Bill Bryson wurde 1951 in Des Moines, Iowa, geboren. 1977 ging er nach Großbritannien und schrieb dort mehrere Jahre u. a. für die Times und den Independent. Mit »Reif für die Insel« (Goldmann Taschenbuch 44279) gelang Bryson, der zuvor bereits Reiseberichte geschrieben hat, der ganz große Durchbruch. Bill Bryson lebt heute mit seiner Familie in Hanover, New Hampshire. Weitere Werke des Autors sind bei Goldmann in Vorbereitung.
Dieses Buch berichtet von den Erfahrungen, die der Autor bei seiner Wanderung entlang des Appalachian Trail gemacht hat, und spiegelt seine Meinung wider. Einige Namen sowie Eigenschaften, die lebenden Personen zugeschrieben werden könnten, wurden verändert, um die Privatsphäre dieser Personen zu schützen.
Attenborough, David: Das geheime Leben der Pflanzen. Bern: Scherz-Verlag, 1995.
Bailyn, Bernhard: Voyagers to the West: A Passage in the Peopling of America on the Eve of Revolution. New York: Alfred A. Knopf, 1986.
Brooks, Maurice: The Appalachians. Boston: Houghton Mifflin Co., 1986.
Bruce, Dan »Wingfoot«: The Thru-Hiker’s Handbook. Harpers Ferry, WV: Appalachian Trail Conference, 1995.
Cruikshank, Helen Gere (Hg.): John and William Bartram’s America: Selections from the Writing of the Philadelphia Naturalists. New York: Devin-Adair Co., 1957.
Dale, Frank: Delaware Diary: Episodes in the Life of a River. New Brunswick, NJ: Rutgers University Press, 1996.
Emblidge, David (Hg.): The Appalachian Trail Reader. New York: Oxford University Press, 1997.
Faragher, John Mack: Daniel Boone: The Life and Legend of an American Pioneer. New York: Henry Holt and Co., 1993.
Farwell, Byron: Stonewall: A Biography of General Thomas J. Jackson. New York: W. W. Norton and Co., 1993.
Foreman, Dave; Wolke, Howie: The Big Outside: A Descriptive Inventory of the Big Wilderness Areas of the United States. New York: Harmony Books, 1992.
Herrero, Stephen: Bären: Jäger und Gejagte in Amerikas Wildnis. Cham: Müller Rüschlikon, 1992.
Houk, Rose: Great Smoky Mountains National Park. Boston: Houghton Mifflin Co., 1993.
Long, Priscilla: Where the Sun Never Shines: A History of America’s Bloody Coal Industry. New York: Paragon House, 1991.
Luxenberg, Larry: Walking the Appalachian Trail. Mechanicsburg, Pennsylvania: Stackpole Books, 1994.
Matthiessen, Peter: Wildlife in America. New York: Penguin Books, 1995.
McKibben, Bill: Das Ende der Natur. München: List Verlag, 1990.
Nash, Roderick: Wilderness and the American Mind. New Haven: Yale University Press, 1982.
Parker, Ronald B.: Inscrutable Earth: Explosions into the Science of Earth. New York: Charles Scribner’s Sons, 1984.
Peatti, Donald Culross: A Natural History of Trees of Eastern and Central North America. Boston: Houghton Mifflin Co., 1991.
Putnam, William Lowell: The Worst Weather on Earth: A History of the Mount Washington Observatory. New York: American Alpine Club, 1993.
Quammen, David: Natural Acts: A Sidelong View of Science and Nature. New York: Avon Books, 1996.
Schultz, Gwen: Ice Age Lost. New York: Anchor, 1974.
Shaffer, Earl V.: Walking with Spring: The First Solo Thru-Hike of the Legendary Appalachian Trail. Harpers Ferry, WV: The Appalachian Trail Conference, 1996.
Stier, Maggie; McAdow, Ron: Into the Mountains: Stories of New England’s Most Celebrated Peaks. Boston: Appalachian Mountain Club Books, 1995.
Trefil, James: Physik in der Berghütte: Von Gipfeln, Gletschern und Gesteinen. Reinbek: Wunderlich, 1992.
Wilson, Edward O.: The Diversity of Life. Cambridge, MA: Belknap Press/Harvard University Press, 1992.
Kurz nachdem ich mit meiner Familie in eine Kleinstadt in New Hampshire gezogen war, entdeckte ich zufällig einen Wanderweg, der sich am Ortsausgang in einem Wald verlor.
Ein Schild verkündete, daß es sich hierbei nicht um einen gewöhnlichen Weg handelte, sondern um den berühmten Appalachian Trail. Mit seinen über 3.300 Kilometern durch die majestätischen und verlockenden Appalachen, entlang der amerikanischen Ostküste, zählt der AT, wie er bei Kennern heißt, zu den Altvordern unter den Fernwanderwegen. Er führt von Georgia bis nach Maine, durch 14 verschiedene Bundesstaaten, über stattliche, reizvolle Berge, deren Namen – Blue Ridge, Smokies, Cumberlands, Catskills, Green Mountains, White Mountains – schon wie eine Einladung zum Spazierengehen klingen. Wer kann schon die Worte »Great Smoky Mountains« oder »Shenandoah Valley« aussprechen, ohne dabei nicht das Bedürfnis zu verspüren, »einen Laib Brot und ein Pfund Tee in einen alten Rucksack zu werfen, über den Gartenzaun zu springen und loszuziehen«, wie es der Naturforscher John Muir ausdrückte.
Da war er also, der Weg, schlängelte sich – für mich ganz unerwartet – verführerisch durch das friedliche Nest in New England, in dem ich mich gerade niedergelassen hatte. Die Vorstellung, ich könnte von zu Hause aufbrechen und 2.800 Kilometer weit durch einen Wald bis nach Georgia wandern, oder in die andere Richtung, 700 Kilometer nach Norden, über die rauhen und gebirgigen White Mountains klettern, bis auf den sagenhaften burgähnlichen Gipfel des Mount Katahdin, die ganze Zeit über umgeben von Bäumen, durch eine Wildnis, die nur wenige Menschen je zu Gesicht bekommen haben – diese Vorstellung erschien mir so außergewöhnlich, daß sich eine leise Stimme in meinem Inneren meldete: »Hört sich toll an! Das machen wir!«
Ich legte mir eine Reihe vernünftiger Gründe zurecht, die dafür sprachen. Es würde mich nach Jahren der Faulenzerei wieder auf die Beine bringen. Es wäre eine interessante und besinnliche Art, sich nach 20 Jahren im Ausland wieder mit der Größe und Schönheit meines Heimatlandes vertraut zu machen. Es würde mir von Nutzen sein – wenn ich auch noch nicht wußte wie –, einmal zu lernen, mich in der Wildnis zurechtzufinden und für mich selbst zu sorgen. Ich brauchte mir nicht mehr wie ein Schlappschwanz vorzukommen, wenn die Männer in Tarnhosen und mit Jägerhüten im Four Aces Diner beisammensaßen und sich über ihre schaurigen Erlebnisse in der freien Natur unterhielten. Ich wollte ein bißchen von der Großspurigkeit abhaben, die sich einstellt, wenn man mit Granitaugen in die Ferne blickt und mit einem gedehnten, virilen Räuspern sagen kann: »Ja, ich kenne den Wald wie meine Westentasche.«
Es gab noch einen anderen, unwiderstehlicheren Grund. Die Appalachen sind die Heimat des größten Laubwaldes der Erde – der ausgedehnte Restbestand des üppigsten und abwechslungsreichsten Waldgebietes, das je die gemäßigte Klimazone unseres Planeten zierte –, und dieser Wald ist gefährdet. Sollte sich die Erdatmosphäre im Laufe der nächsten 50 Jahre um vier Grad Celsius erwärmen, was durchaus wahrscheinlich ist, würde sich die gesamte Wildnis der Appalachen südlich von New England in eine Savanne verwandeln. Das Baumsterben hat bereits erschreckende Ausmaße angenommen. Ulmen und Kastanien sind dort längst verschwunden; der stattliche Schierling und der blütenreiche Hartriegel sind im Verschwinden begriffen; Rottanne, Frasertanne, Eberesche und Zuckerahorn sind als nächste dran. Wenn es jemals an der Zeit war, diese einzigartige Wildnis zu erleben, dann jetzt.
Ich faßte also den Entschluß, es zu machen. Vorschnell teilte ich Freunden und Nachbarn meine Absicht mit, informierte selbstsicher meinen Verlag, sorgte für Verbreitung der Neuigkeit unter allen, die mich kannten. Sodann kaufte ich mir ein paar Bücher und redete mit Leuten, die den Trail ganz oder abschnittweise gegangen waren, und allmählich wurde mir klar, daß dieses Unternehmen alles, aber wirklich alles übertreffen würde, was ich jemals angepackt hatte.
Fast jeder, mit dem ich mich darüber unterhielt, hatte eine Geschichte über irgendeinen arglosen Bekannten parat, der sich mit großen Hoffnungen und neuen Wanderschuhen auf den Weg gemacht hatte und zwei Tage später mit einem Rotluchs als Halskrause oder einem Hemdsärmel, aus dem nur noch ein bluttriefender Stumpf ragte, zurückgetorkelt kam und heiser flüsterte: »Bär!« bevor er in tiefe Bewußtlosigkeit versank.
Die Wälder waren voller Gefahren – Klapperschlangen und Mokassinschlangen, Rotluchse, Bären, Kojoten, Wölfe und Wildschweine; gemütskranke Hinterwäldler, durch den großzügigen Konsum von Maisschnaps und sündigen Sexualpraktiken über Generationen aus der Bahn geworfen; tollwütige Stinktiere, Waschbären und sogar Eichhörnchen; unbarmherzige, rote Ameisen und wütende Kriebelmücken; gemeiner Giftsumach, kletternder Giftsumach, giftige Färbereiche und giftige Salamander; versprengte Elche, die von einem parasitären tödlichen Wurm befallen sind, der sich in ihrem Gehirn einnistet und sie dazu anstiftet, harmlose Wanderer über entlegene, sonnenbeschienene Wiesen zu jagen und sie in Gletscherseen zu treiben.
Unvorstellbare Dinge konnten einem da draußen widerfahren. Ich habe von einem Mann gehört, der nächtens zum Pinkeln aus seinem Zelt trat und von einer kurzsichtigen Eule am Kopf gestreift wurde – seinen Skalp sah er zuletzt von den Krallen des Vogels herabbaumeln, hübsch anzuschauen vor der Silhouette des Vollmonds; und von einer jungen Frau, die von einem Kitzeln am Bauch aufwachte, in ihren Schlafsack blickte und eine Mokassinschlange entdeckte, die es sich in der Wärme zwischen ihren Beinen gemütlich gemacht hatte. Ich habe vier verschiedene Versionen – stets mit einem unterdrückten Lachen vorgetragen – von ein und derselben Geschichte über das Zusammentreffen von Wanderern und Bären gehört, die sich für einen kurzen, aufreibenden Moment ein Zelt miteinander teilten; Geschichten von Leuten, die auf einem Gebirgskamm, von einem plötzlichen Sturm überrascht und von mannsdicken Blitzstrahlen getroffen, sich in Dampf auflösten (»es blieb nur noch ’n Brandfleck von ihm übrig«); Geschichten von Zelten, die von stürzenden Bäumen zerschmettert, von strömendem Regen wie auf Kugellagern ganze Abhänge hinuntergerollt, gleitschirmartig in ferne Täler getragen oder von der Wasserwand einer Sturzflut weggespült wurden; von unzähligen Wanderern, deren letzter Gedanke im Angesicht der erzitternden Erde war: »Was um Himmels willen – ?«
Bereits die oberflächliche Lektüre von Abenteuerbüchern und ein Mindestmaß an Phantasie reichten aus, um sich Situationen auszumalen, in die ich unweigerlich geraten würde: umzingelt von Wölfen, die der Hunger treibt; in die Flucht geschlagen von bissigen Ameisen, taumelnd, mir die Kleider vom Leib reißend oder wie versteinert vom Anblick des zum Leben erwachten Unterholzes, das wie ein Unterwassertorpedo auf mich zukommt und sich als schrankgroßes Wildschwein mit kalten, glänzenden Augen entpuppt, das mich, begleitet von markigen Grunzlauten, mit unstillbarem Appetit auf rosiges, schwabbeliges, vom Stadtleben verweichlichtes Menschenfleisch lustvoll verzehrt.
Dann wären da noch diverse Krankheiten zu nennen, für die der Mensch in der Wildnis anfällig ist – Giardiasis, östliche Pferdeenzephalitis, Rocky-Mountain-Fleckfieber, Lymekrankheit, Ehrlichiosis, Bilharziose, Bruzellose und die bazilläre Ruhr, um nur eine kleine Auswahl zu nennen. Die östliche Pferdeenzephalitis, durch einen Moskitostich hervorgerufen, greift Gehirn und Zentralnervensystem an. Man kann von Glück sagen, wenn man den Rest seines Lebens im Sessel sitzend verbringen darf, mit Lätzchen um den Hals – im allgemeinen ist die Krankheit tödlich. Ein Gegenmittel ist nicht bekannt. Nicht weniger interessant ist die Lymekrankheit, die durch den Biß einer winzigen Rotwildzecke übertragen wird. Unentdeckt kann das Virus jahrelang im menschlichen Körper schlummern, bis es sich in einem wahren Inferno Bahn bricht. Diese Krankheit ist etwas für Leute, die es wirklich wissen wollen. Zu den Symptomen zählen – ohne Garantie auf Vollständigkeit – Kopfschmerzen, Erschöpfungszustände, Fieberanfälle, Schüttelfrost, Kurzatmigkeit, Schwindelgefühl, stechende Gliederschmerzen, Herzrhythmusstörungen, Gesichtslähmung, Muskelzuckungen, schwere geistige Schäden, Verlust der Kontrolle über Körperfunktionen und – was niemanden überraschen wird – chronische Depression.
Hinzu kommt die kaum bekannte Familie der Organismen, die man als Hantaviren bezeichnet. Sie tummeln sich mit Vorliebe in den Mikroschwaden, die sich über Mäuse- und Rattenkot bilden, und werden in die menschlichen Luftwege eingesogen, wenn der Betreffende versehentlich eine der Atemöffnungen in die Nähe hält – indem er sich beispielsweise auf ein Schlafpodest bettet, unter dem kürzlich ein paar Mäuse herumgetollt sind. 1993 kamen durch eine einzige Hantavirusepidemie im Südwesten der Vereinigten Staaten 32 Menschen ums Leben, und im Jahr darauf forderte die Krankheit ihr erstes Opfer auf dem AT. Ein Wanderer hatte sie sich in einer »nagetierbefallenen Schutzhütte« zugezogen, wobei gesagt werden muß, daß alle Schutzhütten auf dem Appalachian Trail von Nagetieren befallen sind. Von den bekannten Viren garantieren nur noch die Tollwut, das Ebolavirus und das HIV einen sicheren Tod. Auch für das Hantavirus gibt es kein Gegenmittel.
Zu guter Letzt gibt es immer noch die Möglichkeit, ermordet zu werden – wir leben schließlich in Amerika. Seit 1974 sind mindestens neun Wanderer auf dem AT ermordet worden, wobei die tatsächliche Zahl schwankt, je nachdem, welche Quelle man konsultiert und was man unter dem Wort Wanderer versteht. Während ich den AT entlangwanderte, starben jedenfalls zwei Frauen.
Aus diversen praktischen Gründen, die im wesentlichen mit den langen, zermürbenden Wintern im nördlichen New England zu tun haben, stehen jedes Jahr nur entsprechend wenige Monate zum Wandern zur Verfügung. Beginnt man die Wanderung im Norden, am Mount Katahdin in Maine, muß man bis Ende Mai, Anfang Juni abwarten, damit aller Schnee geschmolzen ist. Beginnt man dagegen in Georgia und arbeitet sich Richtung Norden vor, gilt es, die Wanderung zeitlich so zu legen, daß man vor Mitte Oktober, wenn der erste Schneefall einsetzt, am Ziel angelangt ist. Die meisten wandern mit Beginn des Frühjahrs von Süden nach Norden und halten idealerweise immer einen Vorsprung von einigen Tagen vor der schlimmsten Hitze und den lästigen und Krankheiten übertragenden Insekten ein. Ich beabsichtigte, Anfang März im Süden aufzubrechen und rechnete sechs Wochen für die erste Etappe.
Die Frage nach der exakten Länge des Appalachian Trail bleibt ein interessantes Rätsel. Der U.S. National Park Service, der sich immer wieder durch diverse Ungereimtheiten hervortut, bringt es fertig, die Länge des Weges in einem einzigen Prospekt mal mit 3.468 Kilometer, mal mit 3.540 Kilometer anzugeben. Die Appalachian Trail Guides, der offizielle Wanderführer, ein Schuber mit elf Büchlein, von denen jedes einen bestimmten Bundesstaat oder einen Abschnitt behandelt, spricht nach Belieben von 3.450, 3.455, 3.474 und einmal von »über 3459 Kilometern«. Die Appalachian Trail Conference legte 1993 die Länge des Wanderwegs auf genau 3.454,6 Kilometer fest, ging dann für ein paar Jahre zu der vagen Angabe »mehr als 3.460 Kilometer« über und kehrte erst kürzlich selbstbewußt zu der präzisen Angabe von 3.467,4 Kilometern zurück. Ebenfalls 1993 gingen drei Leute die gesamte Strecke mit einem Meßrad ab und kamen auf eine Distanz von 3.483,97 Kilometern. Ungefähr zur gleichen Zeit ergab eine sorgfältige Überprüfung, die auf Karten der U.S. Geological Survey basierte, eine Gesamtlänge von 3.408,98 Kilometern.
Eins ist sicher: es ist ein langer Wanderweg, und er ist, egal, an welchem Ende man startet, weiß Gott nicht leicht. Die Gipfel entlang des Appalachian Trail sind nicht gewaltig, im Vergleich zu den Alpen etwa – der höchste, Clingmans Dome in Tennessee, erreicht gerade mal 2.042 Meter –, aber sie wollen dennoch erklommen werden, und es bleibt nicht bei einem Berg. Mehr als 350 Gipfel am AT sind über 1.500 Meter hoch, und in der Umgebung befinden sich noch einmal tausend weitere. Insgesamt veranschlagt man etwa fünf Monate und fünf Millionen Schritte, um von einem Ende des Trails zum anderen zu kommen.
Natürlich muß man alles, was man unterwegs braucht, auf dem Rücken mitschleppen. Für andere mag das selbstverständlich sein, aber für mich war es ein kleiner Schock, als mir klar wurde, daß eine Wanderung entlang des AT nicht im entferntesten mit einem gemächlichen Spaziergang in den englischen Cotswolds oder im Lake District zu vergleichen ist, zu dem man mit einer Provianttasche aufbricht, die ein Lunchpaket und eine Wanderkarte enthält, und von dem man am Ende des Tages in eine gemütliche Herberge zurückkehrt, zu einem heißen Bad, einem herzhaften Abendessen und einem weichen Bett. Auf dem AT schläft man draußen und kocht sich sein Essen selbst. Kaum einem gelingt es, das Gewicht des Rucksacks auf weniger als 18 Kilogramm zu reduzieren, und wenn man so viel mit sich herumschleppt, spürt man jedes einzelne Gramm, das kann ich Ihnen versichern. 3.000 Kilometer zu wandern ist eine Sache, 3.000 Kilometer mit einem Kleiderschrank auf dem Rücken sind etwas ganz anderes.
Eine erste Ahnung davon, was für ein waghalsiges Unternehmen das werden würde, bekam ich in unserem Dartmouth Co-Op, als ich dort hinging, um mir eine Ausrüstung zu kaufen. Mein Sohn hatte gerade angefangen, nach der Schule in dem Laden zu jobben, ich hatte also strengste Anweisung, mich gut zu benehmen. Vor allem sollte ich nichts Blödes sagen oder tun, nichts anprobieren, wozu ich meinen Bauch hätte entblößen müssen, nicht sagen: »Wollen Sie mich verarschen?«, wenn mir der Preis eines Artikels genannt würde, betont unaufmerksam tun, wenn mir ein Verkäufer die richtige Pflege oder Nachbehandlung eines Produktes erläuterte, und unter gar keinen Umständen irgend etwas Unpassendes anziehen, zum Beispiel eine Skimütze für Damen aufsetzen, nur so aus Spaß.
Ich sollte nach einem gewissen Dave Mengle fragen, weil er große Abschnitte des Weges selbst gegangen war und so etwas wie ein wandelndes Lexikon in Sachen Outdoor-Bekleidung sein sollte. Mengle entpuppte sich als ein freundlicher, rücksichtsvoller Mensch, der schätzungsweise vier Tage lang ununterbrochen und mit großem Interesse über jeden Aspekt einer Wanderausrüstung dozieren konnte.
Ich war noch nie so beeindruckt und gleichzeitig so verwirrt worden. Wir gingen einen ganzen Vormittag lang sein Lager durch, und Dave konnte dabei Sätze loslassen wie etwa folgenden: »Der hier hat einen 70 Denier, verschleißresistenten Reißverschluß mit hoher Dichte und Doppelzwirnnaht. Andererseits, und in dem Punkt will ich ehrlich zu Ihnen sein« – wobei er sich zu mir hinüberbeugte, seine Stimme senkte und einen freimütigeren Ton anschlug, als wollte er mir eröffnen, besagter Reißverschluß sei einmal zusammen mit einem Matrosen auf einer öffentlichen Bedürfnisanstalt verhaftet worden –, »die Nähte sind bandisoliert statt diagonal versetzt, und das Vestibül ist ein bißchen eng.«
Da ich beiläufig erwähnt hatte, daß ich in England ein bißchen gewandert sei, unterstellte er mir eine gewisse Kompetenz. Ich wollte ihn nicht beunruhigen oder enttäuschen, so daß ich, als er mich fragte, »Was halten Sie eigentlich von Kohlenstoffasern?« nur mit einem mitleidigen Lächeln den Kopf schüttelte, angesichts dieses heiklen Dauerthemas, und antwortete: »Wissen Sie, Dave, ich bin in dem Punkt immer noch zu keinem abschließenden Ergebnis gekommen. Was meinen Sie?«
Gemeinsam diskutierten wir über Kompressionsriemen, erwogen ernsthaft die relativen Vorteile von Schneeschürzen, Klettverschlüssen, Lastentransferausgleich, Belüftungskanälen, Gewebeschlaufen und Kopfmulden für größere Bewegungsfreiheit. Das wurde bei jedem Artikel durchexerziert. Selbst bei einem Kochgeschirr aus Aluminium ließen sich Überlegungen hinsichtlich Gewicht, Kompaktheit, Thermodynamik und allgemeiner Nützlichkeit anstellen, die den Verstand stundenlang beschäftigen konnten. Zwischendurch bot sich immer wieder Gelegenheit, über das Wandern ganz allgemein zu plaudern, was sich jedoch auf die Risiken beschränkte, als da wären Steinschlag, Begegnungen mit Bären, Kocherexplosionen und Schlangenbisse, die Dave mit einem verschleierten Blick hingebungsvoll beschrieb, bevor er sich wieder dem eigentlichen Thema widmete.
Wie gesagt, er redete viel, besonders viel über Gewicht. Mir erschien es eine Idee zu pingelig, einen bestimmten Schlafsack einem anderen vorzuziehen, weil dieser ein paar Gramm leichter war, aber immer mehr Ausrüstungsgegenstände türmten sich um uns herum auf, und immer deutlicher wurde mir vorgeführt, wie aus vielen Gramm ganz allmählich ein Kilo wird. Ich hatte nicht damit gerechnet, so viel zu kaufen – ich besaß bereits Wanderschuhe, ein Schweizer Offiziersmesser und eine Kartentasche aus Plastik, die man an einer Kordel um den Hals trug; ich dachte, ich sei eigentlich bestens ausgestattet – aber je länger ich mit Dave redete, desto klarer wurde mir, daß ich dabei war, mich für eine Expedition auszurüsten.
Was mich dann wirklich schockierte, war zum einen, wie teuer alles war – jedesmal, wenn Dave ins Lager sprang oder loszog, um das Gewicht des Gewebes in der Maßeinheit Denier zu überprüfen, warf ich einen verstohlenen Blick auf die Preisschildchen und war ausnahmslos entsetzt – und zum anderen, daß jeder Ausrüstungsgegenstand unweigerlich den Erwerb eines weiteren erforderlich machte. Wenn man einen Schlafsack kaufte, brauchte man einen Packbeutel für den Schlafsack. Der Packbeutel kostete 29 Dollar. Für diese Nötigung hatte ich zunehmend weniger Verständnis.
Als ich mich schließlich nach reiflicher Überlegung für einen Rucksack entschieden hatte – einen sehr hochwertigen Gregory, vom Allerfeinsten, nach dem Motto: es bringt nichts, hier zu knausern –, fragte Dave: »Was für Gurte wollen Sie dazu haben?«
»Wie bitte?« erwiderte ich und merkte auf der Stelle, daß ich mich am Rand einer gefährlichen Krise befand, auch als Konsumverweigerung bekannt. Ab jetzt konnte ich nicht mehr unbekümmert von mir geben: »Packen Sie nur ruhig gleich sechs Stück davon ein, Dave. Und wenn ich schon mal dabei bin – von den anderen Dingern nehme ich acht Stück. Ach, was soll’s, warum nicht gleich zwölf? Man gönnt sich ja sonst nichts.« Der Haufen Klamotten, der mir eben noch verschwenderisch vorgekommen war und mich irgendwie ganz aufgeregt gemacht hatte – alles neu! alles meins! –, erschien mir plötzlich erdrückend und übertrieben.
»Gurte«, erklärte Dave. »Um Ihren Schlafsack draufzuschnallen und Sachen festzubinden.«
»Gehören die Gurte nicht dazu?« sagte ich leicht gereizt.
»Nein.« Er ließ seinen Blick über eine Wand, vollbehängt mit Kleinkram, schweifen. »Jetzt brauchen Sie natürlich auch noch einen Regenschutz.«
Ich sah ihn verständnislos an. »Einen Regenschutz? Wozu das denn?«
»Gegen den Regen.«
»Ist der Rucksack denn nicht wasserdicht?«
Er verzog das Gesicht, als müßte er einen höchst schwierigen Sachverhalt klären. »Na ja, nicht hundertprozentig …«
Das fand ich höchst seltsam. »Wirklich? Ist dem Hersteller nie in den Sinn gekommen, daß die Kunden ihre Rucksäcke gelegentlich auch mal mit nach draußen nehmen wollen? Vielleicht sogar über Nacht draußen zelten wollen? Wieviel kostet der Rucksack eigentlich?«
»250 Dollar.«
»250 Dollar? Wollen Sie mich verarsch…«
Ich unterbrach mich und schlug einen anderen Ton an. »Soll das heißen, man zahlt 250 Dollar für einen Rucksack, der keine Gurte hat und nicht wasserdicht ist?«
Dave nickte.
»Hat er wenigstens einen Boden?«
Mengle grinste verlegen. Kritik an der unerschöpflichen, vielversprechenden Welt der Wanderausrüstung oder gar Überdruß gehörte nicht zu seinem Wesen. »Die Gurte gibt es in sechs verschiedenen Farben«, bot er mir zur Versöhnung an.
Zum Schluß hatte ich so viel Ausrüstung beisammen, daß ich einen ganzen Treck Sherpas hätte beschäftigen können: Zelt für einen Drei-Jahreszeiten-Einsatz; Isoliermatte, die sich selbst aufbläst; Kombitöpfe und -pfannen; Klappbesteck; Plastikteller und -tasse; Wasserfilter mit einem komplizierten Pumpsystem; Packbeutel in allen Regenbogenfarben; Nahtdichter; Klebeflicken; Schlafsack; Spanngurte; Wasserflaschen; wasserdichter Poncho; wasserfeste Sturm-Zündhölzer; Regenschutz; ein niedlicher Schlüsselanhänger mit eingebautem Minikompaß und Thermometer; ein kleiner, zusammenklappbarer Kocher, der eindeutig Ärger zu machen versprach; Gaskartusche und Ersatzkartusche; eine Taschenlampe, die man sich wie eine Grubenlampe auf die Stirn setzt, so daß die Hände frei sind (die gefiel mir sehr gut); ein großes Messer, um Bären und andere Hinterwäldler abzumurksen; Thermo-Unterwäsche; lange Unterhosen und Unterhemden; vier große Tücher, auch als Stirnbänder zu benutzen, und jede Menge anderer Sachen, für die ich extra nochmal in den Laden zurückgehen mußte, um zu fragen, wozu sie eigentlich gut waren. Bei einem Designer-Zeltboden für 59,95 Dollar war bei mir Schluß, weil ich wußte, daß es im Supermarkt Zeltplanen für fünf Dollar gab. Ein Erste-Hilfe-Set, ein Nähset, ein Schlangenbiß-Set, eine Trillerpfeife für zwölf Dollar und einen kleinen orangefarbenen Spaten, um seine Hinterlassenschaft zu verbuddeln, ließ ich ebenfalls links liegen mit der Begründung, daß diese Dinge nicht nötig und zu teuer seien oder man sich damit der Lächerlichkeit preisgeben würde. Besonders der kleine orangefarbene Spaten schien mir zuzurufen: »Grünschnabel! Schlappschwanz! Ist sich zu fein für die eigene Scheiße!«
Um gleich alles in einem Aufwasch zu erledigen, ging ich noch nach nebenan in den Buchladen von Dartmouth und kaufte Bücher – The Thru-Hiker’s Handbook, Walking the Appalachian Trail, diverse Bücher über wildlebende Tiere und wildwachsende Pflanzen, naturwissenschaftliche Werke, einen historischen Abriß über die geologische Entwicklung des Appalachian Trail von einem Autor mit dem köstlichen Namen V. Collins Chew, und die bereits erwähnte, vollständige Sammlung der offiziellen Appalachian Trail Guides, die elf Taschenbücher und 59 Karten umfaßt, letztere allesamt von unterschiedlicher Größe und Aufmachung und mit verschiedenen Maßstäben. Diese Anthologie stellt den gesamten Weg vom Springer Mountain bis zum Mount Katahdin dar und ist zu dem stolzen Preis von 233,45 Dollar zu haben. Beim Hinausgehen fiel mir ein Buch auf, Bären: Jäger und Gejagte in Amerikas Wildnis. Ich schlug es wahllos auf, las den Satz: »Hier haben wir ein typisches Beispiel für den nicht selten auftretenden Fall, daß ein Schwarzbär einen Menschen erblickt und beschließt, ihn zu töten und zu fressen«, und warf es gleich mit in die Einkaufstüte.
Ich brachte den Krempel nach Hause und trug ihn in mehreren Etappen runter in den Keller. Es war ungeheuer viel, und mit der ganzen Technik der Ausrüstung war ich absolut nicht vertraut; es war spannend und gleichzeitig beängstigend, hauptsächlich beängstigend. Ich setzte die Stirnlampe auf, nur so zum Spaß, zog das Zelt aus der Plastikhülle und baute es auf. Ich rollte die Isomatte aus, die sich selbst aufblies, schob sie ins Zelt und kroch dann selbst mit meinem neuen Schlafsack hinein. Dann schlüpfte ich in den Schlafsack und blieb eine ganze Weile so liegen. Dabei versuchte ich, mich in der teuren, arg begrenzten, noch seltsam neu riechenden, gänzlich ungewohnten Räumlichkeit, die schon bald mein Zuhause fern von zu Hause sein würde, zurechtzufinden. Ich versuchte mir vorzustellen, ich läge nicht in einem Keller, neben dem gemütlichen Heizungskessel mit seinem gezähmten Gebrumm, sondern draußen, auf einem hohen Gebirgspaß, lauschte dem Wind und dem Blätterrauschen, dem einsamen Heulen hundeähnlicher Geschöpfe, dem heiseren Flüstern, aus dem unüberhörbar der Dialekt aus den Bergen von Georgia herausklang: »He, Virgil, hier liegt einer. Hast du an das Seil gedacht?« Es wollte mir nicht gelingen.
Seit ich im Alter von ungefähr neun Jahren aufgehört hatte, aus Decken und Spieltischen Hütten zu bauen, hatte ich mich nicht mehr in so einer Umgebung aufgehalten. Es war sogar ziemlich urig, und wenn man sich erstmal an den Geruch, von dem ich naiverweise annahm, er würde sich im Laufe der Zeit verflüchtigen, und an die kränklich blaßgrüne Färbung gewöhnt hatte, die das Material allen Dingen um einen herum wie der Schein eines leuchtenden Radarschirms verlieh, war es gar nicht so furchtbar. Vielleicht ein bißchen klaustrophobisch, komisch riechend, aber dennoch gemütlich und urig.
Es würde schon nicht so schlimm werden, redete ich mir ein. Aber insgeheim wußte ich, daß ich mich gründlich irrte.