C.H.Beck
Wenn im alten Griechenland die Krieger in die Schlacht zogen, dann riefen die Mütter ihren Söhnen zu, sie sollten entweder mit dem Schild oder auf dem Schild zurückkommen, aber nicht ohne. Sie sollten also entweder siegen oder sterben. Die Kapitulation galt als unehrenhaft, auch wenn sie häufig vorkam. Denn auch unterlegene Soldaten wollen weiterleben. Aber wie stellt man es an, eine Schlacht oder einen Krieg zu verlieren und trotzdem zu überleben? Dieser „Kunst der Niederlage“ ist dieses Buch gewidmet. Es handelt vom Aufhören im Kriege, von der Dialektik zwischen soldatischer Ehre und Überlebenstrieb und von der Wechselwirkung zwischen den Bedingungen, die der Sieger stellt, und der Bereitschaft des Verlierers, sie zu akzeptieren. Die Kapitulation stellt eine Kulturtechnik dar, die sich über die Jahrtausende der menschlichen Geschichte wandelte und nicht zuletzt von gesellschaftlichen Entwicklungen und Veränderungen in der Waffentechnik abhing. Holger Afflerbach zeichnet diese Wandlungen nach und bietet dabei eine Geschichte des Krieges von der Steinzeit bis zur Gegenwart.
Holger Afflerbach ist Professor of Central European History an der University of Leeds.
I. Die Kunst der Niederlage – eine Geschichte der Kapitulation
II. Die Kapitulation und ihre Symbolik
III. Gnadenlose Kämpfe in vorgeschichtlicher Zeit
IV. Die Anfänge organisierter Kriege – und wie sie für den Verlierer endeten
V. Siegen oder Sterben – wie Kämpfe in der Antike endeten
VI. Sterben oder kapitulieren – Wie sich im Mittelalter Regeln für die Kapitulation herausbildeten
VII. Vom Helden zum Soldaten – Die Kapitulation in der frühen Neuzeit
VIII. Mit wehender Fahne untergehen? Niederlage und Kapitulation im Seekrieg
IX. Verbriefte Rechte des Verlierers versus totaler Krieg: Die Kapitulation in Kriegen des 19. und 20. Jahrhunderts
X. Ein «postheroisches» Zeitalter? Die Kunst der Niederlage im Krieg der Gegenwart
XI. Die Hölle humanisieren? Die Kunst der Niederlage in der europäischen Geschichte
Anmerkungen
Verzeichnis der in den Anmerkungen abgekürzt zitierten Literatur
Personenregister
Was einen guten Soldaten ausmacht,
ist seine Bereitschaft zu kämpfen,
sein Ehrgefühl, und seine Disziplin.
Thukydides, Peloponnesischer Krieg V, 9
Dieses Buch sucht Antworten auf die Frage, wie und warum Kämpfe enden. Es behandelt das Aufhören im Kriege, das insofern Neuland ist, als es zu diesem Thema bislang keine zusammenfassende Analyse, keine Theorie, ja nicht einmal einen vernünftigen Oberbegriff gibt, der allgemein anerkannt ist und das Phänomen zusammenfasst.[1] Dabei ist die Frage von zentraler Bedeutung für die gesamte Kriegsgeschichte. Sie hat aber, anders als beispielsweise die Entwicklung von Strategie, Führungsmethoden oder Waffentechnik, unverdient wenig Beachtung gefunden.
Waffen und Strategie sind natürlich elementar für die Kriegsgeschichte, und doch bleibt der entscheidende Faktor in jedem Konflikt, welchen Einsatz der Einzelne bringt, wie lange er kämpft und vor allem, wann und warum er den Kampf aufgibt. Ebenso zentral ist die komplementäre Frage, welche Möglichkeiten die siegreiche Seite der unterlegenen einräumt, den Kampf aufzugeben.
All dies kann und soll nicht von anderen Entwicklungen des Krieges getrennt werden. Die Weiterentwicklung der Waffentechnik oder andere militärische Neuerungen haben gewaltigen Einfluss auf das Erscheinungsbild des Krieges. Militärische Innovationen veränderten schließlich die Instrumente, die dem Kampf- und Einsatzwillen des Soldaten, seinem Ehrgefühl und seinem Mut zur Verfügung standen, und sie forderten seine Bereitschaft, notfalls sterben zu müssen, immer aufs Neue heraus.[2] Ebenso verlangten sie nach immer neuen Wegen, auf denen Unterlegenen Pardon gewährt werden konnte.
Dieses Buch beschäftigt sich jedoch mehr mit Fragen der Kampfmotivation und vor allem mit dem Moment, in dem sie plötzlich verschwindet. Es geht um die Dialektik zwischen soldatischer Ehre und Überlebenstrieb; um die Wechselwirkung zwischen den Bedingungen, die der Sieger stellt, und der Bereitschaft des Verlierers, sie zu akzeptieren. Nur das Zusammenspiel dieser gegensätzlichen Positionen macht die Vorgänge des Aufgebens im Kampf erklärbar. Es soll hier im weiten Bogen von der Steinzeit bis in die Gegenwart nachverfolgt werden. Der Schwerpunkt liegt auf der europäischen Kriegsgeschichte; außereuropäische Entwicklungen kann ich nur streifen. Dies ist bedauerlich, war aber notwendig, um die Stoffmenge zu begrenzen und um Entwicklungslinien, Kontinuitäten und Brüche klarer herausarbeiten zu können.
Die Unzahl von Kriegen in der Vergangenheit macht es trotz dieser Begrenzung unmöglich, das Thema auch nur annähernd erschöpfend zu behandeln. Ich möchte darauf verweisen, dass parallel zu diesem Buch ein umfangreiches Werk zur Geschichte der Kapitulation erschienen ist, das von Hew Strachan und mir herausgegeben wurde und hinter dem die geballte Sachkompetenz von 30 weltweit führenden Militärhistorikern steht.[3] Die Konzeption für das vorliegende Buch, das Essay und nicht Handbuch sein will, ist älter und und die Fragen sind nur teilweise deckungsgleich; trotzdem habe ich von den Beiträgen sehr viel gelernt.[4]
Im Folgenden werde ich einige Entwicklungen und Thesen über die «Kunst der Niederlage» herausarbeiten. Um das Thema nicht in eine allgemeine Geschichte der Kriege und Schlachten zerfließen zu lassen, nehme ich die soldatischen Ehrvorstellungen und ihr mögliches Extrem, nämlich den Kampf bis zum Tod, als Maßstab, um parallel dazu immer wieder die Mechanismen aufzeigen zu können, die dieses Extrem nicht immer, aber oft verhindert haben. Diese Mechanismen könnte man, mit einer Anleihe bei Adam Smith, als «die unsichtbare Hand des Krieges» bezeichnen. Dies bedarf einer kurzen Erklärung. Der schottische Nationalökonom hatte in seinem Buch «The Wealth of Nations» geschrieben, dass der Markt nicht durch die guten Absichten des Einzelnen, sondern durch dessen Gewinnstreben geprägt werde, dass aber gerade dieser Egoismus schließlich für alle positive Resultate hervorbringe. Er sprach davon, dass der Marktteilnehmer oft «von einer unsichtbaren Hand geleitet» werde, «um einen Zweck zu fördern, den zu erfüllen er in keiner Weise beabsichtigt hat».[5] Es handelt sich also nicht um eine moralische Frage. Diese mephistophelische Grundidee – die Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft – kann auch auf das Aufhören im Kriege übertragen werden: Egoistische und eigensüchtige Motive der Kämpfenden, der Sieger wie der Verlierer, verhindern im Normalfall, dass es zum Äußersten, nämlich zum Kampf bis zur Vernichtung des Unterlegenen kommt. Internationale Regelwerke und gesetzliche Bestimmungen gegen Exzesse kamen erst sehr spät zum Tragen und kodifizierten in vielen Fällen nur das, was sich als Folge eben jener egoistischen Motive bereits zuvor entwickelt hatte. Gleichzeitig gab es viele Fälle, in denen dieser Mechanismus der «unsichtbaren Hand» seine Wirkung nicht entfaltete. In der Ökonomie wie in der Militärgeschichte sind die Ursachen vergleichbar – es geschieht bei Monopolbildung, bei tatsächlichen oder vermeintlichen Wirtschafts- oder Machtmonopolen. Im Kriege ist das beispielsweise dann der Fall, wenn der Sieger so überlegen ist, dass er auf den Besiegten keinerlei Rücksicht mehr zu nehmen braucht und von einer harten Haltung nur Vorteile erwartet.
Im Grundsatz hat auch Clausewitz etwas sehr Ähnliches behauptet. Zwar hat er in «Vom Kriege» festgestellt, dass das Element der Mäßigung im Kriege nicht zum Tragen kommen dürfe.[6] Gleichzeitig war er aber auch der Ansicht, dass der «absolute Krieg» als Akt der schrankenlos entfesselten und vernichtenden Gewalt in der Wirklichkeit nicht vorkommen werde, da die Kriegführenden durch eine Interessenabwägung, durch Rücksichten auf politische Fragen, die außerhalb des Kampfes liegen, immer wieder abgelenkt würden.[7]
Im Folgenden wird es um das Aufhören in Kämpfen zwischen Soldaten, Truppenverbänden oder Staaten gehen, nicht jedoch um die politischen Aspekte, wie Kriegsziele oder Kriegsbeendigung, und auch nicht um eine allgemeine Geschichte des Krieges, wie sie beispielsweise John Keegan oder Azar Gat vorgelegt haben.[8] Das Herzstück meiner Argumentation sind die Mechanismen des Aufhörens, die hier unter dem Label der «Kapitulation» zusammengefasst werden. Zur Kapitulation – später mehr zur Genesis dieses Begriffs – gesellen sich vielfältige andere Methoden des Aufhörens im Kriege, wie zum Beispiel die Flucht, die Desertion und die Gefangennahme auf individueller Ebene sowie der Waffenstillstand auf kollektiver Ebene,[9] der dann eine Rolle spielt, wenn noch ein gewisses Gleichgewicht der Kräfte gewahrt ist, und schließlich, alles dominierend, das radikalste Ende: der Tod. Tod oder Flucht sind, so könnte eine erste These lauten, das ursprüngliche Ende von Kämpfen.
Die Kunst der Niederlage ist ein Katalog von Regeln und Normen, von Ehr- und Moralvorstellungen, von ökonomischen, technischen, machtpolitischen und sozialen Fragen, der sich im Lauf der Zeit stark verändert hat.[10] Ein Kampf wird natürlich durch die Kräfteverhältnisse entschieden, wobei zweitrangig ist, ob das entscheidende Übergewicht des Siegers durch zahlenmäßig-materielle, strategische oder moralische Faktoren herbeigeführt wird. Allerdings gehören Regeln und Normen zwingend dazu und bestimmen die Gestalt des Krieges und auch das Aufhören in Kämpfen sehr stark. Hierüber gibt es, soweit ich sehe, keine wirkliche Diskussion; Clausewitz sah dies genauso wie moderne Theoretiker des Krieges, wie etwa Martin van Creveld.[11] Ebenso wie in anderen Bereichen des menschlichen Handelns, wie etwa der Ökonomie, gibt es im Krieg Regeln des Agierens, wenn auch im Einzelnen umstritten ist, wie weit diese Regeln gehen, wie weit sie implementiert sind oder werden müssen; ja bisweilen, ob bestimmte soziale Mechanismen überhaupt existieren oder ihre Existenz nur behauptet wird.
Gibt es die «unsichtbare Hand» des Krieges, die Tod und Vernichtung im Krieg einhegt? Im Folgenden wird es mir darum gehen, sie sichtbar zu machen und nachzuzeichnen, wie und warum Sieger und Besiegte beschlossen, an einem bestimmten Punkt den Kampf aufzugeben. Dieser Konsensus ist nicht selbstverständlich, er ist brüchig und an eine Reihe von Vorbedingungen geknüpft. Eine davon ist etwa, dass der Sieger die Kapitulation akzeptiert. Dies ist nicht selbstverständlich. Churchill beschrieb einen Kriegsgefangenen als «einen Mann, der versucht, Dich zu töten, es nicht schafft und dann bittet, dass Du ihn nicht tötest.»[12] Vielleicht hatte er, oder einer seiner Kameraden, gerade einen Freund oder Waffenbruder des Siegers umgebracht. Ist es menschlich, jemanden am Leben zu lassen, der einem noch Augenblicke zuvor nach dem Leben trachtete? Zumindest im heißen Kampfgeschehen ist es zu keiner Zeit – auch in jüngster Zeit nicht – sicher gewesen, dass der Sieger die Empathie und Selbstkontrolle aufbrachte, den sich Ergebenden, also einen in der Regel bewaffneten und hochgefährlichen Mann, am Leben zu lassen.[13] In anderen Fällen hatte der Sieger kein Interesse an einer Kapitulation des Verlierers; etwa dann, wenn ein Söldnerheer nach langer und verlustreicher Belagerung eine Stadt erobert hatte und sich im Wut- und Mordrausch für die vorangegangenen Entbehrungen rächen und außerdem ohne irgendwelche Auflagen durch Plünderung bereichern wollte.
Und doch ist in fast allen Fällen das Entgegenkommen auch für den Sieger die bessere Politik. Um vom Einzelnen zur Gesamtheit zu kommen: Der Sieger muss dem Besiegten Hoffnungen auf Schonung oder zumindest ein erträgliches Weiterleben machen, um diesen vom fanatischen Endkampf bis zum Tode abzuhalten. Die Bereitschaft des Siegers, den Besiegten zu schonen, muss mit der Neigung des Besiegten korrespondieren, die Niederlage und ihre voraussichtlich äußerst nachteiligen Folgen dem Tode vorzuziehen. Dies ist, wie die Kriegsgeschichte zeigt, nicht immer, aber oft der Fall. Es lässt sich immer wieder, von den frühesten Anfängen der Überlieferung bis in die Gegenwart, beim schwächeren Teil das Ringen zwischen Selbsterhaltungstrieb und Trotz beobachten; der Zwiespalt zwischen dem Willen, den Kampf bis zum Tod fortzusetzen, und dem Entschluss zur Aufgabe, um wenigstens das nackte Leben zu retten. Der Konsens aufzuhören basiert zwar auf einem bestimmten Herkommen, ist aber nicht selbstverständlich. Es gab und gibt immer wieder Kämpfer, für die der Kampf nur mit dem Tod endet; die Selbstmordattentäter unserer Tage zeigen, dass sie bereit sind, ihr eigenes Leben bewusst zu opfern.
«Min sicherheit si din …»
Kapitulationsformel mittelalterlicher Ritter
Das Aufhören im Kampf hat im Laufe der Geschichte die unterschiedlichsten Namen erhalten. Die Griechen nannten es (paradidonai = übergeben, in die Gewalt jemandes übergeben); die Römer sprachen von deditio (Übergabe). Noch in frühneuzeitlichen Texten wurde oft der Begriff Submission (Unterwerfung) verwendet. Der englische, französische und italienische Begriff für Kapitulation gehen auf dasselbe lateinische Wort zurück, auf rendere, eine Abwandlung von prendere (geben); daraus wurden surrender, reddition, resa. Das niederländische Wort Overgeven oder aftstaan entspricht dem deutschen «Übergabe».[1] In ihrem Buch über die Kapitulation spekuliert die amerikanische Professorin Robin Wagner-Pacifici sogar über die Probleme im Sommer 1945, den Begriff der Kapitulation angemessen ins Japanische zu übersetzen, und fragt sich, ob die damals verwendeten japanischen Worte denselben Bedeutungsgehalt wie ihre englischen Gegenstücke hatten.[2]
Die linguistische Definition allein führt nicht sehr weit; deshalb soll hier ein Rückgriff auf «Vom Kriege» uns helfen zu verstehen, wann Kämpfe normalerweise eingestellt werden. Clausewitz definierte als Ziel des Kampfes die Vernichtung der gegnerischen Streitmacht. Darunter verstand er Folgendes: «Die Streitmacht muß vernichtet, d.h. in einen solchen Zustand versetzt werden, daß sie den Kampf nicht mehr fortsetzen kann. Wir erklären hierbei, daß wir in der Folge bei dem Ausdruck ‹Vernichtung der feindlichen Streitkraft› nur dies verstehen werden.»[3] Vernichtung bedeutet also, mit anderen Worten, nicht die physische Vernichtung, deutlicher: den Tod des unterlegenen Soldaten, sondern einen Zustand, in dem der Unterlegene dem Sieger keinen entscheidenden Schaden mehr zufügen kann. Ähnlich drücken sich moderne Autoren aus, so etwa Paul Kecskemeti, der «Vernichtung» als «Neutralisierung der Kampfkraft» definiert.[4]
Es gibt, rein technisch gesehen, verschiedene Wege, auf denen die «vernichteten» Einheiten den Kampf einstellen können. Dazu gehört neben der Kapitulation/surrender, die verhandelbare Bedingungen enthalten kann, die «bedingungslose Kapitulation» (unconditional surrender oder surrender at discretion), die dem Sieger keinerlei Grenzen auferlegt außer denen, die das internationale Recht aufzeigt. Ein weiterer Ausdruck ist die debellatio, die vollkommene militärische Niederwerfung eines Staates, die eigentlich die Entwaffnung des Besiegten vorwegnimmt und damit eine Kapitulation fast unnötig macht.
Nicht dem Recht der Gegenwart entspricht der Ausdruck «auf Gnade oder Ungnade»[5] oder auch «no quarter» – das deutsche Pendant wäre wohl: «Pardon wird nicht gegeben», Worte, die Wilhelm II. im Juli 1900 bei der Verabschiedung seines Ostasiatischen Expeditionskorps verwendete, woraufhin schon bald gefragt wurde, ob es sich dabei um einen kaiserlichen Befehl gehandelt habe, in China keine Gefangenen zu machen.[6] Sich ergebende Gegner einfach zu töten, war von der Haager Konvention von 1899 verboten worden;[7] dies war allerdings über Jahrtausende anders gewesen und noch von Hugo Grotius, dem Vater des modernen Völkerrechts, als legal angesehen worden.[8] Das Hissen eines roten Banners in mittelalterlichen Schlachten konnte bedeuten, dass kein Pardon gegeben wurde.[9]
Kapitulieren ist ein hochkomplizierter und gefährlicher Akt; der «vernichtete» Gegner legt die Waffen nieder, mit denen er Momente zuvor noch auf den Sieger geschossen hat. Weder emotional noch rein physisch, vor allem bei einer größeren Menge kapitulierender Soldaten, ist dies ein einfacher Vorgang.[10] Es ist gefährlich für die plötzlich wehrlosen Verlierer, sich dem bewaffneten Sieger auszuliefern. Es ist aber auch riskant für die Sieger. Es könnte ja sein (und ist auch oft vorgekommen), dass es sich bei der vermeintlichen Kapitulation um eine List handelt oder dass der Unterlegene seine Ansicht ändert und den Kampf überraschend wieder aufnimmt. Außerdem geht das Kampfgeschehen vielleicht inzwischen weiter. Die Symbolik der Kapitulation trägt diesen Umständen Rechnung. Sie umfasst normalerweise Elemente, in denen der Besiegte seine Ergebung deutlich macht und seine Wehrlosigkeit unterstreicht; gleichzeitig enthält sie bisweilen Elemente der Erniedrigung.[11] Krieger in Ostafrika halten in aussichtsloser Lage ihren Speer mit beiden Händen über den Kopf und brüllen: «Nehmt Euch Tiere» – sie bieten also ein Lösegeld für ihr Leben, und es liegt am Sieger, ob er auf das Angebot eingeht.[12] Die Symbole, mit denen Soldaten sich in Europa ergeben, sind alt. Griechische Soldaten senkten ihre Schilde und hielten die Arme in die Luft.[13] Diese Geste, die erhobenen Hände, war auch bei den Römern zu finden. Römische Soldaten hielten ihre Schilder über ihre Köpfe, wohl um zu zeigen, dass sie keine Waffen mehr führten, keine Bedrohung mehr darstellten und schutzlos waren.
Bei den Griechen beendete ein symbolischer Handschlag, die dexiosis, die Gewalt; dieser wiederum war dem Ritual östlicher Mächte entlehnt. Auch im Mittelalter besiegelte ein Handschlag die Aufgabe des Kampfes, gemeinsam mit der formelhaften Redewendung «Min sicherheit si din»,[14] oder auch die feierliche Übergabe des Schwertes, so etwa als Friedrich der Schöne in der Schlacht bei Mühldorf (1322) kapitulierte und dem Burggrafen von Nürnberg sein Schwert aushändigte.
Die weiße Fahne hat ebenfalls eine lange gewohnheitsrechtliche Tradition. Tacitus berichtet, dass römische Legionäre weiße wollene Kopfbänder, die infulae, verwendeten, um ihre Aufgabe oder Verhandlungsbereitschaft anzuzeigen.[15] Auch mit Bändern umwickelte Olivenzweige konnten Verhandlungsbereitschaft symbolisieren; beide Zeichen waren der Sakralsphäre entlehnt. Die weiße Flagge ist durch die Haager Landkriegsordnung und inzwischen durch die Genfer Konventionen völkerrechtlich geschützt.
Während diese Symbole die individuelle Aufgabe des Kampfes besiegelten, galten für die Aufgabe auf der Ebene von Truppenverbänden, Festungen oder gar Staaten andere Regelungen. Truppenverbände in römischer Zeit wurden nach der Kapitulation bisweilen durch das Joch getrieben, durch ein symbolisches Tor, das durch drei Speere gebildet wurde. Die Soldaten waren nicht nur wehrlos, sondern nach manchen Quellen fast nackt und wurden dabei vom Sieger verhöhnt und geschlagen. Die Demütigung, die dem Spießrutenlaufen der frühen Neuzeit offenbar nicht unähnlich war, ersetzte Gefangennahme und Versklavung. Städte und Festungen kapitulierten in römischer Zeit ebenfalls nach einem festen Ritual aus Frage und Antwort, in dem eine bedingungslose Übergabe vereinbart wurde.[16] Im Mittelalter kam es bei der Kapitulation zu regelrechten Buß- und Unterwerfungsspektakeln, in denen sich der Besiegte nach einem vorher genau vereinbarten Ritual in Ketten präsentieren musste.
Bei Belagerungen bot sich, strukturell, Spielraum für Verhandlungen. Festungen zu erstürmen war für Belagerer[17] wie Belagerte meist äußerst verlustreich; daher hatten beide Seiten ein starkes Eigeninteresse, durch Verhandlung das Äußerste zu verhindern. So wurde dem Belagerten als Belohnung für die rechtzeitige Übergabe das Leben garantiert, manchmal auch sein Eigentum, weil sie dem Belagerer den verlustreichen Sturm ersparte. Zwischen den Parteien wurden Vereinbarungen getroffen, ein Vertrag geschlossen, der beispielsweise dazu führen konnte, dass die Verteidiger die Festung mit ihrer persönlichen Ausrüstung und Bewaffnung in perfekter Ordnung, wie bei einer Parade, verlassen konnten. Dieser Vorgang wurde in der frühen Neuzeit Kapitulation genannt, von capitulare, einem Wort des mittelalterlichen Lateins, das bedeutete, einen Text in einzelne Kapitel aufzulösen, oder von capitularis, Verordnung oder Vertrag.[18] Daher kommt das deutsche Wort für den Vorgang.
Je suis surtout dégoûté de Rousseau depuis que
j’ai vu l’Orient. L’homme sauvage est un chien.
Napoleon zu Roederer, 11. Januar 1803[1]
Wie endeten die Kämpfe in der Vorgeschichte? Um diese zentrale Frage beantworten zu können, müssen wir erst einmal wissen, wie wir uns das Zusammenleben des ursprünglichen Menschen vorzustellen haben. Die Antwort geht schon fast ins Philosophische, da sie eine grundsätzliche Interpretation der menschlichen Natur beinhalten muss.[2] Manche, so etwa Sigmund Freud, glaubten an den angeborenen Aggressionstrieb des Menschen;[3] andere, wie Margaret Mead, erklärten optimistischer, dass Kriegführung «nur eine Erfindung, keine biologische Notwendigkeit» darstelle.[4] Es gibt auch unter Vorgeschichtsforschern keine Einigkeit darüber, ob der Krieg zum Leben des urgeschichtlichen Menschen fest dazugehörte oder ob er sich erst nach der Sesshaftwerdung, als Folge von dauerhaften Siedlungen und Ackerbau, herausgebildet hat. Haben sich also Jäger und Sammler bekriegt, und wenn ja, wie dürfen wir uns das Ende dieser Kämpfe vorstellen?
Die dünne und ambivalente Quellenlage erschwert eindeutige Interpretationen. Die existierenden Theorien basieren auf drei Hauptquellenarten. Erstens auf archäologischen Funden, zweitens auf verhaltenspsychologischen Analysen von Menschen und auch Primaten und drittens auf anthropologischen Untersuchungen noch heute lebender, sogenannter «primitiver» Völker und ihres Verhaltens. Diese Faktoren werden unter Plausibilitätsgesichtspunkten zu einem Gesamtbild zusammengefügt. Dabei kommt es allerdings aus mindestens zwei Gründen nicht zu einem einheitlichen Ergebnis. Der erste ist, dass es unter den noch heute lebenden «primitiven» Völkern eindeutig friedfertige und deutlich gewalttätige gibt; mithin ist eine klare, anthropologisch begründete Antwort auf die Frage, ob Menschen von Natur aus Kriege führen, nicht möglich.[5] Der zweite ist die Interpretierbarkeit der Bodenfunde. Man hat steinzeitliche Massengräber gefunden, deren Inhalt von Massakern an Männern, Frauen und Kindern zeugen; in den Skeletten waren noch die Pfeilspitzen zu finden.[6] Die Gewalttätigkeit der Epoche steht damit außer Frage; allerdings beweist das nicht mit letzter Sicherheit, dass diese Opfer tatsächlich in einem Kriege starben, da sie auch anderen Verbrechen zum Opfer gefallen sein können.
Es gibt allerdings plausible Schlussfolgerungen, wie beispielsweise von dem Vorgeschichtsforscher Lawrence Keeley, der in seinem wichtigen Buch «War before Civilization» vermutet, dass die überwiegende Mehrheit aller ursprünglichen Völker gewalttätig war und Krieg führte.[7] Seine Ansichten sind inzwischen von anderen Forschern übernommen und weiterentwickelt worden, so von Azar Gat oder auch von Steven Pinker in seiner Geschichte der Gewalt.[8] Diese Urform des Krieges stellen sich Spezialisten wie Keeley als eine Art permanenten Raubmord vor; ein Stamm habe einen anderen überfallen, um die Männer zu töten, die Besitztümer zu plündern und die Frauen zu verschleppen.[9]
Andere, wie etwa Raymond Dart, spekulieren über noch finsterere Anfänge der Menschheit und vermuten, dass der Menschenvorläufer Australopithecus nicht nur ein fleischfressendes, sondern sogar ein kannibalisches Wesen war.[10] Der Nobelpreisträger Konrad Lorenz meinte 1966 gar, dass Homo Erectus Pekinensis «der Prometheus gewesen sei, der lernte, das Feuer zu beherrschen, um darauf seine Brüder zu rösten; neben den ersten Spuren des regelmäßigen Gebrauchs von Feuer liegen die verstümmelten und gerösteten Knochen von sinanthropus pekinensis selbst.»[11] Dagegen wurde jedoch eingewendet, dass nur ein unsicherer Fund diese Behauptung beweist, die damit auf wackligen Füßen steht.[12]
Um von diesen Spekulationen über die frühesten Anfänge in die Steinzeit zu kommen: Auch hier sind die Meinungen geteilt. Manche Paläontologen, wie etwa Ashley Montagu und Richard E. Leakey, meinen, «dass die Beweislage auf eine relativ friedliche Vergangenheit hindeutet».[13] John Keegan spekuliert in seinem Buch über die Natur des Krieges über stark ritualisierte Schlachten, arrangierte Zusammenkünfte, die kaum Opfer kosteten und eher Balz- und Mannbarkeitsrituale als Schlachten in unserem Sinne waren.[14] Die meisten jedoch vermuten, dass der Krieg in der Vorgeschichte mit ungeheurer Brutalität geführt wurde und keine Gefangenen gemacht wurden.[15] Thomas Hobbes, der das «primitive» Leben als «nasty, brutish and short»[16] bezeichnet hat, scheint der Wahrheit näher gekommen zu sein als Rousseau mit seiner Idee vom «edlen Wilden». Dies ist zumindest Keeleys Ansicht, der aufgrund archäologischer wie anthropologischer Beobachtungen zu dem Ergebnis gekommen ist, dass sich Stämme einer frühen Entwicklungsstufe gnadenlos bekriegten und dabei kein Pardon gaben. Die rituellen Schlachten waren nicht das, was die meisten Opfer kostete. Der große Aderlass der Vorgeschichte entstand, so Keeley, durch einen «low intensity conflict», eine Situation permanenter Bedrohung verfeindeter Stämme durch Überfälle, Verschleppungen, Raub und Raubmorde.[17] Keeley spricht sogar vom «totalen Krieg» der Steinzeit, da die Verluste durch diese fortwährenden Aktivitäten gewaltig gewesen seien, wenn sie in Proportion zu der geringen Kopfstärke der Bevölkerungen gestellt werden. Zehn getötete Krieger bedeuteten für eine Gruppe, die fünfzig Personen umfasste, einen unerträglich großen Verlust von 20 Prozent ihrer Gesamtbevölkerung. Die Steinzeitkrieger bevorzugten den Hinterhalt oder auch nächtliche Angriffe, um das Risiko, selbst verwundet oder getötet zu werden, möglichst gering zu halten.[18] Männliche Feinde wurden selten gefangengenommen, sondern sofort getötet oder später rituell hingerichtet, während Frauen und Kinder versklavt wurden. «Primitive Kriegführung bestand aus einem Krieg, der auf seine essentiellen Bestandteile reduziert war: der Mord am Feind, der Diebstahl oder die Zerstörung seiner Lebensgrundlagen, seines Wohlstands und seiner zentralen Ressourcen sowie seine Einschüchterung durch Unsicherheit und Terror.»[19]
Wie endeten diese Kämpfe? Die Antwort ist einfach: Sie endeten nicht wirklich, sondern waren ein permanenter Bestandteil eines Lebens, in dem sich die verfeindeten Parteien unaufhörlich nach Leben und Besitz trachteten. Trotz der permanenten Bedrohung ging das Leben zwar weiter;[20] auch im «totalen Krieg der Steinzeit» gab es viele Bereiche des Lebens, die nicht vom Krieg geprägt waren. Aber der Aderlass war enorm. Die vermutete Todesrate dieser Stämme würde, so hat Keeley auf die Kriege des 20. Jahrhunderts hochgerechnet, eine Verlustrate von 2 Milliarden Menschen bedeutet haben.[21] Brigitte Heuser schrieb kürzlich, dass «Massenmord an Nichtbewaffneten jeden Alters nicht nur eine Form des Krieges, sondern vielleicht sogar die älteste Form des Krieges» war;[22] damit scheint sie zumindest die Realität des vorgeschichtlichen Krieges zutreffend umrissen zu haben.
Die Frage, wie wir uns das Schicksal derer vorzustellen haben, die diese Kämpfe verloren, wird ebenfalls durch Plausibilitätsargumente beantwortet und an die Frage der gesellschaftlichen Organisation geknüpft, wobei die zugrunde liegenden Fakten durch anthropologische Beobachtungen noch existierender Völker, etwa in Afrika, Amerika und Australien, gewonnen wurden. Die daraus abgeleiteten Hypothesen wurden mit den Ergebnissen von Grabungen abgeglichen. Die archäologischen Funde – Skelette, die Spuren von Waffeneinwirkung, etwa von Äxten oder Pfeilen, aufwiesen – und Disparitäten – etwa Massengräber, in denen deutlich weniger weibliche als männliche Skelette zu finden waren, was darauf schließen lässt, dass Frauen nicht getötet, sondern als Gefangene weggeführt wurden – haben dann bestätigt, dass die Verhaltensweise vorgeschichtlicher Völker sehr ähnlich war wie die der entsprechenden Stämme oder Stammesfürstentümer in historischer Zeit.
Das Schicksal der Verlierer hing entscheidend von der Größe und Organisationsform der sich bekämpfenden Gruppen ab. Die kleinste Einheit, Gruppen von Jägern und Sammlern, meist nur 25 bis 75 Personen und ohne wirkliche Hierarchie, hatten weder die Möglichkeit noch das Interesse, Gefangene zu bewachen. Männer wurden immer umgebracht und auch Frauen und Kinder nur selten verschont. Die nächstgrößere Organisationsform, ein Stamm, meist Fischer, Farmer oder Hirten, konnte ein paar hundert, maximal ein paar tausend Menschen umfassen. Sie nahmen Frauen und Kinder gefangen und versklavten sie; Männer wurden nur am Leben gelassen, um sie anschließend zu opfern oder zu foltern. Männliche Gefangene nicht zu töten wäre für diese Gruppen oder Stämme lebensgefährlich gewesen; Keeley vergleicht dies sogar mit dem Versuch, einen Grizzly als Haustier zu halten.[23] Das Stammesfürstentum, das ein paar tausend bis einige zehntausend Menschen umfassen konnte, die in festen Ortschaften lebten und in klare Hierarchien eingebunden waren, war an Gefangenen interessiert, vor allem an Frauen und Kindern, aber auch an männlichen Sklaven, die in dieser Organisationsform bewacht und zum Arbeitseinsatz gezwungen werden konnten. Um die Flucht nach Hause zu erschweren, wurden diese Sklaven bisweilen in weiter entfernte Regionen verkauft. Auch eine Lösegeldpraxis gab es bereits. Und gelegentlich konnte sogar ein unterlegener Gegner als untergeordnete Klasse von Sklaven komplett in das Stammesfürstentum integriert werden.
Die Frage hierbei ist, warum diese Gruppen, Stämme und Stammesfürstentümer an dieser, sie grundsätzlich selbst schädigenden Verhaltensweise des praktisch unaufhörlichen Kampfes festhielten.[24] Der Grund dafür wird von Vorgeschichtsforschern in der Reziprozität gesehen: Die Menschen wurden in Verhältnisse hineingeboren, von denen sie als Heranwachsende lernten, dass sie immer schon so waren, und akzeptierten als Naturzustand, dass das Leben aus ständiger Bedrohung bestand, aus Angriff und Verteidigung. Dieser Zustand wird als «hobbesianische Falle» bezeichnet; in ihr wird aus der Not eine Tugend gemacht und alle Tugenden des Kämpfertums werden überhöht. Dies könnte auch erklären, warum es, in bestimmten Gegenden, absolut friedliebende Stämme gibt: Dort fehlte, vielleicht aufgrund lokaler und geographischer Besonderheiten, diese Tradition und damit auch die Reziprozität. Als Kriegsursachen spielten, neben dem Beutetrieb, der das wichtigste Motiv des Kampfes darstellte,[25] Fragen der verletzten Ehre, der Beleidigung eines Stammes und Blutrache eine wichtige Rolle.
Die Kampfformen entsprachen in keiner Weise den Ideen «ritterlicher» Kriegführung. Die Kämpfer versuchten, eigene Verluste nach Möglichkeit zu vermeiden. Sie stellten sich also nicht der offenen Schlacht, sondern bevorzugten den Hinterhalt, in dem sie den Gegner wehrlos antreffen konnten. Wer im Kampf unterlag, war entweder sofort tot oder wurde, wenn verwundet und kampfunfähig, mitleidlos abgeschlachtet. Der Kampf war auf die Perspektiven Sieg, Tod oder Flucht reduziert. Ein wesentlicher Grund dafür lag aber weniger in einem angenommenen aggressiven Tötungstrieb des Menschen als vielmehr in dem ökonomischen Hintergrund der Krieg führenden Gesellschaften, nämlich der Stämme, die keine Verwendung für Gefangene hatten. Es ist anzunehmen, dass der unterlegene Teil am Ende einfach wegrannte und der Sieger sich nicht die Mühe machte, ihn zu verfolgen.
Ein zentraler Gesichtspunkt wird schon in diesem frühen Stadium sichtbar: Die Frage, wie Kämpfe enden, hat wesentlich mit der gesellschaftlichen Organisation der Krieg führenden Parteien zu tun. Gesellschaften, die Gefangene nicht brauchen konnten, machten auch keine. Diese Faktoren – Gefangennahme und Versklavung, Tötung oder Geiselnahme der unterlegenen Partei – lassen sich auch als dominierende Elemente des Aufhörens in späteren Kriegen beobachten.
Wenn der Herr, dein Gott, sie in deine Gewalt
gibt, sollst du alle männlichen Personen
mit scharfem Schwert erschlagen.
Deuteronomium 20,14
Während es sehr wahrscheinlich, aber doch nicht unumstritten ist, ob es vor Beginn der Sesshaftigkeit überhaupt so etwas wie Kriege gegeben hat, kann für die jüngere Steinzeit, in der die ersten Festungsanlagen errichtet wurden, kein Zweifel mehr daran bestehen. Die Frage bleibt, ob Kriege eine unmittelbare Folge dieser Sesshaftwerdung waren; ob Menschen in der jüngeren Steinzeit zuerst Ackerbau betrieben und dann Festungen anlegten, um den entstehenden Wohlstand zu schützen, oder umgekehrt.[1] Es scheint, dass beide Prozesse relativ gleichzeitig einsetzten und damit auch der Beginn dessen, was wir als «organisierte Kriegführung» bezeichnen können. Arther Ferrill definierte diese als Kampf zwischen Formationen; Krieger kämpften in einer Gruppe und folgten einem Anführer. Dies, anstelle einer Gruppe von individuell kämpfenden Kriegern, gilt als die Grenze zwischen «primitivem» und «organisiertem» Krieg.[2] Um mit dem Doyen der britischen Militärgeschichtsschreibung, Sir Michael Howard, zu sprechen: Es gibt einen Unterschied zwischen Krieg als einer sozial kontrollierten Aktion, die wiederum Staaten voraussetzt, auf der einen Seite und Plünderungen, Piraterie, Räubertum, Aufständen, Bürgerkrieg und willkürlicher Gewalt auf der anderen Seite.[3] Unabhängig von der Frage, ob sich das wirklich so einfach trennen lässt, gibt es doch einen Unterschied zwischen nichtstaatlicher und staatlicher Gewalt: auf der einen Seite anarchischer Kampf und auf der anderen ein Staat, der das Gewaltmonopol hat und es kontrolliert einsetzt, um gegen andere Staaten Krieg zu führen.
In der Jungsteinzeit häufen sich die Anzeichen für gewaltsame Auseinandersetzungen, so etwa der Friedhof 117 im Sudan mit 59 Skeletten brutal ermordeter Männer und Frauen.[4] Ein weiteres untrügliches Zeichen für das heraufziehende Zeitalter zwischenstaatlicher Kriege sind die Ruinen großer Festungen, beispielsweise Jerichos: Diese jungsteinzeitliche Anlage, die im neunten und achten vorchristlichen Jahrtausend errichtet wurde, war von einem ca. drei Meter breiten und mindestens vier Meter hohen, wahrscheinlich ca. 750 Meter langen Wall umgeben, hatte einen gewaltigen Turm und schützte etwa 2000 Einwohner.[5] Zwischen 9000 und 4000 vor Christus entstanden überall im Mittelmeerraum Festungen. Mit dem Bau von Festungsanlagen entwickelte sich auch der Belagerungskrieg, der von Anbeginn besondere Charakteristika aufwies: den extrem hohen Aufwand für den Verteidiger, die Anlagen zu errichten, und den ebenfalls außerordentlich hohen Aufwand für den Angreifer, eine Festung zu erobern. Belagerungen konnten sehr langwierig sein; dem Belagerer konnten noch vor dem Belagerten die Lebensmittel ausgehen; Angriffe konnten militärisch scheitern. Deshalb entwickelte sich schon sehr früh eine besondere Kultur des Aufgebens im Belagerungskrieg.
Das Ende einer Belagerung hatte andere Merkmale als das Ende von Kämpfen und Schlachten. Dafür gab es viele Gründe. Solange eine Festung noch nicht erobert war, brach beispielsweise die Kommandostruktur nicht zusammen und das Geschehen splitterte sich nicht, anders als in vielen Schlachten, in unzählige unkontrollierbare Vorgänge der Gewalt auf. Sehr früh bildete sich ein klarer Kodex heraus, der bis in die frühe Neuzeit hinein seine Gültigkeit nicht verlor: Zuerst versuchte der Belagerer mit dem Belagerten zu einem Kompromiss zu kommen und die Belagerung damit überflüssig zu machen. Wenn sich ein solcher nicht finden ließ und die Festung schließlich im Sturm genommen werden musste, war der Angreifer, gewissermaßen als Entschädigung für seine hohen Opfer, moralisch berechtigt, jeden zu töten und zu versklaven, den er in der Festung vorfand. So wurde dies, als Spiegel militärischer Praxis im Vorderen Orient, im Alten Testament geregelt. Im Buch Moses (Deuteronomium 20,10–18) heißt es:
10 Wenn du vor eine Stadt ziehst, um sie anzugreifen, dann sollst du ihr zunächst eine friedliche Einigung vorschlagen. 11 Nimmt sie die friedliche Einigung an und öffnet dir die Tore, dann soll die gesamte Bevölkerung, die du dort vorfindest, zum Frondienst verpflichtet und dir untertan sein. 12 Lehnt sie eine friedliche Einigung mit dir ab und will sich mit dir im Kampf messen, dann darfst du sie belagern. 13 Wenn der Herr, dein Gott, sie in deine Gewalt gibt, sollst du alle männlichen Personen mit scharfem Schwert erschlagen. 14 Die Frauen aber, die Kinder und Greise, das Vieh und alles, was sich sonst in der Stadt befindet, alles, was sich darin plündern läßt, darfst du dir als Beute nehmen. Was du bei deinen Feinden geplündert hast, darfst du verzehren; denn der Herr, dein Gott, hat es dir geschenkt. 15 So sollst du mit allen Städten verfahren, die sehr weit von dir entfernt liegen und nicht zu den Städten dieser Völker hier gehören. 16 Aus den Städten dieser Völker jedoch, die der Herr, dein Gott, dir als Erbbesitz gibt, darfst du nichts, was Atem hat, am Leben lassen.
Diese äußerst drastischen Regelungen zeigen die Alternativen auf, die klar auch eines der zentralen Gesetze des Krieges, nämlich das der Reziprozität, widerspiegeln: Entweder gab eine Festung nach kurzer Zeit auf, dann wurde der Belagerte, dessen rechtzeitige Aufgabe dem Belagerer große Mühen, Opfer und auch viel Geld sparte,[6] vergleichsweise milde behandelt und ihm wurde das Leben gelassen. Manchmal konnten die Verteidiger sogar aushandeln, dass sie die Festungen mit Gepäck, mit ihren Waffen und Teilen der beweglichen Habe, verlassen durften, was wiederum heikel war, weil sich die belagernden Soldaten durch solche von ihren Führern ausgehandelten Abmachungen ihrer Beute beraubt sahen. Das Beutemachen und seine Kehrseite, die Rettung von Hab und Gut vor der Plünderung, war eine zentrale Frage bei der Kapitulation im Belagerungskrieg.
Die Alternative war, dass der Belagerte bis zum bitteren Ende kämpfte und die Festung unter großen Opfern erstürmt werden musste. Dann war ein Blutbad die Folge; die Soldaten, die sich Haus für Haus unter großen Opfern nach innen kämpfen mussten, waren selten in der Stimmung, Milde walten zu lassen. Deshalb war es für einen Festungskommandanten die Kardinalfrage, den richtigen Zeitpunkt zum Aufgeben zu finden, wenn sich das Waffenglück gegen ihn zu wenden begann. Hier galt es die Verpflichtung gegenüber dem Kriegsherrn sowie die Möglichkeiten erfolgreicher Verteidigung und möglicherweise herannahenden Entsatzes ebenso in Rechnung zu stellen wie die äußerst schwerwiegenden Folgen zu langen Aushaltens. Diese Balance ist nicht immer gelungen und das Ende der Belagerungen von Karthago im Dritten Punischen Krieg, von Numantia in Spanien durch die Römer, von Magdeburg im Dreißigjährigen Krieg und von Berlin 1945 zeigt, dass sich in den Kriegen der Antike wie der Moderne das überlange Aushalten am Belagerten furchtbar rächt.
Ab einem bestimmten Zeitpunkt war keine Gnade mehr zu erwarten; dies erklärt auch, warum manche Festungen selbst bei katastrophalem Mangel an Lebensmitteln ihren Widerstand fortsetzten und die Belagerten Ratten, Schuhe, Gras, manchmal sogar Menschenfleisch und in Extremfällen ihre eigenen Kinder aßen. Dazu konnte es kommen, wenn sie wussten, dass sie bei einer Kapitulation nur noch den Tod zu erwarten hatten.
Besonderer Gewalt waren Frauen ausgesetzt. Massenvergewaltigungen waren beim Erstürmen einer Festung normal. Es kam darüber hinaus zu allen möglichen anderen Grausamkeiten; so wurde beispielsweise sowohl in assyrischen Dichtungen als auch im Alten Testament häufiger erwähnt, dass beim Erstürmen von Städten schwangere Frauen aufgeschlitzt und Kindern die Schädel zerschmettert würden.[7] Es ist unklar, ob ein solches Verhalten der Norm entsprach oder ob es sich um Einzeltaten handelte. Vielleicht waren es Realitäten, vielleicht Schreckbilder – symptomatisch daran ist die Angst vor einem Sieger, der jede Hemmung verliert und in einen Mordrausch gerät. Die bislang letzte Version dieses Schreckbilds waren die Nachrichten von irakischen Soldaten, die bei der Invasion in Kuwait im Sommer 1990 in Krankenhäusern 40 – nach anderen Nachrichten 300 – Kinder aus Brutkästen gerissen und auf dem Fußboden haben sterben lassen sollen – eine Information, mit der auch Präsident Bush Senior Propaganda für seinen Feldzug gegen den Irak machte. Die Meldung stellte sich hinterher als eine vom kuwaitischen Staat finanzierte PR-Aktion heraus.[8]
Die Jungsteinzeit sah aber nicht nur das Entstehen größerer Festungsanlagen, sondern auch eine sehr viel umfassendere militärische Revolution. Waffen wurden erfunden, so die Schleuder, Pfeil und Bogen, Speere, Äxte und Schwerter – zuerst aus Stein, später aus Bronze, dann aus Eisen.[9] Gleichzeitig verdichteten sich die gesellschaftlichen Organisationsformen, und in Ägypten und im Vorderen Orient entstanden Staaten, die schon sehr früh Armeen beachtlicher Größe aufstellen konnten. Im Alten Ägypten, dessen Militärgeschichte in vielen Details wie auch in großen Linien, vor allem in der Zeit des Alten Reiches, umstritten ist, wurden Armeen von mehreren zehntausend Mann aufgestellt. Diese Armeen und Staaten machten Gefangene und versklavten sie. Damit wurde auch die Kapitulation, anders als in der Steinzeit, ein fester Bestandteil des Krieges, der gleichzeitig seine Form veränderte.
Eine weitere einschneidende Änderung in der Geschichte des Krieges war die Erfindung der entscheidenden Schlacht.[10] Diese entsprach jener Form des Krieges, von der Michael Howard gesprochen hat. Sie unterschied sich in der Kampfweise fundamental von dem konstanten Beutekrieg, der bisher vorgeherrscht hatte; sie verlief nach bestimmten Regeln und war nur unter den disziplinierenden Strukturen des Staates möglich. Eine der ersten Schlachten, über die wir hinreichende Zeugnisse besitzen, ist die Schlacht von Megiddo, die um das Jahr 1480 v. Chr. geschlagen wurde und mit der politischen Unterwerfung des Unterlegenen endete.[11] Die Schlacht als duellartige Entscheidung, als zentrales Geschehen im Kriege, stand im Gegensatz zur Taktik des Guerillakrieges, der häufigen Überfälle und der steten Bedrohung durch «low level conflicts» und veränderte die Form des Aufgebens.
Allerdings blieb die individuelle und freiwillige Aufgabe eine unattraktive und äußerst gefährliche Option, nicht nur, weil kapitulierende Soldaten in ihrer Gesellschaft sozial geächtet wurden, sondern auch, weil die Besiegten versklavt, getötet oder für liturgische Zwecke geopfert werden konnten.[12] Der Besiegte hatte jeden Grund, den Sieger zu fürchten und zu vermeiden, in dessen Gewalt zu kommen.
Krieg war und blieb außerdem alltäglich. J. De Romilly sagte über das Alte Ägypten: «Der Krieg war nicht nur eine gängige Praxis, sondern ein Normalzustand, während Friede ein Waffenstillstand war, ein bloßes Aussetzen des Krieges.»[13] Ein bezeichnendes Detail ist, dass es in der ägyptischen Sprache kein Wort für «Frieden» gab; es wurde erst später, als semitisches Lehnwort, eingeführt, als es benötigt wurde, um die auswärtigen Beziehungen zu organisieren. Diese Grundhaltung beeinflusste natürlich auch das Schicksal der Unterlegenen, das schrecklich war und blieb. Auf der Palette von Narmer blickt der erste Pharao auf die nebeneinanderliegenden Leichen seiner geköpften Feinde.[14] Ägyptologen betonen, dass dies auch immer ein Element pharaonischer Propaganda war; aber selbst wenn dies zutrifft, zeigt es, was die Gesellschaft von ihrem Führer forderte.[15] Den Besiegten erwartete ein Gemetzel oder Versklavung. Wir haben sogar Zahlen, die dies beispielhaft belegen können. Nach der Schlacht von Megiddo, der ersten «Entscheidungsschlacht» der Weltgeschichte, listeten die Annalen von Thutmosis III. 340 Gefangene und 83 Hände auf; die Hände waren den getöteten Feinden abgeschlagen worden, um das Zählen einfacher zu machen. Eine ähnliche Praxis des Abschlagens von Gliedmaßen, um den «body count» zu erleichtern, war im Vorderen Orient üblich.[16] Verwundete wurden direkt auf dem Schlachtfeld getötet, als eine Art Gnadenakt.
Immerhin zeigen diese Zahlen, dass bereits zu diesem frühen Zeitpunkt ein Hauptgesetz des Krieges – vielleicht können wir wieder von der «unsichtbaren Hand des Krieges» sprechen – das Ende von Kämpfen regelte: Diese endeten, bevor alle Verlierer tot waren; der Sieger wollte Sklaven und der Verlierer am Leben bleiben, auch wenn seine Zukunft alles andere als rosig aussah. Im Fall der Schlacht von Megiddo gab es, nach Aussage der zitierten Annalen, viermal mehr Gefangene als Getötete; ein relativ günstiges Verhältnis, das zeigt, dass schon bei dieser später als Armageddon sprichwörtlich gewordenen Schlacht die «unsichtbare Hand des Krieges» die Auswirkungen der Niederlage für den Unterlegenen begrenzte.
At foeda atque ignominiosa deditio est.
(Die Kapitulation ist schändlich
und erniedrigend).
Titus Livius, Ab Urbe Condita IX, IV, 15
Die kriegerischen Kulturen und Bräuche in Kleinasien, Mesopotamien, dem Nahen Osten und Ägypten beeinflussten auch die Kriege im klassischen Griechenland, die ihrerseits wiederum die abendländische Kriegsgeschichte prägten. Die Hellenen waren eine kulturelle, keine politische Einheit, aufgesplittert in über 1000, meist kleine Staaten, die sich vom Schwarzen Meer bis ins westliche Mittelmeer erstreckten. Die Kultur der Hellenen war im Allgemeinen sehr maskulin, ja machistisch und das Thema des Krieges durchdrang praktisch alle Bereiche auch ihres künstlerischen Schaffens.[1] Der Krieg war, so Heraklit, der Vater aller Dinge; Platon hielt den Krieg für einen Naturzustand, und Macht- und Herrschaftswille war in griechischen Augen bei Göttern wie Menschen etwas Selbstverständliches, so suggerierte es zumindest Thukydides im berühmten Melierdialog.[2] Staatenbeziehungen wurden, so lernen wir dort, von Furcht voreinander, von Ehre und Gewinnstreben dominiert. Die Griechen brachten auf dem Feld des Krieges Neuerungen hervor, die sich als entscheidend für die spätere europäische Geschichte erwiesen, und zwar in einem Ausmaß, dass manche, wie etwa der amerikanische Militärhistoriker Victor Hanson, hier die Wiege des «Western way of war» sehen.[3]
Das kriegerische Ideal der Hellenen war der Kampf bis zum Tod, für den Leonidas mit seinen Spartanern bei den Thermopylen das Modell abgab. Umringt von einer persischen Übermacht, dachten die Spartaner nicht daran zu kapitulieren. Eine solche Haltung wurde von verschiedenen griechischen Dichtern, Epikern und Historikern zum Ideal erhoben, von Kallinos oder Tyrtaios,[4] oder auch von Xenophon, der die letzten Minuten des Anaxibios im Jahre 389 v. Chr. schilderte. Als dieser sah, dass der Kampf verloren war, sagte er: «Männer, meine Ehre verlangt von mir, hier auf meinem Platz zu sterben, aber ihr müßt Euch in Sicherheit bringen, bevor der Feind euch erreicht. So sprach er, nahm das Schild von seinem Schildträger und starb kämpfend auf dieser Stelle.»[5] Eine ähnliche Standhaftigkeit sah Victor Hanson bei den Athenern, die bei Amphipolis gegen die Spartaner kämpften;[6] all dies sind Anzeichen dafür, dass das Ideal des Aushaltens bis zum Tode von der Mehrzahl der Griechen geteilt wurde. Das Wesen des Ideals ist natürlich, dass die meisten Menschen es niemals erreichen. Es gab, komplementär, auch eine klare Vorstellung davon, wie sich ein Sieger zu verhalten hatte, nämlich großzügig und ohne Grausamkeit. Hierfür kann Dionysios von Syrakus als Beispiel gelten, der 10.000 Mann eines Entsatzheeres für die Stadt Caulonia in Unteritalien gefangengenommen hatte. Diese hatten kapituliert und befürchteten das Schlimmste, wurden aber von Dionysos gut behandelt und ohne Bedingungen freigelassen. Diodor schrieb, dass die Zeitgenossen des Tyrannen von Syrakus dies für die «schönste Tat seines Lebens» hielten.[7]
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