralisierung des Staates. Gehörten der Zivilgarde kurz nach ihrer Gründung 1846 erst 7135 Mann an, so waren es zu Beginn der Restauration (1875) schon knapp 15.000 und kurz vor der Jahrhundertwende über 19.000. Die Zivilgarde brachte den Zentralstaat bis in die entferntesten Teile des Landes, sie nahm Polizeifunktionen wahr und ersetzte allmählich die fragmentierten Sicherheitskräfte und die Landpolizei des Ancien Régime.[4]
Sofort nach 1898 setzte ein weitverbreitetes Lamentieren ein, eine Art existentielle Niedergeschlagenheit. Die Intellektuellen analysierten den miserablen Zustand des Landes und unterbreiteten alle möglichen Verbesserungsvorschläge. Ricardo Macías Picavea veröffentlichte «Das nationale Problem» (El problema nacional), Damián Isern «Vom nationalen Desaster und seinen Gründen» (Del desastre nacional y sus causas), und schon 1890 hatte Lucas Mallada «Die Übel des Vaterlandes» (Los males de la patria) publiziert. Diese und viele andere Werke, die alle um die Jahrhundertwende erschienen, prangerten die Mängel des Systems im politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Bereich an. Joaquín Costa, Basilio Paraíso und Santiago Alba riefen im Jahr 1900 die «Nationale Union» (Unión Nacional) als Vertretung der «aktiven Klassen des Landes» ins Leben, um ein anspruchsvolles Reformprogramm durchzusetzen.
Die katastrophale Niederlage von 1898 zeitigte aber keine politischmoralischen Folgen. Es gab keine «Bewältigung» der Kriegsverantwortlichkeiten. Dieselbe politische Klasse, die vor dem und im Krieg weitestreichende Fehlentscheidungen getroffen hatte, blieb auch nach dem Krieg an den Schalthebeln der Macht. Die Rede war von «Kollektivverantwortung», um eine Diskussion der Verantwortung einzelner Akteure zu vermeiden. Allerdings blieb nicht unbemerkt, in welch erbärmlichem Zustand die Soldaten aus Kuba zurückkehrten und wie verantwortungslos Politiker und Offiziere gehandelt hatten. Beiden Gruppen gegenüber blieb in der Masse des Volkes tiefes Misstrauen bestehen, pazifistische Strömungen griffen um sich. Ohnehin hatte das einfache Volk sich nicht mit dem Hurra-Patriotismus der Kolonialisten identifiziert. Als etwa in Madrid die Nachricht von der Niederlage der Flotte vor Cavite eintraf, hielt die Meldung die Hauptstadtbevölkerung nicht davon ab, ihren Abendvergnügungen weiter nachzugehen. Und als das gesamte Ausmaß des «Desasters» Ende 1898 bekannt war, schien die überwiegende Anzahl der Spanier davon nicht betroffen zu sein.
Ebenfalls nicht besonders betroffen war – von einzelnen Sparten abgesehen –, trotz des allgemeinen Untergang-Diskurses, die Wirtschaft. Die Jahrzehnte vor dem Ersten Weltkrieg sahen vielmehr eine lange Phase des Wachstums: Allein zwischen 1876 und 1914 stieg das Bruttoinlandsprodukt um 60 Prozent; die staatlichen Institutionen konsolidierten sich. Spanien blieb bis 1914 das bedeutendste Weinexportland Europas. Dass nach und nach die Modernität um sich griff, ließ sich an einzelnen Erscheinungen festmachen: Im Jahr 1900 etwa wurden die ersten drei Automobile in Spanien angemeldet. Am Ostersonntag jenes Jahres wurde in Madrid die elektrifizierte Straßenbahnlinie vom Cibeles-Platz zur Stierkampfarena eingeweiht. Ein neues Gesetz legte fest, dass die Hinrichtungen der zum Tode Verurteilten fortan nicht mehr öffentlich stattfinden sollten. Allmählich bildete sich eine Staatsverwaltung im Sinne von Max Weber heraus, die gegenüber einzelnen Regierungen neutral war und sich auf Leistung gründete. In den letzten beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts lassen sich außerdem verstärkt familiäre Allianzen zwischen dem Altadel und der neuen städtischen Geldelite feststellen. Diese Fusion zwischen neuem «Wirtschaftskapital» und altem «Sozialkapital» führte in vielen Fällen zur Akkumulation fabelhafter Reichtümer in Familien, die auf dieser Grundlage ihre Geschäfte im 20. Jahrhundert fortführen und ausdehnen konnten.
Was Ende des Jahrhunderts durchaus in die Krise geriet, war die (katalanische) Textilindustrie. Denn mit dem Verlust des letzten einträglichen Kolonialmarktes Kuba stand für den Verkauf ihrer Produkte nur noch der Binnenmarkt zur Verfügung, und der reichte bei Weitem nicht aus. Jetzt rächte es sich, dass die Industrie im Schutze der protektionistischen Zollgesetzgebung sich nicht bemüht hatte, international konkurrenzfähig zu werden. Erst anderthalb Jahrzehnte später, in der außergewöhnlichen Situation des Ersten Weltkriegs, sollte die Textilindustrie vorübergehend wieder einen beachtlichen Aufschwung erleben.
Das intellektuelle Klima aber hatte sich schlagartig geändert: Ließ sich um die Jahrhundertwende in manchen europäischen Ländern ein Gefühl der Ungewissheit und der Orientierungslosigkeit feststellen, so war dies in Spanien nach der Niederlage von 1898 noch weit stärker der Fall. Hier kann man von Pessimismus als Grundton der Zeit sprechen. Ein weitverbreitetes Gefühl bevorstehender Krisen wandte sich gegen den in den vergangenen Jahrzehnten obwaltenden Positivismus und die «Verwissenschaftlichung» des Lebens. Die Krise der Jahrhundertwende manifestierte sich in Spanien vor allem im Bewusstsein der Dekadenz und des Niedergangs.
Am 1. Januar 1899 wurde zum letzten Mal die spanische Flagge auf Kuba gehisst. Wenige Tage später wurde in Madrid das Überseeministerium abgeschafft, es war überflüssig geworden. Eine Liquidationskommission verkaufte an Deutschland die Spanien noch verbliebenen Archipele der Karolinen, Marianen und Palaos. Spanien verfiel in eine Art Totenstarre. Der Regenerationist Joaquín Costa urteilte, Spanien sei fortan nur noch ein «historischer Ausdruck». Hispania fuit, Titel eines vielgelesenen Buches der Zeit, klang wie die Inschrift auf dem Grabstein der Nation.
Das Erwachen aus dem imperialen Traum setzte jedoch zugleich ungeahnte Energien frei und löste eine gewaltige intellektuelle Bewegung aus, die teils geistig-literarisch, teils politisch-reformerisch orientiert war. Philosophen und Schriftsteller (Unamuno, Azorín, Maeztu, Machado, Baroja, Ganivet) sahen Spanien in einer tiefen Krise, aus der entweder die Rückbesinnung auf das in Kastilien erblickte «wahre Wesen» oder die «Europäisierung» des Landes herausführen konnten. Die nationale Hoffnungslosigkeit der «Generation von 1898» (La generación del 98) führte allerdings zu den unterschiedlichsten Zukunftsvisionen, Zielprojektionen und politischen «Ratschlägen». Im Spannungsfeld zwischen Regeneration durch Besinnung auf die eigenen Werte oder durch eine kritische Öffnung nach Europa lassen sich Widersprüche und Gemeinsamkeiten der «98er» erfassen.
Für die Generation von 1898 gilt, dass die jeweilige Ausrichtung ihrer nationalen Selbstbesinnung und Selbstkritik von ihrem Verhältnis zu Europa abhängig war, dass Europa zumeist den Maßstab allen Handelns und Denkens setzte. Dabei kommt die Zerrissenheit des Landes sowohl in Anbetracht der Katastrophe von 1898 als auch im Hinblick auf die Europa gegenüber einzunehmende Haltung in den extrem voneinander abweichenden Stellungnahmen der 98er zum Ausdruck: sei es im antieuropäisch-isolationistischen Konzept eines Angel Ganivet oder in der frühen Europabegeisterung eines Ramiro de Maeztu, sei es im Schwanken Miguel de Unamunos zwischen Europäisierung Spaniens und Hispanisierung Europas, sei es schließlich etwas später in den differierenden politischen Stellungnahmen im Ersten Weltkrieg.
Im politischen Bereich übte das Jahr 1898 eine katalytische Wirkung aus. Von vielen Seiten wurde im Gefolge der fin de siècle-Stimmung die Forderung nach Revision und «Erneuerung» erhoben; eine regelrechte «Regenerationsbewegung» (regeneracionismo) griff um sich.[5] Die von der liberalen philosophischen Bewegung des krausismo beeinflussten Intellektuellen und Politiker – der krausismo ging auf den von Kant beeinflussten Karl Friedrich Krause zurück – wiesen auf die katastrophalen Missstände im Lande hin. Im Mittelpunkt der öffentlichen Kritik standen das korrupte politische System, die außenpolitische Ohnmacht, die völlig unzureichende Wirtschafts- und Sozialverfassung, die desolate Infrastruktur, die drückende kulturelle Agonie des Landes. Der führende geistige Vertreter der aus der Krise von 1898 hervorgegangenen Regenerationsbewegung war Joaquín Costa (1846–1911), der zur Heilung der spanischen Krankheiten einen «eisernen Chirurgen» forderte (und deshalb mitunter als Vorläufer faschistischen Gedankenguts bezeichnet wird). Die hohle Rhetorik der Restauration müsse beendet und durch «praktische Realisierungen» ersetzt werden; hierzu gehörten technische Schulen, Produktionsgenossenschaften, Wiederaufforstungs- und Bewässerungsprojekte, Verteilung brachliegender Ländereien an Bauern, Zerschlagung des Kazikentums – des lokalen Patronagesystems –, eine allgemeine Grundschulausbildung und das Ende der imperialistischen Abenteuer in Afrika. Die Vorstellungen der Regenerationisten sollten erst Jahrzehnte später erfüllt werden: Die öffentliche Infrastruktur wurde (zumindest ansatzweise) in den zwanziger Jahren, während der Diktatur Primo de Riveras, hergestellt; die Forderung nach einer gründlichen Bildungsreform wurde in der Zweiten Republik der dreißiger Jahre wieder aufgegriffen; die Forderung nach Industrialisierung realisierte sich im Franquismus der sechziger Jahre; die Europäisierung setzte sich in der Demokratie der achtziger Jahre durch. Die Modernisierungsziele des Jahrhundertbeginns wurden also erst ein Jahrhundert später erreicht.
Joaquín Costa strebte eine «Wiederherstellung und Europäisierung Spaniens» an; er war bestrebt, die Tendenz zur «Afrikanisierung» umzukehren, durch die Spanien sich immer weiter von Europa abkehre. Die Staatsausgaben für die Europäisierung – und das hieß für Costa: für eine infrastrukturelle Modernisierung des Landes und eine Erhöhung der Produktivität – sollten angehoben, die Rüstungsausgaben gesenkt werden. Der Kampf sei nicht gegen einen äußeren Feind, sondern gegen Armut, Rückständigkeit und Bildungsnotstand zu führen: «Versperrt das Grab des Cid mit einem dreifachen Schloss», lautete seine Forderung gegenüber jenen Kräften, die rückwärtsgewandt stets die vergangene Größe beschworen und nichts zur Bewältigung der Gegenwartsprobleme beitrugen. Costa sah eine schicksalhafte Verknüpfung von nationaler «Wiederherstellung» (reconstitución) und Europäisierung Spaniens: «Spanier sind wir, ja – aber Europäer? […] Mit einer Landwirtschaft wie in der Sahara, Schulen wie in Kabylien und Karikaturen von Universitäten; von der Beteiligung an der zeitgenössischen Wissenschaft und an der Geschichte so weit entfernt wie der unbekannteste Stamm Zentralafrikas; […] unter einem mit europäischem Namen aufgeputzten Bonzenregime; […] mit dem Makel der Minderwertigkeit auf der Stirn, dazu verurteilt, Engländer, Franzosen, Schweizer, Deutsche, Belgier […] um ihre Freiheit, ihren Wohlstand, ihre Gerichte, ihre Schulen, ihre Wohlfahrtseinrichtungen, ihren Fortschritt, ihre Kultur zu beneiden; […] der Welt zum Gespött, […] mit einem geistigen und physischen Horizont, der mit jeder Stunde enger wird […] Spanien soll in seiner Geschichte neue Wege einschlagen, nicht wie bisher nach Afrika, sondern in Richtung Europa, und wenn es das nicht kann oder nicht will, soll die Geschichte Spaniens aufhören: alles, nur nicht so weitermachen wie bisher!»[6]
Die ersten Haushalte nach 1898 sahen Einsparungen vor, um das problematische Staatsdefizit zu verringern. Gesetzesprojekte betrafen eine Steuerreform (gegen die sich die Katalanen wandten) und Sozialgesetze (die Arbeitsunfällen vorbeugen sollten sowie Frauen- und Kinderarbeit regelten), Dezentralisierung in der Verwaltung, Universitätsautonomie und Energiepolitik. Der konservative Antonio Maura (Regierungschef 1903/04, 1907–1909) forderte eine «echte Revolution von oben»: «Ich habe gesagt und wiederhole, dass ganz Spanien eine Revolution von der Regierung aus braucht; wenn sie nicht von der Regierung aus gemacht wird, wird sie ein gewaltiger Umsturz herbeiführen; ich nenne nämlich Revolution die von der Regierung durchgeführte Reform – und zwar radikal, schnell, brutal, so brutal, dass es ausreicht, damit selbst die Unachtsamen es mitbekommen und niemand sich fernhalten kann.»[7]
Die Kritik am «Desaster» von 1898 richtete sich nicht gegen die Militärs, sondern gegen die Politiker und die Institutionen der Restaurationsmonarchie. Immer weitere Kreise forderten eine Abwendung vom Kazikentum und ein politisches System, das tatsächlich und nicht nur formal repräsentativ sein müsse. Antonio Maura war zwar der bedeutendste politische Repräsentant der «Erneuerungsbewegung», zugleich die beeindruckendste Persönlichkeit des Konservativismus in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts; er wollte das «offizielle» dem «realen» Spanien annähern, die «neutralen Massen» an die Politik heranführen. Doch konnte sich Maura bei wichtigen Reformvorhaben nicht durchsetzen. Die regenerationistische «Revolution von oben» scheiterte – keineswegs nur, wie seine Verteidiger bis heute behaupten, am uneinsichtigen Widerstand der politischen Gegner, sondern vor allem deshalb, weil der Erneuerungsversuch auf die rein politische Ebene beschränkt bleiben sollte, ohne eine grundlegende Reform der sozialen Strukturen und des darauf aufbauenden Kazikentums vorzusehen, somit ohne die Masse der Bevölkerung einzubeziehen. «Ehrliche Wahlen» und «saubere Politik» nach den klassischen Spielregeln des demokratischen Parlamentarismus waren jedoch – dies wollte oder konnte der sozial konservative Maura nicht sehen – ohne eine Veränderung der gesellschaftlichen Machtverhältnisse nicht durchführbar.[8]
So wie viele 98er aus hemmungslosen Kämpfern gegen die altspanischen Traditionen einige Jahrzehnte später deren blindeste Panegyriker und zugleich strikte Gegner jeglicher Europäisierung wurden, so erlahmte schließlich auch der regenerationistische Impuls; die von den Regenerationisten geforderten politischen und sozialen Reformen blieben bald im oligarchischen Sumpf des Restaurationssystems stecken. Zu den Erben der 98er Generation gehörte José Ortega y Gasset (1883–1955), der wie kaum ein zweiter Spanier im 20. Jahrhundert die «Europäisierung» Spaniens und den Anschluss des Landes an den «Fortschritt» Westeuropas, somit ein Ende des Sonderwegs gefordert hat. Gründe für diese Forderung gab es, Ortega y Gasset zufolge, mehr als genug, war er doch der Meinung: «Die ganze Geschichte Spaniens […] ist die Geschichte einer Dekadenz gewesen.» Insbesondere die letzten drei Jahrhunderte seien nur «Schlaf, Verblödung, Egoismus» gewesen.[9] 1914 hielt Ortega y Gasset seinen berühmten Vortrag «Alte und neue Politik», in dem er ein «vitales, aufrichtiges, rechtschaffenes» Spanien einem «offiziellen Spanien» gegenüberstellte, «das darauf beharrt, die Gesten eines abgeschlossenen Zeitalters zu verlängern».[10] Dabei prophezeite er: «Ein ganzes Spanien – mit seinen Regierenden und Regierten –, mit seinen Missbräuchen und Bräuchen, liegt im Sterben.»[11]
Angel Ganivet (1865–1898) kann als unmittelbarer Vorläufer der 98er gelten, der als weitgereister Diplomat den materiellen Aufschwung in West- und Mitteleuropa kennengelernt hatte und den wirtschaftlichen Rückstand Spaniens als besonders quälend empfand. In seinem Essay Idearium español von 1897 unternahm er einen grundsätzlichen Versuch der spanischen Selbstdeutung; als Hauptsymptom der «spanischen Krankheit» diagnostizierte er die Willensschwäche. Sein Therapievorschlag war eine «heilsame» Selbstisolierung, die in dem Motto gipfelte: Noli foras ire; in interiore Hispaniae habitat veritas. Das antieuropäisch-isolationistische Konzept erhielt seine Begründung in der Gegenüberstellung der «Länder des utilitaristischen Fortschritts» mit der (in der Gestalt Don Quijotes personifizierten) ewigen Substanz des spanischen Geistes: «So wie ich glaube, dass uns viele Völker Europas überlegen sind, wenn es um Abenteuer im Bereich der materiellen Herrschaft geht, glaube ich auch, dass es für die geistige Schöpfung keines mit so geläuterten natürlichen Fähigkeiten wie den unseren gibt.»[12]
Die geradezu entgegengesetzte Position nahm Ramiro de Maeztu (1875–1936) in seinem Frühwerk Hacia otra España aus dem Jahr 1899 ein, in dem er die Industrialisierung als Triebkraft für den erforderlichen Aufschwung bezeichnete. Die Spanier müssten lernen, mit Maschinen, Geld und Fabriken umzugehen, nur dann könnten sie Europäer werden. Maeztu plädierte dafür, die eigene Geschichte zu vergessen und sich ganz auf die europäische Zukunft zu konzentrieren; Europäisierung bedeutete für ihn Fortschritt, Wissenschaft, Technik, Wirtschaft. In verschiedenen Phasen seines Lebens personifizierten sich in Maeztu die von den 98ern eingenommenen Extrempositionen: Hatte er sich 1899 noch für den Sozialismus ausgesprochen, so wurde er mit seinem späten Essay Defensa de la Hispanidad aus dem Jahr 1934 zum Verfechter eines traditionalistischen Geschichtsbildes und einer Restauration der katholischen Erbmonarchie, schließlich zu einem Apologeten und ideologischen Wegbereiter des Faschismus.
Auch Miguel de Unamuno (1864–1936), der wohl bedeutendste 98er, vereinigte in seiner Person alle Widersprüche und Extreme der Generation. In der noch aus seiner sozialistischen Frühphase stammenden Essayfolge En torno al casticismo aus dem Jahr 1895 – also noch vor dem Schock des Kolonialverlustes – präsentierte sich der «Excitator Hispaniae» (Ernst Robert Curtius) als überzeugter Verfechter einer Hinwendung zu Europa; die Wiedergenesung Spaniens könne nur durch Öffnung erfolgen. Die geistige Misere Spaniens rühre von der Isolierung her, in die das «inquisitorisch-protektionistische» Verhalten das Land gebracht habe. Sein Programm für die Regenerierung Spaniens lautete damals: «Spanien muss noch entdeckt werden, und nur europäisierte Spanier werden es entdecken […] Wir müssen uns europäisieren und mit dem Kopf vorweg ins Volk springen.»[13] Nachdem Unamuno eine religiöse Krise durchlaufen hatte und der Schock von 1898 über ihn hereingebrochen war, folgte eine Phase skeptischer Einschätzung des möglichen europäischen Beitrags zur Regenerierung Spaniens. 1898 brachte er seine fortschrittsfeindliche Haltung und seine aus Sehnsucht nach dem christlichen Mittelalter entsprungene Zivilisationsflucht deutlich zum Ausdruck:
«Leben die Staatsbürger, die sich einer großen historischen Nation bewusst sind, besser und in größerem inneren Frieden als die Bauern in irgendeinem vergessenen Winkel? Ist der Bauer aus Toboso, der dort geboren wird, lebt und stirbt, weniger glücklich als der Arbeiter aus New York? Verflucht sei der Gewinn durch einen Fortschritt, der uns dazu zwingt, uns an dem Geschäft, an der Arbeit und an der Wissenschaft zu berauschen, um nicht die Stimme der ewigen Weisheit zu hören, welche die ‹Vanitas vanitatum› wiederholt! Dieses robuste und gesund neuerungsfeindliche Volk weiß, dass es nichts Neues unter der Sonne gibt. Dass es rückschrittlich ist? Na und? Sollen doch die anderen laufen und am Ende stehenbleiben!»[14]
Ihren definitiven Ausdruck fand die Abkehr Unamunos von Europa in seinem Essay Sobre la europeización aus dem Jahr 1906. Hatte er sich zuvor schon abschätzig über die dekadente Bourgeoisie und den aggressiven bürgerlichen Kapitalismus geäußert, so bezog er nun eine klar europakritische und kulturpessimistische Haltung, warnte vor Überfremdung und plädierte für die Besinnung auf die eigenen Kräfte. Den Begriffen «europäisch» und «modern», Wissenschaft und Vernunft setzte Unamuno «unsere alte afrikanische Weisheit», Religion und Glauben sowie «profunde Wahrheit» entgegen; Letztere wurde durch Begriffe wie Gefühl, Leidenschaft, Herz, Seele und Tod erläutert und zugleich überhöht.[15] Bernhard Schmidt hat darauf hingewiesen, dass Unamuno in derart dichotomischen Gegenüberstellungen das Europaressentiment des spanischen Bürgertums ausdrückte, das gegenüber seinem in «Europa» wirtschaftlich und politisch erfolgreichen Pendant Neid und Unterlegenheitskomplexe zeigte. Dabei ist Unamunos Spanienvorstellung ein Kontrastbild seines negativen Europaklischees; von Europa fürchtete er eine gegen Spaniens «ewiges Wesen» gerichtete oberflächliche und materialistische Ratio.
Unamunos hispanozentrische Überlegungen gipfelten in der quijotesken Formel von der «Hispanisierung Europas» und der geistigen Missionierung Europas durch Spanien, die für den baskischen Philosophen eine Katalysatorfunktion zur Findung des wahren Spanien haben sollten: «Ich hege zutiefst die Überzeugung, so willkürlich sie sein mag – je tiefer desto willkürlicher, denn so geht es mit den Wahrheiten des Glaubens –, ich hege zutiefst die Überzeugung, dass die wahre und tiefe Europäisierung Spaniens, das heißt, unsere Verdauung jenes Teils des europäischen Geistes, der zu unserem Geist verarbeitet werden kann, so lange nicht einsetzen wird, als wir nicht versuchen, uns der geistigen Ordnung Europas aufzudrängen, sie [die Europäer] – im Austausch für das Ihre – das Unsere, das echt Unsere, schlucken zu lassen, und solange wir nicht versuchen, Europa zu hispanisieren.»[16]
Bei Unamuno – wie bei vielen 98ern – wurde Don Quijote zur literarischen Symbolgestalt, in der sich die Wiedergenesung und die Wiedergeburt Spaniens verkörperten. 1905 bekannte sich Unamuno zu «Don Quijote als Nationalhelden des ritterlichen Idealismus und Träger einer traditionalistischen ‹Nationalreligion› […] Er hatte die ‹mittelalterliche Seele› in sich und in seinem Lande entdeckt. ‹Unsere Rettung liegt in der Rückkehr zu unseren Mystikern, ohne das moderne Wissen aufzugeben!› (1905), eine Forderung, die sich überschlug ob des herrschenden Missverstehens zu einem ‹Ich werde immer mehr zu einem eingefleischten Spanier und Europagegner› (1911), ja zur herausfordernden Werbung für das ‹Afrikanertum› als artgemäßem eingeborenem Nationalelement und damit echterem Beitrag zu einem stabilen Europa als jegliche westlerische Überfremdung Spaniens.» Und 1915 bat Unamuno Gott um «die Niederlage der Technik und sogar der Wissenschaft, jeglichen Ideals, das verknüpft ist mit Bereicherung, irdischer Wohlfahrt und Handels- oder Ländervergrößerung». Er heiße «ein neues romantisches Zeitalter» willkommen, selbst wenn man die Wiederkehr des Aberglaubens in Kauf nehmen müsse; aber das damalige Europa der Techniker und Spezialisten dünkte ihn viel schlimmer. Seine Technikfeindschaft gipfelte in der berühmt gewordenen Sentenz: Que inventen ellos! («Sollen doch die anderen Erfindungen machen!»)
War der weitverbreitete Pessimismus der Intellektuellen gerechtfertigt? War Spanien tatsächlich in stetem Niedergang begriffen? Es ist sicherlich richtig, dass das Land damals im internationalen Kontext keine Bedeutung hatte – weder demographisch noch wirtschaftlich oder militärisch. Fassungslos starrten spanische Politiker und Intellektuelle auf die anderen Nationen des Kontinents, die noch vor wenigen Jahrzehnten machtpolitisch unbedeutend gewesen waren und inzwischen ökonomisch und kolonialpolitisch eine herausragende Rolle spielten. Spanien befand sich demgegenüber in einer tiefen Identitätskrise, es lag wirtschaftlich am Boden und hatte politisch jegliche Orientierung verloren.
Um die Jahrhundertwende war Spanien ein überwiegend rurales Land, das vielerorts menschenleer wirkte. 1901 erwirtschaftete der Agrarsektor immer noch 46 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, die Industrie nur 20 Prozent. In stark landwirtschaftlich geprägten Provinzen wie Albacete, Cáceres, Cuenca, Guadalajara oder Soria betrug die Bevölkerungsdichte 15 E/km2, während sie zur gleichen Zeit im industrialisierten Barcelona schon bei 108 E/km2 lag und damit genauso hoch wie in England war. Allerdings hatte das Land – nach Österreich – zu Beginn des 20. Jahrhunderts die höchste Geburtenrate Europas: zwischen 33 Promille und 40 Promille. Aber auch die Sterblichkeitsrate, vor allem die der Kinder, war sehr hoch, daher wuchs die Bevölkerung nur langsam. Epidemien rafften ganze Landstriche dahin; der Cholera von 1885 etwa waren 120.000 Menschen zum Opfer gefallen. Um die Jahrhundertwende spitzte sich die Situation schon wieder zu: Vor allem in den Jahren 1898 und 1904/05 stiegen die Lebensmittelpreise drastisch an; viele Angehörige der ärmeren Schichten konnten sich keine ausreichende Nahrung mehr leisten, abermals waren Epidemien die Folge. Impfvorschriften wurden erst 1902 erlassen.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts beschrieb Azorίn die extreme Armut in den andalusischen Dörfern. Er begleitete einen Wanderarzt, der bei einem Großteil der Bevölkerung Tuberkulose diagnostizierte: «Das ist das Übel Andalusiens. Man isst nichts; das Fehlen von Nahrung führt zu Anemie; die Anemie hat Schwindsucht zur Folge.»[17] Zeitgenössische Untersuchungen verweisen bereits auf die hohe Sterblichkeitsrate, eine der höchsten im Europa der Zeit. Während in Madrid die Sterblichkeitsrate bei 34 Promille lag, betrug sie in dem andalusischen Dorf Lebrija, über das Azorίn berichtete, über 40 Promille. Die Leute starben an Hunger. Von den 461 Todesfällen des Jahres 1899 waren 46 auf Tuberkulose und 161 auf Darmkrankheiten zurückzuführen, die ihren Grund in mangelnder oder Fehlernährung hatten. Im Jahr 1899 lag die Kindersterblichkeit bei den niederen Schichten Barcelonas bei circa 20 Prozent! Fehlende Hygiene und mangelhafte Ernährung waren die Hauptgründe,[18] insbesondere in den Dörfern, aber die Lage in den Städten war nur unwesentlich anders. Cholera, Scharlach, Pocken überzogen das Land regelmäßig und richteten wahre Verwüstungen an. Lungenentzündungen oder Tuberkulose waren in den meisten Fällen unheilbare Krankheiten.
Allein im Mai 1898 kam es in mehreren kleineren Städten, die sich noch stark auf die Landwirtschaft stützten, zu über 80 Aufständen, die denen der Hungerrevolten im Ancien Régime ähnelten. Sie waren spontan, praktisch unorganisiert, kurz, heftig und mit einer gehörigen Dosis «Moralökonomie» versehen. Die vorgetragenen Forderungen ähnelten sich: Es ging immer wieder primär um die Abschaffung der verhassten Konsumsteuern (consumos). Sehr häufig waren Frauen bei diesen Unruhen tonangebend. Dabei lag die Problematik nicht in einer stagnierenden Landwirtschaft. Ganz im Gegenteil: Die Agrarproduktion konnte die spanische Bevölkerung durchaus ernähren, die Exportlandwirtschaft nahm sogar ständig zu. Allerdings waren die Straßen- und Zugverbindungen in einem erbärmlichen Zustand und machten den Gütertransport streckenweise unmöglich. Die Zugfahrt von Barcelona nach Madrid dauerte 15 Stunden, der schnellste Zug fuhr mit gerade 35 Stundenkilometern nur halb so schnell wie der europäische Durchschnitt. Eine Reise in die Landeshauptstadt war immer wieder ein Abenteuer, das Monate im Voraus geplant werden musste.
Das Leben «auf dem Land», in den Provinzstädten und Dörfern war außerordentlich hart. Es fehlte praktisch an allem: an Gesundheitsfürsorge, an Hygiene, an abwechslungsreicher Ernährung, an regelmäßiger Schulbildung. Die Abwesenheitsquoten von der Schule waren außerordentlich hoch. 1895 gab es 1,5 Millionen eingeschulte und 2,5 Millionen nicht eingeschulte Kinder. Entsprechend hoch war die Analphabetenquote: Um 1900 lag sie bei 64 Prozent (56 Prozent Männer, 72 Prozent Frauen), bei allerdings großen regionalen Unterschieden. Schulbildung hatte für die Regierungen keine Priorität: Nur 1,5 Prozent des Haushaltes wurde für Bildung aufgewendet (zeitgleich in Deutschland 12,5 Prozent, in Frankreich acht Prozent), für das Militär neunmal so viel.[19] Dabei hatte das Land in der Restaurationsära durchaus deutliche Fortschritte gemacht: 1875 hatte der Analphabetismus noch bei 75 Prozent gelegen, aus den 14.000 Volksschulen der 1850er Jahre waren bis Jahresende 25.000 geworden. Um 1900 gab es auch immerhin schon 12.000 Volksschullehrerinnen. Im Jahr 1900 wurde schließlich ein eigenständiges «Ministerium für Öffentliche Unterweisung» eingerichtet.
Die Dörfer waren jedoch auf sich selbst gestellt, sie hatten keinerlei Kontakt mit der Außenwelt. Die Zeit schien stehengeblieben zu sein. Für die Masse der ländlichen Bevölkerung endete der lebensweltliche Erfahrungshorizont am Dorfrand; allein die jungen Männer konnten wenigstens vorübergehend den Ort zur Ableistung des Militärdienstes verlassen. An der Entwicklung der öffentlichen Ausgaben pro Kopf der Bevölkerung lässt sich deutlich erkennen, wie Spanien im europäischen Vergleich zurückfiel.[20