Hilal Sezgin
Eine Ethik für Tiere oder
Warum wir umdenken müssen
Verlag C.H.Beck
Tierquälerei ist schwer erträglich. Trotzdem lassen wir es stillschweigend zu, dass unzählige Tiere in Versuchslaboren gequält und in Mastställen und Schlachthöfen angeblich „artgerecht“ misshandelt werden, weil wir uns ein Leben ohne „tierische Produkte“ nicht vorstellen können. Wem dieser Widerspruch keine Ruhe lässt, der sollte Hilal Sezgins Augen öffnendes Buch lesen. Sie geht der Frage nach, ob wir Tiere im medizinischen Interesse malträtieren und ob wir sie einsperren, töten und essen dürfen. In einer lebhaften Auseinandersetzung mit anderen (tier-)ethischen Positionen plädiert sie dafür, Tiere als Individuen mit eigenen Rechten anzuerkennen – auch in unserem eigenen Interesse. Am Ende dieser engagierten Tierethik steht die Vision einer Menschheit, die sich die Erde gerecht mit anderen Tieren teilen kann. Eine fulminant geschriebene Einladung zum Umdenken, der man sich nur schwer entziehen kann.
„Hilal Sezgin stellt die Fragen, vor denen sich unsere Gesellschaft schon viel zu lange gedrückt hat.“ Karen Duve, Autorin von „Anständig essen“
„Beeindruckend, irritierend, super geschrieben. Nicht immer wird man zustimmen können – aber in der Radikalität dieses Buches liegt gerade seine Qualität.“ Harald Welzer, Direktor der Stiftung „Futurzwei“
„Hilal Sezgin definiert Humanismus neu, nämlich als Animalismus. Nicht gepredigt, sondern gelebt. Hut ab.“ Christoph Maria Herbst, Schauspieler
„Jeder, der Tiere liebt, sollte dieses Buch lesen; und wer sie nicht liebt, auch.“ Karin Mück, Gründerin der Tierschutz Stiftung Hof Butenland
Hilal Sezgin, geboren 1970, studierte Philosophie in Frankfurt am Main und arbeitete mehrere Jahre lang in der Feuilletonredaktion der Frankfurter Rundschau. Seit 2007 lebt sie als freie Journalistin und Buchautorin in der Lüneburger Heide, wo sie einen kleinen Gnadenhof mit Schafen und Hühnern betreibt. Sie schreibt u.a. für DIE ZEIT und taz. Zuletzt erschien von ihr „Landleben. Von einer, die raus zog" (DuMont, 2012).
Einleitung
Erstes Kapitel
Was heißt hier Ethik?
Die Empfindungen anderer
Um welche Tierarten geht es?
Der Vorwurf des Anthropomorphismus
Die Asymmetrie des moralischen Universums
Von Rechten und Pflichten
Gleichheit versus Speziesismus
Zusammenfassung
Zweites Kapitel
Dürfen wir Tiere quälen?
Tierversuche und milder Speziesismus
Vitale Interessen und gravierende Belastungen
Wie abwägen?
Der Unterschied zwischen Tun und Lassen
Fälle von persönlicher Betroffenheit
Zusammenfassung und mehr
Drittes Kapitel
Dürfen wir Tiere töten?
Ist Tiere töten natürlich?
Am Leben sein
Zukunftspläne und Lebenswille
Vom Wert des Lebens
Konsequenzen für unser Handeln
Euthanasie und Paternalismus
Zusammenfassung und mehr
Viertes Kapitel
Dürfen wir Tiere nutzen?
Tierwohl, konventionell gedacht
Empfindungen, Wünsche, Interessen
Gelebtes Tierwohl
Daseinslust und Frustration
Ein Vertrag zwischen Mensch und Tier?
Was Freiheit für Tiere bedeutet
Zusammenfassung und mehr
Fünftes Kapitel
Wie können wir mit Tieren leben?
Müssen wir die Natur vor sich selbst schützen?
Schritte in Richtung einer Umweltethik
Tiere unter uns
Die gewalttätige Gesellschaft
Eine neue Form des Zusammenlebens
Dank
Anmerkungen
Literatur
Meine Beschäftigung mit der Tierethik begann 1982. Es war eine Zeit von Zukunftsangst und Sonnenblumen. Kurz zuvor hatte sich die Partei der Grünen gegründet, und Ronald Reagan beschwor das Schreckensszenario von sowjetischen Mittelstreckenraketen herauf, die es kaum abwarten könnten, Europa zu verwüsten. Ganz generell begann man zu ahnen, dass die Menschheit im Zuge von Industrialisierung und Technologisierung einige, sagen wir es höflich, recht unbedachte Entscheidungen getroffen hatte.
Von dieser allgemeinen Stimmung untergründig getragen, aber im Konkreten davon anscheinend unbeeinträchtigt, spazierte ich zwölfjährig an einem Sommertag auf eine Weide (wir lebten in einer Kleinstadt im Vordertaunus) und verbrachte mehrere glückliche Stunden damit, die schwarzweißen Kühe dort zu zeichnen. Als Vegetarierin kehrte ich am Abend nach Hause zurück.
Daran ist zweierlei erstaunlich: Erstens konnte und kann ich kein bisschen zeichnen. Weder einen Menschen noch eine Katze noch eine Kuh. Die Kühe ihrerseits taten nicht besonders viel, als in der Sonne herumzuliegen und wiederzukäuen. Und das ist das zweite Überraschende: dass ich an jenem Nachmittag zu einer neuen Überzeugung gelangte, obwohl die den Anstoß gebenden Kühe weder außergewöhnlich waren noch die ersten Kühe, die ich je zu Gesicht bekam. Auch vielen anderen Tieren hatte ich bereits beim Herumliegen zugesehen oder ihnen in die Augen geblickt; aber vielleicht war es das ausdauernde Beobachten während des Zeichnens, das mir plötzlich klar werden ließ: So etwas kann ich nicht weiterhin essen.
Hier, bei der Sprache, fangen die Probleme bereits an. Dachte ich wirklich: «so etwas» könne ich nicht essen? Auch wenn ich nicht glaube, durch neue Sprachgewohnheiten allein lasse sich die Welt verändern, stolpere ich über diese Formulierung. Tatsächlich ist ein Tier doch eher ein «Jemand», ein Individuum. Allerdings klänge auch das irgendwie merkwürdig oder gestelzt: «so jemanden» kann ich nicht essen. Am nächsten kommt man dem Gedanken vielleicht mit dem Satz: Diese Kuh ist gar kein «Etwas», sondern ein «Jemand»; also will ich keine Kühe mehr essen. Meine Mutter, die Köchin in unserer Familie, war übrigens gar nicht so entsetzt, wie man meinen könnte; wenig später wurde auch sie zur Vegetarierin, zwei Jahre darauf mein Vater.
Was ich damals nicht wusste: Auch in der Philosophie hatte bereits eine Debatte darüber begonnen, ob man Tiere essen, töten oder Tierversuchen unterziehen dürfe. Wegweisend waren vor allem Bücher aus dem angelsächsischen Raum wie Animal Liberation (1975) von Peter Singer, Animals and Why They Matter (1983) von Mary Midgley und The Case for Animal Rights (1983) von Tom Regan. Das erste bedeutende deutschsprachige Werk folgte 1990 mit Das Tier in der Moral von Ursula Wolf. Neben diesen akademisch-philosophischen Herangehensweisen gab es zahllose Diskussionen der beginnenden Tierrechtsbewegung, diverser Initiativen gegen Tierversuche und eben solcher Kuh-auf-Weide-Vegetarier wie mir. Es ist phänomenal, wie sich der Zeitgeist bisweilen in eine bestimmte Richtung zu bewegen beginnt, ohne dass die Einzelnen, die von ihm erfasst werden, überhaupt voneinander wissen.
Ich erfuhr von diesen frühen tierethischen Ansätzen erst Anfang der 1990er Jahre während meines Philosophiestudiums, und seitdem hat sich die Lage ohnehin deutlich gewandelt: Wer heute über unseren menschlichen – oder meist ja doch unmenschlichen – Umgang mit den Tieren nachdenkt, steht nicht mehr allein auf weiter Flur. Vorbei die Zeiten, als die Tierethik eine eher exotische Teildisziplin der Philosophie war; vorbei die Zeiten auch, als sich nur Vegetarier oder Veganer für das Innere der Mastställe interessierten. Längst gibt es auch bei der breiten Bevölkerung Westeuropas Interesse an der Thematik und einen enormen Zuwachs an Wissen. Und deswegen muss dieses Buch nicht ganz vorne anfangen: also bei Berichten von federlosen Hühnern, die im eigenen Kot hocken, von Milchkühen mit entzündeten Eutern, von Schweinen, die nicht richtig «abgestochen» wurden und daher im kochend heißen Brühbad einen langsamen, qualvollen Tod erleiden.
Wir alle haben Artikel darüber gelesen und Reportagen im Fernsehen gesehen, jeder von uns kann furchtbare Bilder vor seinem inneren Auge abrufen, was alles mit Tieren in der modernen Landwirtschaft gemacht wurde und wird. Hervorragende Bücher wie Jonathan Safran Foers Tiere essen, Karen Duves Anständig essen und Andreas Grabolles Kein Fleisch macht glücklich zeigen den hässlichen Weg vom Tier zum Fleisch, zur Milch, zum Ei auf.
Doch mir scheint, als wüssten wir – als Individuen wie auch als Gesellschaft – immer noch nicht recht, was wir mit diesem Wissen anfangen sollen. Ich nehme an, die wenigsten von uns möchten, dass der Verzehr ihrer Lieblingsspeisen gesetzlich verboten wird – aber wir wollen auch nicht in einer Welt leben, in der der «Lieferant» der Lieblingsspeise nie Tageslicht gesehen und seine letzten Stunden während des Transports in Angst und Panik verbracht hat. Weder wollen wir ständig Gruselbilder von malträtierten Puten mit gebrochenen Flügeln sehen, wenn wir den Fernseher einschalten, noch wollen wir wissen oder dunkel ahnen, dass derlei ständig passiert, auch wenn niemand es filmt.
Irgendwie stecken wir in einer Sackgasse, weil das, was derzeit offenbar legal ist oder am Rande der Legalität als Routine geduldet wird, so gar nicht unseren moralischen Vorstellungen und unserem Bild von einer zivilisierten Gesellschaft entspricht. Denn eine zivilisierte Gesellschaft heißt ja auch: eine relativ gewaltfreie Gesellschaft. Eine, in der physische Gewalt und das Zufügen von Leid auf ein Minimum reduziert sind. Damit müsste auch die Gewalt gegenüber Tieren gemeint sein, aber gerade diese Art von Gewalt ist keineswegs gezähmt, sondern höchstens versteckt: Sie findet hinter geschlossenen Fenstern und Türen statt, damit sie der empfindsame Normalbürger nicht täglich sieht.
Vor allem nicht in der Stadt. Ich selbst zog 2007 aufs Land, übernahm von den Nachbarn eine kleine Schafherde und wurde so unvermittelt von der Theoretikerin («Ich mag Tiere!») zur Praktikerin («Wo ist die Klauenschere? Halt still, Schaf!»). In meiner Umgebung lernte ich Landwirte kennen, Jäger, Tierärzte; ich schaute in Hühnerställe und in Schweinebuchten; ich sprach mit Agrarwissenschaftlern, Rinderzüchtern und Tierschützern. Ich besuchte Biohöfe und insbesondere einen eigentlich vorbildlichen mittelgroßen Hof, von dem ich bisher immer Milch und Joghurt gekauft hatte. Das sollte ein ganz normaler Ausflug werden, ich wollte einfach nur wieder einmal Kühe angucken – aber was ich dort sah, hat sich mir auf unangenehme Art ins Gedächtnis eingebrannt. Auch dort wurden die Kälber nämlich ihren Müttern weggenommen, standen in kleinen Hütten aus Plastik, schrien die Mütter vom Stall her nach ihren Kindern. Dieses Bild stand in so deutlichem Kontrast zu den agilen Schafen und lebensfrohen Lämmern auf meinem eigenen Hof. Mir wurde plötzlich klar, dass man einer Säugetiermutter im Grunde nichts Schlimmeres antun kann, als ihr das Kind wegzunehmen (und umgekehrt), und dass unser heutiger Milchkonsum genau das zur Voraussetzung hat.
Während mich diese Bilder immer stärker beschäftigten, stieß ich mich immer öfter an eigenen Überzeugungen, Annahmen und «Lösungen», die ich seit langem unhinterfragt beibehalten hatte, die aber genau besehen nicht mehr passten – so zum Beispiel der Vegetarismus. Auch als Vegetarierin nämlich kaufte ich ja noch die Milch der unglücklichen Kuh von jenem Bauernhof. Das hieß in der Konsequenz wohl, dass ich noch einen Schritt weiter gehen musste. Aber wie weit, und wo würde ich da hinkommen? Ich nahm meine Beschäftigung mit der Tierethik wieder auf und wollte mit ihrer Hilfe mehr Stimmigkeit und Klarheit in meine Gedanken bringen.
Die Philosophen und Philosophinnen, die in den 1970er und 1980er Jahren über unsere Pflichten gegenüber Tieren nachzudenken begannen, mussten sich oft noch rechtfertigen: Warum sollten Tiere moralisch überhaupt zählen? Zu viele Jahrhunderte der europäischen Geistesgeschichte hatten Tiere wie selbstverständlich außerhalb unseres moralischen Verantwortungsbereichs gestanden. Die Philosophie der Aufklärung – also etwa die von Hobbes, Rousseau und Kant – hatte Moral als etwas angesehen, das nur vernunftbegabte Wesen anderen vernunftbegabten Wesen schulden. (Tatsächlich dachte man vornehmlich an erwachsene und ökonomisch selbständige Bürger.) Auch in der Biologie wurden, allem Darwinismus zum Trotz, bis weit ins 20. Jahrhundert hinein Tiere als das ganz Andere des Menschen beschrieben: entweder als seelenlose und von blinden Instinkten gesteuerte Organismen oder gewissermaßen als unvollkommene Vorstufe zum Menschen, der vor allem das fehle, was uns auszeichne, also Sprache und Denken.
Seither hat sich viel von dieser großen Kluft, die sich zwischen vernunftbegabten Menschen und vermeintlich unvernünftigen Tieren aufzutun schien, geschlossen. Ein Philosoph, der im Jahr 2014 behaupten würde, dass das Los der Tiere völlig irrelevant sei, würde mit einer Mischung aus Staunen, Entsetzen und vermutlich Bedauern angesehen. Anders als manch frühere Generationen von Biologen beschreibt auch die aktuelle Verhaltensforschung Tiere nicht vorrangig als Mängelwesen, die bloß weniger vermögen als Menschen, sondern als Lebewesen mit eigenen Fähigkeiten, eigenen Kommunikationsformen, eigenen Problemlösungen – und eigenem Wert. Tiere sind empfindungsfähige Wesen mit eigenen Bedürfnissen und biologischen Kompetenzen. Als solchen steht ihnen offenbar ein Platz innerhalb der Moral zu; nur wissen wir nicht genau, welcher.
Doch selbst der Schweinebaron, der Ställe für 40.000 Tiere plant, und der Vertreter einer Bürgerinitiative für bäuerliche Landwirtschaft, selbst die radikale Tierrechtlerin, die nicht einmal eine Stechmücke erschlägt, und der Fleischesser, der dennoch nicht gerne die Rüssel an den Lüftungsschlitzen der Tiertransporte auf der Autobahn sieht – sie alle sind sich in einem Punkt einig: Ihnen ist das Wohl der Tiere nicht völlig egal. Die allermeisten Mitglieder unserer Gesellschaft meinen heute, dass man das Wohl von Tieren mitbedenken muss.
Daher lautet die wirklich interessante Frage der Tierethik eben nicht mehr wie in den 1980er Jahren: Sollen wir Tiere überhaupt in unsere ethischen Überlegungen einbeziehen?, sondern: Wie und wie weitgehend sollen wir sie berücksichtigen? Nicht: Haben sie Interessen?, sondern: Worin bestehen ihre Interessen, wie sieht ein vollständiges oder gutes Leben für Tiere aus, und inwieweit dürfen wir dies beeinträchtigen oder gar beenden? Wenn Tiere schließlich Rechte haben (sollen), heißt das, dass dies exakt dieselben Rechte wie die der Menschen sind, und kann man bei Tieren von einem Recht auf Freiheit sprechen?
Jeder, dem eine Sendung über leidende Puten auf den Magen schlägt, nimmt Tiere ernst und misst ihren Leiden moralische Relevanz bei. Vielleicht vergisst er das Gesehene bis zum nächsten Morgen; aber vielleicht erinnert er sich auch und fragt sich, was für ein Bild sich ergäbe, wenn er die Interessen der Tiere im Verhältnis zu seinen eigenen fairer, mitfühlender oder angemessener gewichten würde. Dieses Gewichten ist das Geschäft der Moral, das gründliche Nachdenken darüber nennt sich Moralphilosophie; und genau das will ich dem Leser und der Leserin mit diesem Buch anbieten: nämlich einmal nicht von den kleinteiligen Vorgaben der Realpolitik her – wie viele Quadratmeter stehen einer Sau zu? – über diese Dinge nachzudenken, sondern sich von der Philosophie und ihrer Unterdisziplin Tierethik helfen zu lassen, ein vollständigeres Bild zu entwerfen. Gesucht wird also eine moralische Sichtweise, die unsere menschlichen Ansprüche und die von Tieren verbindet, sprich: die uns ermöglicht, vertretbare Entscheidungen gegenüber allen Beteiligten zu treffen.
Ich habe mich bemüht, dieses Buch sowohl allgemeinverständlich zu schreiben als auch so, dass seine Inhalte mit der fortgeschrittenen akademischen Tierethikdebatte auf Augenhöhe bleiben. Einiges an Beweislast habe ich daher in die Anmerkungen verschoben, die die Leserin und der Leser nach eigenem Gusto ignorieren können. Die Wörter «Moral» und «Ethik» werde ich gleichbedeutend verwenden, so wie wir es auch in der Alltagssprache zumeist tun. Gemeint ist damit jenes Denken und Handeln, bei dem wir die Interessen von anderen in unsere Entscheidungen miteinbeziehen, weil wir anerkennen, dass auch sie Empfindungen und Bedürfnisse haben und dass auch sie «zählen».
Dabei verstehe ich Tierethik nicht als eine Art Spezialwerkzeug für selten auftretende Sonderprobleme, sondern als Teil einer Ethik, deren Grundsätze sich auf das Leben von Menschen und Tieren anwenden lassen. Schließlich leben Menschen und Tiere in einer gemeinsamen (äußeren) Welt, und nun nehmen wir Tiere hinein in eine bisher uns Menschen vorbehaltene moralische Welt, deren Begriffe wir kennen, deren Regeln wir untereinander beherzigen, deren Ideale uns vertraut sind. Wer einem solchen Gedanken-Parcours folgt, setzt sich natürlich dem Risiko aus, einige liebgewonnene Überzeugungen über Bord werfen zu müssen. Übrigens nicht unbedingt die, von denen man das bereits vorher ahnte. Ich selbst habe während der Arbeit an diesem Buch einige langgehegte Überzeugungen ablegen müssen und neue dazugewonnen. Insbesondere war ich überrascht zu sehen, dass man oft nur von recht simplen und weithin anerkannten ethischen Grundüberzeugungen auszugehen und ihnen zu folgen braucht, um zu recht weitreichenden Tierrechten zu gelangen. Das ist im Grunde der Hauptertrag dieses Buches, den ich mir zu Beginn der Arbeit so gar nicht vorgestellt hätte. Doch ich hoffe, zeigen zu können, dass diese Schlüsse zumindest plausibel sind.
Ich glaube, wir sollten es hier mit Mary Midgley halten, die 1983 in ihrem Klassiker Animals and Why They Matter (man sieht, dies war noch in den Anfängen der Tierethik – man musste belegen, warum Tiere überhaupt zählen!) schrieb: «Wir wissen, dass eine Moral, die niemals jemanden vor den Kopf stößt, zur bloßen Etikette verkommt. Die Geschichte früherer Reformen, wie der Abschaffung der Sklaverei, beweist das. Gleichzeitig sind Ideale, die niemand in Handlungen überführen kann, zu nichts nutze. Diese Spannung stellt eigentlich eine grundsätzliche Schwierigkeit im Leben dar. (Man könnte es auch anders sehen: Sie ist ein allgemeiner Faktor, der das Leben interessant macht.)»[1] Ja, eine Moral darf nicht zu anspruchsvoll sein – und gleichzeitig muss sie anspruchsvoll sein! Denn sonst hat sie nichts beizutragen zu diesem schwierigen und interessanten menschlichen Unterfangen, ein friedlicheres Zusammenleben, auch mit Tieren, zu gestalten.
Die Empfindungen anderer • Um welche Tierarten geht es? • Der Vorwurf des Anthropomorphismus • Die Asymmetrie des moralischen Universums • Von Rechten und Pflichten • Gleichheit versus Speziesismus • Zusammenfassung
Manchmal meint man, anderen aufgrund ihrer deutlichen Körperhaltung und Mimik direkt ins Herz blicken zu können; ein solches Erlebnis hatte ich auf einem vegetarischen Straßenfest in Berlin. Eine Tierrechtsgruppe hatte einen Monitor mit einem Video aufgebaut, das die Vorgänge in einem Schlachthof zeigte: Eine Kuh wird herbeigezerrt, bekommt das Bolzenschussgerät an den Kopf gesetzt, und so fort. Ich wandte mich sofort schaudernd ab.
Wenig später sah ich eine Frau, die etwa zehn Meter vor diesem Bildschirm wie in der Bewegung erstarrt stehengeblieben war. Sie war modisch angezogen, vielleicht Mitte zwanzig, und auch wenn es streng genommen nichts zur Sache tut, fiel sie doch auch deswegen auf, weil sie ausgesprochen schön war, mit einem makellosen mediterranen Teint und langen dunklen Locken. Ihre Augen waren weit geöffnet und auf den Bildschirm gerichtet. Offenbar war sie gerade vom Einkaufen gekommen, hatte zufällig den Alexanderplatz mit den vegetarischen Ständen überquert, den Bildschirm passiert und sich vom Anblick der Schlachtung gefangen nehmen lassen.
Sie war sichtlich entsetzt, hatte dergleichen möglicherweise noch nie gesehen. Doch am bewegendsten war eigentlich, was sie nicht tat: Sie ging nicht weiter. Sie wandte die Augen nicht ab, nicht einmal kurz; sie hielt auch nicht die Hände in einer Mischung aus Erschrecken und Selbstschutz vor den Mund. Sie stand einfach nur da und schaute. Ich glaube, ich habe keinen erwachsenen Menschen je dermaßen ungeschützt und vorbehaltlos schauen sehen. Als das Video nach zwei, drei Minuten zu Ende war, gab sie sich nicht etwa einen Ruck, um das Gesehene abzuschütteln, sondern setzte ihren Weg langsam und sichtlich mitgenommen fort.
Natürlich weiß ich nicht, was diese Frau genau dachte, und vor allem: wie lange sie es dachte. Ob sie Konsequenzen für ihr Handeln zog, wie schnell sie zu vergessen suchte. Und doch denke ich, dass uns das Erleben dieser Frau, das sich so ungefiltert an ihrem Gesicht ablesen ließ, den Ausgangspunkt von Moral bildhaft vor Augen führt: die Erkenntnis, dass es da einen anderen gibt. Einen Gegenüber, der fühlt, leidet, wünscht – vielleicht verzweifelt –, lebt. Und dass sein Erleben, obwohl weder sein Schmerz noch seine Freude unsere eigenen sind, auch uns etwas angeht und uns nicht gleichgültig sein darf.
Mehr ist es zunächst nicht, und doch ist eines entscheidend: dass hier Befindlichkeit und Interessen eines anderen Wesens in die eigenen hineingenommen werden. Das, was es will, fühlt und braucht, wandert gleichsam in das ein, was auch ich will, was ich überlege und entscheide. Moral beginnt da, wo ich zulasse, dass die Interessen eines anderen meine Interessen und Handlungen mitformen; wo ich darüber nachzudenken bereit bin, in welchem Verhältnis seine oder ihre Interessen und meine gewichtet und wie sie miteinander abgestimmt werden sollen.
Im Folgenden will ich ein wenig detaillierter betrachten, was Ethik motiviert, und Grundbegriffe wie Empfindungsfähigkeit, Anthropomorphismus, Rechte und Pflichten, Speziesismus diskutieren. Leserinnen und Leser, die primär an konkreten tierethischen Fragen interessiert sind, können gleich zum nächsten Kapitel – über Tierversuche – oder zur Zusammenfassung am Ende dieses Kapitels springen.
Gegenüber den anderen sei eingeräumt: Das Beispiel der Frau auf dem vegetarischen Straßenfest zeigt natürlich nur eine Möglichkeit von vielen, wie moralische Prozesse in Gang gesetzt werden können. In diesem speziellen Fall hat vermutlich ein Gefühl, nämlich im buchstäblichen Sinne Mit-Leid, den Ausschlag gegeben. Vermutlich hätte die Frau diese Minuten vorrangig als gefühlsintensive Minuten beschrieben: «Es war schrecklich. Die Kuh tat mir leid.»
Doch es gibt viele Menschen, deren emotionale Reaktion auf solche Bilder und überhaupt auf Tiere deutlich kühler ausfällt. Dafür lassen sie sich bisweilen rein rational motivieren, ihren Umgang mit Tieren zu überdenken. So kenne ich Leute, die aufgrund einer Internet-Diskussion mit völlig Unbekannten innerhalb kurzer Zeit zu Veganern geworden sind. Sozusagen «rein über den Kopf». Ich war ziemlich überrascht, als mich eine von ihnen, eine Freundin aus Berlin, auf meinem Hof besuchte und sich den Schafen näherte, hinkauerte, sie zu streicheln begann – und mir nachher sagte, dass dies die ersten größeren Tiere seien, die sie je angefasst habe. Sie habe sich eigentlich nie für Tiere interessiert, nicht einmal als Kind. Aber sie hatte sich schon lange gegen Rassismus engagiert, und bei einer Internetdiskussion sei ihr klar geworden, dass unser derzeitiger Umgang mit Tieren ja auch eine Form von Rassismus sei – «Rassismus gegen Tiere», wie sie es ausdrückte. Wenige Wochen nach jener Diskussion hörte sie mit dem Konsum von Fleisch, Milch und Eiern auf. Und erst seitdem sie dadurch mehr über Massentierhaltung und ähnliche Themen liest, interessiert sie sich auch zunehmend für «reale» Tiere.
Bei ihr hat also kein Gefühl, kein Mitleid, keine Tierliebe, sondern eine rationale Einsicht am Anfang des moralischen Umdenkens gestanden. Im Grunde ist das nichts anderes, als wenn wir für Menschen in fernen, uns unbekannten Ländern spenden oder unsere Wählerstimme einer Partei geben, deren Politik für uns selbst vielleicht wenig Unterschied machen würde, aber auf mehr Gerechtigkeit für andere hoffen lässt. Man muss nicht jeden mögen und auch nicht mit jedem mitfühlen, für den man sich moralisch oder politisch engagiert.
So besitzt der Ausgangspunkt der Moral sowohl eine emotionale als auch eine kognitive Komponente. Das exakte Mischungsverhältnis von «Verstand» und «Gefühl» ist dabei nicht wichtig, denn beide führen zu einer zentralen Einsicht sozialer Art: dass andere ähnliche Empfindungen haben wie wir. Auch wenn wir ihre Empfindungen und Gedanken nicht unmittelbar «in uns selbst» spüren, wissen wir: Auch diese anderen sind ein Ich, auch sie sind Subjekte ihres Lebens.[1] Die anderen sind auch «Jemand», ein Alter Ego, das ich nicht ignorieren darf.[2]
Dieser Einsicht folgt ein weiterer, nun tatsächlich eher rationaler Gedanke. Und zwar wissen wir oder verstehen irgendwann, dass es keine absoluten, übergeordneten Gründe gibt, warum «Ich» wichtiger sein sollte als «Du» – denn auch Du bist ein eigenes Ich. Wir können aus uns selbst nicht heraus. Doch wenn es, hypothetisch gesprochen, die Möglichkeit gäbe, einmal aus uns herauszutreten, einmal kurz über allen zu schweben, würden wir sehen: Da gibt es keine unterschiedlichen Wertigkeiten, da ist ein Ich nicht realer, nicht zentraler, nicht ausschlaggebender als das andere. Gewiss steht man sich selbst meist näher; man fühlt selbst, was man fühlt, während man es bei anderen eher «über Bande» nachvollzieht. Aber rational müssen wir doch anerkennen, dass alle Ichs, unser eigenes und die der anderen, gleichrangig sind. Jeder von uns ist der Nabel seines eigenen Universums, das mit etwas Abstand betrachtet eben unser gemeinsames Universum ist.[3]
Bisher bin ich recht zwanglos zwischen Beispielen mit Kühen und Menschen hin- und hergewechselt. Denn das, was Moral in Gang setzt, was jemanden veranlasst, andere mit zu berücksichtigen, ist ja dasselbe: Ob Mensch oder Tier, jeder von uns ist ein Zentrum bewusster Wahrnehmungen, besitzt seine subjektiven Empfindungen, Wünsche und Interessen. In der konkreten Ausgestaltung gibt es natürlich Unterschiede: Kühe wollen meistens am liebsten Gras fressen, Menschen können sich manchmal minutenlang nicht zwischen den Optionen einer mehrseitigen Menükarte entscheiden. Kühe schlecken einander mit der Zunge Kopf und Körper ab, verwenden einen sparsamen «Wort»schatz; wir Menschen hingegen gehen zusammen kegeln, treffen komplizierte Absprachen bezüglich der gemeinsamen Kinder, schreiben Romane und Gedichte.
Diese Unterschiede zwischen dem vermeintlich Simplen und dem eher Komplexen beschreiben jedoch keine Wertigkeiten. Jemand, der stark verfeinerte Vorlieben hat und diese sprachlich gut ausdrücken kann, genießt gegenüber jemand anderem, der «schlichter gestrickt» ist, keine moralischen Privilegien. Tatsächlich würden wir sogar sagen, dass es zu allererst die Grundbedürfnisse nach Nahrung, Schlaf, Gemeinschaft und Sicherheit sind, für die moralisch zu sorgen ist; weitere Details der Lebensart folgen erst später. Dass wir aber jeder ein Lebewesen mit eigenen Wünschen und Zwecken sind und dass wir nicht primär auf der Welt sind, um jemand anderem zu Nutzen zu sein, sondern mit vollem Recht unseren eigenen Interessen folgen – das gilt für Alte und Junge, Gesunde und Kranke, Schlauere und weniger Schlaue, Menschen und Tiere.[4]
Wenn wir also auch Tiere moralisch berücksichtigen sollen, sind dann wirklich alle Tiere gemeint, Angehörige jeder Tierart? Wie sich eine Kuh fühlt, wenn sie sich an der Stallwand schubbert, kann man sich ja noch halbwegs vorstellen; es besteht jedenfalls kein Zweifel daran, dass sie es genießt. Aber eine Ameise? Die Muschel an der Kaimauer, die Schnecke im Garten? Wenn man sich auf eine einzelne Ameise konzentriert, wie sie sich auf dem Küchentisch mit einem Zuckerkörnchen abmüht (und überall anstößt, schließlich verbaut ihr der Zucker ja den Blick!), kann es einem vorkommen, als sei dies sozusagen ein winziger Mensch mit einem viel zu großen Paket. Aber stimmt das?
Die Frage ist nicht nur: Wie fühlt es sich für die Ameise an?, sondern: fühlt sie überhaupt etwas Bestimmtes? Ist da «jemand»? Überlegt die Ameise, wo es nun lang gehen soll, und ist sie genervt, wenn da schon wieder ein Hindernis ist? Wir wissen es nicht. Weder biologisch noch philosophisch ist bisher geklärt, ob diese Tiere kontinuierliche bewusste Empfindungen haben können. Wir wissen nicht, ob sie wirklich im vollen Sinne fühlen.[5]
Manches scheint allerdings auch eine Frage des Fokus zu sein: Wie genau schauen wir hin? Denken wir nochmals an die Ameise, die sich mit dem Zuckerkorn plagt, oder an eine Schnecke, auf die wir versehentlich getreten sind und die sich in ihrem zerbrochenen Gehäuse vor Schmerzen – wie es uns vorkommt – krümmt. In einem wunderbaren Büchlein hat die Biologin und Journalistin Elisabeth Tova Bailey, die jahrelang wegen einer schweren Krankheit ans Bett gefesselt war, beschrieben, wie sie lernte, vom Krankenbett aus die Verhaltensweisen, Gewohnheiten und, ja, individuellen Vorlieben ihres einzigen Haustiers, nämlich einer kleinen Gehäuseschnecke auf einer Topfpflanze, zu beobachten. Wenn man das gelesen hat, fällt es einem schwer, zu der Ansicht zurückzukehren, Schnecken seien einfach nur gefühlloser Glibber mit Muskeln.
Dennoch: Tierethik widmet sich den Tieren, die bewusste Subjekte ihres Lebens sind. Nach derzeitiger zoologischer Kenntnis trifft dies gesichert nur auf Wirbeltiere mit zentralisiertem Nervensystem zu, also auf Säugetiere, Vögel, Fische, Amphibien, Reptilien und einige mehr (die uns im direkten moralischen Kontext aber selten begegnen). Außerdem auf einige Tiere, die keine Wirbeltiere sind, aber Ansätze zentralisierter Nervensysteme haben, nämlich vor allem Cephalopoden (Tintenfische und Kraken) sowie Dekapoden (Krebse, Hummer etc.).[6] Für den Rest der Tierwelt gilt das Recht auf volle moralische Berücksichtigung im tierethischen Kontext nicht. Es lässt sich (noch?) nicht postulieren, dass wir Insekten, Schnecken und anderen wirbellosen Tieren dieselbe moralische Rücksicht schulden wie Mäusen, Kamelen oder Menschen. Andererseits würde auch kaum jemand behaupten, dass man mit den anderen Tieren machen könne, was man wolle – also Libellen die Flügel ausreißen, Schnecken die Fühler abschneiden … Im Zweifelsfall, heißt es meist, sollte man auch diese Tiere schonen.
So richtig befriedigend ist dieser Schwebezustand der Wirbellosen nicht. Er läuft nicht nur dem Wunsch nach Eindeutigkeit zuwider, sondern riecht ein wenig nach Vorurteil: Was, wenn wir die Insekten genauso grundlos geringschätzen wie einst die nicht-menschlichen Säugetiere?[7] Wie sähen wir die Dinge, wenn eine Schmeißfliege so groß wäre wie eine Katze? Andererseits: Die Biologie schert sich tatsächlich nicht um unsere Sehnsucht nach sauberen Begriffen. Evolutionär hat sich nun einmal eine Lebensform aus der anderen entwickelt, und die Übergänge sind langsam und fließend.
Doch wenn wir schon einmal dabei sind, die Grenzen abzustecken: Warum erstreckt sich unsere Moral nicht auch auf Pflanzen? Vermutlich jeder Vegetarier hat sich schon einmal den – eher scherzhaften – Vorwurf zugezogen, auch Pflanzen würden schließlich leiden! Doch wer das sagt, steht nun wirklich eindeutig außerhalb der Biologie. Zwar können Pflanzen chemische und physikalische Reize «wahrnehmen» und darauf «reagieren» – aber beide Wörter muss man in Anführungszeichen setzen, weil Pflanzen zwar Sinnesrezeptoren besitzen, nicht aber Nerven, die diese bündeln oder an eine mit Bewusstsein ausgestattete Zentrale weiterleiten. Es werden Reize vermittelt, aber empfunden werden sie nicht.
Vielleicht noch ein paar allgemeine Sätze zur Biologie des Empfindens: Weder sind Sinnesrezeptoren gleichbedeutend mit Nerven noch generieren Nerven immer bewusste Empfindungen – übrigens auch beim Menschen nicht! Auch bei uns Menschen sind nicht alle Nervenaktivitäten mit Bewusstsein verknüpft. Nicht einmal alles, was vom Gehirn gesteuert wird, ist uns bewusst. Die Steuerungskreisläufe von Körpertemperatur, Blutdruck, Blutzuckergehalt und dergleichen mehr vollziehen sich die allermeiste Zeit, ohne dass wir es merken. Im Magen-Darm-Trakt ist ein Komplex von Nerven angesiedelt, den man aufgrund seiner Größe und Autarkie gar als eigenes Nervensystem (Enterisches Nervensystem) bezeichnet.[8] Es gibt also nervliche Vermittlungsprozesse, die uns bewusst sind, andere, die uns nicht bewusst sind, und wiederum andere, die uns in Krisenzeiten bewusst werden können.
Es wäre ja auch schlicht verheerend, wenn wir jeden kleinen Vorgang im Darm oder Herzen bewusst wahrnehmen würden, zumal wir die beteiligten Muskeln gar nicht steuern können. Dazu muss man sich kurz die biologische Funktion bewusster Empfindungen in Erinnerung rufen: Sie konnten sich im Laufe der Entwicklungsgeschichte nur bewähren, weil sie einen bestimmten Zweck für den Organismus erfüllen konnten. So hat es sich ab einem gewissen Punkt der Evolution als vorteilhaft erwiesen, wenn Lebewesen, die Sinneswahrnehmungen haben und ihre Aktionen entsprechend ausrichten können, mit einem negativen oder positiven Empfinden dieser zunächst nur «blinden» chemischen oder physikalischen Reize ausgestattet waren. Schmerzempfinden ist eine zusätzliche Motivationsquelle für einen Organismus, Schädliches zu meiden; Lustempfinden motiviert das Lebewesen zu vorteilhaften Aktivitäten.
Das darf natürlich nicht zu dem Fehlschluss verleiten, Schmerz und Lust seien nur für unser Weiterleben relevant. Aus der Perspektive evolutionären Überlebens mag es so aussehen, aber streng genommen besitzt die Evolution keine eigene Perspektive, handelt nicht absichtsvoll – anders als wir Tiere und Menschen. Seitdem bewusste Empfindungen in die Welt gekommen sind, existiert eine Form von Realität – die des subjektiven Erlebens und Bezweckens –, die es vorher nicht gab. Und diese Art von Realität ist für uns bewusst erlebende Wesen sogar deutlich relevanter als die Realität unserer blind agierenden Gene und Körperzellen. Solch bewusstes Wahrnehmen, Fühlen und Wünschen ist gemeint, wenn ich bei Mensch und Kuh von einem Jemand spreche.
Wie genau können wir anderen nun wirklich «ins Herz schauen»? Kaum spricht man über das Gefühlsleben von Tieren, setzt man sich einem weiteren Risiko aus, nämlich dem des Anthropomorphismus. Sicher wurde jeder Tierfreund und jede Tierrechtlerin schon mit dem Vorwurf konfrontiert, sie sollten doch bitte in Tiere nicht etwas hineininterpretieren, was eigentlich rein menschlich sei. Und tatsächlich besteht die Gefahr, die Verhaltensweisen anderer Spezies entsprechend dem eigenen vertrauten Muster fehlzuinterpretieren.
Allerdings besteht die Gefahr der Fehlinterpretation in beide Richtungen – dass wir Tieren intensive Gefühle unterstellen, wo sie möglicherweise keine (oder andere) haben; und dass wir übersehen, was für Tiere bedeutsam sein mag, eben weil es in unserer Welt nicht vorkommt. Der amerikanische Philosoph Steve F. Sapontzis hat dazu einmal geschrieben: «Ein Leben, das für uns hart und langweilig aussieht (zum Beispiel das eines Bibers), kann von denen, die es leben, als freudvoll und erfüllend wahrgenommen werden.»[9] Ich finde dieses Biber-Beispiel charmant, zumal ich zwar in der Sache sehr wohl, im Fall des Bibers aber nicht unbedingt Sapontzis’ Meinung bin. Gut, die eigenen Zähne in Kontakt mit einem Baumstamm zu bringen, diesen Wunsch verspüren die wenigsten Menschen. Aber das Bauen von Staudämmen? Einen Gutteil meiner Kindheit habe ich damit verbracht, Bäche zu stauen und Spazierwege zu fluten. Ich versichere, dass das auch für einen Menschen eine sehr erfüllende Tätigkeit sein kann, und ich nehme an, Wasserbauingenieure sehen es ähnlich. Und wenn man noch dazu in der Mitte des Stausees eine Burg mit einem geheimen Zugang hätte …
Aber genau das wäre in der Tat vermenschlichend: zu denken, ein Biber empfände beim Stauen eines Baches und beim Bauen der Burg dieselbe Art kindlich-aufgeregter Freude wie ich. Sapontzis hat natürlich recht damit zu sagen, dass es für einen Biber sicherlich erfüllend ist, am Fluss nagen und fällen und schalten und walten zu können, wie er will. Dennoch ist es gewiss nicht dieselbe Art kindlicher Freude, an die ich mich zurückerinnere und die ich mit gelben Gummistiefeln assoziiere.
Doch welche Freude empfindet der Biber wohl? In einem bereits legendären Aufsatz zur Philosophie des Geistes hat der amerikanische Philosoph Thomas Nagel 1974 darüber geschrieben, warum wir Menschen nie genau werden wissen können, wie es sich anfühlt, eine Fledermaus zu sein, die sich per Echolot orientiert. Dieser Beitrag war nicht gegen Fledermäuse, sondern gegen eine gewisse Anmaßung der Naturwissenschaften gerichtet. Denn egal was die Biologie und Neurowissenschaften über Echolot und Fledermausgehirn in Erfahrung bringen werden, egal, wie sehr wir von außen in der Lage sein werden, solches Geschehen physikalisch zu verstehen – die Innensicht bleibt uns verschlossen. Dabei leugnet Nagel nicht, dass die Fledermaus eine solche Innensicht besitzt; im Gegenteil, diese Sorte mentaler Zustände ist sogar dadurch definiert, dass sie sich für das betreffende Wesen auf eine bestimmte Weise anfühlt.[10] Wir wissen von außen, dass sich eine Wahrnehmung per Echolot irgendwie anfühlt – aber nicht, wie.
Diese Erkenntnisgrenzen sind beim Echolot und überhaupt beim Fliegen ohne technisches Gerät offensichtlich. Aber was ist mit biologischen Funktionen, die uns näher sind, und bei Lebewesen, die mit uns auch näher verwandt sind? Wie es für ein durstiges Tier ist, nach langer Zeit wieder zu trinken, diese Erleichterung und Befriedigung können wir uns vorstellen. Tatsächlich bereitet es vielen Menschen tiefe Befriedigung, bedürftigen Tieren Nahrung und Wasser anzubieten. Vielleicht sind es zum Teil die vor gut zwei Jahrzehnten entdeckten Spiegelneuronen, die es Menschen und anderen Primaten ermöglichen, körperliche und seelische Zustände von anderen mitzuvollziehen; denn diese Spiegelneuronen haben ihren Namen genau darum erhalten, weil sie im Hirn aktiv werden, wenn eine Handlung bei einem anderen Wesen nur beobachtet wird. Vielleicht liegt darin nicht nur eine Quelle für Empathie mit Angehörigen der eigenen Art, sondern auch für Übersetzungsleistungen zwischen den Spezies.
Hühner und Gänse zum Beispiel können nicht wie wir saugen oder schlürfen, sondern schöpfen mit dem Schnabel aus Gefäß oder Pfütze und lassen das Wasser die Kehle hinunterrinnen. Wir wissen nicht, wie es ist, einen Schnabel und einen langen Hals zu haben, durch den das Wasser fließt; und doch dürfen wir wohl sagen, wir haben eine deutliche Ahnung davon, was der trinkende Vogel fühlt. Das, was wir dabei empfinden (spiegeln), mag nicht exakt dasselbe sein, aber es ist in der «Übersetzung» ähnlich genug.
Neulich machte ein Videoclip aus einer österreichischen Schweinezucht im Internet die Runde. Es zeigte eine kleine Truppe freilaufender Schweine, die offenbar nach Belieben Wiesen und Weiden nutzen konnten und sich an einem Hang, wo etwas Wasser floss, eine Art Rutsche «gebaut» hatten. Sie warfen sich mit sichtlichem Vergnügen oben in den Matsch, strampelten, bis sie in Bewegung kamen, rutschten den Hang hinab und rannten wieder nach oben. (Fast zeitgleich wurde berichtet, dass ein holländischer Landwirt seinen Schweinen eine gelbe Plastikrutsche vom Sperrmüll geholt und neben ihre Suhle gestellt hatte. Die dortigen Schweine – ohnehin «Ausnahmeschweine», weil sie überhaupt herumlaufen und sich suhlen können – schienen auch diese Rutsche zu mögen.)
Ich habe von «sichtlichem Vergnügen» geschrieben, weil diese Schweine sich zweifellos nicht nur suhlen, also die Haut zwecks Kühlung, Reinigung und Parasitenabwehr mit Schlamm einreiben, sondern den Kitzel des Herunterrutschens suchen und genießen. Mir fällt schlicht keine andere Möglichkeit ein, das Verhalten dieser Schweine sinnvoll zu beschreiben, ja, ich fände es geradezu albern zu leugnen, dass wir uns vorstellen können, welchen Spaß sie da haben. Wer diese Beschreibung vermenschlichend findet, müsste bitte eine plausiblere, «biologischere» Erklärung abgeben, was die Schweine da machen und warum. Pauschal den Vorwurf des Anthropomorphismus anzubringen und darauf zu verweisen, dass Schweine völlig anders seien als wir Menschen, wirkt auf mich nicht besonders aufrichtig. Gewiss, wir wissen nicht, wie es ist, vier Beine, Rüssel und Ringelschwänzchen zu haben; insofern wissen wir nicht vollständig, aber doch in relevanter Hinsicht, wie es ist, als Schwein einen Hang hinabzurutschen.
Um Missverständnisse zu vermeiden: Ich will natürlich nicht behaupten, dass wir allein durch Tierliebe und amateurmäßiges Zugucken ein umfassendes Verständnis anderer Spezies erreichen können. Der Verhaltensforschung stehen für ihre ethologischen Beobachtungen im Freiland (und leider auch im Labor) Methoden zur Verfügung, die Rückschlüsse auf die kausalen Ursachen bestimmter Verhaltensweisen erlauben, die anders niemals zu gewinnen wären. Umgekehrt aber gibt es auch wissenschaftliche Studien zum Verhalten, die so viel Distanz zu ihrem Untersuchungsgegenstand beweisen, dass es schon wieder absurd ist. Manchmal werden mit unglaublichem Aufwand Apparate gebaut, die Offensichtliches belegen sollen. Zum Beispiel wollten Forscher wissen, wie wichtig Hühnern ihr Staubbad ist. Sie installierten Türchen mit Gewichten, die die Hühner aufdrücken mussten, um an Erde zu gelangen.[11] Es kam heraus, dass die Hühner diese Mühe auf sich nahmen und dass ihnen das Staubbad somit sehr wichtig ist.
Nun, das hätte den Forschern jeder sagen können, der Hühner im Freien hält. Wenn Hühner aufgrund schlechten Wetters einmal ein paar Tage keinen Zugang zum Staubbad haben und man ihnen dann einen trockenen Bereich zugänglich macht, stürzen sie sich darauf und ziehen ihn sogar dem Futter vor. – Trotz aller Forschung erhalten Hühner in den meisten Ställen dennoch keine Möglichkeit zum Staubbad. Wenn überhaupt, gibt es Sandhaufen. Sand aber mögen sie nicht, sie bevorzugen feines, erdiges Material, vermutlich, weil es besser zwischen Federn und Haut eindringt. Außerdem ist der Boden der Mastanlagen und Legefarmen nach einiger Zeit natürlich vollständig von getrocknetem Kot bedeckt.
Bei Sauen hat man mit ähnlichen Versuchsanordnungen überprüft, wie wichtig es ihnen ist, vor der Geburt ihrer Ferkel ein Nest aus Stroh, Laub oder sonstigen beweglichen Materialien zu bauen. Wieder mussten Türchen aufgedrückt werden. Die Sauen taten das ebenso häufig wie beim Zugang zum Futter. Also ist Sauen der Nestbau «sehr wichtig» – wie doch bereits ihr Verhalten in Ställen beweist, wo sie immer wieder mit ihren Rüsseln den Betonboden absuchen und imaginäres Stroh umeinanderschieben. Man kann das sogar auf Filmaufnahmen aus Ställen sehen, auch ganz ohne Türchen.[12]
Im Übrigens stellt sich Nagels Fledermausfrage – wie genau kann ich in einen anderen hineingucken? – natürlich bereits beim Menschen (und hat auch da eine entsprechend lange philosophische Tradition). Wenn ich mit meiner rotgrünblinden Freundin Ute spazierengehe, gefallen uns meistens dieselben Blumen und Blüten. Dennoch ist es immer wieder erstaunlich, mit welch unterschiedlichen Farbattributen wir sie belegen. Ich sehe eine knallrote Rose, und Ute deutet auf sie und ruft: «Was für ein herrliches Orange!» Nach Jahren der Freundschaft haben wir keinen Weg zum Decodieren der jeweils anderen Farbwahrnehmungen gefunden. Dennoch gibt es keinen Zweifel daran, dass wir während eines Spaziergangs Erfahrungen miteinander teilen und uns über unsere Wahrnehmungen austauschen können.
Bei jeder Interpretation einer fremden Psyche ist also die Möglichkeit und Fülle von Missverständnissen geradezu erschreckend – doch jeder, der überhaupt mit anderen kommuniziert, weiß, dass Kommunikation eben zu einem nicht unbeträchtlichen Teil daraus besteht, Missverständnisse durchzuarbeiten. Man sollte daher nicht vorschnell behaupten, dass jede Interpretation tierischen Verhaltens zum Scheitern verurteilt ist – und nicht einmal, dass jeder Vergleich mit menschlichem Empfinden automatisch falsch sein muss. Es wäre höchst sonderbar, wenn von Spezies zu Spezies das Spektrum des Empfindens völlig unterschiedlich wäre. Das würde nämlich bedeuten, dass die Evolution praktisch mit jeder neuen Spezies die Welt der Nerven und des Bewusstseins und der Affekte neu erschaffen hätte, was ein ungeheurer Aufwand gewesen wäre und unserer sonstigen anatomischen und physiologischen Verwandtschaft vollkommen zuwiderliefe.
«Das allgemeine Argument gegen Anthropomorphismus kann in einer post-darwinistischen wissenschaftlichen Welt nicht aufrechterhalten werden», schreibt daher die Wissenschaftstheoretikerin Sandra D. Mitchell.[13] Darwin selbst zeigt in seinem Buch Der Ausdruck der Gemütsbewegungen bei dem Menschen und den Tieren, dass der körperliche (und mimische) Ausdruck von Gefühlen bei Menschen und anderen sozialen Tieren letztlich denselben Ursprung hat. Erst nach Darwin hat sich ein gewisser biologischer Skeptizismus durchgesetzt, der die Grenze zwischen Mensch und Tier überbetonte[14] und der seit einigen Jahrzehnten wieder abklingt.[15]
Der Vorwurf des Anthropomorphismus taugt in seiner pauschalen Form genauso wenig wie die schlichte Behauptung: «Aber ich weiß doch genau, was mein Tier fühlt!» Nein, wir wissen es natürlich nicht immer genau (ebenso wenig übrigens bei Menschen). Aber das heißt nicht, dass Verstehen unmöglich ist. Es gibt eben sehr unterschiedliche Grade und Methoden des Verstehens. Eine große Bandbreite liegt zwischen dem beinah unmittelbaren Mitempfinden – etwa beim Trinken der Vögel oder bei dem Vergnügen rutschender Schweine – und dem vollkommen abstrakten Verstehen dessen, wieso sich ein Schmetterling von bestimmten Lichtmustern einer Blüte täuschen lässt oder was es über die Rangordnung der Paviane aussagt, wenn sie einander das Fell pflegen. Keine Form des Verstehens ist besser oder schlechter als die anderen, man muss nur wissen, wo die jeweiligen Grenzen und Möglichkeiten liegen.
Wir nehmen die Welt also nicht nur aus jeweils eigenen Augen wahr, wir wissen auch: Es gibt schier unendlich viele weitere Subjekte in dieser Welt. Doch nicht alle von ihnen sind sich dessen bewusst, dass sie Subjekte sind. Ein fühlendes Lebewesen muss nicht unbedingt in einem abstrakteren Sinne wissen, was es fühlt. Nicht einmal, dass es fühlt. Auch nicht, dass andere fühlen.
So gesehen ist meine bisherige Ausdrucksweise etwas unscharf gewesen, denn eigentlich gibt es zwei Gruppen von empfindungsfähigen Lebewesen: Die eine umfasst alle Wirbeltiere mit bewussten Empfindungen. Die zweite Gruppe ist nur eine Teilmenge davon und umfasst jene, die sich auch des Faktums bewusst sind, dass sie ein Bewusstsein und Empfindungen besitzen. Im Grunde rührt das Problem nur daher, dass mit den Begriffen «Ich», «Ich-Bewusstsein», «Selbst» und «Selbstbewusstsein» je nach Kontext Unterschiedliches gemeint ist.
Mit «Ich-Bewusstsein» ist hier gemeint: dass jemand weiß, dass er oder sie ein Ich ist. Meine Katze zum Beispiel weiß das wahrscheinlich nicht. Sie hat ein ausgeprägtes Gefühl für Mein und Dein (insbesondere gegenüber einem gewissen schwarzen Kater); sie weiß, was sie will und wann sie es will. Manchmal auch nicht. Dann sitzt sie halb und halb auf der Türschwelle, während vor ihren Schnurrhaaren Schneeregen vom Himmel weht, und sie «denkt»: Will ich raus oder bleib ich drinnen? Aber sie denkt dies eben auf Katzenart. Sie besitzt nicht die Sorte von Sprache, in der Sätze gebildet werden, und sie verfügt weder über das Wort noch über das distinkte Konzept «Ich» oder «Selbst». Sie besitzt Bewusstsein, aber höchstwahrscheinlich kein Bewusstsein ihrer selbst als Selbst. Und nicht nur Tiere, auch Säuglinge, Kleinkinder, demente ältere und geistig verwirrte Menschen besitzen nicht unbedingt in vollem Sinne ein Selbst-Bewusstsein. Sie spüren zwar die Inhalte ihrer Gefühle und Gedanken, denken aber nicht auf einer abstrakteren Ebene über sich nach und können sich auch nicht mit derselben Freiheit wie gesunde erwachsene Menschen dazu verhalten.
Moralische Verantwortung fängt jedoch erst mit dem Wissen an, dass ich jemand bin, der sich so oder anders verhalten kann – gegenüber anderen, die auch ein eigener Jemand sind. Das Recht, moralisch berücksichtigt zu werden, beginnt hingegen bereits da, wo jemand bewusste Empfindungen hat. Warum reite ich so darauf herum? Weil man die Frage, ob jemand berücksichtigt werden muss, nicht mit der anderen verwechseln darf, ob der andere selbst auch ein moralisches Wesen ist. Ein Tier, ein kleines Kind, ein dementer alter Mensch oder ein Mensch in einer extremen Krisensituation mögen nicht in der Lage sein, moralisch zu denken und verantwortlich oder zurechnungsfähig zu handeln. Trotzdem verlieren sie dadurch nicht ihren Anspruch darauf, selbst moralisch berücksichtigt zu werden. Es ist zwar sprachlich nicht besonders schön, aber von der Sache her sinnvoll, wenn in der Philosophie deswegen von moralischen Subjekten – das sind die moralischen Akteure – und moralischen Objekten gesprochen wird. Der Begriff «Objekt» bedeutet in diesem Zusammenhang nichts Abwertendes, sondern meint Individuen, auf die man Rücksicht nehmen soll.