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«Bis der Teufel uns scheidet»

25 Jahre Leipziger Buchpreis
zur Europäischen Verständigung

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C.H.Beck

Zum Buch

Seit 1994 wird in Leipzig der Buchpreis zur Europäischen Verständigung verliehen. Er ehrt Persönlichkeiten, die sich in besonderer Weise um das gegenseitige Verständnis in Europa verdient gemacht haben. Europa hat sich in diesen 25 Jahren verändert – leider nicht nur zum Vorteil. 13 Preisträgerinnen und Preisträger blicken in diesem Band zurück und ziehen kritische Bilanz. Dabei wird deutlich: Europa steht vor einer historischen Bewährungsprobe, und wofür der Preis eintritt, das ist heute wichtiger denn je. Der europäische Zusammenhalt, die Bewahrung seiner historischen Errungenschaften seit 1945 und 1989 sind es wert, mit aller intellektuellen und politischen Energie verteidigt zu werden «bis der Teufel uns scheidet», wie Geert Mak halb aufmunternd, halb sarkastisch den Auftrag für die Zukunft benennt.

Die Autorinnen und Autoren

Juri Andruchowytsch

Mircea Cărtărescu

György Dalos

Slavenka Drakulić

Dževad Karahasan

Ian Kershaw

Gerd Koenen

Claudio Magris

Geert Mak

Martin Pollack

Ilma Rakusa

Michail Ryklin

Heinrich August Winkler

Inhalt

Unterwegs nach Europa: 25 Jahre Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung

Ilma Rakusa: Wir brauchen ein gemeinsames europäisches Narrativ

Claudio Magris: Verständigung 2001 – Verständigung 2018

Dževad Karahasan: Zwei Lehren

Slavenka Drakulić: Teil 1 – Die Politik der Angst

Teil 2 – Euroskansen – Eine Erzählung

Juri Andruchowytsch: Fast eine Generation später

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Gerd Koenen: Über Verständigung und Verstehen. Der «Russland-Komplex» revisited

Michail Ryklin: Rede des Preisträgers aus Moskau – und die Kehrseite

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Geert Mak: Zehn Jahre Später

György Dalos: Acht Jahre danach

Martin Pollack: Nicht gehaltene Rede über Europa

Ian Kershaw: Die Europäische Union: Von der Krise zur Reform?

Mircea Cărtărescu: Europa in einer schweren Stunde

Heinrich August Winkler: Was Europa und den Westen trotz allem verbindet

Kurzbiographien

Juri Andruchowytsch,

Mircea Cărtărescu,

György Dalos,

Slavenka Drakulić,

Dževad Karahasan,

Ian Kershaw,

Gerd Koenen,

Claudio Magris,

Geert Mak,

Martin Pollack,

Ilma Rakusa,

Michail Ryklin,

Heinrich August Winkler,

Bisherige Preisträger

Fußnoten

Unterwegs nach Europa: 25 Jahre Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung

Verständigung setzt die Fähigkeit und Bereitschaft voraus zu verstehen – und sie beruht auf Sprache. Während der feierlichen Verleihung des Leipziger Buchpreises zur Europäischen Verständigung ist die Idee, die hinter der Ehrung steht, häufig ganz buchstäblich, im Wort-Sinn, zu erleben. So war es auch 1998, als die Filmkritikerin und Drehbuchautorin Maja Turowskaja ihre Laudatio auf die Hauptpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch in einem vom russischen Akzent gefärbten Deutsch vortrug. Auch die Bassstimme István Eörsis machte aus der Budapester Herkunft kein Hehl – er überraschte die Freundin und Kollegin Ilma Rakusa, damals Trägerin des Anerkennungspreises, mit der Übersetzung eines Gedichts ins Ungarische. Csupasz fáj között a lékekben: hó – «Schnee» ist das Schlusswort seiner Laudatio, nicht als trennender «Strich durch alles», sondern als verbindendes Element. Eine Republik der freien Geister, auf keiner Landkarte verzeichnet, irgendwo zwischen Moskau, Budapest, Zagreb, Krakau, Ljubljana und Berlin. Die Literatur, die der Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung in den Blickpunkt öffentlicher Aufmerksamkeit stellt, liegt quer zu tagesaktuellen Debatten und politischen Konjunkturentwicklungen. Die in 25 Jahren ausgezeichneten Bücher und Autoren verweisen stattdessen auf die antizipatorische Kraft der Literatur, die uns Fremdes nahebringen kann, bevor das nächste politische Strohfeuer unsere Aufmerksamkeit beansprucht.

Leipzig, so sagte es Ilma Rakusa in jenem Jahr 1998, sei für sie «ein Ort der Hellhörigkeit für die Zeichen des anderen Europa. Hier besinnt man sich auf die Tatsache, dass die Begriffe Zentrum und Rand mehr als relativ sind, dass die Impulse womöglich von den Rändern kommen.» Leipzig, begünstigt durch seine Lage an der Schnittstelle der bedeutendsten europäischen Fernhandelsstraßen, via regia und via imperii, ist ein historisch erprobter und geografisch ausgezeichneter Ort für das Gespräch über politische und mentale Grenzen hinweg. Das Wort von der Drehscheibe zwischen Ost und West – hier war es immer schon mit Leben erfüllt. Die Stadt Leipzig, der Freistaat Sachsen und der Börsenverein des Deutschen Buchhandels sahen in der Verständigung mit Mittel- und Osteuropa eine besondere Aufgabe der traditionsreichen Buch- und Buchmessestadt, die sie seit 1994 mit der gemeinsamen Verleihung des Leipziger Buchpreises zur Europäischen Verständigung unterstützen. Kein einfach durchzuwinkender Zugang im schier endlosen Reigen der Literaturpreise, auch kein kleiner Friedenspreis, wie mancher mit dem Blick zur Frankfurter Paulskirche meinte: Vier Jahre, nachdem die mittel-osteuropäischen Länder mit ihren Revolutionen die Freiheit erkämpft hatten, ging es darum, Europas kulturelle Einheit neu zu gestalten. Eine große Chance, eine große Herausforderung. Zugleich stand der neue Preis für die Vielzahl der schöpferischen Potenziale, die ein Buch ermöglichen – bis 2004 wurde neben dem Hauptpreis auch ein Anerkennungspreis vergeben, häufig an Übersetzerinnen und Übersetzer, die im Stillen wirkenden Transporteure der Literatur.

Bis 2004 fand die Preisverleihung im Festsaal des Leipziger Alten Rathauses statt. Eindrucksvolle Reden sind es, die den in Öl gemalten Ratsherren zu Ohren kommen, und es handelt sich hier beileibe nicht um Harmonisierungsfolklore: 1999 wird die Feier vom Krieg im Kosovo überschattet. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs drohte in Europa erneut ein Vorhang zu fallen, der europäische Einigungsprozess zu einem nur westeuropäischen zu werden. Seit 2005 gehört die Leipziger Buchmesse zum Kreis der Zustifter; der inzwischen mit 20.000 Euro dotierte Preis wird im Rahmen der Buchmesse-Eröffnung im Gewandhaus an eine Persönlichkeit verliehen, die sich in Buchform um das gegenseitige Verständnis in Europa verdient gemacht hat. In Zeiten, in denen sich Autoritarismus, Populismus und rechte Nationalismen auf dem Vormarsch befinden, wird die Frage, was «Verständigung» und «Integration» bedeuten, neu gestellt. Längst geht der Blick dabei nicht mehr vorrangig nach Osten. In einer global vernetzten Welt, in der der Hass auf das vermeintlich Fremde bedrohlich zunimmt, wird der Kreis der Preisträgerinnen und Preisträger weiter, internationaler. 2014, im 20. Jahr des Preises, wurde der indische Publizist und Historiker Pankaj Mishra für sein epochales Werk «Aus den Ruinen des Empires» geehrt. Es ist auch der nicht-europäische Blick, der für das um Selbstverständigung über seine Rolle in der heutigen Welt ringende Europa unverzichtbar ist.

Der Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung wurde 1994 als Ausdruck der Hoffnung auf ein vereintes und stärker integriertes Europa gegründet. Die dreizehn Preisträgerinnen und Preisträger, die anlässlich des 25-Jahre-Jubiläums aus heutiger Perspektive auf die Preisverleihung in Leipzig und ihre gehaltenen Reden zurückschauen, sehen im Licht der jüngsten politischen und kulturellen Entwicklungen wenig Grund zur Hoffnung. Die Selbstverständlichkeit Europas steht mehr denn je auf dem Spiel. «In einer völlig anderen Zeit und in einem völlig anderen Europa» findet sich der Niederländer Geert Mak zehn Jahre nach seiner Preisrede wieder, und dem rumänischen Autor Mircea Cărtărescu, obwohl erst vor drei Jahren im Leipziger Gewandhaus geehrt, kommt es vor, «als wären seitdem drei Jahrzehnte vergangen». Claudio Magris, Preisträger 2001, hält uns Karl Valentins schwarzhumoriges «Früher war die Zukunft auch besser» entgegen – und erinnert sich bei einem Besuch der Danziger Lenin-Werft, dem Ort, an dem die Solidarność entstanden war, desillusioniert an den «Geist der Freiheit und Brüderlichkeit dieser Kämpfe jener Jahre, an Havels Prag, an Masowieckis Polen oder an Árpád Göncz’ Ungarn». Wo Gefahr ist, wächst das Rettende mitunter aus Ironie oder Sarkasmus: Slavenka Drakulić entwirft mit «Euroskansen» die Dystopie eines «Museums der europäischen Lebensweise» im Jahr 2050, eine Mischung aus Disneyland und Freiluft-Zoo, Erinnerung an ein verlorenes Paradies. Jury Andruchowytsch, der im eisigen März 2006 gemeinsam mit seinem Freund und Laudator Ingo Schulze für eine der denkwürdigsten Buchmesse-Eröffnungen und standing ovations im Gewandhaus sorgte, hat 13 Jahre später wenig Lust, «schon wieder so ein Mittelding zwischen Sisyphos und Sacher-Masoch zu sein». Doch er, als Autor mit den Paradoxien des Weltgeistes auf du und du, rollt den Stein weiter, listig lächelnd wie ein weiser Indianer: «Je seltener die lauten Phrasen über die Unvermeidlichkeit unserer Mitgliedschaft in der EU erklingen, desto näher kommen wir ihr. Es ist so, als herrsche in den politischen Milieus beider Seiten – der Ukraine und der EU – ein schweigender Konsens, keinesfalls unsere Perspektive zu zerreden, sondern sich in absoluter Stille an sie heranzuschleichen. Solche Zeiten sind angebrochen. Sie erfordern Vorsicht.» Einen Monat, nachdem György Dalos in einem Seitenstrang seiner Leipziger Rede über die «ungarischen Zustände» sinnierte, siegte im April 2010 die bis dahin oppositionelle Fidesz-Partei unter Viktor Orbán bei den Parlamentswahlen. Was seither in Ungarn geschieht, stellt die schlimmsten Befürchtungen des Autors in den Schatten. «Trotzdem stehe ich jeden Morgen auf, setze mich an den Computer und führe die seltsame Kommunikation mit dem Bildschirm, einem Medium, das glückliche oder unglückliche Autoren früherer Zeiten noch nicht kannten.» Ein like, eine Polemik, irgendwo da draußen in Digitalien – zumindest elektronische Verständigung ist noch möglich.

Was man dem Klima der Angst und Verunsicherung, das die Rechten in vielen Ländern Europas schaffen, entgegensetzen, wie man eine Veränderung herbeiführen kann, weiß auch Martin Pollack nicht. Dennoch beharrt er, seine südburgenländischen Streuobstwiesen fest im Blick, beinahe mantrahaft: «Wir dürfen uns nicht einschüchtern lassen, wir dürfen nicht aufgeben, wir müssen Widerstand leisten und uns neue Strategien ausdenken. Wir müssen uns zusammenschließen und dürfen, trotz allem, unsere Freunde in Osteuropa, in Polen, Belarus und der Ukraine, in der Slowakei, Russland und in Ungarn, nicht vergessen. Das sind wir ihnen schuldig, auch im eigenen Interesse.» Von Mircea Cărtărescu, der sich dem zivilgesellschaftlichen Straßenprotest unter dem Zeichen #rezist angeschlossen hat, erfahren wir, dass sich seine Heimat Rumänien in den letzten sechs Monaten vom «europafreundlichsten Land des Kontinents» zu einem der europaskeptischsten gewandelt hat: «Rumänien hat sich als Staatsprojekt neu erfunden, seit es Mitglied in der EU ist. Wenn wir, seine Bürger, uns nicht als Europäer definieren, definieren wir uns überhaupt nicht mehr. Heute ist das europäische Bekenntnis jedes einzelnen Volkes auf diesem Kontinent wichtiger als die Nationalität selbst. Wenn das geeinte Europa verschwindet, werden Deutschland und Frankreich und einige weitere Staaten des Kontinents wahrscheinlich weiter ihrer Wege ziehen. Für die Länder des Ostens aber wird es das Ende bedeuten.»

Für Geert Mak, der in seinen Büchern die Geschichte und Gegenwart Europas ausgeleuchtet, sozialökonomische Prozesse und kulturelle Veränderungen aufs Anschaulichste sichtbar gemacht hat, ist die europäische Geschichte eine Geschichte von Verflechtungen. Mak meint das ganz buchstäblich, und es geht ihm nicht um ein schönes Sonntagsreden-Ideal, sondern ums schlichte Überleben: «Kreuz und quer durch Europa sind Millionen von Fäden gespannt, wir sind durch Arbeit, Bildung, Forschung, Freizeitgestaltung, Liebe miteinander verknüpft. Ähnliches gilt für unsere Geschichte… Berlin (ist) nicht ohne Versailles zu verstehen, London nicht ohne München, Vichy nicht ohne Verdun, Moskau nicht ohne Stalingrad, Dresden nicht ohne Rotterdam, Vásárosbéc nicht ohne Jalta, Athen nicht ohne Berlin, Amsterdam nicht ohne Auschwitz. Wir sind viel stärker verbunden, als wir glauben, durch diese gemeinsame Vergangenheit und durch die Welt, in der wir uns heute behaupten müssen. Eine nur nationale Geschichte, wie mitreißend sie auch erzählt wird, ist heute eine Lüge, oder besser gesagt, eine halbe Wahrheit. Als Europäer sind wir aufeinander angewiesen – Bis der Teufel uns scheidet

Intellektuelle, weiß György Dalos, verfügen heute kaum mehr über den Einfluss, den einst ein Zola mit seinem «J’accuse» oder ein Solschenizyn mit dem «Archipel Gulag» erreichte. Dennoch sind sie, wie Ilma Rakusa schreibt, als «weitsichtige Botschafter ihrer Länder» gefragt, die «jenseits von Tagespolitik an einem gemeinsamen europäischen Narrativ mitwirken». Angesichts der unsichtbaren Grenzen, die den Kontinent an vielen Stellen durchziehen, macht das stimmen- und facettenreiche gemeinsame Nachdenken über Europa Mut. Gäbe es den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung nicht seit 25 Jahren, man müsste ihn angesichts der gesellschaftlichen Zuspitzungen schleunigst erfinden.

Dr. Eva-Maria Stange

Burkhard Jung

Heinrich Riethmüller

Martin Buhl-Wagner

Ilma Rakusa

Wir brauchen ein gemeinsames europäisches Narrativ

… eine halbe Euphorie
oder eine ganze Schlacht
so Europa so ach

Nicht, dass damals, als ich diesen Preis mit dem wunderbaren Namen erhielt, alles in Ordnung gewesen wäre. Erst 1995 gingen die grausamen Jugoslawienkriege zu Ende, die fast 120.000 Opfer gefordert hatten, davon allein in Bosnien 97.000. Das Massaker in Srebrenica, das die Armee der Republika Srpska unter Ratko Mladić am 11. Juli 1995 an männlichen Bosnjaken verübte, gehört mit 8000 Toten zu den schwersten Kriegsverbrechen seit dem Zweiten Weltkrieg. Es gab etliche Gründe, warum der Nationalismus in Jugoslawien zu solch gewaltsamer Entfesselung kam, doch der Hauptgrund lag in ihm selbst. In meiner Dankesrede zitierte ich Danilo Kiš (1935–​1989), den großen serbisch-ungarisch-jüdischen Schriftsteller, der schon in den siebziger Jahren vor der «nationalistischen Scheiße» warnte. Nationalismus sei vor allem Paranoia, kollektive und individuelle Paranoia, außerdem eine Ideologie der Banalität und des Kitsches, meinte Kiš. Seinem Wesen nach totalitär und demagogisch, reaktionär und regressiv, sei er die letzte Ideologie, «die sich an das Volk wendet». Eine durch und durch negative Erscheinung, denn Nationalismus «lebt in der Negation und von der Negation». Vernichtender kann Kritik nicht ausfallen.

Kiš behielt leider Recht, auch wenn er nicht miterleben musste, wie brutal sich seine Befürchtungen bewahrheiteten und wie langwierig die Folgen der kriegerischen Auseinandersetzungen sein würden. Vor allem Bosnien trägt schwer daran. Selbst in Schulen sind die drei Volksgruppen separiert, ethnische und religiöse Konflikte könnten jederzeit wieder ausbrechen, die schwache Zentralregierung demonstriert permanent Uneinigkeit. An den Bruchstellen dieses «failed state» machen sich Extremisten zu schaffen: Der als moderat bekannte bosnische Islam wird wahhabitisch unterwandert, indem reiche Geldgeber aus Saudi-Arabien und Katar Moscheen und Erholungszentren, neuerdings auch Shopping Malls bauen. Der Sender Al Jazeera hat in Sarajevo bereits Fuß gefasst, Flugverbindungen nach Riad und Doha gibt es täglich, nach Istanbul und Ankara gar mehrmals pro Tag. Da sind einerseits ausländische Investoren mit unverhohlenen Interessen, andererseits eine Bevölkerung, die bei einem Durchschnittseinkommen von 400 Euro und einer Jugendarbeitslosigkeit von 50 Prozent keine Zukunft im eigenen Land sieht. Viele machen sich Richtung Westen auf, in der Hoffnung auf Arbeit und bessere Lebensbedingungen.

Hat der Rest Europas nichts von den Kriegen auf dem Balkan gelernt? Wie kommt es, dass Nationalismen in Ost und West erstarken? Ob Viktor Orbán oder Jarosław Kaczyński, Matteo Salvini oder Marine Le Pen, in ihren Parolen gleichen sie sich zum Verwechseln. Sie sind europa- und fremdenfeindlich, schließen aus statt ein, wittern Verschwörungen aller Art und huldigen dem Opfermythos. Ausgerechnet heute, wo es Opfer genug gibt, doch in den Reihen der Kriegsflüchtlinge und Migranten.

Angst und Verunsicherung, so heißt es, trieben die Bürger in die Arme von Nationalisten und Rechtspopulisten. Hat die Politik versagt? Sind es Gefühle, die Ratio und Common sense verdrängen? Zugegeben, nicht alles lief rund in der EU: Noch immer gibt es ein Europa unterschiedlicher Geschwindigkeiten und Klassen; Finanzkrise und Flüchtlingsströme stellen gewaltige Aufgaben. Doch je größer die Herausforderungen, desto mehr Zusammenhalt ist gefragt. Stattdessen bröckelt es an allen Ecken und Enden, als wären Alleingänge die Lösung, als gäbe es zum Friedensprojekt Europa eine Alternative.

Meine feste Überzeugung ist, es gibt sie nicht. Besser, wir raufen uns zivilisiert zusammen und entwickeln ein gemeinsames Narrativ, das nicht in erster Linie auf ökonomischen Interessen, sondern auf kulturellen Werten und soliden demokratischen Prinzipien beruht. Vielfalt steht nicht zur Debatte, was wäre Europa ohne seinen Sprachenreichtum und seine komplexen historischen Erfahrungen? Doch muss es einen Willen geben, gemeinsame Ziele zu verfolgen, und koste die Solidarität mitunter mehr als die Regression in nationale Gemütlichkeit. Auf Dauer kann sich diese nicht auszahlen, kurzsichtig, wie sie ist.

Im Augenblick allerdings macht populistischer Stimmenfang Schule und scheint zu greifen. Wobei die sozialen Netzwerke diesen Trend befördern. Jede Meinung, jeder Unmut findet hier Adressaten und Vervielfältiger, Gruppenbildung geschieht im Handumdrehen. Zwischen News und Fake News lässt sich nur mehr schwer unterscheiden, Katastrophismus prosperiert. Und ob die Einflüsterungen von Steve Bannon, «Fox News» mit ihrer Trump-Agenda, russischen Bots oder islamistischen Tweets kommen, ob von außen oder aus den Reihen hiesiger Rechtspopulisten und Extremisten, die Spaltungstendenzen sind groß. Es wird sich zeigen, wie lange die EU, wie lange Europa der Zerreißprobe standhält. Ich hoffe sehr, es erweist sich als robust und wächst an seinen Aufgaben, denn das Fordernde ist auch das Fördernde.

Iris Radisch hat mich einmal als paradigmatische Europäerin bezeichnet. Das bin ich gerne, auch wenn es nicht mein Verdienst ist. Von meinen Eltern habe ich die Weltoffenheit und Vielsprachigkeit gelernt, mit ihnen bin ich von meinem Geburtsort Rimavská Sobota nach Budapest, Ljubljana und ins geteilte Triest gezogen, und von Triest 1951 weiter nach Zürich, weil mein slowenischer Vater seine junge Familie unbedingt in einem demokratischen Land wissen wollte. Seine Entscheidung hat mein ganzes Leben geprägt. Dass ich mit meinem Schweizer Pass als erstes nach Prag und später nach Leningrad fuhr, hatte mit meinem Interesse für Osteuropa zu tun, für jene Gebiete hinter dem Eisernen Vorhang, die mir seit der frühen Kindheit verschlossen waren. Gewiss, ich suchte heimlich nach einem Stück Heimat, fand sie aber nicht in einer Region, sondern in der Kultur. Bücher und Sprachen wurden zu meinen Begleitern, zu meinem Terrain in einer sich rasch wandelnden Welt.

Heimat? Ich spreche nur von Heimaten in der Mehrzahl und meine damit Literatur und Musik, Sprachen (allen voran die deutsche), meinen Sohn und ein kleines Bergdorf im Bergell, Freunde und Seelenverwandte – das geräumige Haus Europa. Nichts bindet mich an eine Scholle, unverwurzelt treibe ich Luftwurzeln in meinen Büchern. Diese wollen freilich geschrieben sein; was ich zwischen zwei Buchdeckeln erschaffe, soll andere erreichen. So entsteht Kommunikation über Grenzen hinweg. Ja, ich bin gerne eine europäische Schriftstellerin.

Zu meinem Europäertum gehört, dass ich Traditionen fortschreibe, die sich durch Lektüren ergaben. Ungarische Märchen, Schwabs Sagen des klassischen Altertums, Andersen und Selma Lagerlöf, Dostojewskij und Saint-Exupéry, Hölderlin, Celan, Ilse Aichinger. Und nicht zu vergessen die Bibel. Ihr bin ich nachgereist in den Nahen Osten. Und irgendwann kam Zentralasien hinzu, und noch später China und Japan. Was heißt, dass ich die Eurozentrik aufgegeben habe, ohne mein Europäertum zu leugnen. Das sogenannte Eigene nimmt sich aus der fernen Fremde neu aus. Nun schaue ich mitunter mit doppeltem Blick. Eine heilsame Erfahrung.

Als ich kürzlich mein Elternhaus räumte, in dem drei Generationen gelebt hatten, fand ich weit zurückreichende Familiendokumente in mindestens fünf Sprachen, Tausende von Photographien und Diapositiven, die meine Mutter – eine studierte Pharmazeutin und leidenschaftliche Hobbyphotographin – im Laufe ihres langen Lebens auf allen fünf Kontinenten gemacht hatte, und unzählige Bücher. Ein ganzer Kosmos schaute mich an. Ungarisches, Slowenisches, Französisches, Deutsches, Bücher über Kunstgeschichte, Musik und Botanik, Belletristik von Dante bis Duras, Bände über Romanik, italienische Renaissance und Alberto Giacometti, ein signierter Reisebericht von Sándor Márai, wunderbare Gedichtanthologien und alte Gebetbücher, japanische Haiku, arabische Erzählungen und armenische Witze, Memoiren von Casanova bis Kissinger und der Sonnengesang des Franziskus von Assisi. Es gab alles in überbordender Fülle, und ich fragte mich, wohin mit diesen Schätzen. Zum Antiquar? Ins Brockenhaus? Einiges rettete ich in meine eigene Bibliothek, das meiste packte ich in Kartons zum Abtransport. Man frage mich nicht, wie mir zumute war. Als werde ein Stück Europa entsorgt. Und mehr.

Auch was mir aus den Photographien entgegenschlug, bewies jenen Geist weltoffener Neugier, in dem ich aufgewachsen war. Außerdem hatte meine Mutter alles beschriftet und in kleinen Notizheften Reisetagebuch geführt. Erst jetzt erkannte ich das ganze Ausmaß ihrer Mühen, ihre rührende Pedanterie; sie hatte sie von ihrer Mutter, die nach dem Tod von Mann und Geschwistern zu uns in die Schweiz gezogen war, mit riesigen Holzkisten voller Bilder, Stoffe, Kleider, Tischwäsche, familiärer Erinnerungsstücke und Briefe. So verfüge ich über ein Familienarchiv von unschätzbarem Wert, dessen Spuren bis ins polnische 17. Jahrhundert und bis nach Wladikawkas anno 1920 reichen, wo die russische Gattin meines Großonkels einen verzweifelten Brief an die Verwandten ihres Mannes schrieb, ohne zu wissen, dass dessen jüngerer Bruder mit nur 19 Jahren im Ersten Weltkrieg gefallen war. Europäische Geschichte, kompliziert, widersprüchlich und oft genug rätselhaft.

Meine Großeltern mütterlicher- und väterlicherseits wie auch meine Eltern kamen in der Österreichisch-Ungarischen Monarchie zur Welt. Der Geburtsort meiner Mutter, Rimaszombat, fiel 1919 an die Tschechoslowakei, wurde 1938 wieder Ungarn angegliedert, um 1946 erneut der Tschechoslowakei zugesprochen zu werden; seit der Teilung des Landes, Ende 1992, gehört Rimavská Sobota zur Slowakischen Republik. Die Kindheitsstadt meines Vaters, Maribor, kam 1918 zum Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen, wurde 1941 vom Großdeutschen Reich annektiert, nach dem Krieg jugoslawisch und 1991 zweitgrößte Stadt Sloweniens. Hier lebte bis zu seinem Tod mein Großvater, ein überzeugter Demokrat, der sich gegen Faschismus und Kommunismus auflehnte, und ein ebenso überzeugter Esperantist. Völkerverständigung galt ihm als höchstes Ziel. Nicht nur seine Übersetzungen aus dem Slowenischen ins Esperanto und umgekehrt bezeugen das.

Meine Eltern und Großeltern hatten viel durchgemacht. Und mir war bewusst, wieviel ich der Gnade der späten Geburt und dem Leben in der Schweiz verdankte. Der Fall des Eisernen Vorhangs und die Wiedervereinigung Deutschlands erfüllten mich mit Euphorie. Erst recht atmeten meine osteuropäischen Freunde auf, denn nun schien der ersehnte Weg nach einem wahren Europa in Reichweite zu rücken.

Ja, die Losung hieß: Europa, Europa! Lebhaft erinnere ich mich an das von Ursula Keller 2003 im Literaturhaus Hamburg organisierte mehrtätige Symposium «Europa schreibt», wo die profundesten Bekenntnisse zu Europa von osteuropäischen Schriftstellern kamen, während kein einziger Engländer angereist war. (Zeichenleser hätten darin jenen EU-skeptischen Isolationismus wittern können, der im Brexit manifest wird.) Ich zweifle nicht, dass Mircea Cǎrtǎrescu und Dubravka Ugrešić, Stefan Chwin und Fatos Lubonja, Dževad Karahasan und Péter Nádas heute noch dezidiert auf die europäischen Werte setzen, mögen sie die EU-Politik im Einzelnen auch kritisch beurteilen. Nun, Begeisterung ist zu enttäuschen, Indifferenz nicht. Hinzukommt, dass die hohen Erwartungen vieler Osteuropäer durch ökonomische Entwicklungen gedämpft wurden, die sie auf hintere Ränge verwiesen. Wer an historischen Hypotheken trägt und mit den komplexen Mechanismen von Demokratie und Marktwirtschaft noch wenig vertraut ist, neigt eher zu Minderwertigkeitsgefühlen, Opfermentalität und Ressentiment.

Ein großes Problem des heutigen Europa sehe ich darin, dass West und Ost nicht nur nicht zusammengewachsen sind, sondern zunehmend auseinanderdriften. Der – auch wirtschaftlich – dominante Westen scheint nur an den eigenen kulturellen Deutungsmustern interessiert. Von einem europäischen Geist, wie ihn beispielsweise Wolf Lepenies einfordert, ist wenig zu spüren. Doch ohne diese übergreifende Idee kann es keine Einigkeit geben, weder in der Währungs-, der Migrations- noch in der Klimapolitik. Vor allem das durch seine Geschichte traumatisierte, durch Korruption und Braindrain geschwächte Südosteuropa könnte leicht zum Spielball russischer Interessen werden.

Für das Ideelle sind Intellektuelle gefragt, weitsichtige Botschafter ihrer Länder, die jenseits von Tagespolitik an einem gemeinsamen europäischen Narrativ mitwirken. Das schließt Menschenrechte, Presse- und Religionsfreiheit ein, beruft sich auf gewachsene kulturelle Vielfalt sowie regionale Diversität und konfrontiert leidvolle Geschichte mit der Vision eines Staatenbunds, wo freier Verkehr und Wertekonsens nationalistische Einhegungen verhindern.

Und die Integration? Und der Kampf gegen den Terrorismus? Auch sie setzen europäisches Denken voraus. Worunter ich keineswegs eine trotzige abendländische Abwehrhaltung à la Pegida verstehe, ganz im Gegenteil. Angst darf die europäische Idee nicht besetzen, dann hätte sie schon verspielt. Ebenso wenig Hybris. Europa ist nicht besser oder gar das Bestmögliche, aber es hat – vor allem durch die Lehren des 20. Jahrhunderts – eine große Verantwortung, der es gerecht werden muss. Ohne Einigkeit wird das nicht gehen.

Die Sorge um Europa treibt mich um. Setzen wir nicht aufs Spiel, was wertvolle Errungenschaft ist, denn die Feinde schlafen nicht. Vernunft, Maß, Toleranz lauten die Gebote der Stunde. Als Schriftstellerin sehe ich meine Aufgabe darin, die europäischen Grundwerte mitzutragen, gegen Gewalt, Ungerechtigkeit und Verrohung, gegen Fanatismus und Katastrophismus aufzubegehren, für Empathie und Differenziertheit zu sensibilisieren und die subtilen Möglichkeiten der Sprache und Imagination auszuloten. Solange es mir vergönnt ist, dies in Freiheit und nach bestem Wissen und Gewissen zu tun, werde ich nicht nachlassen.

Claudio Magris

Verständigung 2001 – Verständigung 2018

Damals war die Zukunft viel besser. Mit diesen vor langer Zeit von Karl Valentin geäußerten Worten würde ich heute meine Dankesrede für den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung beginnen. Ohne Nostalgie nach der Vergangenheit, die immer trügerisch ist, weil sie die Übel, die Ungerechtigkeiten des einen oder anderen Zeitalters vernachlässigt und verklärt. Was fehlt und was die Verständigung zwischen Individuen, Völkern, Staaten, Nationalitäten, Kulturen und Glaubensrichtungen ernsthaft behindert, ist der Sinn für die Zukunft, die Hoffnung auf eine andere, freiere und gerechtere Zukunft, das Vertrauen in die Möglichkeit einer solchen Zukunft, und es fehlt der moralische Imperativ, eine andere Zukunft aufzubauen, eine menschlichere, freiere und gerechtere.

Die Geschichte ist an ihr Ende gekommen. Dritte WeltkriegVierten Weltkrieg