image

Florian Coulmas

HIROSHIMA

Geschichte und Nachgeschichte

Verlag C.H.Beck

Zum Buch

Die Zerstörung Hiroshimas markiert einen Wendepunkt der Weltgeschichte. Die Stadt ist zu einem Symbol für die Bedrohung der Menschheit durch sich selbst geworden. Florian Coulmas durchleuchtet die politischen, militärischen und technologischen Hintergründe im Zweiten Weltkrieg und schildert wie der bisher einzige Einsatz von Atombomben in Japan und den USA erinnert wird. Dabei legt er das moralische Dilemma offen, das mit der Entwicklung und dem Abwurf der neuen Waffe verbunden war, zeigt aber auch, wie sehr die Erinnerung an den Nuklearschlag von politischen Interessen bestimmt wird. Ein unverzichtbares Buch für alle, die sich für die Hintergründe und Mythen dieser einzigartigen menschlichen Katastrophe interessieren.

Über den Autor

Florian Coulmas, geb. 1949, ist Direktor des Deutschen Instituts für Japanstudien in Tokyo. Er war zuvor Professor für Kultur, Geschichte und Sprache des modernen Japan an der Universität Duisburg-Essen. Bei C.H.Beck ist zuletzt erschienen: Die Kultur Japans (2003) und Die Gesellschaft Japans (2007).

 

 

 

 

 

 

 

Inhalt

    I. Einleitung

   II. Hintergrund: Der Zweite Weltkrieg in Ostasien

Die technologische Seite

Die militärische Seite

Die politische Seite

Die menschliche Seite

  III. Orte der Erinnerung

Hiroshima

Nagasaki

Washington

  IV. Hiroshima in den Medien

Zeitungen

Bilder und Filme

   V. Reaktionen intellektueller Zeitzeugen

  VI. Atombombenliteratur

 VII. Zeugnisse Überlebender

VIII. Hiroshima lehren

Japanische Schulbücher

Amerikanische Schulbücher

Deutsche Schulbücher

  IX. Kampf um Hiroshima im Gedächtnis der Völker

Amerikas Hiroshima

Japans Hiroshima

Unterschiede im Kampf um die Geschichte

   X. Leben mit der Bombe

Literatur

Personenregister

I.Einleitung

Am 6. August 1945 trat die Welt ins Atomzeitalter ein. Hiroshima, eine japanische Großstadt, wurde mit einer einzigen Bombe ausgelöscht. Sechs Jahre bevor mit einem Atomreaktor zum ersten Mal Strom erzeugt wurde – im US-Bundesstaat Idaho – und fast zehn Jahre bevor ein solcher Elektrizität für ein Stromnetz produzierte – im russischen Obninsk – war die gewaltige Kraft der Kernspaltung für kriegerische Zwecke entfesselt worden. Seither hat die friedliche Nutzung der Atomenergie in vielen Teilen der Welt Verbreitung gefunden. Mitte 2009 arbeiteten 436 Atomkraftwerke in 31 Ländern mit einer Gesamtkapazität von 370 GW, aber in vielen Ländern sind sie nach wie vor umstritten, nicht zuletzt in Deutschland. Obwohl der Kohlebergbau auch noch in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts weit mehr Menschen das Leben gekostet hat, als durch Unfälle in Kernkraftwerken umgekommen sind, und obwohl Wissenschaftler sich schwer tun, eine Antwort auf die Frage zu geben, welche Energiequelle für die Menschheit gefährlicher ist, ruft die Atomindustrie ganz andere Ängste wach als die Kohleindustrie. Das wäre kaum der Fall, wenn die Menschheit die Atomkraft nicht zuerst als Waffe kennengelernt hätte.

Wie es dazu kam, ist eine schwierige und folgenreiche Geschichte, die uns noch heute betrifft und nicht nur unser historisches Interesse verdient; denn wir leben mit der Bombe, ob wir wollen oder nicht. Wie vielschichtig diese Geschichte ist und schon war, als sie ihren Lauf nahm, zeigt sich beispielhaft an der Rolle, die Albert Einstein darin spielte, der manchmal als Vater der Bombe bezeichnet wird. Deutscher Jude, Nobelpreisträger, der sein Leben der Wissenschaft widmete, und engagierter Pazifist, befürwortete Einstein doch zusammen mit anderen aus Europa in die Vereinigten Staaten emigrierten Wissenschaftlern in Briefen an Präsident Roosevelt die Entwicklung einer Atombombe. Kurz vor Ende seines Lebens, im November 1954, bezeichnete er seine Unterschrift unter diese Briefe als den größten Fehler seines Lebens, der nur durch die Sorge zu erklären sei, dass Deutschland zuerst eine solche Waffe entwickeln könnte. Einstein konnte beurteilen, wie begründet diese Sorge war. In seiner 1905 veröffentlichten speziellen Relativitätstheorie hatte er die Erkenntnis auf den Begriff gebracht, dass aus einer kleinen Menge Materie eine große Menge Energie freigesetzt werden kann und damit der Kernphysik den Weg bereitet. 1921 erhielt er den Nobelpreis für Physik, 1930 die Max-Planck-Medaille. Er wurde Direktor des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Physik in Berlin und gehörte als solcher zur Elite der deutschen Wissenschaft, die damals auf diesem Gebiet führend in der Welt war. Dennoch wurde er wegen seiner jüdischen Abstammung angefeindet, weswegen er 1932 Deutschland verließ, um über Zwischenstationen in Belgien und England in die Vereinigten Staaten zu emigrieren. Nachdem Otto Hahn und Fritz Strassmann 1938 in Deutschland die erste Kernspaltung gelungen war, wandte sich der in New York arbeitende, ebenfalls aus Deutschland emigrierte ungarische Atomphysiker Léo Szilárd an Einstein, damit dieser mit dem Gewicht seines großen Ansehens die Bemühungen unterstützte, auf die Gefahr einer deutschen Atombombe hinzuweisen und die Atomforschung in Amerika zu fördern.

Nach eigenem Bekunden hatte Einstein bis dahin nie an eine solche Anwendung seiner Theorie gedacht. Ihre Bedeutung sah er vielmehr darin, die Energieversorgung der Welt sicherzustellen. Aber er verstand die Überlegungen Szilárds und die von ihm aufgezeigte Gefahr sofort und half seinen Kollegen deshalb dabei, die Aufmerksamkeit des Präsidenten auf das Problem zu lenken. Einsteins Appell an Präsident Roosevelt verfehlte seine Wirkung nicht, aber da die amerikanischen Behörden den Ausländer als Sicherheitsrisiko betrachteten, wurde er an den Forschungsarbeiten nicht beteiligt. Nach dem Krieg hat Einstein die Bombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki nachdrücklich verurteilt und sich bis ans Ende seines Lebens für die Ächtung und Abschaffung von Atomwaffen eingesetzt.

Anders als Einstein war Léo Szilárd unmittelbar am Manhattan-Projekt beteiligt. Er hegte aber große Vorbehalte gegenüber der dominierenden Rolle, die das Militär spielte und hatte dementsprechend ein gespanntes, ja, feindseliges Verhältnis zu General Groves, dem Leiter des Projekts. Szilárd hatte sich mehr als alle anderen immigrierten Physiker für die Entwicklung einer amerikanischen Bombe eingesetzt, aber er malte sich auch die Folgen eines Einsatzes aus und beschäftigte sich damit, sowohl im Hinblick auf zivile Kriegsopfer als auch auf die Gefahren der Weitergabe. Er entwarf einen Brief an Präsident Roosevelt, in dem er für Zurückhaltung beim Einsatz der Waffe warb, aber Roosevelt starb, ohne dass ihn der Brief erreichte. Gemeinsam mit anderen Wissenschaftlern schrieb er den sogenannten Franck-Report, in dem die Gefahren eines nuklearen Wettrüstens beschrieben werden. Und nach der Kapitulation des Deutschen Reichs brachte er eine Bittschrift an Präsident Truman in Umlauf, keine Atombombe auf Japan abzuwerfen. General Groves verhinderte, dass diese Petition Präsident Truman erreichte. Ob sie andernfalls seine Entscheidung beeinflusst hätte, weiß niemand, aber die Petition verkörpert das Wissen, über das die Verantwortlichen verfügten, bevor die beiden japanischen Städte zerstört wurden. Nach dem ersten Einsatz der Atombomben ließ sich diese Errungenschaft der Zivilisation nicht mehr rückgängig machen. Szilárd kommentierte das Ereignis so: Man stelle sich vor, die Deutschen hätten das Rennen um die Atombombe gemacht, sie eingesetzt und trotzdem den Krieg verloren. Gäbe es irgendeinen Zweifel, dass der Abwurf von Atombomben auf Städte als Kriegsverbrechen eingestuft und die Deutschen, die dieses Verbrechens schuldig waren, in Nürnberg verurteilt und aufgehängt worden wären?

Die Frage nach dem «warum?» stellt sich für die Betroffenen auf beiden Seiten – denen, die den Befehl zur Bombardierung der Städte gaben und ihn ausführten und denen, die ihr zum Opfer fielen – auf radikal andere Weise. In den Jahrzehnten, die seit der Auslöschung Hiroshimas und Nagasakis vergangen sind, haben sich die Sichtweisen nicht angenähert, im Gegenteil, die Geschichte wird weiterhin verschieden erinnert, und die unterschiedlichen Erzählungen sind inzwischen zu stabilen Bestandteilen größerer Geschichten geworden, die, was angesichts der Tragweite des Ereignisses nicht überraschend ist, das Selbstverständnis der Betroffenen berühren. So reicht die Geschichte in die Gegenwart hinein, ist ein Teil von ihr.

In Japan kann man das Ereignis nur aus der Opferperspektive erzählen, in den USA nur aus jener der Täter, die man dort freilich nicht so nennt, impliziert «Täter» doch nicht allein eine Tat, sondern eine schuldhafte Tat; und hier scheiden sich die Geister. Schuld ist ein Begriff, der seitens des offiziellen Amerika nicht mit den Atombomben in Zusammenhang gebracht wird, denn für das amerikanische Selbstverständnis ist die Idee vom gerechten Krieg von zentraler Bedeutung. In der amerikanischen Öffentlichkeit dominiert eine Sichtweise, nach der der Abwurf der Atombomben ebenso unabwendbar wie verdient war. Amerikas triumphaler Sieg in dem Krieg, den die japanischen Militaristen vom Zaun gebrochen hatten, gepaart mit der langjährigen Zensur ließ es außerhalb der historischen Zunft nie zu einer ernsthaften Diskussion der Schuldfrage kommen, einer Frage, die nach wie vor schwierig ist.

Trotz der Sonderstellung, die Hiroshima und Nagasaki in der Geschichte des Krieges einnehmen und trotz der unterschiedlichen Bewertungen muss jeder Versuch, die Zerstörung der beiden Städte zu verstehen, scheitern, wenn man sie – als Werk des absolut Bösen, als deus ex machina oder als Unbegreifliches – aus dem historischen Kontext herausnimmt. Es war Krieg und ohne den Krieg wären die Atombomben nie abgeworfen worden.

II. Hintergrund: Der Zweite Weltkrieg in Ostasien

Wie weit aber müssen wir zurückgehen, um die Zusammenhänge, die in Hiroshima und Nagasaki kulminierten, zu erklären? Bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs? Dieser wird in Europa gewöhnlich mit dem 1. September 1939 angegeben, als Hitlers Truppen Polen überfielen. In Fernost ist die Datierung schwieriger. Aus amerikanischer Sicht ist der 7. Dezember 1941 das entscheidende Datum. Am frühen Morgen dieses Tages, dem 8. Dezember japanischer Zeit, griffen japanische Flugzeuge den amerikanischen Marinestützpunkt Pearl Harbor in Hawaii an, wo sie vier Schlachtschiffe der Pazifischen Flotte versenkten, vier weitere Schiffe stark beschädigten und 188 Flugzeuge zerstörten. In der amerikanischen Geschichtsschreibung und mehr noch im Geschichtsbewusstsein der Bevölkerung ist dieser Tag nicht irgendeiner in einer krisenreichen Zeit, sondern ein Wendepunkt, ein Trauma, ein Symbol für Amerikas Rolle im Zweiten Weltkrieg. Wie präsent dieses Datum im amerikanischen Gedächtnis ist, wurde deutlich, als von US-Politikern und in der amerikanischen Presse unmittelbar nach den Anschlägen am 11. September 2001 auf das World Trade Center in New York und das Pentagon in Washington Pearl Harbor als Bezugspunkt und Vergleich herangezogen wurde.

Für Amerika definiert Pearl Harbor den Zweiten Weltkrieg wie kein anderes Ereignis und rechtfertigt alles, was folgte, denn der Angriff war heimtückisch, aus heiterem Himmel und unprovoziert, so jedenfalls die allgemeine Erinnerung in Amerika. «Der Wunsch nach Rache (denkt an Pearl Harbor und die japanische Misshandlung von Kriegsgefangenen, forderte Truman) hat wohl auch dazu beigetragen, den Beschluss zum Einsatz der Bombe zu bestätigen», urteilt Barton Bernstein, einer der profiliertesten Historiker auf diesem Gebiet. Pearl Harbor stand und steht in Amerika für infamen Verrat und die gefährliche Aggressivität einer anderen «Rasse» und wurde zur Chiffre für die moralische Legitimität aller amerikanischen Kriegshandlungen.

Für Japan hingegen war Pearl Harbor ein verzweifelter Befreiungsschlag, der in einer Reihe mit anderen Ereignissen stand, die die Rivalität zweier aufstrebender Mächte im pazifischen Raum kennzeichneten. Seit Japans Annexion Taiwans nach dem ersten chinesisch-japanischen Krieg 1895 und Amerikas Sieg im Krieg gegen Spanien und dem darauf folgenden Erwerb der Philippinen 1898 sowie Japans Sieg im russisch-japanischen Krieg 1905 hatten beide Länder potenziell konfligierende Interessen im westlichen Pazifik. Japan war von Importen aus den USA abhängig, insbesondere von Öl und Eisen für die Rüstungsindustrie, einer tragenden Säule seiner expansionistischen Politik. Als Japan seine von den westlichen Mächten als legitim angesehenen Interessen in der Mandschurei nach China und weiter nach Südostasien auszudehnen begann, stieß es auf den Widerstand Washingtons, das seine eigenen Interessen dadurch gefährdet sah. Durch ein seit Sommer 1940 sukzessive verschärftes Wirtschaftsembargo versuchte die amerikanische Regierung Japans Expansion einzudämmen. Als japanische Truppen im Sommer 1941 in Südindochina einfielen, koordinierte Washington das Embargo mit England und Holland, so dass Japan von Öl- und Kautschuklieferungen abgeschnitten war, und unterstützen in China die nationalchinesische Fraktion unter Chiang Kai-Shek im Kampf gegen Japan mit einer Fliegerstaffel. Japan sah sich umringt und in die Enge getrieben.

Unterdessen wurde intensiv aber erfolglos verhandelt, um aus der Sackgasse herauszukommen. Washington verlangte, dass Japan sich nicht nur aus Indochina, sondern auch aus China zurückzöge, während Tokio die Aufhebung des Ölembargos forderte und darauf bestand, dass die USA Japans Vormachtstellungim Fernen Ostenanerkannten. Beide Verhandlungspositionen waren ebenso kompromisslos wie durch schwere Fehleinschätzungen der Gegenseite bestimmt. Washington erwartete, dass Japan nachgeben würde und Tokio unterschätzte den Effekt von Pearl Harbor, der die Amerikaner zu einer opferbereiten und kriegsentschlossenen Nation zusammenschweißte.

Verkompliziert wurde die Lage einerseits dadurch, dass Japan – weniger aus Sympathie für den Faschismus als aus machtpolitischen Gründen – im Herbst 1940 den Dreimächtepakt mit dem Deutschen Reich und Italien und im April des folgenden Jahres einen Neutralitätspakt mit der UdSSR unterzeichnet hatte. Hinzu kam, dass es in Südostasien mit Deutschlands Kriegsgegnern in Konflikt geriet. Schon 1938 hatte Prinz Konoe Fumimaro, der damalige Premierminister, eine Erklärung zu einer «neuen Ordnung in Ostasien» abgegeben, die seither Grundlage der japanischen Außenpolitik war. Sie zielte auf die Errichtung einer von Japan beherrschten «großen ostasiatischen Wohlstandssphäre». Selbst wenn die antikolonialistischen Parolen, die Japan auf seine Fahnen schrieb, weniger altruistisch motiviert waren als dadurch, der japanischen Hegemonie in Ostasien den Weg zu bereiten, war es doch eine Tatsache, dass die Westmächte in China ihre eigenen Interessen verfolgten und ihre asiatischen Kolonien hatten. Dass ihrer Präsenz im Fernen Osten durch Asiaten ein Ende bereitet werden sollte, war für die politischen Führer Großbritanniens, Frankreichs und der Niederlande undenkbar. Der Generalgouverneur von Niederländisch-Indien und Shell-Direktor B. C. de Jonge sagte deutlich, worum es ging: «Wir haben hier dreihundert Jahre mit Peitsche und Knute geherrscht und werden das auch die nächsten dreihundert Jahre tun.»

Retrospektiv ging es im Pazifischen Krieg um die Neuordnung des asiatisch-pazifischen Raums inklusive Chinas und Südostasiens, in dem bis dahin die imperialistischen Mächte das Sagen hatten: Großbritannien in Indien, Burma, Malaysia und Hongkong, Frankreich in Indochina, die Niederlande in Indonesien und die USA auf den Philippinen. Dazu kamen die Marianen, die Karolinen, die Salomonen, die Marshall- und Gilbert-Inseln sowie andere pazifische Inseln, die ebenfalls in der Hand der imperialen Mächte waren.

Müssen wir so weit zurückgehen, um zu verstehen, wie es zum Angriff auf Pearl Harbor und schließlich zum Abwurf der Atombomben kam? Oder vielleicht noch weiter bis in die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts, als das japanische Inselreich, das fernab vom Weltgeschehen in selbst gewählter Abgeschiedenheit seit zweieinhalb Jahrhunderten mit seinen Nachbarn im Frieden lebte, von amerikanischen Kanonenbooten auf die internationale Bühne gezwungen wurde, wo es den imperialistischen Staaten nacheifernd schnell zu einer Macht wurde, die ihren Forderungen mit militärischen Mitteln Geltung verschaffen konnte? Noch einen Schritt weiter zurück gehen Historiker wie Michio Kitahara, der den Angriff auf Pearl Harbor als Reaktion auf den westlichen Rassismus deutet, mit dem sich Japan seit 1543 konfrontiert sah, als die ersten portugiesischen Missionare ins Land kamen, um den Menschen dort den rechten Glauben und die bessere Lebensweise beizubringen. Der missionarische Geist und der Rassismus gehörten in der westlich dominierten Welt der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts zur Normalität, und die Japaner hatten als einzige nicht-weiße Teilnehmer an der Friedenskonferenz von Versailles die Erfahrung gemacht, dass ihr Vorschlag, in die Satzung des Völkerbunds einen Paragraphen gegen rassistische Diskriminierung aufzunehmen, von den westlichen Mächten abgelehnt wurde.

Dies sind Schlaglichter, die im Hintergrund aufscheinen. Sie verweisen auf die Komplexität der Zusammenhänge und erinnern an die alte Frage, die immer wieder gestellt wird: Wie kann der Mensch die scheinbar blindwütigen Kräfte der Geschichte verstehen und beherrschen? Sie kann an dieser Stelle nicht verfolgt werden. Hier geht es nur um eine Kriegshandlung und darum, welche Gestalt sie dadurch annimmt, dass aus verschiedenen Blickwinkeln von ihr erzählt wird. Und es geht darum zu zeigen, dass nach wie vor um die Legitimität dieser Blickwinkel gekämpft wird, weswegen es noch nach 65 Jahren schwierig ist und vielleicht immer schwieriger wird, dieses Schlüsselereignis des zwanzigsten Jahrhunderts richtig einzuordnen. Mindestens vier Aspekte von Hiroshima verlangen nach Aufmerksamkeit: die technologische Seite, die militärische Seite, die politische Seite und die menschliche Seite.

Die technologische Seite

Das amerikanische Atomprogramm wurde 1939 ins Leben gerufen, nachdem der dänische Physiker Niels Bohr Kollegen in Amerika von bahnbrechenden Experimenten berichtet hatte, die Otto Hahn, Fritz Strassmann und Lise Meitner in Deutschland auf dem Gebiet der Kernspaltung durchgeführt hatten. In der Folge wurden an den Universitäten von Chicago und Kalifornien, Columbia, Princeton und Stanford sowie verschiedenen anderen Einrichtungen atomphysikalische Forschungsprogramme aufgelegt, an denen aus dem faschistischen Europa geflohene Wissenschaftler wie Enrico Fermi und Leó Szilárd federführend beteiligt waren. Nach zögerlichen Anfängen wurden die Arbeiten unter größter Geheimhaltung immer intensiver vorangetrieben und schließlich in dem «Manhattan-Projekt» koordiniert. Die Konstruktion der Bombe wurde einer neuen Forschungsanlage in Los Alamos, New Mexico, unter Leitung von J. Robert Oppenheimer von der Universität von Kalifornien in Berkeley übertragen. Fermi erkannte schon früh, dass durch die Kernspaltung von Uran eine Kettenreaktion ausgelöst werden konnte, wie sie für eine Atombombe notwendig war. Bis zur ersten erfolgreichen Testzündung einer einsatzfähigen Waffe war es noch ein weiter Weg. Sie erfolgte erst am 16. Juli 1945 in White Sands, einem Stück Wüste in New Mexico.

Das Ziel war damit fast erreicht. Was ausstand, war noch der technisch ebenfalls schwierige zielgenaue Abwurf der Waffen aus einem Flugzeug, der nur drei Wochen später geleistet wurde. Nach fünfstündigem Flug von der kleinen Insel Tinian etwa 2500 Kilometer südöstlich Japans wurde die erste Atombombe zusammen mit Messinstrumenten für die Beobachtung der Wirkung aus 8500 Meter Höhe abgeworfen. Nach 43 Sekunden detonierte sie in 580 Meter Höhe über dem Shima-Krankenhaus im Zentrum Hiroshimas und produzierte einen Feuerball, der binnen einer zehntausendstel Sekunde eine Temperatur von über 300.000 °C erreichte. Auf dem Erdboden betrug sie mindestens 6000°C. 35% der freigesetzten Energie bestand aus Wärme, 50% aus Druck und 15% aus radioaktiver Strahlung. Der Einsatz der besten Physiker, Techniker und Militärlogistiker und die ungeheure Summe von zwei Milliarden Vorkriegsdollar hatten das möglich gemacht.

Einige Historiker wie z.B. Stanley Goldberg sehen einen Zusammenhang mit dem Einsatz der fertigen Waffen in Hiroshima und Nagasaki, der allein die horrenden Kosten rechtfertigen konnte. In jedem Fall war mit dem großen Aufwand ein Beweis für die enorme Leistungsfähigkeit der amerikanischen Wissenschaft und Industrie erbracht worden, der auf lange Sicht Grund zu Stolz sein sollte. Den vermeintlichen Wettlauf um die Atombombe mit Deutschland hatten die Amerikaner gewonnen, wenn auch erst nach der Kapitulation des Deutschen Reichs im April 1945. Um die Früchte dieses Sieges ernten zu können, blieb als Ziel eines Einsatzes nur Japan.

Die militärische Seite

Das Manhattan-Projekt diente von Anfang an militärischen Zwecken. Henry Stimson, Kriegsminister während des ganzen Pazifischen Krieges und als solcher dem US-Präsidenten für das Projekt verantwortlich, erklärte kurz nach dem Krieg:

«Zu keiner Zeit zwischen 1941 und 1945 äußerte sich der Präsident oder irgendein anderes verantwortliches Regierungsmitglied dahingehend, dass Atomenergie nicht im Krieg verwendet werden sollte. […] Es war unser gemeinsames Ziel, die ersten zu sein, die eine Atomwaffe herstellten und benutzten. […] Der ganze Zweck war die Produktion einer militärischen Waffe; der Aufwand von so viel Zeit und Geld in Kriegszeiten hätte aus keinem anderen Grund gerechtfertigt werden können.»

Der militärische Zweck der Entwicklung der neuen Waffe stand für die Verantwortlichen außer Zweifel. Die Leitung des Projekts hatte ein Militärausschuss unter Führung von General Leslie Groves. Nachdem klar war, dass die Waffe auf dem europäischen Kriegsschauplatz nicht mehr zum Einsatz kommen würde, wurden in April 1945 im Pentagon von General Groves, Oberst Paul W. Tibbets, der später den Bombeneinsatz nach Hiroshima flog, und einigen anderen Offizieren mögliche Zielstädte ausgesucht. Auf der ersten Liste standen die Bucht von Tokio, Kawasaki, Yokohama, Nagoya, Osaka, Kobe, Kyoto, Hiroshima, Kure, Yahata, Kokura, Shimonoseki, Yamaguchi, Kumamoto, Fukuoka und Nagasaki. In Laufe der folgenden Monate wurde diese Liste zusammengestrichen, bis im Juli noch Hiroshima, Kokura, Niigata und Nagasaki übrig blieben. Diese Städte waren weitgehend unzerstört, so dass man die Wirkung der Atombombe am besten studieren konnte.

Ob der Einsatz der fertigen Waffe militärischen Notwendigkeiten gehorchte, ist umstritten. Von den meisten Wissenschaftlern wird das heute verneint. Denn im Sommer 1945 war Japan militärisch am Ende. Der Konsensus unter Historikern ist, dass die Lage nach Beendigung der Kriegshandlungen in Europa für Japan aussichtslos war, und dass das sowohl der japanischen als auch der amerikanischen Führung bekannt war.

Der amerikanische Generalstab bereitete Pläne für eine Invasion vor, die für den Fall, dass Japan nicht kapitulierte, in zwei Etappen, im November 1945 auf der westlichen Insel Kyushu und im März 1946 in der Kanto-Ebene um Tokio, durchgeführt werden sollte. Die meisten Militärs rechneten jedoch nicht mit der Notwendigkeit einer Invasion. Denn auf der Konferenz von Jalta im Februar 1945 hatte Stalin Roosevelt zugesagt, drei Monate nach der absehbaren Niederlage des Deutschen Reichs in den Krieg gegen Japan einzutreten. Das, so die Meinung führender Militärs im Frühjahr 1945 wie auch nach Japans Kapitulation, war der entscheidende Faktor, der Japan unweigerlich zur Aufgabe zwingen würde. Andere waren der Meinung, dass sich Japan so oder so ergeben würde. Der 1946 veröffentlichte US Strategic Bombing Survey kommt zu dem Schluss:

«Aller Wahrscheinlichkeit nach hätte Japan vor dem 1. November 1945 kapituliert, selbst wenn die Atombomben nicht abgeworfen worden wären, Russland nicht in den Krieg eingetreten und keine Invasion geplant oder erwogen worden wäre.»

Die militärische Notwendigkeit der Atombomben begründete Präsident Truman, der Roosevelt nach dessen Tod im April 1945 im Amt nachfolgte, nach Ende des Krieges damit, dass sie eine