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Wolfgang Mertens

 

TRAUM
UND TRAUMDEUTUNG

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Verlag C.H.Beck

 


 

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Zum Buch

„Ein nicht gedeuteter Traum ist wie ein nicht gelesener Brief“, so heißt es bereits im Talmud, und zweifelsohne gehört das Träumen zu den rätselhaftesten Fähigkeiten des Menschen. Spätestens mit Sigmund Freuds Traumtheorie hat die Beantwortung der Frage nach der Bedeutung und dem Sinn von Träumen eine ganz neue Dimension erhalten, versuchen neben den Psychologen auch Mediziner und Biologen das Geheimnis des Träumens zu entschlüsseln.

Dieses Buch sucht einen Überblick über die Traumforschung dieses Jahrhunderts zu geben, indem es neben Freuds Arbeiten die wichtigsten tiefenpsychologischen, psychoanalytischen und neurobiologischen Traumtheorien vorstellt und erläutert.

Über den Autor

Dr. Wolfgang Mertens, Diplom-Psychologe und Psychoanalytiker, ist Professor emeritus für klinische Psychologie und Psychoanalyse an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Seine Arbeits- und Forschungsschwerpunkte sind unter anderem analytische Behandlungstechnik, Krankheitslehre, Entwicklungspsychologie und Psychotherapieforschung.

Inhalt

1. Das Faszinosum des Traums

2. Freuds Traumpsychologie und Traumdeutung

Freuds Traumdeutung – Biographische Aspekte

Stellt der Traum überhaupt einen psychologischen Gegenstand dar?

Der Traum von Irmas Injektion: Der Initialtraum der Psychoanalyse

Der Abend vor dem Irma-Traum

Der Traum: Versuch einer Wunscherfüllung

Freuds Wunscherfüllung im Irma-Traum

Manifester Traum und Kindheitserinnerungen

Traumarbeit: Wie aus den Kinderwünschen mitteilbare Träume werden

Zur Unterscheidung von manifestem und latentem Traum

Zu den Mechanismen der Traumarbeit: Verdichtung und Verschiebung

Tagesrest: Ein wichtiger Schlüssel zum Traumverstehen

3. Psychoanalytische Traumforscher nach Freud (Erste Hälfte des 20. Jahrhunderts)

Alphonse Maeder: Die prospektive Funktion des Träumens

Alfred Adler: Träume als charakteristischer Ausdruck eines Menschen

C. G. Jung: Träume – Verhüllte Kinderwünsche oder Mitteilungen des kollektiv Unbewußten?

Samuel Lowy: Träumen als ein kontinuierlicher Prozeß im Schlaf

Harald Schultz-Henckes Traumlehre: Eine tiefenpsychologische Synthese

4. Psychoanalytische Traumforscher nach Freud (Zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts)

Thomas French und Erika Fromm: Fokalkonflikte in Traumsequenzen

Träumen als Gedächtniskonsolidierung und Problemlösung

Geglückte und mißglückte Matching-Prozesse im Traum

Das Traummodell von Ulrich Moser und Ilka von Zeppelin

Träumen: Das Fenster zum Unbewußten

5. Neurophysiologische und neurobiologische Befunde und Hypothesen

Die Entdeckung des REM-Schlafs

Von neurophysiologischen Spekulationen zu gesicherten Hypothesen

Man kann jedem Unsinn einen Sinn geben

Träumen: Bereinigen von Speicherinhalten?

Träumen: 150 Millionen Jahre alt?

6. Empirische Arbeiten zum Traum

Der Einfluß der subliminalen und vorbewußten Wahrnehmung auf die Traumentstehung

Assoziationen haben einen Zusammenhang zum verdrängten Unbewußten

Die Wirkung von Traumentzug auf die Selbstkohärenz

REM-Deprivationsstudien

Experimentelle Manipulation vor dem Schlafengehen

Traum-Intensivierungs-Design

Traum-Einverleibungs-Design

Zum Design von Ramon Greenberg

Warum wacht der Träumer aus einem Traum auf?

Zentrale Beziehungskonfliktthemen im Traum und im Wachzustand

7. Traumdeutung

Traumerinnerung als Voraussetzung für die Deutung

Traum, Traumerinnerung und Traumbericht

Traumdeutung ohne Theorie?

Psychoanalytische Tiefenhermeneutik benötigt theoretische Hintergrundannahmen

Die verschiedenen Deutungsebenen des Traums

Zur kommunikativen Funktion des Traumberichtens

Literaturhinweise

Register

Wir sind aus solchem Stoff

wie der aus Träumen

und unser kleines Leben

umgibt ein Schlaf.

(William Shakespeare, Der Sturm,

4. Aufzug, Erster Auftritt)

1. Das Faszinosum des Traums

Das Verständnis der Psychologie des Traums und der darauf basierenden Traumdeutung ist in diesem Jahrhundert stark von den Auffassungen Sigmund Freuds geprägt. Die Freudianer wie auch die Kritiker der Psychoanalyse nehmen bis zum heutigen Tag auf Freud Bezug, um ihre eigenen Auffassungen kontrastierend darzustellen. So bleibt für Freunde und Gegner die psychoanalytische Traumauffassung Ausgangspunkt für alle Modifizierungen und Weiterentwicklungen. Auch für die meisten Freudianer ist heutzutage die Freudsche Traumlehre in mancherlei Hinsicht nicht mehr zeitgemäß. Denn das Verständnis vom Traum und vom Träumen hat sich auch innerhalb der Psychoanalyse in diesem Jahrhundert verändert, so wie sich ebenfalls viele andere theoretische Weiterentwicklungen ergeben haben. Und selbstverständlich lassen auch die Befunde der Kognitionspsychologie und Neurowissenschaften, die in den zurückliegenden zwei Jahrzehnten einen rasanten Aufschwung genommen haben, manche der Freudschen Annahmen in einem anderen Licht erscheinen; für einige Neurowissenschaftler scheint sogar Freuds ganzes Werk damit widerlegt zu sein. Bevor wir uns mit diesen Themen auseinandersetzen, blicken wir kurz zurück.

Auch wenn viele Autoren die Auseinandersetzung mit dem Traum erst mit dem epochalen Werk von Freud beginnen lassen, so reicht doch die Beschäftigung mit dem Traum viel weiter in die Vergangenheit zurück. Zahlreiche Vermächtnisse legen Zeugnis davon ab, wie sich bereits frühere Kulturen mit dem faszinierenden Thema des Träumens beschäftigt haben.

Wenn wir uns an einen Traum erinnern,

nehmen wir Kontakt zu unserer unbewußten Phantasiewelt auf,

erfahren wir einen Zugang zu früheren Erinnerungen, in denen die möglichen Wege zur Erfüllung unserer Kindheitswünsche aufbewahrt sind,

erfahren wir aber auch, welche unbewältigten Ängste immer noch auf unser Tageserleben Einfluß ausüben können, und lernen, daß wir uns viele Aufgaben in der Gegenwart deshalb nicht zutrauen, weil sie immer noch mit alten Ängsten verbunden sind,

können wir uns vergegenwärtigen, welche Mittel unsere unbewußte Abwehr einsetzt, um die anstößigen und angsterregenden Teile unserer Tageserlebnisse vor uns selbst verborgen zu halten.

Wenn in unseren Träumen ungelöste Konflikte aus der Vergangenheit angesprochen werden, können zuvor unbewußte Wünsche, Emotionen und Handlungen vorbewußt werden.

Wir lernen dadurch auch unsere Abwehrformationen kennen, die wir einsetzen, um mit den durch die Tagesereignisse provozierten, konflikthaften Wünschen und Emotionen umgehen zu können.

Auf diese Weise kommen wir in Kontakt mit der Kreativität unseres Ichbewußtseins im Traum, aber auch im Wachzustand.

Dadurch erfahren wir, welch Glücksgefühl und Befriedigung sich einstellen können, wenn wir unsere Wünsche mit weniger Abwehr erleben könnten, was auch einen Ansporn dafür darstellt, uns mit unseren Einschränkungen auseinanderzusetzen. Dabei können wir auch lernen, unerfüllbare Kinderwünsche von solchen zu unterscheiden, die in Gegenwart und Zukunft in einer dem Erwachsenenleben angepaßten Form noch realisierbar wären.

So können wir daran arbeiten, geeignetere Möglichkeiten der Konfliktlösung und der Wunschbefriedigung in der Realität zu finden.

Manchmal erfahren wir aber auch, welche traumatischen Erinnerungen sich immer wieder im Traum Ausdruck verschaffen und Angst hervorrufen, um damit endlich einer Integration und Lösung zugeführt werden zu können.

Und schließlich lernen wir noch, daß unsere Träume häufig auch einen kommunikativen Aspekt aufweisen: Sie beziehen sich z.B. auf unseren Partner oder – wenn wir uns in Therapie befinden – häufig auch auf unseren Therapeuten und machen uns auf bislang nicht bewußte Erlebnisinhalte aufmerksam.

So ist z.B. von dem chinesischen Dichter-Philosophen Tschuang-Tse überliefert, daß er die nachdenkliche Überlegung anstellte: „Heute nacht habe ich geträumt, ich sei ein Schmetterling. Woher weiß ich jetzt, ob ich ein Mensch bin, der glaubt, geträumt zu haben, ein Schmetterling zu sein, oder ob ich ein Schmetterling bin, der jetzt träumt, ein Mensch zu sein?“

Im babylonischen Talmud, dessen mündlich tradierte Anfänge bis in die Zeit 1500 vor Christi zurückgehen, ist ein beträchtlicher Teil den Träumen gewidmet. Träume beinhalten nach talmudischer Auffassung nicht nur eine prophetische Kraft, sondern haben auch eine das politische Leben gestaltende Funktion.

Bei Platon finden wir im fünften Jahrhundert vor Christus bereits intuitive Einsichten über den Traum, die uns auch heute noch Respekt abnötigen. So stellt die Botschaft des Traums für Platon ein einzigartiges Mittel der Selbsterkenntnis und der Therapie bereit; in dieser Hinsicht läßt er sich durchaus mit Freud vergleichen. Zwar sollte der Traum nicht unter irgendeine Theorie subsumiert werden, sondern für sich selber sprechen, aber dennoch oder gerade auch deswegen ist er in der Lage, uns eine erweiterte Sicht von uns selbst und von unserer Welt zu vermitteln.

Aristoteles wies darauf hin, daß während des Schlafens die Aktivität der auf die Außenwelt gerichteten Sinnesorgane stark reduziert ist; die im Traum erzeugten Vorstellungen können deshalb nicht von äußeren Reizen ausgelöst sein. Für ihn sind die Träume auch nicht länger Botschaften der Götter, sondern resultieren aus der gesteigerten Introspektionsfähigkeit unserer Seele im Traum.

Auch in der Bibel finden sich viele Bezugnahmen auf Träume. Am bekanntesten sind sicherlich die Träume des Pharao und ihre Auslegung seitens des Joseph, der die sieben wohlgenährten und häßlichen Kühe und die sieben dicken und dünnen Ähren interpretierte.

Vielleicht staunten wir schon als Kinder über die kluge Deutung des Joseph, daß dem Ägypterreich nach sieben Jahren Fruchtbarkeit eine siebenjährige Dürre und Hungersnot bevorstehen würde und entsprechende Maßnahmen zu ergreifen seien.

Möglicherweise hinterließen auch die beiden anderen aus der Josephsgeschichte berichteten Träume einen tiefen Eindruck, auch wenn wir damals noch nichts von phallischem Narzißmus wußten, sondern allenfalls ahnten, daß hochmütiges Verhalten unter Geschwistern wohl häufig vorkommt und zumeist auch früher oder später bestraft wird.

„Einst hatte Joseph einen Traum und teilte ihn seinen Brüdern mit; da haßten sie ihn noch mehr. Er sagte nämlich zu ihnen: ‚Hört einmal diesen Traum, den ich gehabt habe. Wir waren gerade beschäftigt, Garben draußen auf dem Felde zu binden, und denkt nur: meine Garbe richtete sich empor und blieb auch aufrecht stehen, aber eure Garben stellten sich rings im Kreise herum und verneigten sich vor meiner Garbe.‘ Da sagten seine Brüder zu ihm: ‚Du willst wohl gar König über uns werden oder gar Herrscher über uns sein?‘ Da haßten sie ihn noch mehr wegen seiner Träume und wegen seiner Reden.

Er hatte nämlich noch einen anderen Traum, den er seinen Brüdern so erzählte: ‚Hört, ich habe noch einen Traum gehabt. Denkt nur: die Sonne und der Mond und elf Sterne verneigten sich vor mir.‘ Als er das seinem Vater und seinen Brüdern erzählte, schalt ihn sein Vater und sagte zu ihm: ‚Was ist das für ein Traum, den du da gehabt hast! Meinst du, ich und deine Mutter und deine Brüder sollen kommen, um uns vor dir zur Erde zu verneigen?‘“

In Artemidor von Daldis (134–200 n.Chr.) begegnet man einem Traumforscher, der bereits auf systematische Weise Träume zu sammeln und auszuwerten verstand. Sein Traumbuch enthielt eine Reihe von psychischen Mechanismen, die stark an die von Freud postulierten Vorgänge der Traumzensur, wie die der Verdichtung, Verschiebung und Symbolisierung erinnern.

Mit dem Zeitalter der Aufklärung begann eine Strömung, die bis heute anhält: Es war der Versuch, den Primat der Sinneserfahrung, vor allem des Auges, durchzusetzen, um auf diese Weise zu objektivem Wissen zu gelangen, das von jedermann, der z.B. ein Meßverfahren beherrscht, nachvollzogen werden kann. Aberglauben und Unwissenheit sollten bekämpft werden; alles was sich der Kontrolle durch Objektivierbarkeit entzog, wurde als unwissenschaftlich zurückgewiesen oder gar für nicht existent erklärt. Phänomene, wie der Inhalt eines Traums, der nur durch Introspektion erfahrbar ist, wurden dem Aberglauben zugeordnet, es sei denn, es ließen sich von außen meßbare Vorgänge, wie z.B. Nervenvorgänge oder äußere Reize, als Auslöser für einen Traum ausfindig machen. Dies war die Geburtsstunde der neurophysiologischen und experimentellen Erforschung von Träumen.

Im neunzehnten Jahrhundert beschäftigten sich vor allem viele Mediziner mit dem Traum. Der französische Wissenschaftler Alfred Maury (1817–1892) veröffentlichte im Jahr 1861 Le sommeil et les rêves. Er bat einen Mitarbeiter, ihn während des Schlafens in bestimmten Abständen zu wecken, und notierte sich dann seine Träume. Seine Methodik erinnert an die sensationellen Befunde der experimentellen Traumforscher in diesem Jahrhundert, die ihre träumenden Versuchspersonen aus ihren REM-Phasen aufweckten. REM-Phasen sind Schlafzustände, die nach den schnellen Augenbewegungen (rapid eye movements) benannt sind. Von ihnen vermuten Forscher seit den 50er Jahren, daß sie ein physiologisches Korrelat für das Auftreten von Träumen sein könnten. Dafür spricht auch, daß Versuchspersonen im Schlaflabor einen Traum leichter erinnern können, wenn sie die Gelegenheit haben, ihn unmittelbar nach dem Aufwachen aus dem REM-Schlaf zu erinnern. Maury interessierte sich auch für die traumähnlichen Phänomene, die sich beim allmählichen Hinübergleiten vom Wach- in den Schlafzustand einstellen, die sog. hypnagogischen Halluzinationen. Und wie eine Vorwegnahme späterer Experimente muten auch seine Versuche an, in denen er vor dem Schlafengehen bestimmte Stimuli darbot und daraufhin verfolgte, ob und wie diese in den visuellen Produktionen sowohl zu Schlafbeginn als auch in den späteren Träumen seiner Versuchspersonen wieder auftauchten.

Maurys Kollege, der französische Marquis Hervey de Saint-Denis, füllte 22 Bücher mit den Aufzeichnungen seiner eigenen Träume und deren Interpretationen. Er vertrat die These, daß der Verlust der willentlichen Beeinflussung des Traumgeschehens aufgehoben werden kann, wenn sich der Träumende vor dem Zubettgehen autosuggestiv einredet, daß er auf den Traum Einfluß nehmen könne – ein Vorläufer der in diesem Jahrhundert vor allem in der esoterischen Literatur propagierten Theorie des luziden Träumens. Der Marquis bewies somit im Selbstversuch, daß die Konzentration auf den Wunsch, sich seiner Träume zu erinnern, zumindest die Erinnerungsfähigkeit erheblich steigern kann. Heute weiß man, daß die Traumerinnerung und -reflexion eine erhebliche psychohygienische Funktion haben und daß man in der Tat einen gewissen Einfluß auf den Inhalt seiner Träume nehmen kann, sofern man sich diese und die darin vorkommenden Konflikte bewußtmacht.

Auch der deutsche Sinnesphysiologe, Neukantianer und Wegbereiter der experimentellen Psychologie, Hermann von Helmholtz (1821–1894), beschäftigte sich im Rahmen seiner Wahrnehmungstheorie, vor allem in seinem Handbuch der Physiologischen Optik (1856) mit dem Träumen. Aber wie schon seinem Lehrer Johannes Müller galt ihm die Psychologie lediglich als eine Hilfswissenschaft der Physiologie. Die Psychologie des Traums blieb ihm deshalb verschlossen, so wie sie auch für viele in der psychophysikalischen und behavioristischen Tradition aufgewachsene Psychologen kein Thema wurde. Nur das von außen Beobacht- und Meßbare durfte für sie zum Gegenstand einer der Physik nachempfundenen psychologischen Wissenschaft werden. Schade für die vielen psychologischen Themen, die sich ungleich ergiebiger durch andere Methoden, wie z.B. die Introspektion, erschließen lassen; eine ungeheure Chance aber für Sigmund Freud, der sich – obzwar naturwissenschaftlich als Neurologe sozialisiert – auf den schwankenden psychologischen Boden des Traums einließ.

Einsichten wie diese werden dem

Sterblichen nur einmal in seinem Leben zuteil

(Sigmund Freud im Vorwort zur dritten engl.

Ausgabe der Traumdeutung)

2. Freuds Traumpsychologie und Traumdeutung

Nicht die Traumdeutung als solche, sondern die psychoanalytische Herangehensweise kann als bleibendes Verdienst von Sigmund Freuds Beschäftigung mit dem Traum betrachtet werden. Die Auseinandersetzung mit dem Traum ist wesentlich älter. Aber erst Freud gelang unter ständigem Rückgriff auf die Analyse seiner eigenen Träume der Nachweis, daß sich in den scheinbar sinnlosen und rätselhaften Traumproduktionen abgewehrte Sinnzusammenhänge äußern, die in einen sinnhaften Bedeutungshorizont eingegliedert werden können. Dieser Sinn hat unmittelbar mit dem Leben des Träumenden zu tun, mit seinen durch Tagesereignisse ausgelösten Konflikten, Problemen und Hoffnungen, aber vor allem auch mit den durch Erziehung, durch Anstand und Moral zwar abgewehrten, aber letztlich doch unsterblichen Kinderwünschen. Freilich zeigt sich dieser Sinn nicht in einem schnellen Deutungseinfall oder anhand einer einfachen Symbolübersetzung, wie uns dies sogenannte Traumratgeber bis zum heutigen Tag weismachen wollen. Vielmehr gilt es, dieses Sinns erst anhand einer sinnverstehenden Arbeit habhaft zu werden. Einfache Übersetzungen (Träume von einem Eisenbahnzug etwa bedeuten, daß der Zug abgefahren ist; der Blick von einem Hochhaus deutet auf eine suizidale Absicht hin; ein Raubtier verweist auf das Destruktive in uns usf.) müssen eher als Widerstand aufgefaßt werden, sich mit dem Sinn des Traumes tiefgründiger auseinanderzusetzen. Der latente Trauminhalt läßt sich nach Freud nur schrittweise rekonstruieren, ausgehend vom manifesten Traumbericht, den Einfällen des Träumers bestehend aus Tagesresten und Erinnerungen und in der psychoanalytischen Situation noch zusätzlich anhand der Beziehung zwischen Analysand und Analytiker.

Die Traumdeutung ist aber noch aus einem anderen Grund ein epochales Werk für die Psychoanalyse geworden. War nämlich Freud vor dem Erscheinen seiner Traumdeutung ausschließlich mit pathologischen Phänomenen befaßt, so stellt der Traum ein Phänomen des normalen Seelenlebens dar. Die Kenntnis dieses ungemein wichtigen Bereichs menschlicher Geistestätigkeit, und wie wir heute wissen, dieser für das Überleben wichtigen und absolut notwendigen Tätigkeit, befreite die Psychoanalyse erstmals von ihrem subsidiären Status einer Hilfswissenschaft der Psychopathologie und ließ sie als eine Wissenschaft erscheinen, die auch für das Verständnis normalpsychologischer Vorgänge unentbehrlich ist. Damit eröffnete sich ihr „der Weg ins Weite, zum Weltinteresse“, denn „man darf ihre Voraussetzungen und Ergebnisse auf andere Gebiete des seelischen und geistigen Geschehens übertragen“ (Freud 1925d, S. 73).

Schon als Jugendlicher interessierte sich Freud für Träume, aber es waren vor allem seine Patienten, die ihn dazu bewegten, sich intensiver mit dem Traum zu beschäftigen. Freud nannte den 24. Juli 1895, an dem es ihm erstmals gelang, mittels des Verfahrens der freien Assoziation einen eigenen Traum zu deuten. Dieser Traum, der Traum von „Irmas Injektion“, ist als „Muster-“ oder „Initialtraum“ in die Geschichte der Psychoanalyse eingegangen. Der in den folgenden Monaten ausgearbeitete Entwurf einer Psychologie enthielt drei Abschnitte über den Traum; aber erst gegen Ende des Jahres 1897 begann Freud mit der Abfassung der Traumdeutung, die er eindreiviertel Jahre später, im Spätsommer 1899, fertigstellte. Im November lag die Arbeit gedruckt vor, der Verleger aber hatte auf das Titelblatt – heute nur allzu verständlich – das Jahr 1900 setzen lassen.

Für Freud stellte die über 600 Seiten umfassende Arbeit der Traumdeutung, die zusammen mit der ein Jahr später fertiggestellten und wesentlich kürzeren Arbeit Über den Traum Band 2 und 3 seiner gesammelten Werke bildet, auch Jahre später noch seine bedeutendste Schrift dar. Dafür spricht auch, daß Freud Die Traumdeutung über die Jahre hinweg anhand von Fußnoten auf dem neuesten Erkenntnisstand hielt. Aber nicht nur in diesem Werk, auch in einer Anzahl von anderen Aufsätzen kehrte Freud immer wieder zum Thema des Traums und der Traumdeutung zurück.

Tab. 1: Freuds Arbeiten zum Traum

Freuds Publikationen zum Thema Traum und Traumdeutung

1900

Die Traumdeutung

1901

Über den Traum

1905

Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten, 6. Kapitel Bruchstück einer Hysterieanalyse

1911

Die Handhabung der Traumdeutung in der Psychoanalyse

1913

Ein Traum als Beweismittel Märchenstoffe in Träumen Kindheitsträume mit spezieller Bedeutung

1916/7

Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, Zweiter Teil: Der Traum Metapsychologische Ergänzungen zur Traumlehre

1923

Bemerkungen zur Theorie und Praxis der Traumdeutung

1925

Einige Nachträge zum Ganzen der Traumdeutung

1933

Neue Folge der Vorlesungen, 29. Vorlesung: Revision der Traumlehre

1938

Abriß der Psychoanalyse, 5. Kapitel: Erläuterung an der Traumdeutung

Die Traumlehre blieb – folgen wir der Einschätzung des Hamburger Freudforschers Thomas Köhler – der wohl konstanteste Theorieteil des Begründers der Psychoanalyse. In der 29. Vorlesung der Neuen Folge resümierte Freud: „Die Traumlehre ist seither auch das Kennzeichnendste und Eigentümlichste der jungen Wissenschaft geblieben, etwas wozu es kein Gegenstück in unserem sonstigen Wissen gibt, ein Stück Neuland, dem Volksglauben und der Mystik abgewonnen. Die Fremdartigkeit der Behauptungen, die sie aufstellen mußte, hat ihr die Rolle eines Schiboleths verliehen, dessen Anwendung entschied, wer ein Anhänger der Psychoanalyse werden konnte und wem sie endgültig unfaßbar blieb. Mir selbst war sie ein sicherer Anhalt in jenen schweren Zeiten, da die unerkannten Tatbestände der Neurose mein ungeübtes Urteil zu verwirren pflegten. So oft ich auch an der Richtigkeit meiner schwankenden Erkenntnisse zu zweifeln begann, wenn es mir gelungen war, einen sinnlos verworrenen Traum in einen korrekten und begreiflichen seelischen Vorgang beim Träumer umzusetzen, erneuerte sich meine Zuversicht, auf der richtigen Spur zu sein“ (Freud 1933 a, S. 6f.).

Freuds Traumdeutung – Biographische Aspekte

Die Gründlichkeit der Freudschen Argumentation habe es nach Ernest Jones seinen Schülern schwergemacht, wesentliche Revisionen vorzunehmen, so daß die Psychologie des Traums und die daraus abgeleitete Trauminterpretation keinen sehr großen Forschungsanreiz für die nachfolgende Generation darstellen – abgesehen von Alfred Adler, Carl Gustav Jung, Alphonse Maeder u.a., die eigene Wege beschritten. Das hat sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts innerhalb der Psychoanalyse jedoch deutlich verändert, wie wir in den folgenden Kapiteln sehen werden.

Bereits 1896 ist Die Traumdeutung in ihren wesentlichen Argumentationslinien fertig gewesen, aber erst im Alter von 43 Jahren, im Sommer 1899 hat Freud sie niedergeschrieben. In seiner Selbstdarstellung läßt Freud (1925d) uns wissen, daß er sein Projekt vier bis fünf Jahre unterdrückte, ehe er den Mut fand, damit an die Öffentlichkeit zu treten.

Was ist das besondere an der Traumdeutung? Freuds Traumdeutung ist wissenschaftliches Werk und Autobiographie zugleich; was diese Leistung bedeutet, wird an dem folgenden Umstand unmittelbar ersichtlich: Noch einhundert Jahre nach der Veröffentlichung des Irma-Traums, des Initialtraums der Psychoanalyse, beschäftigen sich Interpreten mit den von Freud verschwiegenen und ihm zumindest teilweise selbst unbewußt gebliebenen biographischen Hintergründen. Aber auch seine anderen in der Traumdeutung veröffentlichten Träume waren Anlaß für viele Reinterpretationen zahlreicher Entwicklungslinien und Konflikte des zu diesem Zeitpunkt 43jährigen Freuds. Freuds Biographen, wie Ernest Jones, Max Schur, Didier Anzieu und Peter Gay, haben in der Traumdeutung die Veröffentlichung seiner Selbstanalyse erblickt. Diese vermittelt unter anderem einen tiefen Einblick in Freuds Ehrgeiz, der wesentliche Impulse aus dem Erleben der Zurücksetzung und narzißtischen Kränkung seines Vaters wegen seines Judentums erhielt.

1886 hatte Freud seine Privatpraxis in Wien gegründet; die Anzahl seiner Patienten schwankte zunächst. In den darauffolgenden Jahren bemühte er sich um den Aufbau einer eigenen psychologischen Theorie. In Wien fühlte er sich noch wenig anerkannt, fehlte ihm doch der Rückhalt durch eine Forschergemeinschaft wie am Physiologischen Institut bei Ernst Brücke. Der einzige wissenschaftliche Austausch bestand in diesen Jahren zuerst mit Joseph Breuer, mit dem er 1895 die Studien über Hysterie herausgab, dann mit Wilhelm Fließ.

Zwischen Freuds 30. und 40. Lebensjahr wurden ihm von Martha sechs Kinder geboren. 1896 starb sein 81jähriger Vater, auf dessen Tod er unverhältnismäßig stark reagierte; in einem Brief an Fließ bezeichnete er den Tod des Vaters als „das bedeutsamste Ereignis, den einschneidendsten Verlust im Leben eines Mannes“.

Mit dem Tod des Vaters gingen zeitlich einher die Aufgabe bzw. starke Revision der Verführungstheorie als Erklärung für die Ätiologie der Hysterie, also jener These, daß alle seelischen Erkrankungen die Folge sexuellen Mißbrauchs eines Kindes durch einen Erwachsenen oder ein älteres Geschwister seien, und die Entfremdung von Josef Breuer. Dies und der neue ungewisse Status führten zu dem, was Henry Ellenberger (1972, S. 610f.) „Freuds schöpferische Krankheit“ genannt hat. Zusammen mit Freuds Selbstanalyse bildete sie den Nährboden, aus dem die Gedanken für die Traumdeutung erwuchsen.

Tab. 2: Lebensdaten und Werke Freuds zum Zeitpunkt der Traumdeutung

Jahr

Lebensdaten Freuds

Werke

1885

Freud wird Privatdozent Studienreise nach Paris zu Charcot an die Salpêtrière

 

1886

30jährig heiratet Freud und eröffnet seine Praxis

 

1893

das fünfte Kind wird geboren

 

1895

Traum von „Irmas Injektion“

zusammen mit Josef Breuer Studien über Hysterie

Entwurf einer Psychologie

Anna kommt als sechstes Kind auf die Welt

1896

Tod des Vaters Beginn der Selbstanalyse

 

1897

 

Beginn der Arbeiten am Traum

1899

 

Abschluß der Traumdeutung

1901

 

Über den Traum Bruchstück einer Hysterieanalyse Zur Psychopathologie des Alltagslebens

Weder seine bisherigen neurologischen Publikationen noch der finanzielle Erfolg seiner Privatpraxis entsprachen Freuds Erwartungen. Seiner Frau Martha und ihm war bei der Empfängnisverhütung ein Fehler unterlaufen, mit der Folge, daß Martha mit einem sechsten Kind schwanger geworden war. Die Sexualität mußte nun eingeschränkt werden, da es zuverlässige Verhütungsmittel damals noch nicht gab – probate Mittel im Patriarchat, wie eine junge Geliebte, ein Dienstmädchen oder den Gang zu den Huren, lehnte Freud ab.

Neben den bereits erwähnten Motiven, die Selbsterforschung auf dem Weg der Traumdeutung voranzubringen, den Tod des Vaters zu verarbeiten und ein guter Therapeut zu werden, spielte für Freud sicherlich auch der Wunsch, berühmt zu werden, indem er das herkömmliche wissenschaftliche Denken seiner Disziplin aufsprengte, eine wichtige Rolle. Die Ethnopsychoanalytiker Mario Erdheim und Maya Nadig haben vermutet, daß es nicht so sehr die Erkenntnisse der Traumdeutung waren, welche die damalige Fachwelt schockierten, sondern die Art des von Freud eingeschlagenen Diskurses, denn noch niemals hatte ein Psychiater, geschweige denn ein Naturwissenschaftler, so offen über sich selbst gesprochen. Die Traumdeutung anzuerkennen hätte geheißen, denselben Anspruch auch für sich zu akzeptieren, und dazu waren Wissenschaftler damals wie heute nicht bereit.

Freuds mit großer Offenheit mitgeteilte Einfälle zu seinen Träumen waren ein Vorgriff auf die Haltung der systematischen Selbstreflexion, die später in dem Konzept der Gegenübertragung, vor allem in deren systematischer Bewußtmachung und Reflexion zu einem Grundpfeiler der psychoanalytischen Erkenntnishaltung geworden ist.