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Grundwerte Europas Band 6

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Frieden:
Vom Wert der Koexistenz

Herausgegeben von Clemens Sedmak

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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Impressum

Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt.
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ISBN 978-3-534-20779-4

Inhalt

Clemens Sedmak

„Eine neue Art in der Welt zu leben.“
Zur Einleitung

ZUM BEGRIFF UND ZUR ETHIK DES FRIEDENS

Ines-Jacqueline Werkner

Der gerechte Frieden als neues friedensethisches Leitbild

Jean-Christophe Merle

Friede und Gerechtigkeit

Georg Cavallar

Die Denkungsart des Friedens. Ein vergessenes Erbe der Aufklärung

BEMÜHUNGEN UM FRIEDEN IN DER EUROPÄISCHEN GESCHICHTE

Oliver Hidalgo

Rousseau, Kant und die Aporien des gerechten Krieges und demokratischen Friedens: Zwischen Politik, Recht und Moral

Christoph Kampmann

Friedensnorm und Friedenspraxis in der Frühen Neuzeit

Gerd Althoff

Frieden herstellen und Frieden erhalten im Mittelalter

FRIEDENSPOLITIK IN EUROPA UND DER WELT

Regina Heller

Russland und der Frieden in Europa – normative Entwicklungspfade und aktuelle Außenpolitik

Dagmar Richter

Frieden durch Recht

Bernhard Rinke

Zerplatzt Kants Traum? Über den „Ewigen Frieden“ in der Europäischen Union

FRIEDEN UND RELIGION

Rüdiger Lohlker

Friede: Islamische Perspektiven

Wolfgang Palaver

Religion(en) und Friede: Wege zur universalen Geschwisterlichkeit

Thomas Nauerth

Die christlichen Kirchen und der Friede.
Ein Rückblick auf 100 Jahre Aufbruch

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Vorwort

Friede ist eines jener Güter, das in seinem Wert vor allem dann am deutlichsten erkannt wird, wenn das Gut verloren ist. Paradoxerweise erzählen Kriege Sehnsuchtsgeschichten von Frieden. Das Ringen Europas um ein friedliches Miteinander ist auch diesenm Paradox zu verdanken; gleichzeitig impliziert dieser Hinweis, dass Friede unschwer selbstverständlich, ja selbstgefällig werden kann; hier sind Erinnerungsarbeit ebenso hilfreich wie Aufmerksamkeit gegenüber dem, was Frieden herausfordert.

Zum Zeitpunkt des Erscheinens dieses Bandes ist das Thema „Menschen auf der Flucht“ ein prägendes Thema in Europa; Menschen fliehen vor Kriegen, Konflikten, Unsicherheit und suchen Frieden und Stabilität – und hoffen friedvolles Leben in Europa zu finden.

Die Realität sieht oft anders aus. Friede ist kein Gut, das angeschafft und dann bewirtschaftet werden kann; Friede ist kein Gut, das „ein für allemal“ angeeignet werden kann; es bedarf der dauernden Arbeit am Frieden – und es bedarf der steten Erinnerung, dass Friede kostbar und zerbrechlich ist. Der vorliegende Band soll ein kleiner Beitrag zu dieser Erinnerungsarbeit sein; vielleicht auch ein wenig mehr: Arbeit am Nachdenken über den Frieden und die Friedenssicherung.

Mein Dank gilt wieder Benjamin Landgrebe von der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft für die geduldige Begleitung des Projekts und Dorit Wolf-Schwarz für das gewissenhafte und zuverlässige Layout. Eigens und besonders bedanken will ich mich bei Gottfried Schweiger für die große Unterstützung bei der Umsetzung. Und natürlich statte ich aufrichtigen und herzlichen Dank an alle Autorinnen und Autoren ab! Ich wünsche dem Buch eine wohlwollende Aufnahme.

Clemens Sedmak

Clemens Sedmak

„Eine neue Art in der Welt zu leben.“ Zur Einleitung

Immanuel Kant hat in seiner Schrift Zum ewigen Frieden daran erinnert, dass jeder wirkliche Friede den Verzicht auf alle möglichen zukünftigen Kriegsgründe voraussetzt. Das war eine Lektion, die durch die Bedingungen der Beendigung des Ersten Weltkriegs bitter gelernt werden musste. Voraussetzung für Frieden ist nach Kant die nationalstaatliche Souveränität – das ist eine These, die die Europäische Union seit der frühen Nachkriegszeit zurückzuweisen sucht; Kants Position allerdings, Frieden auf Dauer durch eine Rechtsordnung zu sichern, wird in Europa konsequent verfolgt. Die von Kant konstatierte große Herausforderung, auch für unsere Zeit, ist die grenzübergreifende Sicherung von Frieden bei Respektierung nationalstaatlicher Souveränität. Frieden braucht Ordnung und Form. In seiner Dankesrede als Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels führte David Grossman in dieser Hinsicht am Beispiel Israel aus: „Wenn es Frieden gäbe, hätte Israel endlich Grenzen. Das ist nicht trivial, schon gar nicht für ein Volk, das die meiste Zeit seines Bestehens verstreut unter anderen Völkern gelebt hat, und die meisten Katastrophen in seiner Geschichte eben aufgrund dieses Umstands erleben musste. Stellen Sie sich vor: Auch nach 62 Jahren hat Israel noch immer keine festen Grenzen. Seine Grenzen verschieben sich etwa alle zehn Jahre, weiten sich aus oder werden zurückgedrängt, mal unseretwegen, mal wegen unserer Nachbarn. Wer keine klaren Grenzen hat, gleicht einem, in dessen Haus die Wände sich fortwährend bewegen; einem, der keinen festen Boden unter den Füßen spürt. Einem, der kein wirkliches Zuhause hat.“1

Frieden braucht Ordnung und Frieden braucht Form – Ordnung und Form werden auch in Grenzen ausgedrückt, wie ja auch Verträge moralische Spielräume definieren und eingrenzen; dann erst, durch Ordnung und Form, kann ein „Zuhause“ entstehen, ein Ort, an dem man in Sicherheit bleiben und wachsen kann; die Aspekte von Ordnung und Form haben Europas Geschichte mit seinen Friedensverträgen wie auch zwischenstaatlichen Konflikten geprägt. Diese Konfliktgeschichte ist als Lerngeschichte zu ergreifen, um das Sprachspiel von Frieden als europäischem Wert glaubhaft spielen zu können.

Glaubwürdigkeit und Lerngeschichte

Europa hat in keinem Fall ein Privileg darauf, glaubwürdig von Frieden zu sprechen; gerade die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts hat eine moralische Hypothek aufgebaut, die nicht abgetragen werden kann; nach Ansicht des amerikanischen Philosophen Robert Nozick kommt die Shoah einem zweiten Sündenfall gleich, der die Conditio Humana nachhaltig verändert hat; nun sei es – und das wurde von und in Europa verschuldet – keine Tragik mehr, wenn die Menschheit aufhören würde, zu existieren.2 Ein Blick auf diesen zweiten Sündenfall darf nicht erspart werden. Auschwitz schafft Irreversibilitäten, die zu Lasten werden, die kaum abgedient werden können, wie Primo Levi, der 1987 Suizid beging und bis zuletzt mit den Erfahrungen von Auschwitz gerungen hatte, festhält. Er beschreibt die Stunde der Befreiung aus dem KZ:

„So schlug auch die Stunde der Freiheit für uns ernst und lastend und erfüllte unsere Seelen mit Freude und zugleich mit einem schmerzlichen Schamgefühl, um dessentwillen wir gewünscht hätten, unser Bewußtsein und unser Gedächtnis von dem Greuel, das es beherbergte, reinzuwaschen: und mit Qual, weil wir spürten, daß es nicht möglich war, daß nie irgend etwas so Gutes und Reines kommen könnte, das unsere Vergangenheit auslöschen würde, und daß die Spuren der Versündigung für immer in uns bleiben würden, in der Erinnerung derer, die es miterlebt haben, an den Orten, wo es geschehen war, und in den Berichten, die wir darüber abgeben würden. Daher … hat niemals jemand besser als wir die unheilbare Natur der Versündigung begreifen können, die sich ausbreitet wie eine ansteckende Krankheit. Es ist unsinnig zu glauben, sie könne durch menschliche Gerechtigkeit getilgt werden. Sie ist eine unerschöpfliche Quelle des Bösen.“3

Diese „Quelle des Bösen“ bleibt erhalten; die in Europa entfachten Weltkriege haben ihre Spuren hinterlassen, wohl in jede Familiengeschichte hinein. Wir erahnen nur die Spitze des Eisbergs an Traumatisierungen und Verwundungen. Ein Beispiel: In ihrer bemerkenswerten Autobiographie schildert Ella E. Schneider Hilton ihren kriegsgeprägten Lebensweg, der sie von Kiew über Regensburg und Passau bis nach Mississippi führte; sie musste als Wolgadeutsche 1943 ihre Heimat verlassen, verlor dabei ihren Vater, kam in ein Lager nach Deutschland, wo sie zunächst in Quarantäne gehalten und erniedrigenden Untersuchungen unterworfen wurden; immer wieder wurden sie registriert, immer wieder mussten sie ihre konstruierte Geschichte, die keine jüdischen Familienmitglieder einschloss, erzählen.4 Aufgrund des Kriegs war die Familie – die Mutter schloss in Deutschland eine Vernunftehe mit einem Witwer, der ebenfalls Wolgadeutscher war – in Europa „out of place“, „displaced“, konnte weder Frieden noch Heimat finden. Diese Situation wurde nach Kriegsende in gewisser Hinsicht noch verschärft; wieder musste die Geschichte neu erzählt werden, der Status „Flüchtling“ war in Europa nicht abzuschütteln; erst 1952 konnte die Familie – der Preis war unter anderem eine Abtreibung, die die Mutter vornehmen ließ, da schwangeren Frauen die Überfahrt in die USA nicht gestattet war – in die USA auswandern. Ellas Eltern wurden in den Vereinigten Staaten nie heimisch, fassten weder sprachlich noch kulturell noch sozial wirklich Fuss, blieben also ihr Leben lang „out of place“. Das ist keine Erfahrung des Friedens, selbst bei schweigenden Waffen.

Die Erfahrung des 20. Jahrhunderts hat Frieden als kostbares wie bedrohtes Gut gezeigt. Lebenssicherheit ist kostbar; sie war nach dem schlafwandelnd begonnenen Ersten Weltkrieg verloren, war auch in der Zwischenkriegszeit mit ihren Wirtschaftskrisen nicht gegeben, wurde in den 1940er Jahren einem radikal Bösen geopfert, um mit Avishai Margalit zu sprechen.5 Wenn wir von „Europa“ und „Frieden“ sprechen, darf die Erinnerungsarbeit nicht fehlen, muss der europäische Wert des Friedens als teurer und erlittener Wert gezeichnet werden. Primo Levi hat immer wieder darauf hingewiesen, dass dieses Staunen, ja Entsetzen darüber, was möglich ist, nicht abstumpfen dürfe. Wir dürfen nicht vergessen, „was in Auschwitz Menschen aus Menschen zu machen gewagt haben.“6 Es geht um die Erhaltung eines moralischen Empfindungsgefühls, einer moralischen Sensibilität, es geht um die Scham, etwa „die Scham über Auschwitz, die Scham, die jeder Mensch darüber empfinden müßte, daß es Menschen waren, die Auschwitz erdacht und errichtet haben.“7 Wir dürfen nicht vergessen, dass es Menschen sind, die anderen Menschen die Hölle bereiten können: „Das ist die Hölle. Heute, in unserer Zeit, muß die Hölle so beschaffen sein, ein großer, leerer Raum, und müde stehen wir darin, und ein tropfender Wasserhahn ist da, und man kann das Wasser nicht trinken, und uns erwartet etwas gewiß Schreckliches, und es geschieht nichts und noch immer geschieht nichts. Wie soll man da Gedanken fassen? Man kann keine Gedanken mehr fassen; es ist, als seien wir bereits gestorben.“8 Die Abwesenheit von Frieden kann die Hölle auf Erden bringen. Hölle ist Auslöschung. Es ist dem Menschen möglich, anderen Menschen Identität abzusprechen, Identität auszulöschen, Namen zu tilgen, Existenzen zu vernichten, Leben zu zerstören, Lebenspläne zunichte zu machen. Frieden ist die Möglichkeit von Heimat, die Erfahrung von Lebenssicherheit.

Es gehört zu Strukturen der Unmenschlichkeit, einem Menschen all das zu nehmen, was ihm Heimat sein kann. Primo Levi hat diese Erfahrung in Auschwitz gemacht: „Ich fragte ihn (mit einer Naivität, die mir einige Tage später schon sagenhaft vorkommen wird), ob wir denn wenigstens unsere Zahnbürsten zurückerhalten werden. Darüber lacht er nicht, sondern macht ein verächtliches Gesicht und wirft mir die Worte hin: ‚Vous n’êtes pas à la maison.‘ Das aber ist der Kehrreim, den wir uns von allen immer und immer wieder sagen lassen müssen.“9 In einem Kontext beheimatet zu sein, heißt: auf Vertrautes zurückgreifen zu können; Vertrauen in die Strukturen des betreffenden Kontextes zu haben; diesen Kontext identifizieren und sich selbst anhand dieses Kontexts bestimmen zu können. Entscheidende Faktoren für diese Vertrautheit sind Namen, Benennen, Benennungen.10 Namen schaffen Vertrautheit; Vertrautheit schafft Lebenssicherheit.

Frieden bedeutet, einen Lebensplatz zu haben. Ein Lebensplatz ist eine soziale Verankerung des eigenen Daseins mit der Erfahrung von Anerkennung, die sich in Beziehungen und Strukturen manifestiert. Wenn Menschen den Lebensplatz als bedroht empfinden, kann kein Friede herrschen.11 Primo Levi spricht vom „Urchaos“ und der rastlosen „Suche nach dem eigenen Platz, der eigenen Sphäre“,12 erzählt von seiner neunmonatigen Odysee, bis er endlich nach Turin zurückkehren kann, stets auf der Suche nach und in der Hoffnung auf einen stabilen Lebensplatz in einer stabilen Welt: „Wir hatten eine kurze, sichere Reise erhofft, ein Lager, das darauf vorbereitet war, uns aufzunehmen, einen erträglichen Ersatz für Zuhause; und diese Hoffnung war Teil einer weitaus größeren Hoffnung, jener auf eine wohlgeordnete und gerechte Welt, wie durch ein Wunder wieder in ihre Fundamente gefügt nach einer Ewigkeit von Umwälzungen, Verirrungen und Gemetzeln, nach langem Ausharren.“13

Friede ist nicht Indifferenz, ist nicht Abstumpfung. Berichte aus den Konzentrationslagern halten fest, dass das Ende der menschlichen Existenz dann erreicht ist, wenn ein Zustand der Indifferenz eingesetzt hat: „Hätten wir mit diesen allmorgendlichen Verrichtungen aufgehört, diesen völlig gedankenlosen Gesten, so wäre dies der Anfang vom Ende gewesen, der Beginn der Selbstaufgabe, das erste Anzeichen einer angekündigten Niederlage. Wenn man merkte, daß ein Kumpel es unterließ, seine morgendliche Toilette zu machen und daß überdies sein Blick erlosch, mußte man sofort eingreifen. Mit ihm sprechen, ihn zum Sprechen bringen, dafür sorgen, daß er sich von neuem für die Welt, für sich selbst interessierte.“14 Der Boden der menschlichen Existenz ist erreicht, wenn der Lauf der Welt keinen Unterschied mehr macht: „Alles ist ihm so gleichgültig, daß er sich gar nicht mehr darum kümmert, Mühen und Schläge zu vermeiden oder Nahrung zu suchen. Er führt jeden Befehl aus, den er bekommt, und wenn sie ihn in den Tod schicken werden, so wird er wahrscheinlich mit derselben völligen Gleichgültigkeit hingehen.“15

Friede ist nicht Gleichgültigkeit; Frieden ist nicht Abstumpfung; so kann von Frieden nicht gesprochen werden, wenn Menschen indifferent sind gegenüber dem Leiden anderer. Es ist ironisch, dass der mit dem Karlspreis 2016 ausgezeichnete Papst Franziskus sich wiederholt gezwungen sah, Europa zur Überwindung der Gleichgültigkeit gegenüber Flüchtlingen aufzurufen, so etwa in Lampedusa am 8. Juli 2013.16 In seiner Ansprache bei der San Egidio Gemeinschaft am 15. Juni 2014 in Rom sprach Papst Franziskus das müde gewordene Europa an. Müdigkeit kann in die Gleichgültigkeit führen oder auch Ausdruck der Gleichgültigkeit sein. Friede in Europa verlangt jedoch harte Arbeit. Und diese Arbeit wurde in der Nachkriegszeit auch geleistet.

Arbeit am Frieden

Das zwanzigste Jahrhundert ist kein konsequentes Zeugnis für Frieden in Europa und durch Europa; das heißt jedoch nicht, dass „Friede“ aufhört, ein europäischer Wert zu sein, ist doch die Arbeit an der politischen Architektur im Nachkriegseuropa Ausdruck eines Ringens um Frieden. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte wurde vom französischen Juristen René Cassin entworfen17, der den Begriff der Menschenwürde prominent im ersten Artikel (und nicht bloß in der Präambel!) positionieren wollte. Denn die Menschenwürde war mit Füßen getreten worden. Die Arbeit am Frieden war echte Arbeit, Arbeit an Kooperationen und Allianzen18, Arbeit an der Vergangenheitsbewirtschaftung. Und diese Arbeit trug für Europa Früchte.

Am 10. Dezember 2012 wurde – nicht ohne begleitenden Ausdruck von Skeptizismus und Reserve19 – der Friedensnobelpreis an die Europäische Union verliehen; Hermann Van Rompuy, Präsident des Europäischen Rates, und José Barroso, Präsident der Europäischen Kommission, nahmen den Preis entgegen. In seinen Dankesworten erinnerte Van Rompuy, der sich als Nachkriegskind in Belgien mit Sehnsucht nach ruhigem Alltag vorstellte, an den „ureigensten Zweck der Europäischen Union: die Brüderlichkeit zwischen den europäischen Nationen jetzt und in Zukunft zu stärken.“ Er führte bewegende symbolische Gesten an, die die Arbeit am Frieden ausdrückten und konsolidierten (der Kniefall Willy Brandts in Warschau; Kohl und Mitterrand Hand in Hand in Verdun, eine Menschenkette von zwei Millionen Menschen im Jahr 1989 von Tallinn über Riga bis Vilnius) – heilende und friedensstärkende Momente.

Die Arbeit am Aufbau des Friedens wird zur Arbeit am Erhalt des Friedens. Wenn Van Rompuy formuliert: „Unser Kontinent, der nach 1945 aus der Asche auferstanden ist und 1989 wieder zusammengefunden hat, besitzt enorme Fähigkeiten, sich neu zu erfinden“, so drückt er eine Einsicht aus, die sich in der europäischen Geschichtsschreibung immer wieder findet: Die Fähigkeit Europas zum Neuanfang. Diese Fähigkeit ist auch für den Bau am Frieden entscheidend. Präsident Barroso betont in seiner Rede, dass Friede von gutem Wille, einer Rechtsordnung und von gemeinsamen Interessen durch die Zugehörigkeit zu einer Interessengemeinschaft getragen werde – Friede wird in dieser Lesart gesichert durch eine Staatengemeinschaft und nicht mehr durch Nationalstaaten, durch ein Denken, das über nationalstaatliche Souveränität hinausgeht. Und dieses Denken weist sich der Geschichte verpflichtet: „Das konkrete Engagement der Europäischen Union für das Geschehen in der Welt ist nachhaltig geprägt von den tragischen Erfahrungen unseres Kontinents mit extremem Nationalismus, mit Krieg und dem furchtbaren Unheil der Shoah. Es wird von unserem Wunsch getragen, in Zukunft diese Fehler zu vermeiden.“

Hier wird Frieden zu dem, was man einen „Sehnsuchtsbegriff“ nennen könnte, ein Begriff, der eine Ausrichtung angibt, die vielleicht nicht im Erleben eingeholt werden kann, aber doch Orientierung bietet. José Barroso hat in seiner Friedensnobelpreisrede Spinozas Wort „Pax enim non belli privatio, sed virtus est“ zitiert; das Wort entstammt Spinozas Politischem Traktat (V, 4) und bezeichnet den Frieden als eine Haltung, als eine Tugend, die einer Stärke des Charakters entspringt („quae ex animi fortitudine oretur“). Frieden ist damit eingeordnet in eine Welt von Haltungen, von Innerlichkeit. Politischer Frieden und spirituelle Friedfertigkeit rücken näher zusammen. Dieser Gedanke ist in der Geistesgeschichte wohl verankert.

Friede als Lebensform schließt eine Geisteshaltung ein; Augustinus hält in Buch 19, Kapitel 13 des „Gottesstaates“ fest, dass Friede als geordnete Zusammenstimmung der einzelnen Teile verstanden werden könne, innerhalb der Seele, zwischen Leib und Seele, zwischen den Menschen wie auch zwischen Mensch und Gott. „Geordnete Eintracht“ („ordinata concordia“) wird ebenso zum Schlüsselbegriff wie „Ruhe der Ordnung“ („tranquillitas ordinis“). Hier kommen äußere Aspekte wie Rahmenbedingungen mit inneren Aspekten wie Seelenfrieden zusammen. Und das bedeutet auch eine Begegnung von Politik und Religion. Nach dem 11. September ist es in der Weltöffentlichkeit deutlich geworden, dass Frieden ohne Berücksichtigung der religiösen Dimension unrealistisch sei. In seiner „Regensburger Vorlesung“ vom 12. September 2006 hat Papst Benedict XVI, zurückgekehrt an seine letzte akademische Wirkstätte, an die Bedeutung der Harmonie von Vernunft und Glauben für den Frieden erinnert. Dabei sind auch spirituelle Quellen von Bedeutung, die Frieden vor allem auch als „Sehnsuchtsbegriff“ zeigen; die christliche Tradition bietet bedeutsame Aussagen über den Frieden an, etwa im vierzehnten Kapitel des Johannesevangeliums – Jesus werden in Joh 14:27 die Sätze in den Mund gelegt „Frieden hinterlasse ich Euch, meinen Frieden gebe ich Euch. Nicht einen Frieden, wie die Welt ihn gibt, gebe ich Euch.“ Auffallend an dieser Stelle ist zumindest, dass der Zuspruch des Friedens ein Trostwort ist, das mit der Verheißung der Sendung des Heiligen Geistes in Zusammenhang steht: Der Geist wiederum wird nicht unbedingt mit Ruhe, Stille, Stabilität in Verbindung gebracht, sondern mit Feuer, Unruhe und Bewegung. Der Friede, den Jesus nahelegt, ist nicht ein Friede der „Windstille“, sondern ein Friede des Sturms. Dazu kommt, dass diese Stelle den Anspruch erhebt, einen Frieden finden zu können, wie ihn die Welt nicht geben kann – ein Friede, der nicht auf „Vertrag“, sondern auf „Bund“ beruht. Arbeit am Frieden ist auch Arbeit an den geistlichen Quellen. Solche spirituellen Quellen sind in der Friedensarbeit nicht zu unterschätzen. Denn Friede ist ein Wert, der mit allen verfügbaren Mitteln gestützt werden will.

Die Fragilität des Friedens

Werte sind schließlich keine Ruhekissen, sondern Stacheln im Fleisch; so verhält es sich auch mit Frieden, der in Europa nicht vom erlittenen Frieden zum wohlgenährten Wohlstandsfrieden auf Kosten anderer werden darf. Gerade beim Frieden zeigt sich eine Grundherausforderung der Landschaft europäischer Werte, die Werte „ad intra“ und die Werte „ad exta“. Wie kann der Friede innerhalb Europas glaubwürdig sein, wenn er an den Grenzen gefährdet oder gar gebrochen ist? Wie kann die Rede vom friedlichen Nachkriegseuropa plausible sein, wenn sich Srebrenica mitten in Europa im Jahr 1995 ereignet hat? Damals wurden mehr als 8000 bosnische Muslime von christlichen Serben ermordet, ein Gewaltexzess mitten in Europa, die niederländische UN-Schutztruppe verhinderte das Massaker nicht.20 Das hatte massive Auswirkungen auf die Rolle der Staatengemeinschaft,21 zeigt aber auch, dass Friede ohne Religionsfrieden nicht nachhaltig sein kann. Ivo Andrićs geographisch relevanter Roman Die Brücke über die Drina mag als Illustration dieses Punktes dienen. Und das ist nur ein – allerdings tief erschütternder – Aspekt.

In seiner Dankesrede anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 2009 sagte Claudio Magris mit Blick auf die Herausforderung der Migration: „Es ist leicht und auch angebracht, die Unmenschlichkeit derjenigen zu kritisieren, welche die Einwanderer zurückweisen. Aber es könnte der Moment kommen, in dem die Anzahl unserer Mitmenschen auf der Welt, die mit Recht ihren unerträglichen Lebensumständen entfliehen wollen, derart zunimmt, dass sie buchstäblich keinen Platz mehr finden und damit untragbare Konflikte auslösen, in unvorhersehbaren Formen, die ebenfalls ganz anders sind als das, was wir traditionsgemäß Krieg nennen.“22

Ist es tatsächlich so, dass Kultur, nach einem Wort Nietzsches, „nur ein dünnes Apfelhäutchen über dem glühenden Chaos“ ist? Frieden braucht Ordnung und Form, um eine Lebensform werden zu können, die so etwas wie „Geborgenheit“ und „Sicherheit“ erfahren lässt. Frieden kann in diesem Sinne als Rahmen gesehen werden, Welt so anzueignen, dass sie zu Heimat werden kann. Friede ist dann Erfahrung wie Gesinnung, Rahmenordnung wie Lebensform. Ohne Friede kann man kein gutes Leben führen; Edward und Robert Skidelsky haben „Sicherheit“ als ein Basisgut definiert, als eine elementare Zutat für ein gutes Leben, als einen unverzichtbaren, in sich guten und universalen Baustein. Dabei haben sie „Sicherheit“ charakterisiert als die Perspektive, weitgehend ungestört leben zu können, ohne Angst vor Gewalt oder plötzlichen massiven Änderungen wie hoher Inflation oder Deflation.23 Friede ist Quelle für das Basisgut der Sicherheit, das wiederum entscheidend für das Gemeinwohl ist, es geht alle an – diese Erinnerung findet sich bei Papst Johannes XXIII, wenn er in seiner Enzyklika Pacem in Terris von 1963 die Bedeutung des Friedens für alle unterstreicht und an eine leider verhallte Mahnung von 1939 erinnert: „Endlich ist der Friede von höchstem Wert für alle: für die einzelnen Menschen, für den häuslichen Herd, für die Völker und schließlich für die gesamte Menschheitsfamilie. Diesbezüglich hallt in Unseren Ohren noch die mahnende Stimme Unseres Vorgängers Pius XII. nach: „Nichts ist mit dem Frieden verloren. Aber alles kann mit dem Krieg verloren sein“ (Pius XII., Rundfunkbotschaft vom 24.8.1939).“24

Alles kann mit dem Krieg verloren sein; Friede ist in diesem Sinne nicht ein Wert unter anderen, sondern ein Ermöglichungswert, sozusagen ein transzendentales Gut. Dieses Gut, das andere Güter erst möglich macht, ist Teil einer Lebensform. Friede kann nicht nur durch Verträge gesichert werden, wie auch immer wichtig Verträge sind. Verträge sind auf Vertrauen angewiesen, um überhaupt als Verträge anerkannt zu werden. Ähnlich wie Vertrauen in eine „Praxis des Vertrauens“ eingebettet ist25, so ist Frieden einzubetten in eine Kultur der Friedfertigkeit – Friedfertigkeit wiederum kann verstanden werden als eine Einstellung, als eine Ressource zweiter Ordnung, mit Verwundbarkeit in sozialen Situationen umgehen zu können. Diese Charakterisierung von Friedfertigkeit ist Lennard Nordenfelts Definition von Gesundheit als „as second order-capability“ nachempfunden.26 Friedfertigkeit ist eine Ressource zweiter Ordnung, die Ressourcen erster Ordnung koordiniert und gewichtet, also Ressourcen wie Erinnerungen, Emotionen, Erfahrungen, Überzeugungen. Friedfertigkeit ist eine Einstellung, die Wahrnehmung und Erfahrung prägt; damit wird Friede zu einer Lebensform, zu einer Art zu leben. Diese Art zu leben setzt die Anerkennung von Verwundbarkeit voraus.

Wir brauchen Arbeit am Frieden, weil Menschen verwundbar sind. Die Geschichte Europas, vor allem aber auch das 20. Jahrhundert, hat an diese Verwundbarkeit erinnert, die auch eine moralische Verwundbarkeit ist. Friede als europäischer Wert ist Auftrag zur Arbeit, Grund zur Demut ob des Geschehenen und Begründung von Dankbarkeit für die Erfahrung von Frieden in der Nachkriegszeit.

Zu den Beiträgen in diesem Band

Der vorliegende Band geht dem Status von Frieden in Europa nach. Er steht unter dem Vorzeichen der Anerkennung von Verwundbarkeit: Frieden gilt ja als hohes, wenn nicht sogar höchstes Gut. Gleichzeitig sind Krieg und Gewalt omnipräsent. Das ist der Ausgangspunkt des Beitrags von Ines-Jacqueline Werkner, der den ersten Teil dieses Bandes zum Begriff und zur Ethik des Friedens eröffnet. Angesichts der aktuellen Krisen und Konflikte wie in der Ukraine, dem Bürgerkrieg in Syrien oder dem Vormarsch des Islamischen Staates stellt sie sich die Frage: Wie kann man dem Krieg entgegentreten und für Gerechtigkeit sorgen? Ist Frieden überhaupt möglich oder bleibt er eine Utopie? Mit dem Konzept des gerechten Friedens versuchen christliche Kirchen verschiedener Konfessionen – auf internationaler Ebene insbesondere der Ökumenische Rat der Kirchen, aber auch andere „faith-based“ NGOs sowie der Vatikan —, darauf eine Antwort zu geben. Dabei steht der gerechte Frieden „für einen fundamentalen Wandel in der ethischen Praxis“. Es gilt nicht mehr das Prinzip des „Si vis pacem para bellum“. An seine Stelle tritt nun die Maxime „Si vis pacem para pacem“. So unterscheidet sich der gerechte Frieden auch grundlegend von der Lehre des gerechten Krieges. Das steht, wie oben angedeutet, in Einklang mit Kants Überlegungen zum Frieden. Das neue Konzept umfasst weitaus mehr als den Schutz vor ungerechtem Einsatz von Gewalt; es schließt soziale Gerechtigkeit, Rechtsstaatlichkeit, Achtung der Menschenrechte und Sicherheit für alle Menschen mit ein. Dennoch bleibt die Frage nach der Anwendung von Waffengewalt auch für den gerechten Frieden von zentraler Bedeutung. Das zeigen u.a. aktuelle friedensethische Kontroversen um die internationale Schutzverantwortung: Wie wird die responsibility to protect im Rahmen des neuen friedensethischen Leitbildes reflektiert? Kann sie als Anhaltspunkt für eine Ethik des gerechten Friedens dienen oder ist eher zu konstatieren: „Menschen geschützt – gerechten Frieden verloren“? Welche Rolle kann in diesem Kontext der ökumenische Vorschlag eines just policing spielen?

Jean-Christophe Merle widmet sich in seinem Beitrag dem Verhältnis von Frieden und Gerechtigkeit. Heutzutage wird oft die Ansicht vertreten, dass Friede und Gerechtigkeit einander unterstützen, und zwar so sehr, dass nur die Kombination beider die Errichtung eines Weltfriedens und einer globalen Gerechtigkeit ermöglichen könnte, die unter gewissen Umständen für die Erfüllung der Voraussetzungen ihrer eigenen dauerhaften Stabilität sorgen würden. Seit Kant werden der Friede sowie die Gerechtigkeit als zweistufig gedacht. Auf der ersten Stufe, die den traditionellen Lehren des gerechten Krieges entspricht, besteht der Friede in der momentanen Konfliktlosigkeit, und die Gerechtigkeit besteht in der Einhaltung bestimmter Regeln. Auf der zweiten Stufe bestehen Friede und Gerechtigkeit in einer stabilen bzw. gerechten institutionellen Ordnung. Die traditionellen Lehren des gerechten Krieges können sich keine zweite Stufe vorstellen, weil es unter Staaten keinen gemeinsamen, globalen Richter geben könnte, der Urteile treffen und vollstrecken würde. Die kantische Perspektive sieht die institutionelle Errichtung eines ewigen gerechten Friedens ohne Übergang über gerechte Kriege und gerechte Frieden erster Stufe, sondern durch eine interne Republikanisierung der Staaten vor. Im heutigen System der internationalen Beziehungen sowie in der öffentlichen Debatte findet man beide Modelle: die genannte Perspektive eines ewigen Friedens (1) durch internationale Institutionen über kontinuierliche Fortschritte (einzelne Abkommen, Entwicklung von fairen Verhandlungsverfahren; zunehmende Absicht der Kriegsparteien, einen gleichgewichteten Frieden zu erreichen; von außen erstrebte Demokratisierung usw.) und (2) gemäß den Regeln der traditionellen Lehren des gerechten Krieges – u.a. gemäß dem Verhältnismäßigkeitsprinzip – zu erreichen. Die zentrale Aufgabe bleibt, den gerechten Frieden stets zu schützen, zu fördern und gegebenenfalls wiederzuerlangen sowie auf die Förderung der friedfertigen Motive zu achten und die kriegslustigen Motive zu bekämpfen.

Der dritte Beitrag der ersten Sektion von Georg Cavaller greift ein Thema auf, das im Zeitalter der Aufklärung immerhin in Ansätzen bearbeitet wurde, mittlerweile aber kaum noch Beachtung findet: die Denkungsart. Cavaller geht der Rolle der Denkungsart bei manchen Philosophen des Zeitalters der Aufklärung nach, etwa bei Smith, Rousseau und vor allem bei Kant, der seiner Meinung nach dieses Themenfeld am klarsten formulierte und diskutierte. Er unterscheidet zwischen unreflektierter und reflektierter Aufklärung, die „Aufklärung über die Aufklärung“ betreibt, und zwischen einem systematischen Denken und dem herkömmlichen Systemdenken. Die verfolgte erweiterte Denkungsart des Friedens ist bei Kant der epistemologische oder kognitive Kosmopolitismus des sogenannten Weltbürgers, der versucht, den „Egoismus der Vernunft“ zu transzendieren und die Perspektive von anderen im Sinne von Adam Smiths „Impartial Spectator“ einzunehmen.

Die Beiträge der zweiten Sektion widmen sich dann Bemühungen um Frieden in der Europäischen Geschichte. Wie der Beitrag von Oliver Hidalgo zeigt, entwickelte sich die Idee eines friedlichen Europas historisch gesehen spiegelbildlich zum Thema des gerechten Krieges. Dessen paradoxes Ziel sollte eben die gewaltsame (Wieder-)Herstellung des Friedens sein. Die Ansätze, die Rousseau und Kant in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zur Frage nach Krieg und Frieden entwickelten, zeigen diesbezüglich, wie sich angesichts fortschreitender Demokratisierungsprozesse ein neues Denkparadigma der internationalen Beziehungen etablierte. Dieses vermochte für sich zu beanspruchen, die traditionelle Theorie des bellum iustum sowohl inhaltlich wie formal zu überwinden. Gleichzeitig entstanden dadurch allerdings neue Aporien wie das Verhältnis zwischen Frieden und Volkssouveränität, Recht und Moral, welche die Theoriebildung in der Friedens- und Konfliktforschung seitdem vor neue Herausforderungen stellen.

Ausgangspunkt des Beitrags von Christoph Kampmann ist der fundamentale Wandel des Begriffsverständnisses von Frieden im Verlauf der Frühen Neuzeit, also der Zeit zwischen dem ausgehenden 15. und dem frühen 19. Jahrhundert. Zum einen wurde die religiöse bzw. konfessionelle Eintracht nicht mehr als notwendiger Bestandteil des Friedens angesehen. Zum anderen wurde immer stärker zwischen dem inneren (bzw. innerstaatlichen) Frieden und dem äußeren Frieden unterschieden. Seit dem 18. Jahrhundert war eine deutliche Tendenz zu erkennen, den Begriff des Friedens für die inneren Verhältnisse eines Staates durch den Begriff der Sicherheit (securitas interna) zu ersetzen. Diese Veränderungen im Begriffsverständnis hängen eng mit der generellen Entwicklung der Friedensproblematik in der Frühen Neuzeit zusammen: Sie ist geprägt von einem grundlegenden Spannungsverhältnis zwischen einer weiterhin anerkannten Friedensnorm, also der prinzipiellen, wenn auch nicht uneingeschränkt anerkannten Verpflichtung christlicher Herrschaftsträger zur Wahrung des Friedens untereinander, und einer von ständiger Präsenz des Krieges geprägten politischen Lebenswelt. Während das Problem des innerstaatlichen Friedens bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts weitgehend gelöst wurde, misslangen alle Versuche zur Errichtung einer dauerhaften zwischenstaatlichen Friedensordnung, obwohl diese immer wieder in (politisch freilich zumeist wirkungslos gebliebenen) Friedensutopien beschworen wurde. Nachhaltiger war der Beitrag der Frühen Neuzeit zur Entwicklung diplomatischer Techniken zur Friedensstiftung, konkret also zur Einhegung und Begrenzung von kriegerischen Konflikten sowie zur Schaffung begrenzter Zonen von Sicherheit.

Der Beitrag von Gerd Althoff problematisiert schließlich zunächst das verbreitete Bild vom Mittelalter als einer besonders unfriedlichen Epoche, wie es sich in der Neuzeit ausgebildet hat. Ursache dieser Wertung sind der vorstaatliche Charakter der Ordnung und das Fehlen eines Gewaltmonopols im Mittelalter. Dennoch gab es verschiedene Institutionen, durch die unterschiedliche Gruppen friedliches Verhalten und wechselseitige Unterstützung etablierten. Neben dem von Obrigkeiten ‚gebotenen‘ Frieden stand der ‚gemachte‘ oder ‚gelobte‘ Frieden. Frieden vereinbarte und hielt man in erster Linie mit seinesgleichen. Doch selbst in diesem eigentlich befriedeten Bereich der Gesellschaft blieb die Gewohnheit, sein Recht mit Gewalt durchzusetzen, wenn es verletzt wurde. Dies führte zu zahlreichen Konflikten (Fehden), in denen die Akteure regelmäßig die Unterstützung ihrer Umgebung erhielten.

Die Beiträge der dritten Sektion dieses Bandes sind um die Fragestellung einer Politik des Friedens gruppiert. Der Beitrag von Regina Heller fragt nach der Relevanz der politischen Norm Frieden in der russischen Außenpolitik, insbesondere angesichts der aktuellen Kontroversen zwischen Russland und dem Westen im Ukraine-Konflikt. Die EU ist im Wesentlichen einem liberalen Weltbild verhaftet, das davon ausgeht, dass Frieden das Ergebnis von demokratischer Herrschaftsordnung im Inneren und zunehmender Verflechtung zwischen gleichberechtigten Staaten nach außen ist. Russland lehnt eine solche liberale Friedensordnung ab, da sie den im Land historisch-kulturell gewachsenen Vorstellungen, aber auch den aktuellen Interessenlagen der politischen Elite in Moskau widerspricht. Die in Russland historisch gewachsene Vorstellung von Frieden hat keine liberale Unterfütterung und bleibt dadurch stark rückgekoppelt an die Produktion von Sicherheit. Indem die politischen Eliten an diesen antiliberalen Vorstellungen festhalten, legitimieren und konsolidieren sie ihre zunehmend instabile Herrschaft nach innen und ihren regionalen Führungsanspruch nach außen. Die Kategorie Sicherheit bleibt dabei friedensnormativ ambivalent: Bei der gegenwärtigen Außenpolitik Russlands im postsowjetischen Raum scheint sie eher einer Vorstellung zu folgen, die dem Hobbes’schen Naturzustand von Feindschaft und Konkurrenz verhaftet bleibt. Geht es um gesamteuropäische oder auch globale Sicherheitsfragen, ist Russland stets auch offen für kooperative Sicherheitsarrangements gewesen. Diese sind allerdings bis heute dem klassischen „westfälischen“ und damit am Nationalstaat ausgerichteten Ordnungsprinzip verhaftet geblieben. Dies bringt Russland verstärkt in Konflikt mit dem Westen, der insbesondere seit 1990 vermehrt postmoderne Vorstellung von Ordnung vorangetrieben bzw. entsprechende Politiken praktiziert hat.

Wie der Beitrag von Dagmar Richter im Anschluss zeigt, ist „Frieden“ aus rechtlicher Perspektive ein vielschichtiger Begriff. Ohne inneren Frieden, das Fundament jeder Rechtsordnung, wird der Staat zum „failed state“. Der historische Kampf um den „ewigen Landfrieden“ in Europa lässt sich heute noch im „Landfriedensbruch“ erahnen. Im modernen Verfassungsstaat liegt das „Gewaltmonopol“ beim Staat, der im Gegenzug den inneren Frieden garantiert und damit grundrechtlichen Schutzpflichten nachkommt. Den äußeren Frieden beschädigt jede Verletzung des völkerrechtlichen Gewaltverbots – die den Staaten eine „Rechtspflicht zum Frieden“ zwingend auferlegt. Das rechtliche Instrumentarium zum äußeren Frieden erstreckte sich historisch vom Recht des Souveräns zum Kriege (ius ad bellum) bis hin zum Gewaltverbot und der Anerkennung der „Aggression“ als völkerrechtliches Verbrechen. Heute ist das Verbot jeder Androhung oder Anwendung von Gewalt das Fundament der Vereinten Nationen. „Peacemaking“, „Peacekeeping“ und „Peacebuilding“ unterfüttern es. Diskutiert werden Ausnahmen wie die „präventive“ Selbstverteidigung oder humanitäre Intervention, aber auch der „bewaffnete Angriff“ als Voraussetzung gewaltsamer Selbstverteidigung. Je weiter „Bruch oder Bedrohung des Friedens“ nach der UN-Charta reichen, umso mehr kann der Sicherheitsrat Zwangsmaßnahmen auch in atypischen Situationen (interne Konflikte, Piratenüberfälle, Terrorismus, Epidemien) treffen – wenn er politisch handlungsfähig ist. Die europäische Friedensordnung beruht auf einem komplexen Zusammenspiel von EU, OSZE, NATO und UNO. Obwohl die gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik außerhalb des integrierten Bereichs der EU liegt, sieht der EU-Vertrag zahlreiche Handlungsformen bis hin zu Kampfeinsätzen vor. Dabei dehnt sich der Friedensbegriff wie im Rahmen der UNO aus. Die Vetomacht einzelner Mitgliedstaaten hindert Europa sowohl daran, „Friedensmacht“ zu sein, aber auch daran, Militärmacht zu werden. Auf der staatlichen Ebene hat das Grundgesetz Kampfeinsätzen der Bundeswehr Grenzen gesetzt, mehr aber noch das Bundesverfassungsgericht. De facto hat Deutschland heute kein „Parlamentsheer“, sondern ein „Gerichtsheer“. Die Antwort auf Fragen wie die nach der Zulässigkeit von „national verantworteten“ Außeneinsätzen außerhalb kollektiver Sicherheitssysteme wird darüber entscheiden, inwieweit Deutschland auch selbstständig als Militärmacht agieren könnte. Obwohl der Frieden heute nicht mehr scharf vom „Krieg“ getrennt werden kann, hängt die Anwendbarkeit humanitären Völkerrechts von Beginn und Dauer der Feindseligkeiten ab. Insgesamt bleibt das Recht unverzichtbar für den Frieden, bewirkt ihn aber nicht selbst. „Frieden durch Recht“ hat Grenzen. Abwegig erscheint die These vom „Lawfare“, welche das Recht als potentielles Kampfmittel betrachtet. Dagegen muss die Frage nach der Legalität des Friedens gestellt werden. Zu einem „Recht auf Frieden“ wird die Völkerrechtsordnung erst gelangen, wenn sie sich konsequent an den Bedürfnissen der Menschen orientiert.

Bernhard Rinke diskutiert in seinem Beitrag, der diese Sektion beschließt, die Europäische Union als Friedensprojekt. Insbesondere in der Selbstwahrnehmung der Europäischen Union und ihrer offiziellen Rhetorik ist der Frieden dem „Friedensprojekt Europa“ als Meistererzählung gleichsam eingeschrieben. In diesem Sinne bildet der Frieden gleichsam das Genom des Integrationsprozesses. Die Pazifierung der zwischenstaatlichen Beziehungen im Integrationsraum kann mithin als realhistorische Manifestation von Immanuel Kants Traum vom „Ewigen Frieden“ verstanden werden, in welchem sich der Frieden durch Demokratie, der Frieden durch Institutionen und der Frieden durch Freihandel wechselseitig bedingen und verstärken. Und tatsächlich ist der Frieden in der EU noch immer von erstaunlicher Stabilität. Europa ist im weltweiten Maßstab auch weiterhin die friedlichste Region. Vor dem Hintergrund der multiplen Krisen, mit denen sich die EU derzeit konfrontiert sieht, verliert das Narrativ von der Friedensgemeinschaft Europa und die damit verbundene Vorstellung, dass die europäische Geschichte mit der teleologischen Realisierung von Kants Traum gleichsam an ihr Ende gekommen sei, indes mehr und mehr an Überzeugungskraft. Mehr und mehr verbreitet sich die Auffassung, dass die EU nicht mehr Teil der rettenden Antworten auf die Krisen der Gegenwart sei, sondern vielmehr Teil der Probleme, wenn nicht sogar deren eigentliche Ursache. Ein geschichtsnotwendiger Determinismus hin zum „Ewigen Frieden“ in der EU besteht demnach keineswegs. Als unvollendetes Projekt der europäischen Moderne bleibt der Frieden in der EU vielmehr auf der Agenda, bleibt die kantianische Agenda auch weiterhin fordernder Anspruch: Der Frieden in der EU bleibt der EU aufgegeben.

Die abschließende Sektion dieses Bandes versammelt schließlich Beiträge, die sich mit dem Verhältnis von Frieden und Religion beschäftigen. Rüdiger Lohlker fragt, inwieweit es möglich ist, Frieden in islamischer Perspektive zu denken, begründet in den grundlegenden Texten, z.B. eben im Koran. In Form eines Gedankenexperiments wird versucht, diese Frage zu beantworten. Dieses Gedankenexperiment erfolgt in mehreren Durchgängen. Anhand des Korankommentars eines der führenden Gelehrten des 13./14. Jahrhunderts im Iran, Nizām al-dīn al-Nīsābūrī, wird gezeigt, dass selbst der sonst gängigerweise als „Kampf“ übersetzte arabische Begriff klar als innerer Kampf ausgelegt werden kann. Al-Nīsābūrī steht aber nicht allein. Am Beispiel des Korankommentars des bedeutenden islamischen Philosophen Mullā Sadrā (16./17. Jahrhundert) lässt sich ebenfalls eine Interpretation des Kampfes als spiritueller Kampf konstatieren. Als ein Beispiel aus dem zwanzigsten Jahrhundert wird der syrische Theoretiker der Gewaltfreiheit Jawdat Sa‘īd, der die Ablehnung der Gewalt koranisch insbesondere am Beispiel von „Adams ersten Sohn“ entwickelt, diskutiert. Als zweites Beispiel aus dem zwanzigsten Jahrhundert dient Abdul Ghaffar Khan (gest. 1988), ein Protagonist des gewaltfreien paschtunischen Kampfes gegen den britischen Kolonialismus. Die so umrissene Perspektive lässt erkennen, dass Friede und sogar Gewaltfreiheit denkbar sind. Ein Bestreiten der Existenz dieser Perspektive zeugt von einem zutiefst fundamentalistischen Verständnis des Islams auf all jenen Seiten, die dies vertreten.

Ohne die vor allem im Blick auf die archaischen Religionen klar erkennbare Nähe von Gewalt und Religion zu negieren, zielt der Beitrag von Wolfgang Palaver auf das Friedenspotential der Hochreligionen, wie er im heute notwendig gewordenen Aufruf zu einer universalen Geschwisterlichkeit besonders deutlich sichtbar wird. Die Geschwisterlichkeit selbst ist allerdings ähnlich ambivalent wie alle Religionen, denn sie ist vom Schatten der Geschwisterrivalität begleitet, wie schon die Erzählung vom Urbrudermord Kains an Abel zeigt. In dieser Geschichte lässt sich mittels jüdischer, christlicher und islamischer Interpretationen typologisch der zur Gewalt verdammte Besitzmensch Kain von Abel unterscheiden, der durch seine Ausrichtung auf Gott hin den irdischen Sackgassen der Gewalt entkommen kann. Abels hingebende Gottesliebe als Voraussetzung seiner Liebe zu den Nächsten berührt sich mit Einsichten Gandhis, der in der Hingabe an Gott einen wichtigen Weg zum Frieden entdeckte, weil er mit Überwindung des Neids einhergeht. Abels Gottesliebe lässt sich auch als eine Form von kenotischer Geschwisterlichkeit verstehen, wie sie sich mittels der französischen Mystikerin und Philosophin Simone Weil aus der Absage an das besitzergreifende egoistische Ich ergibt und wie sie in den großen mystischen Traditionen vielfach auffindbar ist. Als Beispiel für eine solche kenotische Geschwisterlichkeit kann auf Franz von Assisi verwiesen werden, der gerade deshalb mitten in der Zeit der Kreuzzüge in Dialog mit dem muslimischen Sultan al-Kamil treten konnte. Vorbildhaft lebte er uns eine Form von „geschwisterlicher Unterordnung“ vor, die für den heute so notwendig gewordenen Dialog der Religionen und Kulturen wegweisend ist.

Der Beitrag von Thomas Nauerth, der diesen Band beschließt, geht von zwei Beobachtungen aus. Seit gut 100 Jahren entstehen in den Kirchen Basisbewegungen, die christliche Themen und Aufgaben neu entdecken, entwickeln und für die verfassten Kirchen insgesamt vordenken. Ebenfalls seit gut 100 Jahren wird – vor allem von diesen Basisbewegungen – die Idee des Friedens als ein wesentliches christliches Thema erkannt, benannt und in den unterschiedlichen Zeitläufen kontextualisiert. Unter Berücksichtigung sowohl der protestantischen als auch der katholischen Kirchen, aber mit deutlicher Beschränkung auf die Entwicklungen in Deutschland unternimmt es der Artikel, die Geschichte und die Geschichten dieses neuen Themenfeldes in den christlichen Kirchen in den letzten 100 Jahren zu skizzieren. Dadurch ergeben sich nicht zuletzt auch neue Möglichkeiten, den aktuellen Stand des friedensethischen Diskurses in den Kirchen kritisch zu beleuchten und einige Defizite zu benennen. Der Artikel kann insgesamt aufzeigen, wie sehr christliche Kirchen in den letzten 100 Jahren in Europa zu einem wichtigen gesellschaftlichen und politischen Faktor für das zentrale Politikfeld „Frieden“ geworden sind. Am gesellschaftlichen Konsens, dass die Länder Europas in Frieden miteinander koexistieren sollen und dass auch über Europa hinaus der Friede als Ziel für eine bessere Welt verwirklicht werden sollte, haben kirchliche Bewegungen entscheidend mitgewirkt.

So zeigt sich auch in diesen Beiträgen die Bedeutung materieller wie immaterieller Ressourcen zum Frieden, die Relevanz des Politischen wie des Spirituellen. Ein Wert ist in diesem Sinne wenn schon nicht Bürger zweier Welten, so doch Wirkmacht in zwei Welten und muss von beiden Welten genährt werden, weil er auch beide Welten prägt.

 

 

 

    1 David Grossman, Dankrede 2010: http://www.friedenspreis-des-deutschen-buchhandels.de.

    2 Robert Nozick, The Examined Life. New York: Schuster 2006, 236–242.

    3 Primo Levi, Die Atempause. München 41999, 9.

    4 Ella E. Schneider Hilton, assisted by Angela K. Hilton, Displaced Person. A Girl’s Life in Russia, Germany, and America. Baton Rouge, Louisiana 2004.

    5 Avishai Margalit, Ethik der Erinnerung. Frankfurt/Main 2000.

    6 Primo Levi, Ist das ein Mensch? Erinnerungen an Auschwitz. Frankfurt/Main: Neuausgabe 1979, 57.

    7 Ebd., 183.

    8 Ebd., 21.

    9 Ebd., 28.

    10 Primo Levi beschreibt einen Kameraden, mit dem er eines Tages arbeitet: „Es ist Null Achtzehn. Nur so heißt er: Null Achtzehn, die letzten drei Ziffern seiner Nummer; als sei sich ein jeder bewußt geworden, daß nur ein Mensch es verdient, einen Namen zu haben und daß Null Achtzehn kein Mensch mehr ist. Ich glaube, er selber hat seinen Namen vergessen, denn so benimmt er sich. Seine Sprache und sein Blick erwecken den Eindruck, als sei sein Inneres leer, als bestehe er nur noch aus der Hülle, wie die Reste mancher Insekten, die man, mit einem Faden an einem Stein hängend, an den Ufern der Teiche findet, und der Wind hat sein Spiel mit ihnen“ (ebd., 43).

    11 Siehe Ben Rawlences Buch über das größte Flüchtlingslager der Welt in Nordkenya mit seinen permanenten Spannungen, Konflikten und Provisorien – Ben Rawlence, City of Thorns. Nine lives in the World’s Largest Refugee Camp. New York 2016.

    12 Levi, Atempause, 33.

    13 Ebd., 37.

    14 Jorge Semprun, Der Tote mit meinem Namen. Frankfurt/Main 2002, 149.

    15 Levi, Ist das ein Mensch, 44.

    16 Vgl. Andreas Batlogg, Globalisierung der Gleichgültigkeit. Stimmen der Zeit 232 (2014) 1–2 – siehe auch Evangelii Gaudium, 54.

    17 Vgl. Jay Winter, Antoine Prost, René Cassin and Human Rights. From the Great War to the Universal Declaration. Cambridge 2013.

    18European Political Science