Eduard Lohse

Vater unser

Das Gebet der Christen

2. Auflage

 

 

 

 

 

 

 

 

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Inhalt

Vorwort

  I. Die ursprüngliche Gestalt des Vaterunsers

1. Die Überlieferung des Vaterunsers

2. Die aramäische Urfassung und der griechische Text

3. Jüdische Gebete zur Zeit Jesu

 II. Erklärung der sieben Bitten des Vaterunsers

1. Die Anrede: Vater

2. Die erste Bitte: Geheiligt werde dein Name

3. Die zweite Bitte: Dein Reich komme

4. Die dritte Bitte: Dein Wille geschehe, wie im Himmel so auf Erden

5. Die vierte Bitte: Unser tägliches Brot gib uns heute

6. Die fünfte Bitte: Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern

7. Die sechste Bitte: Und führe uns nicht in Versuchung

8. Die siebente Bitte: Sondern erlöse uns von dem Bösen

9. Der abschließende Lobpreis

III. Die bleibende Bedeutung des Vaterunsers

Das Gebet Jesu und der frühen Christenheit

Anhang: Zur Wirkungsgeschichte des Vaterunsers

1. Das Vaterunser in den Katechismen der Reformatoren

2. Die ökumenische Bedeutung des Vaterunsers

Literaturverzeichnis

Bibelstellenverzeichnis

Sachregister

Autorenregister

Vorwort

Vater unser im Himmel,
Geheiligt werde dein Name,
Dein Reich komme,
Dein Wille geschehe,
wie im Himmel, so auf Erden.

Unser tägliches Brot gib uns heute,
Und vergib uns unsere Schuld,
wie auch wir vergeben unsern Schuldigern,
Und führe uns nicht in Versuchung,
Sondern erlöse uns von dem Bösen.

Denn dein ist das Reich und die Kraft
und die Herrlichkeit in Ewigkeit.
Amen.

Diese Worte des Gebets sind ungezählten Menschen von Jugend an vertraut. Oft täglich, aber vor allem auch bei besonderen Gelegenheiten, festlichen oder auch traurigen Anlässen, haben diese Worte Trost gespendet und betrübte Menschen aufgerichtet. Vaterunser und Erklärung, wie sie in Luthers Kleinem Katechismus stehen, können auch heute viele Menschen auswendig hersagen. Diese Vertrautheit aber kann nicht selten dazu führen, dass nicht mehr auf die genaue Bedeutung eines jeden Satzes geachtet wird, sondern man die Worte spricht, ohne über den Sinn dieses Gebetes hinlänglich nachzudenken.

Aufgabe einer umsichtigen Auslegung des Neuen Testaments ist es, den Sinn der gesprochenen Worte genau zu erheben. Was sollte von Anfang an mit diesem Gebet ausgesagt werden? Und welche Bedeutung ist den einzelnen Begriffen eigen, mit denen zu Gott gerufen wird? Ob im Gottesdienst oder im stillen Gebet des einzelnen, am Traualtar oder an den Gräbern diese Worte gesprochen und mitvollzogen werden, es gilt, sich darüber Rechenschaft abzulegen, was dabei ausgesagt wird und welcher Sinn diesem Gebet zukommt, mit dem Gott um seinen gnädigen Beistand angerufen wird.

Anlässlich der Verleihung des Dr. Leopold Lucas-Preises durch die Universität Tübingen habe ich am 15. Mai 2007 eine Vorlesung über das Vaterunser gehalten, die im folgenden Jahr im Verlag Mohr-Siebeck veröffentlicht wurde1. Die darin entworfene Skizze soll nun auf eine breitere Basis gestellt werden, indem sowohl die ursprüngliche Gestalt des Gebets wie auch seine bleibende Bedeutung des näheren zu bedenken ist. Dabei soll das Vaterunser im Zusammenhang mit der Wirksamkeit Jesu und seiner Verkündigung von der anbrechenden Gottesherrschaft, aber auch im Blick auf das Gebet der frühen Christenheit betrachtet werden. In vergleichender Gegenüberstellung mit Gebeten der Umwelt des Neuen Testaments, vor allen anderen mit seinen jüdischen Voraussetzungen, ist zu erörtern, wie es sich zu diesen verhält und worin der besondere Charakter seiner Worte zu finden ist. Bei dieser historischen Untersuchung aber ist die Frage nicht aus dem Auge zu lassen, welche bleibende Bedeutung diesem Gebet zukommt, das heute wie einst die Welt umspannt.

Für die zweite Auflage konnten einige Hinweise aufmerksamer Leser dankbar berücksichtigt und einige kleine Versehen verbessert werden.

Eduard Lohse

I.

Die ursprüngliche Gestalt des Vaterunsers

1. Die Überlieferung des Vaterunsers

Das Vaterunser ist im Neuen Testament im Matthäus- und im Lukasevangelium überliefert (Mt. 6,9–13; Lk. 11,2–4). Darüber hinaus enthält die sogenannte Apostellehre/Didache, die in der ersten Hälfte des 2. Jahrhunderts n. Chr. abgefasst worden ist, eine Fassung des Gebetes, die den Versen des Matthäusevangeliums sehr nahe kommt (Did. 8,2). Daher ist die Frage nach der ältesten Überlieferung des Vaterunsers vor allem an das im Neuen Testament enthaltene Zeugnis zu richten.

In vielen Bibelausgaben ist das Vaterunser in beiden Evangelien mit gleich lautenden Worten wiedergegeben. Diese Wiedergabe entspricht einer großen Zahl jüngerer Handschriften des griechischen Textes. Die kritischen Ausgaben des Neuen Testaments – vor allem die des Novum Testamentum Graece (Nestle-Aland, 27. Aufl. Stuttgart 1993) – zeigen jedoch, dass die ältesten Handschriften des griechischen Textes der beiden Evangelien sich in den Fassungen des Vaterunsers deutlich voneinander unterscheiden. Diese Unterschiede, die die spätere Überlieferung ausgeglichen hat, wollen daher geprüft und gewertet werden.

Während sich im Matthäusevangelium eine Textfassung mit sieben Bitten findet, die dann den geläufigen kirchlichen Gebrauch seit alters bestimmt haben, steht im Lukasevangelium eine kürzere Gestalt des Textes, die nur fünf Bitten enthält. Die Unterschiede betreffen vor allem folgende Punkte:

 

  1. Die Anrede bei Matthäus lautet „Vater unser in den Himmeln“, bei Lukas heißt es nur kurz und knapp „Vater“.

  2. Die beiden ersten Bitten stimmen in beiden Evangelien überein, doch dann fehlt bei Lukas die dritte Bitte, wie sie bei Matthäus überliefert ist.

  3. Der zweite Teil des Gebets beginnt übereinstimmend mit der Bitte um das tägliche Brot. Doch weist der Wortlaut hier wie dort einige sprachliche Unterschiede auf. Mt. 6,11 wird gesagt: , bei Lukas aber werden am Schluss des Satzes noch die Worte angefügt: .

  4. Die – nach der Zählung des Matthäusevangeliums – fünfte Bitte enthält wiederum Unterschiede der verwendeten Begriffe. Bei Mt. 6,12 ist von „den Schulden“ die Rede, die Gott vergeben möge. Bei Lukas werden hingegen „die Sünden“ angesprochen, die Gott verzeihen möge. Und in der zweiten Zeile, die von der Verpflichtung gegenseitiger Vergebung handelt, steht das Verbum bei Matthäus im Aorist, bei Lukas aber im Präsens: .

  5. Die bei Matthäus anschließende – sechste – Bitte wird auch bei Lukas gelesen, doch fehlt der letzte Satz: „Sondern erlöse uns von dem Bösen.“

  6. Schließlich will beachtet sein, dass die Doxologie, mit der nach der geläufigen Fassung das Gebet beendet wird, in den ältesten Textzeugen beider Evangelien nicht enthalten ist. In der frühesten Zeit war offensichtlich der Wortlaut des Lobpreises noch nicht genau festgelegt, sondern wurde der abschließende Satz vom Beter in freier Formulierung gesprochen.
Die kürzere Fassung des Gebets nach dem Lukastext lautet mithin:

Vater,
Dein Name werde geheiligt,
Dein Reich komme.

Unser tägliches Brot gib uns Tag für Tag,
Und vergib uns unsere Sünden; denn auch wir
vergeben jedem, der an uns schuldig wurde,
Und führe uns nicht in Versuchung.

Wie sind diese Unterschiede, die die älteste Textüberlieferung enthält, zu beurteilen? Eine direkte literarische Abhängigkeit des einen Evangelisten vom anderen ist nicht anzunehmen. Denn weder lässt sich vorstellen, dass die Vorlage eines längeren Textes durch einen späteren Zeugen eigenmächtig verkürzt worden wäre. Noch ließe sich annehmen, dass ein Abschreiber eine ihm überkommene kürzere Fassung durch von ihm vorgenommene Ergänzungen erweitert haben sollte.2 Es liegen vielmehr zwei zwar im Wesentlichen übereinstimmende, in Einzelheiten jedoch unterschiedliche Überlieferungen des Herrengebets vor. Dabei ist anzunehmen, dass die kürzere Textgestalt die ältere darstellt, die in der anderen Überlieferung um eine dritte und eine siebente Bitte erweitert worden ist. Voneinander abweichende Begriffe, wie sie sich hier wie dort finden, lassen erkennen, dass das Gebet eine Zeit mündlicher Überlieferung durchlaufen hat, ehe der Text schriftlich festgehalten und von jedem der beiden Evangelisten in den von ihm gestalteten Zusammenhang eingefügt wurde. Die beiden im Neuen Testament überkommenen Fassungen des Vaterunsers sind also unabhängig voneinander tradiert und dann von den Evangelisten aufgezeichnet worden.

Der Vergleich beider Traditionen wird im Einzelnen zu zeigen haben, dass die von Matthäus gebotene sprachliche Gestalt gegenüber der Lukasfassung durchweg ältere Voraussetzungen – in Wendungen ursprünglich semitischer Sprache – wiedergibt. Diese Beobachtungen sind in Betrachtung jedes einzelnen Satzes zu prüfen und zu begründen.3 Dass beide Fassungen jedoch eine gemeinsame Tradition repräsentieren, ergibt sich schlüssig daraus, dass beide das sonst vollkommen ungebräuchliche Wort enthalten.4

Die Überlieferung des Herrengebets zeigt einerseits, dass den Lesern und Hörern freigestellt wurde, eine kürzere oder eine längere Fassung des Gebets zu sprechen. Andererseits aber geht aus der handschriftlichen Bezeugung hervor, dass sich zwar mancherlei Ergänzungen zur kürzeren Fassung des Lukasevangeliums finden, die diese an die längere Fassung des Matthäusevangeliums angleichen. In der handschriftlichen Bezeugung des Matthäusevangeliums aber sind keine Kürzungen enthalten, die etwa eine Annäherung an den kürzeren Lukastext vornehmen wollten. Daraus ist zu ersehen, dass die sieben Bitten, wie sie im Matthäusevangelium dargeboten werden, die Gestalt des Vaterunsers bieten, die im kirchlichen Gebrauch allgemein üblich wurde. Die Apostellehre/Didache folgt zu Anfang des 2. Jahrhunderts eben dieser Textfassung und spricht sich somit eindeutig für das Vaterunser mit sieben Bitten aus, wie sie seither in allen Kirchen gesprochen werden.

Anmerkungen

  1 Vgl. E. Lohse, Das Vaterunser – im Licht seiner jüdischen Voraussetzungen, Tübingen 2008.

  2 Vgl. J. Jeremias, Das Vater-Unser im Lichte der neueren Forschung, in: Abba – Studien zur neutestamentlichen Theologie und Zeitgeschichte, Göttingen 1966, 152–171.155–160: Der älteste Text des Vater-Unsers.

  3 Jeremias, Vater-Unser, 160.

  4 Vgl. J. Jeremias, Neutestamentliche Theologie I. Die Verkündigung Jesu, Gütersloh 1971 (= 31979), 190.

2. Die aramäische Urfassung und der griechische Text

Die Sprache Jesu und der ersten Christen war das Aramäische. In seinen Worten wird das Vaterunser zuerst formuliert und gesprochen worden sein. Auf diesen sprachlichen Ursprung deutet schon die Anrede Gottes als Vater hin. Wird doch sowohl von Jesus selbst wie auch vom gottesdienstlichen Gebet der ersten Christen überliefert, dass sie Gott mit „Abba“, also als Vater angeredet haben (Mk. 14,36 par.; Gal. 4,6; Röm. 8,15). Das aramäische Wort „Abba“ ist ein status emphaticus, der zugleich ein Pronominalsuffix in der 1. Person Singular bzw. die Form mit der 1. Person Plural vertritt, also als „mein Vater“ bzw. „unser Vater“ wiederzugeben ist.1 Diese Anrede entspricht der schlichten „Rede des Kindes zum Vater“.2

Dass die Sätze des Gebets ursprünglich in aramäischer Sprache formuliert waren, ergibt sich mit Sicherheit aus folgender Beobachtung: Die Begriffe (Schulden) und (Sünden), die sich einerseits bei Matthäus, andererseits bei Lukas finden, gehen offensichtlich auf ein aramäisches „oba“ zurück. Denn im Aramäischen wurden auch sonst Verschuldungen, die die Menschen durch ihre Sünden auf sich geladen haben, mit diesem Wort bezeichnet, dessen eigentliche Bedeutung sich auf finanzielle Verschuldung bezog.3

Kundige Philologen und Exegeten haben Vorschläge erarbeitet, die aramäische Urfassung des Gebetes zu rekonstruieren. Dabei hat sich im Lauf der gelehrten Erörterungen ein weitgehender Konsens ergeben, der zu einer unter Fachkennern einhellig vertretenen Auffassung geführt hat.4 Demnach entspricht die kürzere Lukas-Fassung folgenden aramäischen Sätzen:

Abbá
jitqaddáš šemák,
teté malkulták,
lamán delimár hab lán joma dén,
eboq lán obénan
kedišebáqnan leajjabénan,
wela ta’elinnan lenisjón.5

Werden diese Sätze laut gesprochen, so lässt sich ihre poetische Struktur deutlich empfinden. In rhythmisch geformter Sprache redet der Beter zu Gott. Diese Worte prägen sich dem Gedächtnis umso klarer ein, als auch die jeweiligen Satzenden sich aufeinander reimen.6 Auch der ausführlichere Matthäus-Text ist in poetischer Fassung mit sich reimenden Zeilenenden gehalten.7

Die beiden unterschiedlichen Fassungen des Gebets lassen sich nicht in einen einheitlich formulierten Wortlaut zusammenfassen. Sie bieten vielmehr im Einzelnen durchaus die eine oder andere Variante des Wortlauts. Will doch das Vaterunser nicht formelhaft wiederholt und nachgesprochen werden, sondern zu vertrauender Zuversicht und regelmäßigem Beten anhalten.

Schon in sehr früher Zeit wurde das Gebet ins Griechische übersetzt, wie auch die gesamte Überlieferung der Worte Jesu in die griechische Sprache übertragen und tradiert wurde. Dabei ist die poetische Gestalt des Gebets nicht mehr so deutlich zu erkennen wie in der aramäischen Urfassung. Die beiden Evangelisten Matthäus und Lukas setzen jeweils diese vorgegebene griechische Fassung des Vaterunsers voraus, die sie aufnehmen. Jeder der beiden Evangelisten hat das Vaterunser in seinem Evangelium in einen größeren Zusammenhang eingeordnet, der zum rechten Verständnis des Gebets anleiten soll.

Auf diesen im griechischen Neuen Testament überlieferten Text hat der Ausleger zu achten. Ist es doch seine Aufgabe, nicht einen hypothetisch rekonstruierten Wortlaut, sondern die ihm vorgegebene griechische Fassung des Vaterunsers zu erklären. Dabei kann freilich die Rekonstruktion einer aramäischen Urfassung helfen, die verborgene Tiefenschicht der Sätze wahrzunehmen.

Der Evangelist Matthäus hat das Vaterunser in die Mitte der großen Komposition der Bergpredigt hineingestellt. Es bildet gleichsam deren Zentrum, von dem die Fäden des Zusammenhangs sowohl rückwärts wie auch vorwärts laufen. Das 6. Kapitel im Matthäusevangelium handelt zunächst von rechter Gabe des Almosens, einer sittlichen Verpflichtung, der im Judentum von jeher hoher Rang zugemessen wird.8 Wird Almosen gegeben, so soll die linke Hand nicht wissen, was die rechte tut, um jede Anwandlung von Heuchelei zu meiden (Mt. 6,3f.). Hierauf folgt die Unterweisung zum Beten, das für den frommen Juden eine bindende tägliche Verpflichtung darstellt (Mt. 6,5–15). Und dann werden Sätze angeschlossen, die rechtes Fasten beschreiben, das im demütigen Aufblick zu Gott geschehen soll (Mt. 6,16–18).9 Almosen, Beten und Fasten waren und sind für fromme Juden wichtige Bereiche gläubiger Lebensführung. So weist der Evangelist durch die von ihm gestaltete Rahmung des Vaterunsers auf den jüdischen bzw. judenchristlichen Hintergrund des Gebets hin.

Auf andere, jedoch gleichfalls von jüdischen Voraussetzungen bestimmte Weise hat der Evangelist Lukas die von ihm vorgenommene redaktionelle Rahmung gestaltet. Die Jünger Jesu – so wird der Zusammenhang eingeleitet – treten an ihren Meister mit der Bitte heran, er möge sie beten lehren, wie auch Johannes der Täufer seine Jünger gelehrt hatte, recht zu beten. Mit diesem Hinweis am Beginn des 11. Kapitels im Lukasevangelium wird darauf aufmerksam gemacht, dass eine von gemeinsamem Glauben erfüllte Gemeinschaft durch rechte Unterweisung über das Gebet ihre Identität erfährt.10 Dabei wird – ebenso wie im Matthäusevangelium – vorausgesetzt, dass die Jünger Jesu als Juden, die sie waren, sehr wohl darum wussten, welche Bedeutung dem Gebet für eine rechte Lebensführung zukommt. Sie werden nun darin unterwiesen, mit welchen Worten ihre Gemeinschaft zum rechten Gebet zusammengeschlossen werden soll. Die jüdischen Voraussetzungen, wie sie für die Formulierung des Vaterunsers gegeben waren, bedürfen daher nun näherer Betrachtung.

Anmerkungen

  1 Vgl. G. Kittel, in: ThWNT I, 4–6.

  2 Vgl. G. Dalman, Die Worte Jesu I, 2Leipzig 1930, 157.

  3 Vgl. Jeremias, a.a.O. (Abba), 159; Ders., RGG3VI, 1236.

  4 Vgl. G. Dalman, a.a.O., 283–365; sowie C.C. Torrey, The Translations made from the Original Aramaic Gospels, in: Studies in the History of Religion presented to C.-H. Toy, New York 1912, 309–317; C. F. Burney, The Poetry of our Lord, Oxford 1925, 112f., 161; K. G. Kuhn, Achtzehngebet und Vaterunser und der Reim, WUNT 1, Tübingen 1950; Jeremias, a.a.O. (Abba), 152–171; Ders., Neutestamentliche Theologie I, 188–196.

  5 Vgl. Jeremias, a.a.O. (Abba), 160; bzw. Neutestamentliche Theologie I, 191. Nicht frei von unbewiesenen Annahmen sind jedoch die Erwägungen von G. Schwarz, Matthäus VI, 9–13/Lukas XI, 2–4. Emendation und Rückübersetzung, in: NTS 15 (1968/69), 233–247.

  6 Den Nachweis für die poetische Struktur sowie die sich reimenden Satzenden hat Kuhn, a.a.O. (s. Anm. 4) erbracht.

  7 Vgl. Kuhn, a.a.O., 33.

  8 Vgl. die vielen Belege bei P. Billerbeck, Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch I, München 1922, 387–396.

  9 Belege zum jüdischen Verständnis und Vollzug des Fastens bei Billerbeck, a.a.O., 426–429.

 10 C. K. Rothschild, Baptism Traditions and Q, WUNT I, 190, Tübingen 2005, nimmt an, dass manche Stoffe, die in der Überlieferung als Worte Jesu angesprochen wurden, eine Vorgeschichte in der Verkündigung Johannes des Täufers gehabt haben können. Denkbar ist, dass einzelne Gebetstraditionen über die Gruppe Johannes des Täufers Jesus und seinen Jüngern zugekommen sein könnten (vgl. Lk. 11,1–4). Doch lassen sich Vermutungen dieser Art nicht beweisen. Vgl. die Rezension von K. Backhaus, in: ThLZ 132 (2007), 942–944.

3. Jüdische Gebete zur Zeit Jesu

Im Judentum der spätantiken Zeit setzte sich eine reiche und vielgestaltige Überlieferung und Praxis gläubigen Betens ungebrochen fort. In den Psalmen der Schrift fand man Vorbilder für das eigene Loben und führte diese Tradition in zahllosen Gebeten weiter, die in der überkommenen Sprache des Gebetes formuliert, erweitert und ausgestaltet wurden. Seit den umfangreichen Funden jüdischer Texte am Ufer des Toten Meeres, die ohne Zweifel vorchristlichen Ursprungs sind, sind Gebetstexte in großer Zahl bekannt geworden, die Einblick in Frömmigkeit und Gebet weiter Kreise des frommen Judentums gestatten. Darüber hinaus haben gründliche Forschungsarbeiten, die der Literatur des vorchristlichen Judentums gelten, unsere Kenntnis des Schatzes an jüdischen Gebeten wesentlich bereichert und genauere Urteile über deren zeitliche Einordnung ermöglicht.1 Daher kann mit Bestimmtheit gesagt werden: „Jesus kommt aus einem Volk, das zu beten verstand.“2

Durch seine Treue im Gebet unterschied sich das Judentum von der hellenistisch-römischen Umwelt, in deren Mitte seine weit ausgebreitete Diaspora lebte.3 Denn Römer und Griechen verrichteten zwar den überkommenen Opfer- und Tempeldienst, aber unter ihnen herrschten mancherlei Zweifel, zu welchem Gott unter den mancherlei Möglichkeiten man rufen sollte und ob Gebete überhaupt Gehör finden könnten. Daher unterließ man vielfach das Beten. Vom Judentum aber wurde diese Skepsis, von der der Polytheismus der hellenistisch-römischen Welt gezeichnet war, nicht geteilt. Daher machten die Gottesdienste, die überall in den Synagogen gehalten wurden, auf nicht wenige Menschen der Umgebung tiefen Eindruck, so dass sich manche Nichtjuden als Sympathisanten um die jüdischen Gemeinschaften versammelten.

Die zahlreichen Gebete, die sich in den Texten von Qumran finden, geben eindrucksvolle Beispiele für die im Judentum bewahrte und weitergetragene Kultur des Betens. Sie sind nahezu ausnahmslos in der biblischen Sprache des Hebräischen abgefasst. In der Zeit Jesu sprach man jedoch im Volk weithin aramäisch. Daher mussten in den Synagogen die Schriftlesungen, die die hebräischen Texte des Alten Testaments darboten, jeweils in die geläufige Sprache des Aramäischen übersetzt werden. Diese sogenannten Targumim wurden lange Zeit nur mündlich überliefert und ausgestaltet, ehe sie dann erst Jahrhunderte später schriftlich aufgezeichnet wurden. Doch kann vergleichende kritische Betrachtung vielfach erheblich ältere Traditionen in den Targumim aufspüren, die bis in die Zeit Jesu zurückreichen.4 Somit können auch in den Targumim überkommene Traditionen herangezogen werden, um ein Bild vom vielgestaltigen Gebetsleben des spätantiken Judentums zu gewinnen.

Vor allem in den „Lobliedern“ der Gemeinde von Qumran (1 QH) sind viele Beispiele überliefert, die zeigen, mit welcher Intensität im Judentum der Zeit vor Christus gebetet wurde. So heißt es: „Gepriesen seist du, Herr! Denn du hast nicht verlassen die Waise und den Geringen nicht verachtet. Denn deine Macht ist [unerforschlich] und deine Herrlichkeit ohne Maß, und wunderbare Helden sind deine Diener. Und mit den Demütigen [bist du], wenn [ihre] Füße versinken, mit denen, die Gerechtigkeit fürchten, um emporzuführen alle Armen der Gnade.“ (1 QH V, 20–22)

Die Gebete werden vielfach durch Formen des Verbums „brk“/„berekh“ eingeleitet. Dieses ist aus den Schriften des Alten Testaments übernommen und bedeutet seinem ursprünglichen Wortsinn nach „auf die Knie fallen“.5 Doch im Lauf der Zeit gewann das Wort eine erweiterte Sinngebung, um „Fürbitte tun, segnen … und Gott preisen, rühmen“ zu benennen.6

Hymnischer Klang zeichnet viele der „Loblieder“ in den Texten von Qumran aus, so: „Ich preise dich, Herr! Denn du stützest mich durch deine Kraft, und deinen heiligen Geist hast du auf mich ausgegossen, dass ich nicht wanke. Und du stärkest mich vor den Kämpfen des Frevels, und in all ihrem Verderben hast du (mich) nicht abschrecken lassen von deinem Bund. Du stelltest mich hin wie einen Turm, wie eine hohe Mauer, und gründetest auf Felsen meinen Bau. Und ewige Fundamente dienen mir als Grund, und alle meine Wände zur bewährten Mauer, die nicht erschüttert wird.“ (1 QH VII, 6–9)

In einem anderen Lob- und Danklied, wie es in die Gemeinderegel als Bekenntnis des Beters aufgenommen ist, heißt es: „Auf das, was ewig ist, hat mein Auge geblickt, tiefe Einsicht, die Menschen verborgen ist, Wissen und kluge Gedanken (verborgen) vor den Menschen, eine Quelle der Gerechtigkeit und Hort der Kraft mit der Quelle der Herrlichkeit, (verborgen) vor der Versammlung des Fleisches. Welche Gott erwählt hat, denen hat er sie zu ewigem Besitz gegeben, und Anteil hat er ihnen gegeben am Los der Heiligen, und mit den Söhnen des Himmels hat er ihre Versammlung verbunden zu einem Rat der Gemeinschaft und Kreis des heiligen Gebäudes, zu ewiger Pflanzung für alle künftigen Zeiten. Doch ich gehöre zur ruchlosen Menschheit, zur Menge des frevelnden Fleisches. Meine Sünden, meine Übertretungen, meine Verfehlungen samt der Verderbtheit meines Herzens gehören zur Menge des Gewürms und derer, die in Finsternis wandeln … Ich aber, wenn ich wanke, so sind Gottes Gnadenerweise meine Hilfe auf ewig.“ (1 QS XI, 5–12)

In diesen liedartigen Texten spricht jeweils ein Einzelner aus, wie er vor seinem Gott steht und wofür er ihn zu loben und zu preisen hat. Von diesen beispielhaften Vorgaben sind andere Gebetsworte unterschieden, die zu regelmäßiger Wiederholung und bekennendem Einverständnis der ganzen Gemeinde bestimmt sind. Im Gottesdienst der Synagogengemeinde wurden Worte des Bekenntnisses und Lobpreises vorgetragen, die die Gemeinde mit ihrem zustimmenden „Amen“ aufnahm und sich auf diese Weise zu Eigen machte. Boten die Lektionen aus den heiligen Schriften Zuspruch und Anspruch für alle Gläubigen, so bekannten sich alle miteinander zu dem einen Gott, der Israel erwählt hat, mit Sätzen biblischer Abschnitte aus Dt. 6,4–9; 11,13–21 und Num. 15,37–41.

Schon im Tempelgottesdienst hat das sogenannte Schema seinen festen Platz gehabt. Man wird daher annehmen dürfen, dass das Bekenntnis „Höre Israel, dein Gott ist einer“ schon in vorchristlicher Zeit zusammengestellt worden ist, um es im Gottesdienst, aber auch im täglichen Bekenntnis des einzelnen morgens und abends zu rezitieren.7

 

Neben diesem Brauch, täglich in das Bekenntnis zum einen Gott einzustimmen, kam gleichfalls schon in vorchristlicher Zeit die Regel in Übung, jeden Tag drei feste Gebetszeiten einzuhalten. Dan. 6,11 wird berichtet, dass Daniel am Fenster, das in Richtung auf Jerusalem hin geöffnet war, dreimal am Tag auf seine Knie fiel, um seinen Gott zu loben und ihm zu danken. Diese feste Regel, täglich morgens, mittags und abends Gott zu preisen und ihn um gnädigen Beistand anzurufen, wird gleichfalls schon in vorchristlicher Zeit zur allgemein üblichen Sitte geworden sein.

Hohe Wahrscheinlichkeit spricht dafür, dass auch das sogenannte Achtzehngebet in seinen ältesten Teilen zur Zeit Jesu und der ersten Christen bereits seine mehr oder weniger feste Fassung erhalten hat.8 Nach rabbinischer Überlieferung liegt sein Ursprung weit zurück; doch wird auch berichtet, dass die Worte des Achtzehngebets als beispielhaftes Vorbild des Gebets zu Ende des 1. Jahrhunderts n. Chr. in ihrem endgültigen Wortlaut festgestellt worden sind. Nach den Schrecken des Jüdischen Kriegs und der Zerstörung Jerusalems durch die Römer musste das von Schriftgelehrten geleitete Judentum sich erneut zusammenfinden und für die künftige Gestalt gläubigen Lebens allgemein verbindliche Übereinkunft finden. Hierzu dienten sowohl die Pflicht, sich täglich am Morgen und Abend zum einen Gott zu bekennen, wie auch die Regel, die drei Gebetszeiten mit dem Achtzehngebet einzuhalten. Dieses Gebet fand somit seinen festen Platz sowohl im Gottesdienst der Gemeinde wie auch im Leben jedes einzelnen gläubigen Frommen.

Die 18 Benediktionen wurden zu Ende des 1. Jahrhunderts n. Chr. um eine neunzehnte erweitert, die sogenannte Birkathaminim, die an die zwölfte Stelle des Gebets gesetzt wurde. Obwohl das Gebet durch diese Erweiterung um eine Benediktion vermehrt wurde, blieb es bei der Bezeichnung als „Achtzehngebet“. Dieser Name war mithin bereits so allgemein üblich geworden, dass man ihn beibehielt. Die zusätzliche Benediktion sollte es insbesondere Judenchristen unmöglich machen, am Gottesdienst in den Synagogen teilzunehmen. Denn ein gegen sie gerichtetes Fluchwort konnten sie unmöglich mit „Amen“ beantworten.9 Damit vollzog sich die endgültige Trennung von Synagoge und Kirche.

eS. Schechter101112