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Heinrich Wefing

Der Fall
Demjanjuk

Der letzte große NS-Prozess

 

 

C.H.Beck

Zum Buch

Der letzte große NS-Prozess ist zu Ende. John Demjanjuk wurde am 12. Mai 2011 zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt, wegen seines hohen Alters aber von der Haft verschont. Doch Zweifel bleiben. Was sagt der Prozess über die Schuld des Angeklagten? Und was sagt er über uns, die Nachgeborenen? Heinrich Wefing beschreibt den Prozessverlauf und schildert die verstörende Biographie dieses schlichten Mannes, der zwischen alle Fronten des 20. Jahrhunderts geraten ist. Wer ist dieser John Demjanjuk, der Soldat der Roten Armee war, Handlanger der Nazis, Fabrikarbeiter bei Ford und Häftling in einer israelischen Todeszelle? Und warum stand er jetzt in Deutschland vor Gericht – siebzig Jahre nach dem Völkermord? Das Verfahren gegen ihn war nicht bloß ein normaler Strafprozess: Es war eine Gedenkveranstaltung für die Opfer der Naziverbrechen; es war eine Auseinandersetzung der deutschen Justiz mit dem eigenen Versagen nach 1945. Und es war ein letzter, fast verzweifelter Versuch, für Gerechtigkeit zu sorgen, solange wenigstens einige Opfer und Täter des Völkermordes noch am Leben sind. Ein aufwühlendes Buch über die späte deutsche Suche nach Gerechtigkeit.

Über den Autor

Heinrich Wefing, Dr. phil., studierte Rechtswissenschaft und Kunstgeschichte und war lange Jahre Feuilleton-Redakteur der FAZ. Er ist nun stellvertretender Leiter des Ressorts Politik bei der Wochenzeitung «Die ZEIT», für die er vom Demjanjuk-Prozess berichtet hat.

Inhaltsverzeichnis

Das Urteil

Wer ist John Demjanjuk?

Erster Teil: Der Mann aus der Ukraine

Überleben

Im Osten, 1920–1943

Der amerikanische Traum

Vereinigte Staaten, 1952–1977

Kafka in Washington

Vereinigte Staaten, 1977–1986

Diese mörderischen Augen

Israel, 1986–1988

Iwan der Andere

Israel, 1988–1993

Zweiter Teil: Der Prozess

Der Ermittler

Logik der Anklage

Der Fremde im Rollstuhl

«Deportiert»

Der Dienstausweis

Der letzte Zeuge

Die Vorleser

Der Anwalt

Notstand

Epilog

Anhang

Dank

Literatur

Abbildungsnachweis

Personenregister

Das Urteil

Der 12. Mai 2011 ist ein milder, sonniger Morgen in München. Ein paar Kastanien blühen noch, vor den Cafés sitzen die Menschen in leichten Kleidern, die Sonnenbrillen im Haar. Nur John Demjanjuk wird nicht viel von dieser frühsommerlichen Heiterkeit registriert haben. Für ihn ist dies nicht irgendein Tag im Mai. Es ist der Tag der Entscheidung. Der Tag, an dem die Schwurgerichtskammer des Landgerichts München befinden wird, ob er den Rest seines Lebens in Haft bleibt oder ob er noch einmal, ein letztes Mal, in Freiheit kommt. Seit 1977 wird gegen den 91 Jahre alten Demjanjuk ermittelt, fast elf Jahre hat er in Haft gesessen, in den USA, in Israel, jetzt in Deutschland. Nun gibt es keinen Aufschub mehr, keine Ausflüchte, die Zeugen sind gehört, die Akten wurden sorgsam studiert, jetzt wird ein Urteil fallen. Der 12. Mai 2011 ist der Endpunkt eines halben Lebens vor Gericht.

Ein graues Sweatshirt hat John Demjanjuk an diesem Morgen angezogen, eine schwarze Hose, weiße Socken und dunkle Schuhe. Er hat in seiner Zelle im Krankentrakt der Justizvollzugsanstalt München-Stadelheim gefrühstückt, und dann hat ihn ein Krankentransporter in das Strafjustizzentrum am Stiglmaierplatz gebracht, wie so oft in den letzten Monaten. Vielleicht hat Demjanjuk etwas von der vorüberfliegenden Stadt erahnt, den blauen Himmel wenigstens, über den ein paar Wolken ziehen, oder das Grün der Bäume. Immer wieder ist der 91-jährige seit November 2009 so durch München gefahren worden. Doch dieses wird die letzte Fahrt werden. Nach achtzehn Monaten und 92 Verhandlungstagen wird das Urteil über den Mann fallen, der angeklagt ist, von März bis September 1943 bei der grausamen Ermordung von mindestens 27.900 Juden im nationalsozialistischen Vernichtungslager Sobibor im damals besetzten Polen geholfen zu haben.

Schon früh am Morgen, als Demjanjuk noch beim Frühstück sitzt, haben Kamerateams vor dem Gerichtsgebäude ihre Stative aufgebaut. Irgendwann ist ein kräftiger Mann mit einem großen Plakat neben ihnen aufgetaucht. «Menschenwürde fordert Freiheit für Demjanjuk», steht da in roter Schrift auf gelbem Karton und gleich daneben, auf einem zweiten, viel kleineren Schild: «Ich bin kein Nazi». Begierig stürzen sich die Fotografen und Reporter auf den einsamen Demonstranten.

Um zehn Uhr soll die Hauptverhandlung ein letztes Mal eröffnet werden, um acht Uhr wird der Saal A 101 aufgeschlossen, in dem die Anklage gegen John Demjanjuk seit dem 30. November 2009 verhandelt worden ist. Nach und nach füllt sich der achteckige Raum, Anwälte, Journalisten, Angehörige der Opfer von Sobibor strömen herein, der Arzt, der Demjanjuk medizinisch betreut, nimmt Platz, Fotografen und Kameraleute bauen sich vor der unscheinbaren Seitentür auf, durch die der Angeklagte jeden Moment in einem Rollstuhl gefahren werden wird.

Es ist fast ein wenig wie bei einem Klassentreffen, man trifft lauter Menschen, die über die Monate zu Bekannten geworden sind, man begrüßt sich, tauscht Neuigkeiten aus, auf Deutsch, Englisch und Holländisch wird angeregt durcheinandergeplaudert. Gespannte Erwartung steht in den Gesichtern, aber auch Erleichterung, dass der quälend lange Prozess, der so viele vertrackte Fragen aufgeworfen hat, nun endlich seinen Schlusspunkt finden soll.

Für einen Moment schweifen die Gedanken ab: Was, wenn das Gericht John Demjanjuk freisprechen sollte? Was, wenn es die Zweifel für so gravierend hielte, dass es für den Angeklagten entscheiden müsste? Donnernde Stille für einen Moment? Protestrufe, Aufschluchzen der Angehörigen, dramatische Szenen? Gut möglich, aber es ist ein sehr ferner Gedanke. Die meisten Beobachter im Saal rechnen mit einem Schuldspruch. Alles andere wäre nach dem Verlauf der Verhandlungen eine Überraschung, ja eine Sensation.

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John Demjanjuk wird am 12. Mai 2011, dem Tag der Urteilsverkündung, in den Gerichtssaal geschoben.

Um zwölf Minuten nach zehn erscheint Demjanjuk durch die Seitentür, er sitzt im Rollstuhl, wie an jedem Verhandlungstag, er trägt trotz der Hitze im Saal einen grünen Parka, die blaue Baseballkappe, die er immer trägt, und eine dunkle Brille. Zwei Minuten später betreten auch die drei Richter und zwei Schöffen der Schwurgerichtskammer den Saal, und Ralph Alt, der bedächtige Vorsitzende, ein ruhiger Mann mit grauem Bart, eröffnet die Verhandlung. Eine knappe halbe Stunde geht mit Formalien dahin, dann wendet sich Alt an den Angeklagten.

«Herr Demjanjuk», fragt der Vorsitzende und betont überdeutlich jedes Wort, «möchten Sie noch etwas sagen?»

Dem Angeklagten steht das letzte Wort zu vor dem Urteil, so schreibt es das Gesetz vor. Eine allerletzte Chance, sich zu verteidigen, seine Sicht der Dinge zu schildern, das Schweigen zu brechen.

Der Saal wartet atemlos. Nichts, gar nichts, hat Demjanjuk in den vergangenen achtzehn Monaten zu den Vorwürfen gegen ihn gesagt, sosehr er auch von den Angehörigen der Opfer dazu gedrängt worden ist. Es wäre fast ein Wunder, wenn er jetzt zu reden begänne. Aber mancher hier hofft vielleicht auf ein Wunder.

Die Dolmetscherin übersetzt die Frage des Richters. Niemand rührt sich, auch Demjanjuk nicht. Dann, kaum merklich, es ist nur eine Andeutung, schüttelt er den Kopf und öffnet ein wenig die Lippen. Was heißt das, was er da murmelt? Die Dolmetscherin schaut zum Richter und wiederholt laut das eine Wort: «Nein.»

Noch einmal unterbricht Ralph Alt daraufhin die Sitzung. «Die Verhandlung wird fortgesetzt um 12:30 Uhr», verkündet er. Noch einmal ziehen die Anwälte ihre Roben aus, noch einmal leert sich der Saal, zum letzten Mal. Dann schließlich, um vier Minuten nach halb eins, wird Demjanjuk im Rollstuhl zurück in den Saal A 101 geschoben, aber der Justizbeamte fährt ihn nicht zu der Krankenliege wie an allen anderen Tagen, er rollt ihn in die Mitte des Raumes, an den Zeugentisch. Zum ersten Mal in anderthalb Jahren sitzt der Angeklagte seinen Richtern Auge in Auge gegenüber.

Und als Einziger im Saal bleibt er sitzen, als die Richter sich erheben, um ihr Urteil zu verkünden. Ralph Alt spricht mit ruhiger, nüchterner Stimme. «Der Angeklagte John Demjanjuk ist schuldig der Beihilfe zum Mord an mindestens 28.060 Menschen. Die 1. Strafkammer des Landgerichts München II verurteilt ihn daher zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren. Der Angeklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.»

Demjanjuks Dolmetscherin übersetzt das Urteil, aber der Angeklagte zeigt keine Regung. Für einen Moment herrscht Stille im Saal. Die Sensation bleibt aus. Es gibt keinen Freispruch. Das Gericht ist von Demjanjuks Schuld überzeugt. Aber fünf Jahre? Zu viel für einen Greis, der schon Jahre im Gefängnis gesessen hat? Zu wenig, viel zu wenig für das Grauenhafte, das Beihilfe zum Völkermord bedeutet?

Demjanjuk wird zurück zu seiner Liege gerollt, zwei Sanitäter drehen und heben ihn auf das Krankenbett. Reglos lässt er die Urteilsbegründung über sich ergehen. Mal öffnet er den Mund, mal schließt er ihn, die Hände liegen schwer auf der Brust.

Der Angeklagte, davon ist das Gericht überzeugt, war Wachmann im NS-Vernichtungslager Sobibor. Alle Zweifel daran, über die seit Jahrzehnten gestritten wird, halten die Richter für widerlegt. Demjanjuk, so liest Ralph Alt aus den Gründen der Entscheidung vor, sei «Teil der Vernichtungsmaschinerie» gewesen, selbst wenn man ihm keine individuelle Mordtat nachweisen könne. Ohne Männer wie ihn wäre der Holocaust nicht möglich gewesen.

Ralph Alt spricht von den Qualen der Sterbenden in den Gaskammern. Er spricht vom Feuerschein der Leichenverbrennungen, der kilometerweit zu sehen gewesen sei, und vom Gestank des Todes, der über der ganzen Gegend gehangen habe.

Minutenlang zählt der Vorsitzende die Transporte aus dem niederländischen Lager Westerbork auf, die in Sobibor eintrafen, als der gebürtige Ukrainer Demjanjuk dort Wachmann war. Alt nennt jeden einzelnen Zug, und er nennt die Namen jener Angehörigen der Nebenkläger, die aus den Viehwaggons ins Gas geschickt wurden. Kaum einer im Gerichtssaal, dem nicht Tränen in den Augen stehen. Alt erwähnt das älteste Opfer, einen Mann, der im Jahre 1848 geboren worden war und 1943 in Sobibor ermordet wurde, weit über neunzig Jahre alt, älter noch als Demjanjuk jetzt. «Dieser Mann hätte es verdient», sagt der Vorsitzende Richter, «in Würde zu sterben.»

Alt erwähnt den sogenannten Kindertransport vom 11. Juni 1943, als über tausend Kinder, alle noch keine vierzehn Jahre alt, nach Osten, nach Sobibor, in den Tod geschickt wurden. Demjanjuk, auch davon ist das Gericht überzeugt, hat diese Kinder gesehen, und er hat geholfen, sie umzubringen.

Demjanjuk habe gewusst, was er tue, und er habe es auch gewollt, sagt der Richter. Er hätte fliehen können, so wie viele andere der Henkersknechte der SS, aber er habe es nicht getan. Damit habe er sich schuldig gemacht.

Demjanjuks Verteidiger sitzt nur ein paar Schritte von seinem Mandanten entfernt, in finsteres Grübeln versunken. Ulrich Busch hat sich tief in seinen Sessel zurückgelehnt, den Kopf gesenkt, die Arme vor dem Bauch verschränkt. Nichts von dem, was er während der Verhandlung vorgetragen hat, scheint zu den Richtern durchgedrungen zu sein. Kein einziges seiner Argumente, so sieht es aus, hat Eindruck gemacht. Bis in die Formulierungen hinein folgt das Gericht den Gedanken der Staatsanwaltschaft. Schon Tage vor der Verkündung des Urteils hatte Busch angekündigt, er werde in Revision gehen, sollte der Angeklagte schuldig gesprochen werden. Vielleicht, wer weiß, hat Busch in diesem Moment im Geiste schon die Revisionsschrift entworfen.

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Der Vorsitzende Richter, Ralph Alt, am Tag der Urteilsverkündung im Gerichtssaal.

Doch dann kommt, was im Fall Demjanjuk fast immer kommt, wenn die Dinge endlich klar und entschieden scheinen: eine Überraschung. Ralph Alt, der stets so sachlich und zurückhaltend auftritt, hat sich die Überraschung mit einem erstaunlichen Sinn für den Effekt ganz bis zum Schluss aufbewahrt.

Er entlässt Demjanjuk aus der Haft. Die Strafkammer hebt den Haftbefehl auf. Zu alt sei der Angeklagte, er habe keinen Pass mehr, er sei staatenlos, seit er von den USA ausgebürgert worden sei. Demjanjuk werde nicht mehr fliehen. Bis zur endgültigen Entscheidung über die Revision wird der Angeklagte auf freien Fuß gesetzt. Es ist eine Wendung, mit der niemand gerechnet hat. Und sie stürzt alle Beteiligten in einen Strudel von Emotionen.

Schuldig und doch frei: Es ist ein eigentümliches Urteil, das die Kammer da ersonnen hat, gleichzeitig weise und widersprüchlich. Einleuchtend und doch schwer nachvollziehbar.

Schweißperlen stehen Demjanjuks Anwalt Ulrich Busch auf der Stirn, als er zu seinem Mandanten eilt, um ihm das Urteil zu erklären:

«Sie sind ein freier Mann!»

«Schlafe ich?», fragt Demjanjuk ungläubig.

Schuldig und doch frei – es ist ein Urteil, das diesem Prozess auf merkwürdige Weise angemessen erscheint. Es ist die vielleicht letzte Wendung eines Lebens, das voll abenteuerlicher Volten des Schicksals steckt, das hin und her geworfen wurde zwischen Verrecken und Überleben, zwischen Schuld und Sühne. Es ist die seltsam passende Entscheidung eines einzigartigen, mitunter bizarren Falles, der schon heute Rechtsgeschichte geschrieben hat. Eines Falles, der wie kein Zweiter die Notwendigkeit und die Grenzen der juristischen Auseinandersetzung mit dem Holocaust zeigt.

Wer ist John Demjanjuk?

Als der Demjanjuk-Prozess am 30. November 2009 beginnt, an einem kalten, düsteren Wintermorgen in München, ist die halbe Welt zugeschaltet. Schon um sechs Uhr in der Frühe stehen Reporter und Kamerateams aus den Niederlanden, aus Israel, Polen, Großbritannien und den USA vor dem Betongebirge des Münchner Strafjustizzentrums an der Nymphenburger Straße, bei kaum vier Grad über Null, dick verpackt in Schals und Daunenjacken. Viele lockt die Story, die spektakuläre Geschichte eines Greises, der als junger Mann ein «KZ-Scherge» gewesen sei, wie die «Bild»-Zeitung schreibt, als stehe das schon fest, ein leibhaftiger Helfer des Holocaust. Vielen Journalisten aber steht auch die historische Dimension des Verfahrens vor Augen. Dies werde der letzte bedeutende NS-Prozess in Deutschland, heißt es.

Noch einmal, mehr als sechzig Jahre nach Kriegsende, werde sich die Bundesrepublik mit den Verbrechen der Nationalsozialisten auseinandersetzen müssen. Noch einmal, vielleicht zum letzten Mal, muss in einem großen Verfahren vor Gericht nicht nur die Schuld des Angeklagten verhandelt, sondern auch die Geschichte des Holocaust aufgerollt werden – und die Geschichte der Strafverfolgung nationalsozialistischen Unrechts nach dem Krieg. Noch einmal würde die Frage gestellt werden: Wie konnte der Judenmord geschehen? Und wer waren diejenigen, die das Menschheitsverbrechen begangen haben?

Ob der Demjanjuk-Prozess wirklich der letzte seiner Art sein wird, ist schwer zu sagen. Noch sind die Fahndungslisten der Justizbehörden nicht geschlossen, noch leben einige hochbetagte Männer und Frauen, die mit Anfang zwanzig in die Verbrechen der Nationalsozialisten verstrickt waren. Und sie werden verfolgt, mittlerweile fast konsequenter als je zuvor. Tatsächlich wurde, während John Demjanjuk in München vor Gericht stand, in Aachen der 88 Jahre alte ehemalige SS-Mann Heinrich Boere wegen der Ermordung mehrerer Zivilisten in den Niederlanden zu lebenslanger Haft verurteilt. In Bonn erhoben Staatsanwälte Anklage gegen Samuel Kunz, der Wachmann im Vernichtungslager Belzec gewesen sein soll; kurz vor Prozessbeginn, im November 2010, allerdings starb der Neunundachtzigjährige. Allein die Staatsanwaltschaft München ermittelt immer noch in rund dreißig NS-Fällen, meist wegen Kriegsverbrechen in Italien. Ob all diese Ermittlungen zu Anklagen führen werden, am Ende gar zu Strafurteilen, weiß niemand. Aber für das Verfahren gegen John Demjanjuk spielt das auch keine Rolle.

Denn ganz gleich, ob noch weitere Prozesse folgen werden: Der Fall Demjanjuk mit all seinen biographischen Verwicklungen, den historischen Unschärfen und seinen vertrackten moralischen Fragen hat deutlich gemacht, dass die juristische Auseinandersetzung mit dem Völkermord an ihr Ende kommt. Die Täter und die Zeugen sterben, die lebendige Erinnerung verblasst, die Beweisregeln des Strafprozesses stoßen an ihre Grenzen. Irgendwann, recht bald vermutlich, werden die Richter und Staatsanwälte ihre Akten schließen und an die Historiker übergeben.

Die Bedeutung des Demjanjuk-Prozesses aber geht weit über die rechtshistorische Zäsur hinaus. Dieses Verfahren ist so wichtig, so heikel, derart faszinierend und verwirrend, weil es immer wieder elementare Fragen aufwirft. Fragen nach den Grenzen des Rechts, nach den Tücken der Erinnerung, nach dem Sinn von Strafe – und danach, wer wir sein wollen, als Einzelne und als Gesellschaft.

John Demjanjuk wurde am 3. April 1920 in einem Dorf in der Ukraine geboren. Gleich nach dem Überfall der Wehrmacht auf die Sowjetunion musste er an die Front, geriet in deutsche Kriegsgefangenschaft, ließ sich, davon sind jedenfalls die Richter überzeugt, von der SS als Mordgeselle anwerben, schlug sich nach dem Krieg nach Amerika durch, schuftete bei Ford am Fließband, gründete eine Familie, ging sonntags in die Kirche und führte ein braves, unauffälliges Leben, bis Mitte der siebziger Jahre die ersten Ermittlungen in den Vereinigten Staaten gegen ihn begannen.

Demjanjuk ist nach allem, was wir wissen, ein sehr schlichter Mann. Er ist nie über einen Grundschulabschluss hinausgekommen, hat sein Leben lang als einfacher Arbeiter sein Geld verdient und kaum je einmal eine geistige Ambition gezeigt. Der Jurist Yoram Sheftel, der Demjanjuk in Israel verteidigte, hat nach der ersten längeren Begegnung mit seinem Mandanten notiert, dieser sei ein «denkbar simpler Mensch mit stark begrenzten intellektuellen Möglichkeiten». Er habe verwirrt gewirkt, unfähig, sich einfache Sachverhalte einzuprägen: «Er hatte Mühe, sich an Details aus seinem eigenen Leben oder aus dem Leben seiner Familie zu erinnern.» Für seinen israelischen Anwalt war Demjanjuk ein einfältiger Knecht, ein Wesen aus der russischen Geschichte. Sheftel schrieb: «Er schien all das zu verkörpern, was meine Großmutter über die schwergliedrigen, wettergegerbten ukrainischen Bauern erzählt hatte. […] Der Eindruck war so stark, dass ich das Gefühl hatte, diesen ‹Muzhik›, diesen Bauern, irgendwo in der Vergangenheit getroffen zu haben.» Auch Demjanjuks deutscher Anwalt Ulrich Busch beschreibt ihn als einen «einfach strukturierten Mann», der einer «tagelangen Befragung» wohl «nicht gewachsen» wäre.

Als der Prozess in München eröffnet wird, ist John Demjanjuk 89 Jahre alt. Ein Greis, krank, müde, der nur noch ein paar Jahre zu leben hat – vielleicht auch nur noch Monate. Ein Mann, der von der Justiz seit mehr als dreißig Jahren verfolgt wird, erst von der amerikanischen, dann von der israelischen, schließlich von der deutschen; ein Mann, der in Israel zum Tode verurteilt worden ist und fünf Jahre in Einzelhaft auf seine Hinrichtung gewartet hat – wegen eines falschen Verdachts. Warum muss einem solchen Mann noch einmal der Prozess gemacht werden, wegen einer Tat, die bald siebzig Jahre zurückliegt, einer Tat, die er begangen hat (wenn er sie denn begangen hat), als er kaum zwanzig war, ein verhungerter Rotarmist in deutscher Gefangenschaft, ein armer Hund, der nur eines wollte: überleben? Warum wird so einer noch vor Gericht gezerrt?

Natürlich, Mord verjährt nicht. Darauf hat sich die Bundesrepublik Ende der sechziger Jahre nach ebenso ernsthaften wie emotionalen Debatten verständigt – gerade mit Blick auf die beispiellosen Verbrechen der Nationalsozialisten. Niemals sollte sich ein Mensch, der am Judenmord beteiligt war, darauf berufen können, seine Taten seien verjährt, die Ruhe im Land, der Rechtsfrieden, sei wichtiger als die Sühne seiner individuellen Schuld. Und genau das wirft die Münchner Staatsanwaltschaft John Demjanjuk vor: die Beteiligung am Holocaust; nicht als Haupttäter, aber immerhin als Gehilfe.

Doch welchen Zweck hat es, einen wie Demjanjuk zu bestrafen? Dient es seiner Besserung? Eher nicht. John Demjanjuk hätte nach einem endgültigen Urteil kaum noch genug Zeit, um seine Wandlung zum guten, wenigstens zum besseren Menschen unter Beweis zu stellen. Was dann? Vergeltung und Rache? Das sind alte, überkommene Ziele im aufgeklärten Rechtsstaat, der auf Resozialisierung aus ist und den Begriff der Rache kaum mehr verwendet.

Zur Abschreckung, lautet die eine mögliche Antwort. Zur Abschreckung all der Gewaltherrscher und Massenmörder unserer Zeit, die den nächsten Genozid planen. Auch zur Abschreckung ihrer Handlanger und Helfershelfer. Der Fall Demjanjuk soll ihnen signalisieren: es gibt kein Entkommen, auch nicht nach Jahrzehnten, auch nicht für die anonymen Vollstrecker und Befehlsempfänger, ohne die kein Völkermord möglich ist. Ganz gleich, wie quälend langsam die Mühlen der Justiz mahlen, am Ende erreicht die Gerechtigkeit jeden. Das wäre die Botschaft. Aber ist der Fall Demjanjuk der richtige, um diese Botschaft in die Welt zu senden?

Zur Aufklärung, das wäre die andere mögliche Antwort. Der Prozess müsse aus einem sehr einfachen Grunde stattfinden, hat der Leitartikler Josef Joffe in der «Zeit» geschrieben: «Um der Wahrheit willen.» Es sei der eigentliche Zweck des Verfahrens, «der Nachwelt im rechtsstaatlichen Ringen um Schuld und Sühne, also bei penibler Beweisführung, immer wieder den moralischen Maßstab vorzuhalten, ohne den keine freie Gesellschaft auskommen kann». Und: «Es muss den Nachgeborenen stets aufs Neue erläutert, ja eingeimpft werden, welche Taten immer falsch, weil unmoralisch sind.» Nur: Ist das die Aufgabe eines Gerichtes? Ist ein Prozess der geeignete Ort für ethischmoralische Vergewisserungen der Öffentlichkeit? Ist es ein historisches Kolleg?

Oder sollte John Demjanjuk etwa angeklagt worden sein, um – zugespitzt formuliert – frühere Fehler zu korrigieren? Um der Geschichte der Strafverfolgung von NS-Tätern in der Bundesrepublik noch ein abschließendes Kapitel hinzuzufügen? Einen Epilog, der versöhnlich stimmen sollte, der der Welt noch einmal demonstrieren würde, dass Deutschland gelernt hat, nicht nur aus dem Holocaust, sondern auch aus den Versäumnissen im Umgang mit den nationalsozialistischen Verbrechen nach dem Krieg?

Natürlich wäre es absurd zu behaupten, der Fall Demjanjuk habe ausschließlich oder auch nur in erster Linie dazu gedient, das nachzuholen, was die westdeutsche Justiz nach 1945 weithin unterlassen hat. Aber ebenso steht außer Frage, dass die Geschichte der juristischen Aufarbeitung der NS-Verbrechen in der Bundesrepublik Voraussetzung und Hintergrund des Demjanjuk-Prozesses ist. Sie dient den Beteiligten als Maßstab und Ansporn, als Rechtfertigung und Motivation. Immer wieder sind die Prozessbeteiligten im Verlauf der Verhandlungen auf frühere Verfahren wegen NS-Verbrechen zu sprechen gekommen, und fast alle Argumente, die vor Gericht vorgetragen wurden, wurzeln tief in dem Bewusstsein, dass der Prozess gegen John Demjanjuk auch eine rechtshistorische Vorgeschichte hat. Und dass er so etwas wie ein Ende markiert.

Alles in allem, so lässt sich festhalten, ist die Geschichte der Strafverfolgung von NS-Verbrechen in der Bundesrepublik die Geschichte eines Scheiterns. Die bundesdeutsche Justiz hat bei der Verfolgung von Kriegsverbrechern und nationalsozialistischen Verbrechen ganz überwiegend versagt, niemand wird das noch ernsthaft bestreiten. Es mag Ausnahmen von diesem Befund geben, große und beispielhafte Anstrengungen, den Völkermord mit den Mitteln des Rechtsstaates zu sühnen, wie etwa die Auschwitz-Prozesse seit Anfang der sechziger Jahre in Frankfurt am Main. Aber alles in allem ist die Bilanz negativ. In der Mehrzahl der Fälle regierten Verdrängung und Untätigkeit der Justiz, Abwehr von Schuld und ein kollektives Entlastungsstreben, das von einem breiten gesellschaftlichen Konsens und einer großen Koalition in den Volksparteien getragen wurde. Der Historiker Norbert Frei spricht in seiner Studie über die Bonner «Vergangenheitspolitik» von einer «skandalös vernachlässigten strafrechtlichen Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit», jedenfalls für den Zeitraum bis gegen Ende der sechziger Jahre, und von einer «nicht minder skandalösen personellen Kontinuität innerhalb der Justiz».

Nach jüngeren Untersuchungen des Münchner Instituts für Zeitgeschichte haben die deutschen Staatsanwaltschaften in den sechzig Jahren von 1945 bis 2005 zwar gut 36.000 Strafverfahren wegen NS-Verbrechen geführt. Aber in lediglich 204 Fällen erkannten die Richter auf Mord, gegen nur 166 Angeklagte wurde eine lebenslange Freiheitsstrafe verhängt. Selbst wenn man einräumen muss, dass eine angemessene Ahndung der Shoa durch die Justiz vermutlich ohnehin ausgeschlossen ist, und selbst wenn man berücksichtigt, dass viele Täter den Krieg nicht überlebten und ein nicht unerheblicher Teil der NS-Täter von den alliierten Besatzungsmächten oder im Ausland abgeurteilt wurde, so ist das Ergebnis doch insgesamt niederschmetternd. Einige der Anwälte im Demjanjuk-Prozess haben denn auch in vertraulichen Gesprächen geäußert, der Umgang der Nachkriegsjustiz mit der NS-Zeit sei «schlicht zum Heulen». Es sei «zutiefst empörend», wie von den damals zuständigen Gerichten «mit juristischen Kategorien hantiert wurde», um eigentlich zwingende Verurteilungen von NS-Tätern zu lebenslänglicher Haft zu vermeiden.

Diese Befunde stellen den allgemeinen Hintergrund für den Prozess gegen John Demjanjuk dar. Mindestens so bedeutsam ist aber der Umgang der Justiz mit dem Vernichtungslager Sobibor selbst. Nur ein kleiner Teil der Männer, die für die Verbrechen in dem Vernichtungslager verantwortlich waren, wurde von deutschen Gerichten angeklagt, viele tauchten unerkannt im bürgerlichen Alltag unter, mehrere nahmen sich das Leben. In fünf Prozessen – in Berlin, Frankfurt, Hamburg, Hagen und Düsseldorf – bemühten sich bundesdeutsche Gerichte zwischen 1950 und 1970 um eine Ahndung der Verbrechen im Vernichtungslager Sobibor, in dem zwischen Anfang 1942 und Herbst 1943 wohl mindestens 250.000 Menschen ermordet wurden. Vier der Angeklagten, die wichtigsten Befehlshaber des Lagers, darunter der Kommandant, SS-Obersturmbannführer Franz Stangl, wurden zu lebenslanger Haft verurteilt; alle Übrigen erhielten lediglich wenige Jahre Haft oder wurden freigesprochen, weil diese Männer, so die Richter, überzeugt gewesen seien, ihr eigenes Leben stehe auf dem Spiel, wenn sie sich der Mordroutine widersetzt oder entzogen hätten. Zu den Offizieren, die wegen dieses sogenannten Putativnotstandes freigesprochen wurden, zählte auch Erich Lachmann, der bis Herbst 1942 die Trawniki-Wachmannschaften in Sobibor befehligt hatte. Mangels ausreichender Beweise freigesprochen wurde nach mehrjähriger Verhandlung vor dem Schwurgericht Hamburg auch der 1941 eingesetzte Lagerleiter von Trawniki, SS-Sturmbannführer Karl Streibel.

Wie kann einer wie John Demjanjuk, der allenfalls ein Handlanger war, ein ungebildeter Wachmann auf der untersten Stufe der Hierarchie, in den Worten des Amsterdamer Strafrechtlers Christiaan Rüter einer «der kleinsten der kleinen Fische» – wie kann so einer noch 65 Jahre nach Kriegsende wegen Beihilfe zum Mord in Sobibor angeklagt werden, wenn viele der SS-Männer und Polizei-Offiziere, die das Vernichtungslager befehligten, freigesprochen oder lediglich zu niedrigen Haftstrafen verurteilt wurden? Widerspricht das nicht jedem Gerechtigkeitsgefühl? Muss es nicht eine innere Relation zwischen Anklagen und Strafen geben, selbst wenn sie Jahre auseinanderliegen? Oder genügt es zu sagen, ein falsches Urteil aus den sechziger Jahren könne doch keinen Staatsanwalt, keinen Richter daran hindern, sich eines Besseren zu besinnen und heute das Richtige zu tun?

Man kann über den Prozess gegen John Demjanjuk nicht berichten, ohne über Ambivalenzen zu schreiben. Über Gewissheiten, die sich nicht einstellen wollen. Über Gefühle, die schwanken zwischen Abscheu und Mitleid. Denn je länger man über diesen Fall nachdenkt, desto stärker werden die Zweifel. Je länger man den Prozess betrachtet, desto mehr häufen sich die blinden Flecken. Dies ist ein Fall, der an die Grenzen des Rechts führt oder mindestens an die Grenzen des Rechtsgefühls. Richter müssen am Ende notwendig ein Urteil fällen, Beobachter nicht. Sie haben das Privileg, Widersprüche zuzulassen und Unschärfen auszuleuchten. Sie können das Unbehagen benennen, die Zweifel formulieren – vielleicht müssen sie das sogar. Jedenfalls dann, wenn ein Gegenstand so widersprüchlich, unscharf und derart ambivalent ist wie der Fall Demjanjuk. Von diesen Ambivalenzen, von diesen Unschärfen, von diesen Dilemmata handelt das vorliegende Buch.

Und es handelt vom Leben eines Mannes, John Demjanjuk, der immer wieder zwischen die Mühlsteine der Weltgeschichte geraten ist. Ein exemplarischer Mensch des 20. Jahrhunderts, der entwurzelt wurde von Krieg und Gewalt, den es über die Kontinente gefegt hat, ein Heimatloser und Entfesselter. Ein Opfer der Umstände, ein Täter vermutlich und ganz gewiss ein Getriebener. Kolchosenbauer und Rotarmist, Gefangener der Wehrmacht, Handlanger der SS, Kraftfahrer der US Army und Fließbandarbeiter bei Ford, alles in kaum mehr als zehn Jahren. Ein Hin und Her zwischen den Fronten, zwischen den Staaten, zwischen den Welten, zwischen Mitmachen und Krepieren, das ihn ein Leben lang verfolgt und immer wieder eingeholt hat.

Wer ist dieser Mann, dieser Irrläufer der Weltgeschichte, in dessen Biographie alle Schrecken und Verwerfungen des 20. Jahrhunderts eingeschrieben sind: Krieg und Holocaust, der Ost-West-Konflikt, der Fall der Mauer, das Ende des Kommunismus. Wer ist dieser Mensch? Ein Monster? Ein Mörder? Ein virtuoser Überlebenskünstler und mittelmäßiger Lügner? Oder doch nur ein fleißiger Arbeiter, braver Familienvater und zuverlässiger Kirchgänger, wie er so hartnäckig behauptet hat?

Wer ist dieser John Demjanjuk?

Erster Teil: Der Mann aus der Ukraine

Überleben

Im Osten, 1920–1943

Das Dorf Dubowi Macharynzi liegt tief im Westen der Ukraine, fast drei Stunden Autofahrt von Kiew entfernt, umgeben von Weizenfeldern und Raps. Vor den niedrigen Häusern streunen Hunde herum, Hühner picken im Staub, in den Gärten wachsen Kartoffeln, Tomaten und Gurken. Wasser schöpfen die Bewohner noch immer aus Brunnen, genauso wie damals, als hier Olga Demjanjuk ihren Sohn Iwan Nikolajewitsch zur Welt brachte, am 3. April 1920, zwei Jahre nach Ende des Ersten Weltkriegs.

Einige wenige Greise leben noch in Dubowi Macharynzi, die sich an die Demjanjuks erinnern. Oder vielleicht geben sie auch nur vor, sich zu erinnern. Ein wenig stiller als die anderen sei er gewesen, sagen die Alten, und nicht sehr intelligent. Neun Jahre ging er zur Schule, schaffte aber nur den Abschluss der vierten Klasse. «Ein Dorfjunge wie alle hier», heißt es. Ein Bauernlümmel aus einer armen Familie, gerissen und zäh. Seine Eltern waren beide Invaliden, seine Mutter konnte nur mit Mühe gehen, sein Vater hatte im Ersten Weltkrieg alle Finger der rechten Hand verloren, nur den Daumen nicht, der starr von der verstümmelten Hand abstand. Mit siebzehn wird Iwan zum Gehilfen des Traktorfahrers der örtlichen Kolchose, mit achtzehn tritt er in den «Komsomol» ein, den Jugendverband der Kommunistischen Partei. Aus Angst, verhöhnt zu werden, wenn er der Gruppe ferngeblieben wäre, behauptet er.

Irgendwann, viel später, wird Demjanjuk einmal sagen, er habe «drei oder vier sehr schwere Zeiten» durchstehen müssen. Die erste schwere Zeit kommt mit mörderischer Wucht, als er dreizehn Jahre alt ist. Stalins Zwangskollektivierung der Landwirtschaft stürzt die Ukraine in Elend und Verzweiflung. Die Ernten der Bauern werden billig in andere Landesteile verkauft, ein Teil des Weizens wird exportiert. In den Jahren 1932 und 1933 verhungern fünf, sechs oder zehn Millionen Menschen, niemand vermag das genau zu sagen. Iwan Demjanjuk sieht Nachbarn Rinde und Zweige essen, er sieht, wie sie langsam sterben, mit spitzen Gesichtern und aufgeblähten Bäuchen. Er selbst isst Ratten und Mäuse. Für ein paar Laib Brot, so wird erzählt, verkauften die Demjanjuks ihren Hof. Sehr wahrscheinlich, dass der Dreizehnjährige damals, während der mörderischen Hungersnot, die Bolschewiken zu hassen lernte. Und mehr noch spricht dafür, dass er damals das einzige große Talent in sich entdeckte, das er je besaß: das Talent zu überleben.

1941 bricht die Geschichte ein zweites Mal in Demjanjuks Leben ein. Kurz nach Hitlers Überfall auf die Sowjetunion wird er in die Rote Armee eingezogen und als Artillerist in den Kampf gegen die Deutschen geschickt. Es ist ein Abschied für immer, sein Heimatdorf sieht er nie wieder, auch Vater und Mutter nicht. Bald wird er von einem Granatsplitter am Rücken verwundet, die Narbe ist noch heute zu sehen. Demjanjuk kommt in verschiedene Lazarette, erholt sich langsam und wird wieder zu einer Artillerieeinheit abkommandiert. Bei der erbitterten Schlacht um die Halbinsel Kertsch auf der Krim gerät Demjanjuk im Mai 1942 in deutsche Kriegsgefangenschaft, zusammen mit weit über 150.000 anderen Rotarmisten. Zuerst kommt er in ein Kriegsgefangenenlager in Rovno in der Ukraine, dann wird er in ein anderes Lager gebracht, in das «Stalag 319» nahe der Ortschaft Chelm im heutigen Polen.

Chelm ist ein grauenhafter Ort. Es ist kein Lager, sondern eigentlich bloß ein eingezäunter Platz zum Sterben. Zehntausende Rotarmisten hat die Wehrmacht dort zusammengetrieben, ohne jede Infrastruktur. Wie in den meisten Kriegsgefangenenlagern im Osten gibt es kaum Baracken, viele Gefangene müssen im Freien auf der Erde schlafen, auch im Winter. Die hygienischen Verhältnisse sind erbärmlich. Und es gibt fast nichts zu essen. Ob die katastrophale Versorgung auf Desorganisation beruht, auf mangelnder Vorbereitung und der völligen Überforderung der deutschen Truppen oder ob es einen rassistischen «Hungerplan» gegeben hat, dessen Ziel die systematische Ermordung aller sowjetischen Kriegsgefangenen gewesen sei, das ist unter Historikern umstritten. Für die Gefangenen ist es ohne Belang. In ihrer Verzweiflung essen sie Gras und Laub, sogar Fälle von Kannibalismus soll es gegeben haben.

Bald beginnt ein Massensterben, die Männer krepieren an Hunger, an Entkräftung, an Fleckfieber, Typhus und der Ruhr, viele erfrieren. Bis zum Frühjahr 1942 kommen etwa zwei jener drei Millionen Rotarmisten um, die in deutsche Gefangenschaft geraten sind, und auch danach geht das Sterben weiter: «Die Geschichte des Krieges kennt nur wenige Katastrophen, die von ihrem Ausmaß und ihrem Charakter damit zu vergleichen sind», hat der Historiker Christian Hartmann in einer großen Studie über den Ostkrieg der Wehrmacht notiert.

Demjanjuk aber überlebt. Wie, das ist sein Geheimnis. Was genau er in Chelm getan hat, konnte bislang kein Gericht mit Sicherheit feststellen, in Israel nicht, in den Vereinigten Staaten nicht und auch nicht in Deutschland. Es ist das zentrale Rätsel, das Demjanjuks Schicksal geprägt hat. Mit der Gefangenschaft in Chelm beginnt jener Zeitraum, der ungeklärt ist in seiner Biographie. Der Zeitraum, um den alle Widersprüche, alle Verdächtigungen in seinem Leben kreisen werden – und alle juristischen Untersuchungen.

Es gibt zwei Versionen davon, was in der Kriegsgefangenschaft passiert ist. Die eine, Demjanjuks Version, ist einfach. Er hat sie in all den Jahren vor Gericht wieder und wieder erzählt, mit manchen Abweichungen und Widersprüchen im Detail, aber halbwegs konsistent in der großen Linie. Demjanjuk behauptet, er sei von Herbst 1942 bis zum Spätsommer oder Herbst 1944 in Chelm gewesen. Vor dem Bezirksgericht in Jerusalem hat er Ende der achtziger Jahre ausgesagt, er habe anfangs Gräben ausheben und Baracken bauen müssen, später, vom Frühjahr 1943 bis zum Winter 1943/44, sei er in ein nahe gelegenes Moor geschickt worden, um Torf zu stechen. Dann, irgendwann im Herbst 1944, habe er eine alte italienische Uniform bekommen und habe zusammen mit mehreren hundert anderen ukrainischen Gefangenen einen Zug bestiegen, der sie in die Nähe von Graz in der Steiermark brachte, wo sie auf den Kampf gegen die Rote Armee vorbereitet werden sollten. Drei oder vier Wochen lang, so Demjanjuk, hätten die Männer aus Chelm auf den Einsatz gewartet. Während dieser Zeit sei ihm auch seine Blutgruppe eintätowiert worden, in der Armbeuge des linken Armes; genau dort, wo auch SS-Truppen ihr Blutgruppen-Zeichen tragen. Jahrelang hat Demjanjuk später versucht, die Tätowierung wieder loszuwerden, die Narben sind noch heute zu sehen. Schließlich jedoch habe man ihn zur «Wlassow-Armee» abkommandiert zu einem russischen Freiwilligenverband, der unter dem Kommando des Generals Andrei Andrejewitsch Wlassow auf Seiten Hitlers gegen die Sowjetunion kämpfte.

Demjanjuk räumte vor dem Gericht in Jerusalem ein, er sei Teil dieser Truppe geworden – und damit Teil von Hitlers Kriegsmaschinerie. Aber er beharrte darauf, er sei dazu gezwungen worden. Und er habe lediglich als Wache für höhere Offiziere der Wlassow-Armee auf dem Truppenübungsplatz Heuberg auf der Schwäbischen Alb gedient. Kurz vor Ende des Krieges habe er sich gemeinsam mit Kameraden der heranrückenden US-Army ergeben und sei schließlich in ein Auffanglager für «Displaced Persons», für heimatlose Zivilisten, in Landshut gekommen.

Das ist Demjanjuks Version. Es ist die Geschichte eines Gefangenen, der sich irgendwie durchgeschlagen hat. Der aber niemandem etwas zuleide getan hat. Die Geschichte eines Opfers.

Auch die andere Version, die Version der israelischen, amerikanischen und deutschen Staatsanwälte, beginnt 1942 mit der Schlacht um Kertsch und endet 1945 in Landshut. Dazwischen aber weichen die beiden Darstellungen fundamental voneinander ab. Kein Zweifel: Entweder täuschen sich die Ankläger. Oder Demjanjuk hat Zeit seines Lebens gelogen.

Kurz nach seiner Gefangenennahme, so behaupten die Ermittler, sei Demjanjuk im Sommer 1942 in Chelm von den Deutschen als Wachmann angeworben worden. Dass es solche Anwerbungen gegeben hat, ist unbestritten. Am 22. Juni 1941 hatte der Angriff der Wehrmacht auf die Sowjetunion begonnen. In den ersten Monaten des «Unternehmens Barbarossa» stießen die deutschen Truppen rasch vor und eroberten riesige Gebiete. Es fehlten jedoch Männer, um das neu besetzte Territorium zu sichern. Schon Mitte Juli 1941 wies Heinrich Himmler, der «Reichsführer SS» und Chef aller Sicherheitsbehörden, daher SS und Polizei an, «zusätzliche Schutzformationen aus den uns genehmen Volksteilen der eroberten Gebiete beschleunigt aufzustellen». Rekrutiert werden sollten vor allem «Volksdeutsche», deutschstämmige Russen also, von denen man sich eine gewisse Loyalität erhoffte, zudem Balten und Ukrainer, denen ein latenter Antisemitismus und ein ausgeprägter Hass auf die Sowjetunion unterstellt wurde. Bald schon gingen die Besatzer zudem dazu über, sogenannte Hilfswillige auch unter den sowjetischen Kriegsgefangenen zu suchen. Ob diese Männer sich tatsächlich freiwillig meldeten oder zur Kooperation gezwungen wurden; ob sie angesichts der mörderischen Zustände in den Lagern überhaupt eine Wahl hatten, ob sie für einen Teller Suppe nicht zu allem bereit waren, lässt sich heute kaum mehr beurteilen.

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Iwan Demjanjuk auf einem Foto des Internationalen Suchdienstes des Roten Kreuzes, 1948.

Insgesamt zwischen 4000 und 5000 dieser Männer, vorwiegend Deutschstämmige, aber auch viele Ukrainer, kommandierte die SS seit dem Spätsommer 1941 auf das Gelände einer verlassenen Zuckerfabrik nahe dem Örtchen Trawniki, rund vierzig Kilometer südöstlich von Lublin. Dort war schon kurz nach Beginn des Russlandfeldzugs das Lager «Trawniki» eingerichtet worden, in dem die ehemaligen Rotarmisten zu Wachmannschaften der Deutschen ausgebildet wurden. Sie erhielten einen Dienstausweis, eine flüchtige Einweisung in ihre Aufgaben, lernten zu marschieren und ein paar Brocken Deutsch, bekamen eine Uniform, Sold, eine Waffe und gelegentlich sogar ein paar Tage Urlaub. Und vor allem bekamen sie zu essen. Das «Fußvolk der Endlösung» nennt der amerikanische Historiker Peter Black diese Männer, die als die «Trawniki» in die Geschichte des Völkermords eingegangen sind.

Sie wurden als Wachen auf landwirtschaftlichen Gütern eingesetzt, in den Ghettos trieben sie die Opfer zusammen und halfen beim Transport in die Vernichtungslager. In Belzec, Treblinka und Sobibor prügelten sie die Juden in die Gaskammern. Ohne die Trawniki, so lässt sich behaupten, hätte es den Holocaust im besetzten Polen in dieser Form kaum geben können.

Dass Demjanjuk in Trawniki war, soll ein Dienstausweis beweisen, der dort auf seinen Namen ausgestellt wurde, mit der Dienstnummer 1393, unterschrieben vom Lagerkommandanten, dem SS-Hauptsturmführer Streibel – und von Demjanjuk selbst. Wann immer Demjanjuk vor Gericht stand: Dieser Dienstausweis war stets das wichtigste Beweisstück gegen ihn. Und das umstrittenste. Ein mittlerweile vergilbtes, stockfleckiges Stück Papier, an den Rändern eingerissen, mehrfach gefaltet, komplett mit Passfoto, mehreren Stempeln und persönlichen Daten des Wachmanns, wie Größe, Augenfarbe, Nationalität und «besondere Kennzeichen». Vermerkt steht dort, in deutscher Sprache: «Narbe auf dem Rücken.»