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Winfried Böhm

GESCHICHTE DER
PÄDAGOGIK

Von Platon bis zur Gegenwart

 

 

 

 

 

 

 

 

Verlag C.H.Beck

 


 

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Zum Buch

Diese kleine Geschichte der Pädagogik versteht sich als ein engagierter Beitrag zum Dialog zwischen erzieherischer Praxis und pädagogischer Theorie. Winfried Böhm legt in einem ersten Teil die Wurzeln der abendländischen Pädagogik in der griechischen Antike, dem Christentum und der Aufklärung frei, geht in einem zweiten Teil der pädagogischen Idee im 19. und 20. Jahrhundert nach und bietet abschließend einen Überblick über die Pädagogik der Gegenwart. Das erfolgreiche Buch wurde inzwischen in mehrere Sprachen übersetzt.

Über den Autor

Winfried Böhm ist Professor em. für Pädagogik an der Universität Würzburg und lehrte an renommierten Universitäten in Italien, den USA und Südamerika. Sein «Wörterbuch der Pädagogik» (16. Auflage 2005) gilt als Standardwerk. In der Reihe C.H.Beck Wissen erschien von ihm außerdem «Die Reformpädagogik. Montessori, Waldorf und andere Lehren» (2012).

Inhalt

Einleitung

1. Die Geburt der Pädagogik aus dem Geiste der griechischen Antike

Die Erziehung als Kunstfertigkeit bei den Sophisten

Der rhetorische Humanismus des Isokrates

Die pädagogischen Fragen des Sokrates

Platons Staat der Erziehung

Erziehung und Pädagogik als Praxis bei Aristoteles

Erziehung im Denken der Stoa

2. Judentum und Christentum

Augustinus und die «Entdeckung» der Person

Die mittelalterliche Pädagogik zwischen theologischem Objektivismus und religiösem Subjektivismus

3. Renaissance und Reformation

4. Erziehung und Aufklärung

5. Die pädagogische Idee bei Rousseau

6. Die Pädagogik nach Rousseau

Pestalozzi und das Problem einer Methodisierung der Erziehung

Kant und der idealische Begriff der Erziehung

Herbart und die Moralität als höchster und ganzer Zweck der Erziehung

Schleiermacher und die Vermittlung von Theorie und Praxis

Hegel und der Rhythmus der Bildung

Schiller, Fröbel und die romantische Idee des Spiels

Marx und die Emanzipation des Menschen

Kierkegaard, Nietzsche und der pädagogische Blick auf den Einzelnen

Dilthey und die Teleologie des Seelenlebens

Dewey und das Problem der pädagogischen Erfahrung

7. Im Schnittpunkt von Natur, Gesellschaft und Person

Erziehung von der Natur aus

Erziehung im Bannstrahl der Gesellschaft

Erziehung im Dienste der Person

 

Literaturhinweise

Personenregister

Einleitung

Eine Geschichte der Pädagogik, die auf recht schmalem Raum und dennoch in gut lesbarer Form eine denk- und handlungsorientierende Gesamtschau auf rund 2500 Jahre abendländischen Bildungsverständnisses geben will, bedarf einer wohlüberlegten Konzeption und einer begründeten thematischen Eingrenzung.

Schon das Wort Konzeption verweist auf die Grundüberzeugung der Geschichtstheorie, wonach geschichtliche Tatsachen überhaupt nur festgestellt und eingesammelt werden können, wenn man über ein konzeptuelles Wissen verfügt. Was man in Bezug auf die Geschichte der Pädagogik als wesentlich und daher berichtenswert und was man als unwesentlich und daher als vernachlässigenswert betrachtet, hängt entscheidend von dem Begriff von Pädagogik ab, den man seinem historiographischen Bemühen zugrunde legt. Edward Hallett Carr hat die Begriffe des Historikers mit einem Fischernetz verglichen: So, wie das Netz des Fischers darüber entscheidet, welche Fischsorten er an Land ziehen wird, bestimmt das Begriffsnetz des Geschichtsforschers, welche Sorte von Daten und Fakten er einfängt.

Die hier vorgelegte Geschichte der Pädagogik geht nicht die ausgetretenen Wege einer Sozial- oder Institutionengeschichte; sie versteht sich auch nicht als eine Tatsachengeschichte der Erziehung, und ebenso wenig will sie eine pädagogische Personen- oder Heldengeschichte liefern. Es handelt sich auch nicht um eine pädagogische Ideen- oder Prinzipiengeschichte im herkömmlichen Sinne; und sie wird – bei aller notwendigen Konzentration des Stoffes – ihren Horizont auch nicht auf die Wissenschaftsgeschichte einengen. Diese Geschichte der Pädagogik hebt sich sowohl von überkommenen als auch von modischen Zugriffen dadurch ab, dass sie in einem weiten methodischen Sinne an die im angelsächsischen Sprachraum entstandene, von Autoren wie Arthur O. Lovejoy, George Boas und Isaiah Berlin begründete und von Quentin Skinner und anderen kritisch weitergeführte History of Ideas anknüpft und diesen Ansatz für die Geschichtsschreibung der Pädagogik fruchtbar zu machen versucht. Von daher geht es ihr nicht darum, einen lückenlosen Katalog der ganzen Fülle pädagogischer Ideen (im Plural) zu erstellen, sondern vielmehr die Entstehung, Ausgestaltung und – bildhaft gesprochen – «schichtweise» Anreicherung der Idee der Pädagogik (im Singular) nachzuzeichnen.

Es ist mit diesem Buch nicht beabsichtigt, einen Beitrag zu jener pädagogischen Historiographie zu leisten, die in ihrem kärrnerhaften Drängen auf geschichtliche Kleinarbeit das Ganze der Pädagogik tendenziell aus dem Auge zu verlieren droht und sich weniger als eine pädagogische Teildisziplin denn als eine Unterabteilung der allgemeinen Geschichtsforschung begreift. Die Intention des Autors ist es umgekehrt, jene historische Dimension von allem pädagogischen Denken, Entscheiden und Handeln zu vergegenwärtigen, ohne welche die pädagogische Wissenschaft und jede praktische Erziehung zwangsläufig verarmen. Die verbreitete Unkenntnis der Geschichte der Pädagogik kann jene peinliche Situation herbeiführen, in der man nicht mehr entscheiden kann, wo echte Fortschritte der Erkenntnis vorliegen oder wo es sich schlicht nur um Wiederholungen handelt. Besonders peinlich gestaltet sich diese Situation dort, wo eine geschichtslos gewordene Erziehungswissenschaft das früher erreichte Niveau des Denkens und Argumentierens unterschreitet und emsig um Problemformulierungen und Problemlösungen ringt, die in der Scheuer des historischen Wissens längst bereitliegen und auf Abruf warten. Ohne Geschichte fängt jede Generation wieder von vorne an und könnte meinen, die Erziehungswissenschaft oder sogar die Erziehung neu erfinden zu müssen.

Viel schwerer mag es noch wiegen, wenn den praktisch Erziehenden und Lehrenden die historische Tiefendimension ihres Handelns verschlossen bleibt und sie sich möglicherweise der Zufälligkeit und Beschränktheit ihrer eigenen Erfahrungen – wobei sich diese häufig nur auf schicksalhafte Erlebnisse und passiv erlittene Widerfahrnisse reduzieren und oft gar keine aktiv gemachten Erfahrungen einschließen – ausgeliefert sehen oder sie sich hilflos an didaktisch-methodische Rezeptanweisungen klammern.

Wenn wir von dem erzieherischen Handeln als einer «Praxis» sprechen und dieses Wort nicht nur in einem umgangssprachlich vorphilosophischen Sinne gebrauchen, dann meinen wir damit, dass dieses Handeln weder mit Theorie (von griech.: theorein = betrachten) noch mit Poiesis (von griech.: poiein = machen, verfertigen) zusammenfällt, also nicht nur eine Schau dessen darstellt, was mit Notwendigkeit so ist, wie es ist, und auch nicht ein handwerklich-technisches Herstellen und Produzieren. Mit «Praxis» meinen wir in jedem Falle etwas, das mit menschlicher Freiheit zu tun hat und nach Grundsätzen, Maßgaben oder Prinzipien abläuft, also stets von Ideen geleitet ist. Um es ganz einfach auszudrücken: Wer erzieht, sollte sich vorher etwas gedacht haben; er bzw. sie sollte eine Idee von Pädagogik haben, die als Richtmaß und Leitstern des Handelns dienen kann. Wenn diese Idee aber nicht nur ein spontaner Einfall oder gar nur eine individuelle Grille sein soll, woran sollte sie sich dann besser orientieren als an dem unerschöpflichen Schatz der in der Geschichte der Pädagogik aufgehobenen Gedanken und Entwürfe?

Die vorliegende Geschichte der Pädagogik ist deshalb nicht aus einer von der erzieherischen Praxis abgehobenen Perspektive eines distanzierten Beobachters geschrieben; sie versteht sich vielmehr als ein engagierter Beitrag zum Dialog zwischen pädagogischer Theorie und erzieherischer Praxis. Dieses Gespräch stirbt ab, wo es durch das Metagespräch der Erziehungswissenschaftler ersetzt und die erzieherische Praxis in ein technisches Handwerk verwandelt werden soll. Das lebendige Gespräch zwischen Theorie und Praxis ist aber dort unerlässlich, wo das erzieherische Handeln nicht nur auf von außen kommende gesellschaftliche Erwartungen reagieren, sondern sich eigenständig begründen und mündig agieren will. Klaus Mollenhauer hat in diesem Zusammenhang zwischen der sozialen Fremdrolle der Lehrer und Erzieher und ihrer pädagogischen Selbstrolle unterschieden. Während jene von anderen bestimmt wird, definiert der Lehrer und Erzieher seine Selbstrolle selber, freilich nicht willkürlich und aus der Luft gegriffen, sondern «in einem pädagogischen Gedankengang und aufgrund der mit diesem verbundenen geschichtlichen Erfahrungen», also von einer theoretisch und historisch fundierten Bildungsidee her. (Klaus Mollenhauer: Die Rollenproblematik des Lehrerberufs und die Bildung, in: Die Deutsche Schule, 54, 1962, S. 463ff.)

Als erkenntnisleitende Arbeitshypothese dieser Geschichte der Pädagogik kann folgende Fassung der Idee der Pädagogik dienen: Der Mensch als ein mit Vernunft, Freiheit und Sprache begabtes und geschichtliches Lebewesen bringt sich im Lichte jener Vorstellungen hervor, die er von sich selbst hat und von sich selbst zeichnet, beispielsweise als gesellschaftlicher Rollenspieler, als Naturwesen oder als autonome Person. Jede dieser Selbstdeutungen beinhaltet einen pädagogischen Aspekt und schließt eine «Bildungslehre» ein.

Die Idee der Pädagogik kommt in ihrer geschichtlichen Ausgestaltung mithin dort zu sich selbst, wo der Gedanke der geschichtlichen Selbsthervorbringung des Menschen nicht mehr nur den Grund für eine Bestimmung des Menschen abgibt, sondern selbst zur Bestimmung des Menschen wird: Der Mensch ist jenes Wesen, das seine Bestimmung nicht von außen empfängt, sondern sich selber gibt und selber geben muss, um auf diese Weise zum authentischen Autor seiner eigenen Lebens- und Sinngeschichte zu werden. Diese Idee in ihrem geschichtlichen Werden und in ihren unterschiedlichen Ausformungen zu vergegenwärtigen, ist Aufgabe dieses Buches. Es geht dabei von der festen Überzeugung aus, dass die Besinnung auf die historische Dimension des pädagogischen Denkens und der erzieherischen Praxis sowohl für die Erweiterung des geistigen Horizontes als auch für die Orientierung in der praktischen Arbeit des Erziehens und Unterrichtens notwendig ist und ihnen (im vollen Sinne dieses Wortes) maßgeblich dient. «Ein Zwerg, der auf den Schultern eines Riesen steht, kann weiter sehen als der Riese selbst.» (Didacus Stella)

1. Die Geburt der Pädagogik aus dem Geiste der griechischen Antike

Die Anfänge der Erziehung verlieren sich im Dämmerlicht der Geschichte. Erziehung in Form der mündlichen Weitergabe von Maßregeln der Lebensgestaltung und die Übermittlung bestimmter kultureller Orientierungsmuster von der älteren an die jüngere Generation dürfte so alt wie die Menschheit selbst sein.

Diese archaisch-primitive Erziehung bewegt sich wie alle bloße Weitergabe von Erfahrungen in ausgesprochen konservativen und festgefahrenen Bahnen. Sie bleibt im wesentlichen darauf beschränkt, genau umschriebene Inhalte den Heranwachsenden «beizubringen», ohne dass man diesen die Möglichkeit zu eigener Kritik einräumt und ohne dass man sich um deren Zustimmung kümmert, geschweige denn sich darum bemüht. Von Anfang an kommt dabei dem Vorbild großes Gewicht zu. Vorbilder eignen sich auch dazu, den «Klassencharakter» der Erziehung zu befestigen, indem sie Muster für die Herrschenden (die Herrschaften) und andere für die Beherrschten (die Knechte und Mägde), solche für die aristoi (die Herausragenden) und solche für den demos (das gemeine Volk) bereitstellen.

Hier wird das Neue sichtbar, das die griechische Antike für das pädagogische Denken in dem doppelten Sinne des Wortes prinzipiell (von lat.: principium = zeitlicher Anfang und durchtragend bleibender Grund) geleistet hat: Sie hat die Auffassung der Erziehung als einer bloßen Nachahmung der Älteren und als einer tätigen Eingewöhnung in das soziale Gefüge überwunden und damit zuallererst den Grund für ein pädagogisches Bewusstsein gelegt.

Dieser «Fortschritt» läßt sich sehr gut an dem alten griechischen Grundwort areté (lat.: virtus = männliche Tüchtigkeit) verdeutlichen. Ursprünglich diente dieses nur schwer übersetzbare Wort dazu, die «Vortrefflichkeit» oder «Vorzüglichkeit» eines Dinges zu bezeichnen, das seiner Bestimmung gerecht wird, bzw. eines Menschen, der seine Bestimmung verwirklicht. Zu einem pädagogisch bedeutsamen Begriff wurde areté, als es darum ging, auf das «Mustergültige» und damit «Vorbildhafte» eines Lebensvollzugs bzw. einer Gestalt hinzuweisen. In seinen Moralischen Briefen an Lucilius hat Seneca folgende eingängige Formel gebraucht: «Die areté jedes Seienden bedeutet Bestzustand, Vollendung seines Wesens.» (Epistolae morales 76, 9)

Der geschichtsträchtige pädagogische Impuls der Antike liegt in der Umdeutung der areté von einer angeborenen, nur einer kleinen Adelsschicht zukommenden Ausstattung zu einer vom Menschen selbst zu vollbringenden Leistung. Dabei wird sich das griechische Denken zwar der pädagogischen Idee von der Selbstbestimmung und Selbsthervorbringung des Menschen bewusst, aber es traut die schöpferisch-existentielle Verwirklichung dieser Idee noch nicht dem einzelnen Menschen zu. Auch die pädagogische Lesart der areté bleibt zunächst eng mit dem Gedanken einer vorgegebenen Welt- und Lebensordnung verbunden, aus deren Maßstäben und bildenden Kräften heraus die Erziehung ihren Grund und ihre Sicherheit gewinnt. Von den beiden Ordnungsbegriffen polis und kosmos her und aus dem Lebensgedanken und der Lebenswirklichkeit des hellenischen Stadtstaates (polis) heraus entfaltet sich eine spannungsreiche Vielheit von pädagogischen Denk- und Handlungsmodellen, die für die gesamte abendländische Bildungs- und Kulturgeschichte beispielhaft und wegweisend geworden sind. Mehr oder weniger unmittelbar greifen fast alle nachantiken Pädagogiken auf eines oder mehrere dieser Modelle zurück, auch dort, wo sie scheinbar einen völligen Neuansatz des pädagogischen Denkens darstellen, und oft auch dort, wo sie einen solchen ausdrücklich verkünden. Die damit eingeleitete Geburt der Idee der abendländischen Pädagogik datiert also – grob gesprochen – in jene weltgeschichtliche «Achsenzeit» zwischen 800 und 300 v. Chr., in der Karl Jaspers den tiefsten Einschnitt in der gesamten Menschheitsgeschichte gesehen hat.

Innerhalb eines kosmischen Weltbildes ereignet sich, bei den Sophisten und bei Sokrates, das, was Bruno Snell so meisterhaft als «Die Entdeckung des Geistes» (1947) beschrieben, Wolfgang Nestle so bildhaft als den Weg «Vom Mythos zum Logos» (1940) dargestellt und Karl Jaspers in seinem Buch «Vom Ursprung und Ziel der Geschichte» (1949) aus betont existenzphilosophischer Perspektive heraus so eigenwillig als die anthropologische Erfahrung der «Achsenzeit» bezeichnet hat: das Heraustreten des Menschen aus der Ruhe, Geschlossenheit und Selbstverständlichkeit eines mythischen Weltbildes und der Eintritt in die Unruhe, Fragwürdigkeit und Ungewissheit einer auf sich selbst gestellten menschlichen Existenz. Der menschliche Geist wird seiner selbst gewahr, besinnt sich auf sich selbst und gewinnt eine distanziert-kritische Einstellung zu den bis dahin fraglos übernommenen und gefügig verinnerlichten Traditionen. Der Mensch sucht den letzten Rechtsgrund einer Überzeugung nicht mehr in der Autorität ihres Herkommens, sondern in der menschlichen Vernunft, d.h. in der Fähigkeit, das Richtige und Wahre, das Rechte und Gute aus eigener Einsicht zu vernehmen.

Die Erziehung als Kunstfertigkeit bei den Sophisten

Nach den sog. Vorsokratikern, zu denen man die Philosophen vor dem Auftreten des Sokrates zählt und deren Lehren uns nur in der bruchstückhaften Form von Fragmenten überkommen sind, stehen die Sophisten am Anfang der abendländischen Pädagogik. Im Gegensatz zu jenen konzentriert sich ihr Fragen auf den Menschen und seine kulturellen Hervorbringungen, insbesondere Sprache, Religion, Handwerk und Künste, die Grundsätze der staatlichen und politischen Ordnung, die Normen des menschlichen Handelns und deren Herkunft, schließlich die Erkenntnisfähigkeit des Menschen und sein Vermögen, das gesellschaftliche Zusammenleben vernünftig zu gestalten und zu regeln. Man hat das Denken der Sophisten daher mit gewisser Berechtigung als eine erste «anthropologische Wende» des abendländischen Philosophierens und als eine erste «Aufklärung» bezeichnet. Die Sophisten (Weisheitslehrer) verstehen ihren Beruf als eine sowohl lehr- als auch lernbare techné (Kunstfertigkeit). Mit ihrer Hilfe wollen sie ihren Schülern ein gesellschaftlich und politisch nützliches Wissen beibringen und solche Fertigkeiten vermitteln, die ihnen Erfolg und Durchsetzung im Leben versprechen und zu einer pragmatischen Lebenstüchtigkeit und zu einer politischen Führungsqualität (areté politiké) verhelfen. Als die geeignete Methode für diese Lehre galt ihnen die techné rhetoriké, d.h. die Kunst der überzeugenden und Zustimmung gewinnenden Rede.

Wenn man die Vielfalt der sophistischen Ansätze stark vereinfacht, dann lassen sich wenigstens drei pädagogische Lehren der Sophisten unterscheiden: Protagoras aus Abdera (ca. 480–415 v. Chr.) lehrt, alle Probleme von verschiedenen Seiten her anzusehen und anzugehen, die Argumente pro und contra einer jeden gedanklichen Position aufzufinden, die Kunstfertigkeit der Diskussion und der Auseinandersetzung mit anderen zu erwerben und auszubilden. Von dem Sizilianer Gorgias aus Lentini (ca. 483–374 v. Chr.) stammt eine formal-rhetorische Erziehung, die stark in der Rede machen und zeigen will, «daß die Überzeugungskraft, wenn sie der Rede beiwohnt, auch der Seele aufprägt, was sie will.» (Helena 13). Hippias von Elis (um 400 v. Chr.) hat eine enzyklopädische Erziehungslehre vorgelegt; diese will sowohl die Geschicklichkeit in nützlichen Künsten vermitteln als auch das für das öffentlich-gesellschaftliche Leben erforderliche Wissen bereitstellen, und sie hat von daher den Gedanken der Allgemeinbildung vorbereitet. Diese Allgemeinbildung wird von den Sophisten nicht theoretisch grundgelegt, sondern sie bewährt sich in dem konkreten Vollzug der paideia als aufklärende und befreiende Vernunft. Insgesamt ist die sophistische Pädagogik in ihrem Fortwirken bis zu Nietzsche und noch darüber hinaus dadurch gekennzeichnet, dass sie die menschliche Rede zu einer Sache macht, mit der etwas bewirkt werden kann und soll. Dabei unterscheiden die Sophisten zwischen dem Wahrheitsinteresse und dem Wirkungsinteresse und geraten dadurch in die Versuchung, das zweite über das erste zu stellen. Damit geht fast unvermeidlich ein erkenntnistheoretischer Relativismus und ein ethischer Utilitarismus einher. Der eine setzt die menschliche Erkenntnis der Gefahr der Beliebigkeit aus («Wahr ist, was sich bewährt»); der andere unterwirft das moralisch Gute der Maxime von Gewinn und Verlust («Gut ist, was nützt»). Beide sophistischen Theoreme – der erkenntnistheoretische Relativismus und der ethische Utilitarismus – haben positive wie negative Aspekte; entsprechend kontrovers sind sie diskutiert und in ihren pädagogischen Konsequenzen beurteilt worden.

Auf der einen Seite wird von den Sophisten die mythologisierende Absolutsetzung der eigenen Kultur dadurch aufgesprengt, dass sie Herkunft und Legitimationsgrund von Gewohnheit, Sitte und Recht hinterfragen. Auf der anderen Seite beschwören sie die Gefahr herauf, dass die objektiven Wahrheitskriterien verloren gehen und alle überindividuellen Wertmaßstäbe zerbrechen. Denn wenn sich Gewohnheit, Sitte und Recht und auch die anderen Ordnungen nicht als von Natur gegeben, sondern als durch menschliche Setzung hervorgebracht und damit als abhängig von den Setzenden erweisen, dann stellen sie sich in der Tat als «relativ» und als jederzeit veränderbar dar. Daraus kann dann entweder ein absoluter Relativismus entstehen («Alles ist gleich gültig und damit gleichgültig») oder ein tiefer Skeptizismus erwachsen («Nichts kann wirklich erkannt und gewusst werden»). Pädagogisch gesehen kommt das (viel später als ein sog. «postmodernes» wiederkehrende) Problem auf, ob sich dann ein pädagogischer Anspruch überhaupt noch rechtfertigen lässt und wie das verbindlich zu Lernende von dem Beliebigen unterschieden und wie die überindividuelle Gültigkeit von sittlichen Maßgaben und Forderungen gegenüber individueller Willkür begründet werden kann. Didaktisch-methodisch ist dieser Frage die andere vorgelagert, wie die divergierenden individuellen Standpunkte, Betrachtungsweisen und Urteile zusammengeführt und nach Möglichkeit zu einem Konsens gebracht werden können.

Die sokratisch-platonische Kritik an den Sophisten hat auf der Folie eines absoluten Wahrheitsbegriffs den Relativismus überzeichnet und ihnen vorgeworfen, die areté des Menschen und damit Ziel und Aufgabe der Erziehung bestünden für sie nicht in objektiver Wahrheitssuche und im Ringen um sittliche Vollkommenheit, sondern in der Durchsetzung der je eigenen Meinung und im Bestreben, unter allen Umständen Recht und um jeden Preis Erfolg zu haben. Die Sophisten glaubten – so lautet der Vorwurf weiter – nur an eine einzige Wahrheit, dass es nämlich Wahrheit nicht gibt. In pädagogischer Hinsicht gelte ihnen als gut, was im Leben Erfolg bringt und sich bar auszahlt. Die von ihnen zu einer sachentbundenen, formalisierten Kunst denaturierte Rhetorik missbrauchten sie nicht nur zur Erziehung, sondern ebenso auch zur Blendung und Überredung der Mitmenschen. Auf den kleinsten gemeinsamen Nenner gebracht gipfelt diese Kritik in der Behauptung, die Lehre der Sophisten sei grundsätzlich eine monologische Vermittlung von dogmatischen «Antworten» und nicht ein im dialogischen Miteinander vollzogenes «Fragen» und Suchen.

Der rhetorische Humanismus des Isokrates

Aus einer ganz anderen Sicht heraus betrachtet und beurteilt Isokrates (436–338 v. Chr.) die philosophisch-pädagogischen Gedanken der Sophisten. Obwohl selber Schüler des Sophisten Gorgias, hat Isokrates die der Sophistik einwohnenden Gefahren deutlich gesehen und die Rhetorik weniger als ein Handwerk denn als eine der Philosophie verpflichtete Bildungslehre verstanden und betrieben. So fehlt in seinen Reden das leidenschaftliche Pathos und das Aufwühlen der Gefühle; sie appellieren stattdessen – wie schon in der Antike bemerkt wurde – an das eigene Nachdenken der Hörer, und sie wollen weniger zu einem bestimmten Handeln bewegen als vielmehr wachrufen, mahnen, warnen und beraten. Seine programmatische Rede «Gegen die Sophisten» beginnt mit dem geradezu drohend ausgestoßenen Satz: «Wenn alle, die mit Unterricht zu tun haben, Wahres sagen wollten und keine größeren Versprechungen machten als sie schließlich erfüllen können, dann hätten sie bei den Nicht-Fachleuten keinen so schlechten Ruf.»

Isokrates’ Blick richtet sich auf die Fähigkeit des Menschen, seine eigene Lebensweise zu wählen, selber Traditionen zu begründen und zu schaffen, sein eigenes Leben in die Hand zu nehmen, vor allem aber das gesellschaftliche Zusammenleben frei und vernünftig zu gestalten. Aus der sophistischen Erkenntnis, dass es über jeden Sachverhalt grundsätzlich so viele Meinungen (doxai) geben kann, wie es denkende und urteilende Menschen gibt, und ausgehend von der rhetorischen Prämisse, dass es über alles wenigstens zwei entgegengesetzte Theorien gibt, folgert Isokrates nicht einen prinzipiellen Agnostizismus, sondern er unterstreicht umgekehrt die Notwendigkeit, sich im argumentativen Dialog mit den anderen darum zu bemühen, die jeweils wahrer erscheinende, also die «wahr-scheinlichere» und damit überzeugendere Meinung und das jeweils Vorzuziehende gegenüber dem Minderwertigen oder Verwerflichen zur Geltung zu bringen.

Isokrates sieht sich auf diese Weise als den wahren Sachwalter von Sophistik und Rhetorik und setzt sich als pädagogische Aufgabe die Verkündigung und Ausbreitung einer Erziehung zum bewussten und verantwortungsvollen Gebrauch der Sprache und einer allseitig ausgewogenen Bildung zum Menschen und Bürger der Polis. Er nennt jene gebildet, welche die täglichen Herausforderungen meistern, in jeder Situation «in die beste Lösung fallen», die Unannehmlichkeiten und Beleidigungen durch andere leicht hinnehmen, mit ihren Mitmenschen angenehmen Umgang pflegen, ihrer Überzeugung treu bleiben, im Erfolg nicht überheblich werden und sich mehr darüber freuen, was sie ihrer eigenen Leistung und nicht nur dem Zufall verdanken (Panathenaikos 30–35). Diese «Bildung» nennt Isokrates philosophia, und er macht Platon das Recht streitig, den Begriff der Philosophie nur für ein theoretisches Wissen um die Ideen zu beanspruchen, das uns weder beim Bewältigen einer konkreten Lebenssituation hilft noch für unser Reden und Handeln taugt und dessen ganze Fülle uns gar erst nach dem Tode aufgehen wird.

Grundsätzlich zweifelt Isokrates daran, dass sich die Praxis des menschlichen Lebens und Zusammenlebens je mit der wissenschaftlichen Eindeutigkeit eines digitalen Falsch oder Richtig und damit nach Art der Mathematik oder der Geometrie gestalten lässt. Wenn es aber keine strenge Wissenschaft der menschlichen Lebenspraxis gibt, dann hängt alles Gelingen davon ab, dass wir lernen, uns in vernünftigem Überlegen über das jeweils als richtig Erscheinende, also das am meisten «Wahrscheinliche» zu beraten. Mit sich selber zu Rate zu gehen heißt Denken, sich mit anderen zu beraten heißt GesprächNikokles