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Heinrich von Stietencron

DER HINDUISMUS

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Verlag C.H.Beck

 


 

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Zum Buch

Der Hinduismus fasziniert und verwirrt Europäer durch den Reichtum und die Farbigkeit seiner Formen, die starke Emotionalität in der religiösen Praxis und die Tiefe des theologisch-philosophischen Nachdenkens über das Wesen von Mensch und Welt. Dieses Buch bietet einen Überblick über die rund 3 000 Jahre alte religiöse Tradition von der vedischen Religion bis zum modernen Hinduismus. Es erläutert die unterschiedlichen heiligen Schriften und stellt die wichtigsten Götter einer unüberschaubar vielgestaltigen Götterwelt vor. Besonderes Augenmerk gilt dem gegenwärtigen gelebten Hinduismus und seinen national-politischen, von den Erfahrungen der Kolonialzeit und des Freiheitskampfes geprägten Aspekten. Eine Zeittafel, Literaturhinweise und ein Register runden diese Einführung ab.

Über den Autor

Prof. Dr. Heinrich von Stietencron leitete bis zu seiner Emeritierung 25 Jahre lang das Seminar für Indologie und Vergleichende Religionswissenschaft an der Universitāt Tübingen. Er ist Mitglied der Heidelberger Akademie der Wissenschaften und hat von 1980 bis 1993 im Vorsitz der Deutschen Vereinigung für Religionsgeschichte mitgewirkt. Zahlreiche Veröffentlichungen zur Religionsgeschichte Indiens und zu allgemeinen Fragen der Religionswissenschaft.

Inhalt

Hinweise zu Transkription und Aussprache

  I. Geschichte und Theologie der älteren Hindu-Religionen

1. Der Begriff „Hinduismus“

2. Die Spuren der Induskultur

3. Die Vedische Religion

a) Die ältere Vedische Religion

b) Die Lehren der Upanishaden

Die Lehre von Brahman und Ātman

Die Wiedergeburtslehre

Der Pantheismus

Das Aufkommen monotheistischen Denkens

4. Asketische, materialistische und monastische Reformbewegungen

 II. Die großen monotheistischen Religionen

1. Der Vishnuismus

a) Vedische Komponenten

Manifestation und Inkarnation

Verehrungsformen

Entwicklungen seit der Guptazeit

Ramanuja und seine Erben

Madhva

b) Vāsudeva Krishna und die Bhāgavatas

c) Die Rāmabhakti

2. Der Shivaismus

a) Die Anfänge des Shivaismus und das Linga als Symbol

b) Die Pāshupatas und der Purānische Shivaismus

c) Shivaitische Schulen seit dem 10. Jahrhundert

Kaschmirischer Shivaismus

Der Shaiva Siddhānta

Die Nātha Yogīs

Die Vīrashaivas

3. Der Shāktismus

4. Pluralität und Staatsraison: Die Smārtas

5. Vishnu und Shiva in vergleichender Perspektive

III. Der Hinduismus heute

1. Nationale Komponenten des modernen „Hinduismus“

2. Religiöse Komponenten des heutigen „Hinduismus“

a) Die Kaste: varna und jāti

b) Die Volksreligion

c) Das brahmanisch geprägte Ritual

Menschliche Zeit und kosmische Zeit

Gaben und Opfer

Der Kontakt mit der Gottheit

Die Bhakti

Die Sakramente

d) Die Pilgerfahrt

Zeittafel

Weiterführende Literatur

Register

Hinweise zu Transkription und Aussprache

Bei der Transkription wurden diakritische Zeichen vermieden. Nur die Vokallängen sind gekennzeichnet, weil sie für die Bedeutung der Wörter wichtig sind. Das retroflexe ṇ (wie in „brāhmaṇa“) wurde nicht eigens bezeichnet, auch nicht das vokalische Ṛ ṛ.

Sprich „ā“ wie in „Maß“; „ī“ wie in Wiese; „ū“ wie in Mut. Die Buchstaben „e“ und „o“ sind immer lang zu sprechen.

„sh“ („Shiva“, „Vishnu“) sprich „Schiva“, „Wischnu“. (Hier steht die gleiche Umschrift für die Buchstaben „ś“ und „ṣ“, die fast gleich klingen. Der erste Sibilant wird palatal, der zweite retroflex artikuliert. Im Deutschen gibt es diesen Unterschied nicht.)

„c“ sprich „tsch“ wie in „Cello“ oder „tschüß“.

„j“ sprich „dsch“ wie in „Pyjama“ oder „Dschungel“.

„jn“ sprich entweder „nj“ wie in „Tanja“ oder englisch „new“ (Mittel-und Südindien), oder „gj“ wie in „Magyaren“ (Nordindien).

„y“ sprich „j“ wie in „Joghurt“ oder „Jakob“.

„v“ sprich „w“ wie in „Wind“ oder „Wald“.

I. Geschichte und Theologie der älteren Hindu-Religionen

Indien ist überaus reich an überlieferten religiösen Texten, Bauwerken und Kunstdenkmälern, mit deren Hilfe sich die Religionsgeschichte dieses weiten Landes über mehr als dreieinhalb Jahrtausende zurückverfolgen läßt. Was man dabei findet, sind viele unterschiedliche Religionen, die zum Teil nacheinander, meist aber auch nebeneinander existierten. Wir wenden daher den Blick zurück in die Vergangenheit, um die historischen und theologischen Quellen zu finden, aus denen sich der heutige Hinduismus speist. Zuerst fragen wir nach der Entstehung des Begriffs, dann nach der Fülle von Inhalten, die er enthält.

1. Der Begriff „Hinduismus“

Die Bezeichnung „Hinduismus“ für die Religion der Hindus kam erst im 19. Jahrhundert in Bengalen auf, wo ihn die Angestellten der englischen East India Company einführten, um das, was sie für zahlreiche religiöse Sekten der Inder hielten, in einem Begriff zusammenzufassen. Daß es sich in Wirklichkeit um mehrere Religionen mit zum Teil sehr verschiedenen Vorstellungen handelte, hatte man noch nicht bemerkt, konnte es vielleicht auch nicht gleich bemerken, weil die Anhänger dieser Religionen so selbstverständlich und friedlich miteinander lebten, wie es damals in Europa nicht einmal unter Protestanten und Katholiken, geschweige denn mit Juden oder Muslimen möglich war.

Der neue englische Begriff wurde von dem Wort „Hindu“ abgeleitet, das ebenfalls nicht aus Indien, sondern aus dem Persischen stammt und im Singular den Fluß Indus (der im Sanskrit „Sindhu-“, im Persischen dagegen „Hindu-“ heißt), im Plural die Leute am Indus, die Inder, bezeichnet. In diesem Sinne kommt dieses Wort schon in den altpersischen Inschriften der Achaemeniden vor, die ihre Reichsgrenzen bereits zur Zeit des Kyros (559–529 v. Chr.) bis nach Gandhara am oberen Indus, unter Darius I. um 518 bis hinunter nach Sindh an die Mündung des Indus vorschoben und in deren Heeren indische Söldner Dienst leisteten. Die Griechen, die unter Alexander dem Großen 334–30 v. Chr. Persien überrannten und 326 v. Chr. den Indus überquerten, nannten den gleichen Fluß „Indos“ und die Bewohner des Landes „Indoi“, woraus unser Wort Inder abgeleitet ist. Hindus sind also der ursprünglichen Bedeutung des Wortes nach einfach Inder.

Mehr als 1 000 Jahre nach Alexander, im Jahr 711/12 n. Chr., drangen muslimische Eroberer aus dem Reich der Omayyaden von Damaskus unter General Muhammad ibn Qasim nach Indien vor und siedelten am Unterlauf des Indus in der (heute zu Pakistan gehörenden) Provinz Sindh. Auch sie bezeichneten die dort einheimischen Leute als Hindus und das Land als „Al Hind“. Mit ihnen kam der Islam nach Indien. Es entstand ein dauerhafter Brückenkopf muslimischer Krieger, Kaufleute und Siedler aus dem Vorderen Orient, die ihre Herrschaft im Laufe der folgenden 300 Jahre den Indus aufwärts bis in den Panjab vorschieben konnten. In diesem westlichen Teil des indischen Subkontinents ist der Islam also schon seit fast 1 300 Jahren heimisch.

Es darf nicht verwundern, daß die muslimischen Araber sich selbst nicht als Hindus bezeichneten, sondern sich als Muslime von den ungläubigen Hindus absetzten und als Ārabī ihre Herkunft aus dem Volk des Propheten betonten. Auch spätere Eroberer oder Zuwanderer nannten sich nach ihrer Herkunft Afghānī oder Pathan, Turānī oder Chagatai, und Irānī. Die zum Islam bekehrten, meist niedrigkastigen Inder nannte man Hindustānī. Man beachte, daß hier die Hindustānī (= Hindus) Muslime sind!

Da nach muslimischem Recht die Nicht-Muslime eine zusätzliche Steuer zu zahlen haben, die sogenannte Kopfsteuer (jizya), lag eine Bekehrung der unterworfenen Bevölkerung nicht unbedingt im wirtschaftlichen Interesse der Herrschenden. Die Folge war, daß es seit dem 8. Jahrhundert im westlichsten Teil von Indien für die Steuereinzieher zwei Kategorien von Menschen gab: Muslime und Hindus. Diese Begriffe stehen für Eroberer und Einheimische, später, nach ersten Bekehrungen, für Gläubige und Ungläubige und in beiden Fällen für Steuerklassen: Ein Hindu ist, wer sich den Schutz des Staates durch zusätzliche Steuern verdienen muß (Kopfsteuer, zeitweilig auch Pilgersteuer).

Diese aus der Steuerverwaltung erwachsene Benennung hielt sich über die Jahrhunderte. Sie wurde von den muslimischen Afghanen übernommen, als diese 1192–1206 ganz Nordindien eroberten, sie wurde später von allen nachfolgenden Herrscherdynastien weitergeführt und von siegreichen Heerführern auch in die neuen Sultanate im Dekkhan und zeitweise bis tief hinab in den Süden Indiens getragen. Am Ende übernahmen die Engländer Strukturen und Personal der Moghulverwaltung und damit auch den Begriff „Hindu“.

Die Hindu-Identität konstituiert sich also in dieser geschichtlichen Herleitung primär durch das Nicht-Muslim-Sein. Die persönliche Religion, das Glaubensbekenntnis des einzelnen Hindu spielt dabei nicht die geringste Rolle. Er mag ein Verehrer des Vishnu, Krishna oder Rāma sein, ein Anhänger des Shiva, der Göttin Kālī oder auch ein Jaina oder an keinen dieser Götter glauben, sondern sein Heil beim gestaltlosen Brahman suchen: Sie alle sitzen, was ihr Verhältnis zu den herrschenden Muslimen angeht, im gleichen Boot.

Das ist auch der tiefere Grund für die Tatsache, daß der Hindu-Nationalismus der Neuzeit immer wieder das Gegenbild der Muslime braucht, um die eigene Gruppenidentität erkennbar zu machen. Der kühle Verstand müßte jedem sagen, daß die überwiegende Mehrheit der indischen Muslime waschechte einheimische Inder sind und daß auch die einstigen muslimischen Eroberer nur sieben Jahrzehnte weniger lang auf dem indischen Subkontinent heimisch sind als in Ägypten, das 642 erobert wurde. Indische Muslime haben Indien und seine Kultur in vielen und wichtigen Bereichen mit geformt. Wären die Muslime nicht nach Indien gekommen, so hätte es wohl auch keine „Hindus“ gegeben, mit Ausnahme jenes begrenzten Gebietes am Indus, das unmittelbar an den iranischen Sprachraum angrenzt.

Die Geschichte zeigt, daß sich in Indien vor allem Kastenlose und Unterkasten zum Islam bekehrten, weil sie sich davon einen sozialen Aufstieg erhofften, der oft nicht im gewünschten Maße eintrat. Für die mittleren Schichten blieb die zusätzliche Steuerbelastung im Rahmen des Erträglichen, und ein Wechsel der Religion bot nur geringe Vorteile. Die meisten Machtpositionen waren bereits von etablierten muslimischen Familienklans besetzt. Nur für die Oberschicht der Hindus konnte eine Anpassung an den Islam politisch förderlich sein, z.B. um am Hof der Moghulkaiser nicht aus der Rolle zu fallen. Sie blieb aber gleichzeitig ihren ererbten Göttern und ihrer regionalen Tradition verpflichtet.

Ein ähnliches Bild ergibt sich auch bei der Mission des Christentums in Indien. Die untersten Schichten profitierten von der Konversion, wenn sie sich dadurch der Knechtschaft entziehen und eine bessere Schulbildung erhalten konnten. Die Gebildeten unter den Hindus hatten aber eine eigene, philosophisch und literarisch überaus reiche Tradition. Sie hatten auch ihre eigenen, sehr lebendigen Religionen. Wie dem Islam, so erwiesen sie sich auch dem Christentum gegenüber in hohem Maße als resistent. In 500 Jahren eifriger Missionstätigkeit konnten christliche Missionare trotz beachtlicher finanzieller Anreize nur 2 % der Inder bekehren, und dies mit wenigen Ausnahmen nur in den Stammesgebieten und den Schichten der Kastenlosen und Ungebildeten. Das zeugt von einer großen eigenen Kraft der Religionen der Hindus.

2. Die Spuren der Induskultur

Zu den zahlreichen Rätseln, die uns die Induskultur (Blütezeit ca. 3000–1750 v. Chr.) aufgibt, gehört nicht nur ihre Schrift, deren Entzifferung bisher noch nicht befriedigend gelungen ist, sondern auch ihre Religion. Es handelt sich um eine Kultur mit planmäßig angelegten Städten, die jeweils eine Akropolis und eine Unterstadt besaßen und deren Technik der Wasserversorgung und Abwasserentsorgung damals nirgends ihresgleichen fand. Das Gebiet, in dem diese Kultur herrschte, ist so groß wie Ägypten und das Zweistromland zusammen. Weit auseinander liegende Städte folgten den gleichen Bauplänen, benutzten gebrannte Ziegel gleichen Formats, auch die gleichen Maße und Gewichte. Sie benutzten auch den gleichen Typus kunstvoll geschnittener Siegel und fein gearbeiteter Schmuckstücke, deren Schöpfer ihr Handwerk möglicherweise in zentral geleiteten Werkstätten erlernt hatten. Alles deutet darauf hin, daß diese Kultur während ihrer Blütezeit eine streng zentralistische Führung gehabt haben muß.

Was die Religion betrifft, so fand sich weder ein Tempel noch eine eindeutig identifizierbare Opferstätte. Es fand sich nur in jeder Oberstadt das sogenannte „große Bad“, ein rechteckiges, weiträumiges und mit Säulengang umgebenes Wunderwerk der wasserdichten Konstruktion, dessen Wasser zur Reinigung abgelassen werden konnte.

Manches deutet darauf hin, daß dies das eigentliche Zentrum des Kultes war. Es existierten nämlich auch zahlreiche kleine, aus Ton geformte Wasserbecken, an deren vier Seiten Öllämpchen angebracht waren und die oft in der Mitte des Beckens eine erhöhte Plattform, eine Art Altar oder Göttersitz aufwiesen, der den Wasserspiegel leicht überragte. Dies könnten Hausaltare gewesen sein, an denen man Licht entzündete, sich symbolisch reinigte und kleine Opfergaben darbrachte. Das „große Bad“ wäre dann als Tempelteich zu interpretieren, der zur Reinigung des Gläubigen vor dem Gebet diente, und da kein Tempel und kein Gott erkennbar ist, könnte das Gebet der über dem Wasser aufgehenden Sonne gegolten haben. Die Verehrung der aufgehenden Sonne nach vorheriger Reinigung im Wasser kennen wir in detaillierter Beschreibung aus dem vedischen Ritual, und dies ist eines der wenigen Elemente der vedischen Religion – und vielleicht eben schon der Religion der Induskultur –, die sich bis heute erhalten haben. Erhalten blieb jedenfalls auch der rechteckige Tempelteich, den man bei allen wichtigen Tempeln der indischen Götter antrifft, sofern sie nicht direkt am Ufer eines Flusses, Sees oder Meeres stehen.

Es sind noch drei weitere Details zu nennen, die vielleicht auf die Religion der Induskultur und auf Kontinuitäten schließen lassen, die sich bis heute erhalten haben. Das erste betrifft große Mengen von weiblichen Terracotta-Figurinen, die von den Ausgräbern als Muttergöttinnen gedeutet wurden. Ich halte diese Deutung für falsch. Die Figürchen sind serienmäßig und ziemlich primitiv geformt. Sie stehen in deutlichem Gegensatz zu den hervorragenden Arbeiten der Künstler, welche die Siegel geschnitten oder die wenigen erhaltenen Skulpturen geschaffen haben. Götterbilder zu gestalten, würde man sicher diesen Meistern anvertraut haben. Es handelt sich eher um Votivgaben, mit denen Frauen um Fruchtbarkeit bitten. Das würde auch erklären, warum man diese Figurinen jeweils in Massen an einem Ort gefunden hat. Der Ort mag der Wohnsitz einer Göttin gewesen sein, die aller Wahrscheinlichkeit nach in einem Baum oder am Fuß eines Baumes wohnte, der längst nicht mehr existiert. Auf den Siegeln der Induskultur sind nämlich Gottheiten abgebildet, die in Bäumen wohnen. Die gleiche Vorstellung zeigt sich 2 000 Jahre später, als man in Indien begann, Skulpturen nicht mehr in vergänglichen Materialien, sondern in Stein zu arbeiten, in den Figuren von Yakshīs der Shungazeit (2.–1. Jahrhundert v. Chr.) und später. Der Baum als möglicher Ort göttlicher Manifestation ist zu jener Zeit längst ein fester Topos. Die Siegel der Induskultur zeigen die Gottheit mit Hörnerschmuck, und der Baum ist durch die Form seines Blattes deutlich als Pīpalbaum zu erkennen. Dieser Baum gilt bis heute in Indien als besonders heilig. Nicht ohne Grund findet auch Buddhas Erleuchtung unter einem Pīpalbaum statt. Als „Baum der Erleuchtung“ wird er zum Bodhibaum. Und noch heute findet man in der Volksreligion überall Göttinnen, die sich in einem Baum oder am Fuß eines Baumes manifestieren.

Ein berühmtes Siegel der Induskultur zeigt eine gehörnte Gottheit in Yogahaltung auf einem Thron sitzend und von vier wilden Tieren umgeben: Tiger, Elefant, Nashorn und Büffel. Viel ist über diese Gottheit spekuliert worden. Man wollte in ihr den Gott Shiva, der ja auch als großer Yogī bekannt ist, als Herrn der Tiere (pashupati) erkennen. Damit hätte der Shivaismus seine Wurzeln schon in der Induskultur. Aber diese Deutung ist fragwürdig. Pashu ist nicht das wilde Tier, sondern das Haustier. Und wenn im Veda der Gott Rudra als Herr der Haustiere angerufen wird, so nur, weil man seine Krankheit bringenden Fieberpfeile fürchtet, welche das Vieh der Arier dezimieren. Wer die Macht hat zu töten, kann es auch sein lassen, wenn man ihn gnädig stimmt. Deshalb wird Rudra zum Herrn der Tiere. Es gibt noch einen weiteren Grund, die Gottheit auf dem Siegel nicht mit Pashupati gleichzusetzen. Die Gottheit trägt zahlreiche Armreife und Halsketten, was eher auf eine Göttin, jedenfalls nicht auf den wilden Jäger Rudra deutet. Der aufgerichtete Phallus, den man bei dieser Gestalt zu erkennen glaubte, könnte auch das Ende der Leibbinde sein, das vom Knoten herunterhängt. Obwohl also die Identifikation mit Rudra/Shiva nicht sicher ist, bleibt die Tatsache, daß die Induskultur bereits die Sitzhaltung der Yogīs kannte. Sie ist auf mehreren Siegeln zu sehen. Damit geht vielleicht noch ein weiteres wichtiges Element der indischen religiösen Tradition bis in die Zeit der Induskultur zurück, nämlich der Versuch, die Beherrschung des Atems und des Körpers als Mittel zur Selbstvervollkommnung einzusetzen.

3. Die Vedische Religion

a) Die ältere Vedische Religion

Mit dem Auftreten der vedischen Arier in Ostiran und ihrer Einwanderung in Indien nach der Mitte des 2. Jahrtausends vor unserer Zeitrechnung beginnt eine Periode, über die uns umfangreiche, in vedischem Sanskrit verfaßte literarische Zeugnisse vorliegen, archäologische Zeugnisse aber bis auf Tonscherben bisher spärlich sind. Die literarischen und die archäologischen Zeugnisse verraten uns, daß die Arier erst kamen, als die großen Städte am Indus von ihren Erbauern bereits seit langem verlassen worden waren. Die Geschichte lehrt ja, daß ein Eroberervolk die materielle Kultur der Unterworfenen, soweit sie nützlich ist, in der Regel übernimmt. Die Besiegten müssen für die neuen Herrscher arbeiten, und diese gewöhnen sich sehr rasch an den neuen Luxus. Bei den Ariern war es nicht so. Sie konnten von der hohen materiellen Kultur am Indus nichts übernehmen, nicht einmal die Kunst, Ziegel zu brennen. Das haben sie erst Jahrhunderte später gelernt. Von Städtebau, Bewässerungsanlagen oder Schmuckherstellung und Schiffahrt haben sie nichts übernommen. Offenbar trafen sie niemanden mehr an, der diese Künste noch beherrschte. Die Bewohner, denen sie in den Städten begegneten, waren nach den wenigen Utensilien, die man bei ihren Gebeinen ausgegraben hat, Jäger oder Hirten, die sich in den Ruinen niedergelassen hatten. Und auch als sie später in Rājasthān und Gujarāt auf alte Städte stießen, deren Kultur sich dort auf niedrigerem Niveau fast 1 000 Jahre länger hielt als im Flußtal des Indus, lernten sie nur noch das Brennen der Ziegel. Die zentrale Organisation und die Technik der Bewässerung und Bauplanung existierten wohl nicht mehr.

Ārya (Arier) war eine Selbstbezeichnung der einwandernden Stämme und bedeutet „edel“. Es war weder der Name einer Ethnie noch der eines Klans. Es war vielmehr das Bekenntnis zu bestimmten moralischen Werten, vor allem zur Vertragstreue, zur Gastfreundschaft (auch gegenüber Feinden), zur Wahrhaftigkeit und zur von den Göttern etablierten Ordnung. Die arischen Stämme hatten eine gemeinsame Sprache und weitgehend die gleichen Götter, aber unterschiedliche Stammesnamen und unterschiedliche Anführer. Mit zunehmender Spezialisierung entwickelte auch jeder seinen eigenen Priesterklan. Oft gerieten sie in Konflikt miteinander im Kampf um Vieh und Weideland. Sie wanderten in mehreren Wellen über die Pässe im Westen und Nordwesten nach Indien ein, und jeder nachfolgende Stamm drängte die vor ihm Angekommenen weiter nach Osten und damit tiefer in das Land der fünf Ströme (Pancāp = Punjab) und in das Gangestal hinein.

Wie das arische Hirtenvolk, so waren auch seine Götter frei beweglich. Sie konnten in Gedankenschnelle erscheinen, wo immer man sie rief. Einen Tempel brauchten sie nicht, wohl aber eine sorgfältig gereinigte und geebnete Opferstätte, ein Opferfeuer, eine Opfergabe und bei wichtigen Anlässen ein poetisches, ungewöhnliches Lied, um dessentwillen es sich lohnte, die Pferde anzuspannen. Denn die Götter benutzten, wie die Ārya selbst, von Pferden gezogene Streitwagen – freilich solche, die den Weg durch die Luft nehmen konnten.

Die vedischen Ārya hatten aus ihrem nordeuropäischen Erbe bereits ein polytheistisches Weltbild mit sich gebracht und haben dieses im Laufe ihrer Wanderungen ergänzt und erweitert. Sie betrachteten die himmlischen Götter als Kinder des Vaters Himmel (dyaus pitā = Zeus Pater = Jupiter) und der Mutter Raum/Erde (aditi, die Unbegrenzte) und bezeichneten diese Götter als Ādityas (Söhne der Aditi) oder Devas (Himmlische). Die Bezeichnung „Asura“, die Jahrhunderte später nur noch auf Widersacher der Götter, also auf Dämonen, angewandt wurde, war damals noch ein Ehrentitel für die mächtigsten unter den Göttern, die außergewöhnliche, schöpferische Zauberkraft besaßen. Aufgabe der Götter war es, die kosmische und moralische Ordnung zu schützen, Aufgabe der Menschen, dieser Ordnung gemäß zu leben und Göttern und Ahnen mit ihren Opfern Nahrung zu geben.

Mit der Stärkung der Götter durch Nahrung kam dem Opfer eine den Kosmos erhaltende Funktion zu, so daß dieses zur wichtigsten Aufgabe des Menschen wurde. Bei allen Wandlungen, welche die Opferpraxis seither durchgemacht hat, ist ihm diese zentrale Bedeutung geblieben. Die Gabe übt aber nach altindischem Verständnis auch auf moralischer Ebene eine Wirkung aus. Sie reinigt den Geber und verleiht ihm Ansehen, zugleich verunreinigt das Nehmen den Empfänger und stuft ihn gegenüber dem Geber herab. Um Reinheit und Respekt wiederzugewinnen, ist folglich reiche Gegengabe nötig.

Als Folge dieser Auffassung muß man es als eine Gunsterweisung auffassen, wenn ein Höhergestellter eine Gabe von einem Niedrigeren annimmt. Er braucht sich nicht zu bedanken: Das bloße Annehmen ist bereits sein Dank. Dies ist bis heute eine kulturelle Eigenart Indiens. Sie bestimmt auch die Form des Opfers. Es ist keineswegs selbstverständlich, daß die Götter kommen, um die ihnen gebotene Speise anzunehmen. Es gibt ja viele Opferer, und die Götter haben freie Wahl. Man muß sie um ihr Kommen bitten, muß sie mit kunstvollen Preisliedern herbeilocken, muß sie an ihre früheren mythischen Taten erinnern und selber einen Wunsch aussprechen, auf dessen Erfüllung man hofft. Dann erst wird die Gottheit gewillt sein, zu dem ihr bereiteten Opfer zu kommen. Dann allerdings hat man auch guten Grund zu hoffen, daß der ein Opfer annehmende Gott alsbald eine Gegengabe geben und den Wunsch des Opferers erfüllen wird. Und wenn das Geschenk der Macht und dem Reichtum des Gebers angemessen sein sollte, wird die Gabe des Gottes im Normalfall bedeutender sein als die des opfernden Menschen.

Aus einer solchen reziproken Opferbeziehung entwickelt sich eine Kunst der verbalen und rituellen Kommunikation zwischen Mensch und Gottheit, die von der vedischen Zeit bis in die Gegenwart reicht und immer neue Varianten erprobt. Sie hat in der Theologie, Literatur, Musik, Bildhauerei, Malerei und in Ritual und Tanz im weltweiten Vergleich hoch bedeutende Leistungen hervorgebracht.

Wichtigstes Zeugnis hierfür sind die ältesten religiösen Texte Indiens, die zugleich auch die ältesten Texte der gesamten indoeuropäischen Sprachfamilie sind. Daß sie uns in großem Umfang und in erstaunlicher Präzision überliefert sind, verdanken wir dem Umstand, daß es sich bei den Ārya um Stämme mit nomadischer oder semi-nomadischer Lebensweise handelte, die ihre Gruppenidentität nicht dem Bau fester Wohnstätten und der dauerhaften Zugehörigkeit zu einer bestimmten Landschaft verdankten, sondern einem von Kind an trainierten kulturellen Gedächtnis, in dem der Stamm die Legenden seiner Helden, die Mythen seiner Götter und auch die Preislieder bewahrte, mit denen inspirierte Priester die Götter zum Opfer gerufen und als Bundesgenossen gewonnen hatten. Dies war ein Schatz an dichterischen Kompositionen in der Göttersprache Sanskrit – samskrta bedeutet „kunstvoll zusammengefügt, geschmückt“–, ein kostbares literarisches Erbe, das den Reichtum dieser arischen Stämme ausmachte. Und dieser Schatz mehrte sich von Generation zu Generation.

Es mag etwa im 10. Jahrhundert v. Chr. gewesen sein, als man die Überlieferungen der verschiedenen Priesterfamilien zusammenzutragen begann, und es ist wahrscheinlich, daß diese Sammlung noch etwa zwei Jahrhunderte lang durch neue Lieder ergänzt wurde. Diese Zeitangabe beruht auf Schätzungen des ungefähren Zeitraums, der nötig war, um von dem Weltbild des Veda über die Literatur der Brāhmanas und Upanishaden zu dem des Buddha zu gelangen. Es gibt andere Datierungsversuche, die auf astronomischen Berechnungen fußen und die vedische Kultur schon zu Beginn des 4. Jahrtausends v. Chr. oder noch früher ansetzen (ausführlich dargestellt und teilweise übernommen in Klostermaier 1994, S. 477–82). Seit den 1980er Jahren nimmt in Indien eine Tendenz zu, die gesamte Induskultur mit den vedischen Indern zu verbinden und damit auch ihre Schrift auf der Grundlage von Sanskrit zu entziffern. Diese Versuche übersehen aber den außerordentlich großen Unterschied, der zwischen der in den vedischen Texten geschilderten materiellen Kultur und der Industal-Kultur besteht. Gegen die Gleichzeitigkeit dieser Kulturen im indischen Raum spricht auch, daß die Industal-Bewohner weder das Pferd noch den leichten Streitwagen kannten, die für die Kultur der Arier so charakteristisch sind.

(trayī vidyā)