Alexander von Humboldt

DARMSTÄDTER AUSGABE

Sieben Bände

Herausgegeben von
Hanno Beck

BAND II/3

Alexander von Humboldt

Die Forschungsreise
in den Tropen Amerikas

Teilband 3

Herausgegeben und
kommentiert von Hanno Beck

in Verbindung mit Wolf-Dieter Grün, Sabine Melzer-Grün,
Detlef Haberland, Paulgünther Kautenburger †, Eva Michels-Schwarz,
Uwe Schwarz und Fabienne Orazie Vallino

 

 

 

 

 

 

 

 

Impressum

Forschungsunternehmen der Humboldt-Gesellschaft, Nr. 40
Mit Förderung der Academia Cosmologica Nova

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-534-19691-3

Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich:
eBook (PDF): 978-3-534-73929-5
eBook (epub): 978-3-534-73930-1

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Inhalt

A. Textteil [Forts.]

Achtes Buch

Kapitel XXIII

Río Negro – Die Grenzen Brasiliens – Casiquiare – Die Gabelteilung des Orinoco

[Von der Konkurrenz Spaniens und Portugals im Zentrum Amazoniens]

[Zur Kenntnisgeschichte des hydrographischen Systems der Gewässer nördlich des Amazonas]

[Zum Charakter des innertropischen Klimas]

[Von tropischen Zugvögeln]

[Zur Geschichte der Jade oder der grünen Steine von Guayana]

[Zur Amazonen-Frage]

[Wichtige erdmagnetische Entdeckungen]

[Über Anthropophagie]

[Zum hydraulischen System des spanischen Guayana. Gabelteilungen]

[Zum Problem der Gabelteilungen von Flüssen und speziell des Casiquiare]

Kapitel XXIV

Oberer Orinoco von Esmeralda bis zum Einfluß des Guaviare – Zweite Durchfahrt der Katarakte von Atures und Maipures – Unterer Orinoco zwischen der Mündung des Río Apure und Angostura [Ciudad Bolívar], der Hauptstadt des spanischen Guayana

[Esmeralda – die abgelegenste Mission am Orinoco]

[Gewinnung des Curare]

[Leben und Ernten der Indianer]

[Beschreibung des Orinoco und des Landes östlich von Esmeralda]

[Indios blancos (weißhäutige Indianer)]

[Indianische Felszeichnungen]

[Nebenflüsse des unteren Orinoco]

[Die Höhle von Ataruipe]

[Über die Erde essenden Otomaken]

[Niopo- und Curupa-Pulver, Tabak und Ameisenzunder]

[Angostura. Krankheit Bonplands]

[Kurze Beschreibung der Provincia de la Guayana]

[Das Gebiet des Orinoco-Unterlaufs von Angostura bis zum Mündungsdelta und den Nebenflüssen]

[Dorado-Problem, Laguna Parima und Orinoco-Quellen]

Neuntes Buch

Kapitel XXV

Llanos del Pao oder östlicher Teil der Ebenen (Steppen) von Venezuela – Missionen der Cariben – Letzter Aufenthalt an den Küsten von Nueva Barcelona, Cumaná und Araya

[Über die Cariben]

[Bemühung um künftige Grundlagen einer genauen Karte: Humboldts Vermessungsmethode]

[Über die Zukunft der Llanos]

[Von den vereinzelten Blöcken in Ebenen]

[Befreiung aus Piratenhand]

Kapitel XXVI

Politischer Zustand der Provinzen Venezuelas – Ausdehnung des Territoriums – Bevölkerung – Naturerzeugnisse – Außenhandel – Verbindungen zwischen den verschiedenen Provinzen der Republik Colombia

[Zur Statistik Colombias]

Zehntes Buch

Kapitel XXVII

Überfahrt von den Küsten Venezuelas nach Havanna – Allgemeine Übersicht der Bevölkerung der Antillen, verglichen mit der Bevölkerung des Neuen Kontinents im Hinblick auf die Verschiedenheit der Rassen, der persönlichen Freiheit, der Sprache und der Religionen

Kapitel XXVIII

Politischer Versuch über die Insel Cuba – Havanna – Hügel von Guanabacoa in ihren geognostischen Verhältnissen – Talebene von Los Güines – Batabanó und Hafen von La Trinidad – Gärten des Königs und der Königin

[Cayman und Krokodil]

Elftes Buch

Kapitel XXIX

Überfahrt von Trinidad auf Cuba nach dem Río Sinú – Cartagena de Indias [Küste des heutigen Columbien] – Schlammvulkane von Turbaco – Kanal von Mahates

[Zur Eigenart von Humboldts Reisebericht]

[Die kleinen Schlammvulkane von Turbaco]

[Zur geognostischen Constitution]

B. Kommentar

Zu dieser Ausgabe des amerikanischen Reiseberichtes

1. Zur Aufgabe

2. Bisherige Ausgaben des amerikanischen Reiseberichtes

3. Zum Charakter der Ausgaben des amerikanischen Reiseberichtes

a) Die ›Relation Historique‹

b) Die beiden Atlanten der ›Relation Historique‹ und ihre Textbände

c) Die Oktav-Ausgabe der ›Relation Historique‹ in 13 Bänden

d) Die einzige vollständige deutsche Übersetzung der ›Relation Historique‹

e) Die verkürzte deutsche Teilübersetzung der ›Relation Historique‹ Hermann Hauffs

f) Die Lieferungsausgabe des Hauffschen Textes

g) Die endgültige Form der Ausgabe Hermann Hauffs und spätere teilweise Bearbeitungen

4. Zur Textgestalt dieses Bandes

5. War Humboldt Historiker auch in seinem Reisebericht und anderen geographischen Werken?

6. Zur Verkennung von Humboldts geographischer Leistung und ihren Folgen auch für die Beurteilung des amerikanischen Reiseberichtes

7. Das Problem der speziellen Vorbereitung Humboldts auf die Tropen Südamerikas

8. Zur Entstehung des amerikanischen Reiseberichtes und den Ursachen seiner Nichtvollendung

9. Zur Erläuterung des amerikanischen Reiseberichtes

a) Voraussetzungen des amerikanischen Reiseberichtes

b) Blick auf die Route und ihre Probleme

c) Zur Erläuterung der beiden Atlanten der ›Relation Historique‹ und ihrer Textbände

10. Zur Wirkungsgeschichte des Reiseberichtes

A Textteil [Forts.]

Achtes Buch

Kapitel XXIII

Río Negro – Die Grenzen Brasiliens – CasiquiareDie Gabelteilung des Orinoco

[Von der Konkurrenz Spaniens und Portugals im Zentrum Amazoniens]

Der Río Negro kann im Vergleich mit dem Amazonenstrom, dem Río de la Plata und dem Orinoco nur ein Strom zweiten Ranges heißen. Sein Besitz ist seit Jahrhunderten der spanischen Regierung überaus wichtig gewesen, weil er einer rivalisierenden Macht, Portugal, einen leichten Weg in die Missionen Guayanas und zur Beunruhigung der südlichen Grenze der Capitanía general von Caracas bietet. Drei Jahrhunderte sind in vergeblichen Territorialstreitigkeiten verflossen. Nach Verschiedenheit der Zeiten und nach dem Grad der Zivilisation stützte man sich bald auf die Autorität des Papstes, bald auf die Hilfe der Astronomie. Weil man überhaupt den Kampf eher zu verlängern als zu beendigen strebte, hat dieser endlose Rechtsstreit einzig der Schiffahrtskunde und der Geographie des Neuen Kontinents Gewinn gebracht. Man erinnert sich, daß die Bullen der Päpste Nicolaus V. und Alexander VI., der Vertrag von Tordesillas und das Bedürfnis, die Demarkationslinie festzusetzen, ein mächtiger Sporn und Antrieb für die Arbeiten zur Lösung des Längenproblems, für die Berichtigung der Ephemeriden und für die Vervollkommnung der Instrumente geworden sind. Als die Verhältnisse von Paraguay und der Besitz der Kolonie del Sacramento den beiden Höfen von Madrid und Lissabon eine wichtige Angelegenheit waren, sandte man Grenzkommissare an den Amazonenstrom und an den Río de la Plata.

Neben müßigen Leuten, die Proteste und Protokolle für die Archive fertigten, fanden sich auch etliche sachkundige Ingenieure, etliche Seeoffiziere, denen das Verfahren zur Aufnahme von Ortsbestimmungen fern der Küsten bekannt war. Das wenige, was wir bis zum Schluß des letzten Jahrhunderts von der astronomischen Geographie des Landesinneren von Amerika gewußt haben, verdankt man diesen achtenswerten und tätigen Männern, den französischen und spanischen Akademikern, welche die Meridianmessung von Quito angestellt haben, und zwei Offizieren [Don José de Espinosa und Don Felipe Bauzá], die von Valparaíso nach Buenos Aires mit der Expedition Malaspinas gekommen sind. Gerne mag man der Vorteile gedenken, welche den Wissenschaften fast zufälligerweise von diesen Grenzkommissionen erwachsen sind, die dem Staat lästig fielen und die von denen, welche sie angeordnet hatten, öfter noch vergessen als wieder aufgelöst wurden.

Wer die Unzuverlässigkeit der amerikanischen Landkarten kennt und wer das nicht angebaute Land zwischen dem Japurá und dem Río Negro, dem Madeira und dem Ucayali, dem Río Branco und den Küsten von Cayenne in der Nähe gesehen hat, worüber in Europa bis auf unsere Zeit ernsthaft gestritten wurde, der kann sich über die Beharrlichkeit des Rechtens um den Besitz einiger Quadratlieues Land nicht genug wundern. Von dem angebauten Teil der Kolonie ist das strittige Land überhaupt durch Wüsten, deren Umfang man nicht kennt, getrennt. In den berühmten Konferenzen von Puente de Caya [vom 4. Nov. 1681 bis zum 22. Jan. 1682] wurde die Frage aufgeworfen, ob der Papst bei Bestimmung der Demarkationslinie bei 370 spanischen lieues westlich der Kap Verden verlangt habe, der erste Meridian solle vom Mittelpunkt der Insel St. Nicolaus [São Nicolão] oder (wie der Hof von Lissabon behauptete) vom westlichen Ende der kleinen Insel San Antonio [São Antão] gezählt werden. 1754, zur Zeit der Expedition von Ituriaga und Solano, unterhandelte man über den Besitz der damals öden Gestade des Tuamini und über ein Stück Sumpfland, das wir an einem Abend, um von Javita zum Caño Pimichín zu gelangen, durchwandert haben. Jüngst noch wollten die spanischen Kommissare die Scheidungslinie an die Einmündung des Apoporis in den Japurá setzen, wogegen die portugiesischen Astronomen sie bis zum Salto Grande zurückzuschieben verlangten. Die Missionare und das Publikum überhaupt zeigen viel Teilnahme an diesen Territorialfehden. In den spanischen wie in den portugiesischen Kolonien wird die Regierung der Sorglosigkeit und Lässigkeit beschuldigt. Überall, wo die Völker keine auf Freiheit gegründeten Institutionen haben, wird der Gemeingeist nur dann rege, wenn es sich um Ausdehnung oder Verengung der Landesgrenzen handelt.

Der Río Negro und der Japurá sind zwei Zuflüsse des Amazonenstroms, die an Länge der Donau gleichen und deren Oberläufe den Spaniern gehören, während die unteren Teile im Besitz der Portugiesen sind. An diesen zwei majestätischen Strömen hat die Bevölkerung sich dort vermehrt, wo sie dem Mittelpunkt der ältesten Zivilisation am nächsten ist. Die Ufer des oberen Japurá oder Caquetá sind durch Missionen angebaut worden, welche von den Cordilleren von Popayán und Neiva hinabgekommen waren. Von Mocoa bis zur Einmündung des Caguán finden sich die christlichen Niederlassungen sehr zahlreich, wogegen vom unteren Japurá die Portugiesen kaum Dörfer angelegt haben. Am Río Negro aber konnten die Spanier nicht als Konkurrenten ihrer Nachbarn auftreten. Wer möchte sich auf eine so entfernte Bevölkerung stützen wie die der Provinz von Caracas? Durch fast völlig öde Steppen und Wälder und auf 160 lieues Entfernung ist der angebaute Teil des Küstenlandes von den vier Missionen von Maroa, Tomo, Davipe und San Carlos, den einzigen, welche die spanischen Franziskanermönche längs des Río Negro anzulegen vermocht haben, getrennt. Bei den brasilianischen Portugiesen behielt das Militärregime, das System der Presidios [Zuchthäuser; hier = Ort, an dem Zwangsarbeiter wirken] und der Capitanes pobladores, das Übergewicht vor dem der Missionare. Gran Pará liegt allerdings in weiter Entfernung von der Mündung des Río Negro; aber die bequeme Fahrt auf dem Amazonenstrom, der sich wie ein unabsehbarer Kanal in gerader Richtung von Westen nach Osten ausdehnt, hat der portugiesischen Bevölkerung ermöglicht, sich schnell diesem Strom entlang auszubreiten. Die Ufer des unteren Marañón von Vistoza bis Serpa sowie die Ufer des Río Negro von Forte da Bara bis São José da Marabitanas sind durch reichen Anbau verschönert und mit vielen Städten und ansehnlichen Marktflecken besetzt.

Diese lokalen Betrachtungen stehen mit anderen, welche die moralischen Verhältnisse dieser Völkerschaften betreffen, in Verbindung. Die Nordwestküste von Amerika hat bis dahin außer den russischen und spanischen Kolonien noch keine anderweitigen festen Niederlassungen. Bevor die Einwohner der Vereinigten Staaten in ihrer fortschreitenden Bewegung von Ost nach West das Küstenland erreichten, welches lange Zeit zwischen dem 41. und 50. Breitengrad die kastilianischen Mönche von den sibirischen Jägern getrennt hatte, haben diese sich südwärts des Río Columbia angesiedelt. So waren in Neu-Californien die Franziskaner-Missionare, Männer von rühmlichen Sitten und landwirtschaftlicher Betriebsamkeit, nicht wenig erstaunt, zu vernehmen, daß griechische Priester in ihrer Nähe eingetroffen und daß zwei das östliche und das westliche Ende von Europa bewohnende Nationen auf einer China gegenüberliegenden Küste Amerikas Grenznachbarn geworden seien. Andere Verhältnisse haben sich in Guayana dargestellt: Die Spanier sind hier an ihren Grenzen wieder denselben Portugiesen begegnet, mit denen sie, durch Sprache und Munizipaleinrichtungen verwandt, einen der edelsten Überreste des römischen Europa bilden, die aber ein aus ungleicher Kraft und allzugroßer Nähe entstandenes Mißtrauen in eine öfters feindselige und allzeit nebenbuhlerische Macht verwandelt hat. Wer von den Küsten Venezuelas (wo wie in Havanna und den übrigen Antillen die Handelspolitk Europas ein Gegenstand des täglichen Gesprächs ist) südwärts reist, der fühlt sich mit jedem Tag mit wachsender Geschwindigkeit allem, was an das Mutterland erinnern kann, entrückt. Inmitten der Steppen oder Llanos, in diesen mit Ochsenfellen bedeckten und von wilden Herden umgebenen Hütten, ist nur die Rede von der Pflege des Viehs, von der den Weiden nachteiligen Trockenheit des Klimas, von dem Schaden, welchen die Fledermäuse unter den Kälbern und Füllen anrichten. Gelangt man auf dem Orinoco in die Missionen der Wälder, findet man hier die Aufmerksamkeit der Einwohner auf andere Gegenstände gerichtet, auf den unsteten Sinn der Indianer, welche aus den Dörfern ausreißen, auf die mehr oder minder reiche Ernte der Schildkröteneier, auf die Beschwerden des heißen und ungesunden Klimas. Wofern die Stiche der Moskitos den Mönchen an etwas anderes zu denken erlauben, kommen leise Klagen über den Vorsteher der Missionen zum Vorschein und Seufzer über die Verblendung derer, die im nächsten Kapitel den guardián des Klosters von Nueva Barcelona in seinem Amt bestätigen wollen. Alles hat hier ein lokales Interesse, und dieses bezieht sich ausschließlich, wie die Ordensmänner sagen, auf die Angelegenheiten der Gemeinde, „auf diese Wälder, estas selvas, welche Gott uns zur Wohnung angewiesen hat“. Dieser etwas lange und ziemlich traurige Ideenkreis erweitert sich, wenn man den oberen Orinoco mit dem Río Negro vertauscht und sich der Grenze Brasiliens nähert. Hier scheint der Dämon europäischer Politik alle Gemüter zu beherrschen. Das Nachbarland, welches sich über den Amazonenstrom ausdehnt, heißt in der Sprache der spanischen Missionen weder Brasilien noch Capitanía general von Gran Pará, sondern Portugal; die kupferfarbigen Indianer, die halbschwarzen Mulatten, die ich von Barcelos ins spanische Fortín San Carlos ziehen sah, heißen Portugiesen. Diese Namen sind volksüblich bis an die Küsten von Cumaná; und man versäumt nicht, den Reisenden behaglich zu erzählen, welche Wirkung sie zur Zeit der Grenzexpedition von Solano auf einen aus den Bergen von Bierzo abstammenden Befehlshaber von Vieja Guayana gehabt hatten. Der alte Krieger beschwerte sich, daß er die Reise an den Orinoco habe übers Meer machen müssen. „Wenn wirklich“, sagte er, „wie mir dies hier versichert wird, diese weitläufige Provinz des spanischen Guayana sich bis nach Portugal (zu den Portugueses) erstreckt, warum ließ mich der Hof in Cádiz einschiffen? Ich würde recht gern einige lieues weiter zu Land gereist sein.“ Dieser Ausdruck naiver Unwissenheit erinnert an eine seltsame Meinung des Kardinals Lorenzana. Dieser in der Geschichte übrigens nicht unbewanderte Prälat sagt in einem vor kurzem in Mexico gedruckten Werk, die Besitzungen des Königs von Spanien in Neu-Californien und in Neu-Mexico (ihr nördliches Ende liegt unter 37° 48′ der Breite) grenzten landwärts an Sibiren.

Wenn zwei Völker, deren Besitzungen in Europa aneinandergrenzen, die Spanier und die Portugiesen, in Amerika gleichfalls Nachbarn geworden sind, so ist dieses Verhältnis, um nicht zu sagen, dieser Nachteil, eine Wirkung des unternehmenden Geistes und der kühnen Tätigkeit, die das eine und das andere zur Zeit ihres kriegerischen Ruhms und ihrer politischen Größe entwickelt haben. Die kastilianische Sprache wird heutzutage in beiden Amerika in einer Ausdehnung von mehr als 1900 lieues angetroffen; wenn jedoch das südliche Amerika allein ins Auge gefaßt wird, findet sich die portugiesische Sprache hier auf ausgedehnterem Landesgebiet von einer kleineren Menschenzahl gesprochen als die kastilianische. Das Band, welches die schönen Mundarten von Luis de Camões und Lope de Vega innig verbindet, hat hier, möchte man sagen, nur gedient, die Völker, welche unfreiwillige Nachbarn geworden waren, noch mehr voneinander zu trennen. Der Nationalhaß gestaltet sich nicht allein nach Verschiedenheiten der Herkunft, der Sitten und der Fortschritte in der Kultur: Überall, wo er kräftig ausgebildet ist, muß er als eine Wirkung der geographischen Lage und der sich daraus ergebenden widersprüchlichen Interessen angesehen werden. Man verabscheut einander etwas weniger, wenn man weiter voneinander entfernt lebt und bei radikal verschiedenen Sprachen auch nicht einmal versucht ist, miteinander in Berührung zu treten. Die Reisenden durch Neu-Californien, durch die inneren Provinzen von Mexico und die nördlichen Grenzländer Brasiliens haben diese Schattierungen in den sittlichen Anlagen der Nachbarvölker auffällig gefunden.

Zur Zeit meines Aufenthalts am spanischen Río Negro fand sich infolge der divergierenden Politik der zwei Höfe von Lissabon und Madrid das Mißtrauen gesteigert, welches die kleinen Befehlshaber der benachbarten Forts auch in den ruhigsten Zeiten zu unterhalten bestrebt sind. Die Kanus fuhren von Barcelos bis zu den spanischen Missionen herauf; aber es waren nur seltene Verbindungen. Der Befehlshaber einer Truppe von 16 oder 18 Mann quälte „die Garnison“ mit Sicherheitsmaßnahmen, welche „die schwierigen Umstände“ erforderlich machten; er hoffte, im Fall eines Angriffes, „den Feind einzuschließen“. Wenn wir von der Gleichgültigkeit sprachen, womit die portugiesische Regierung in Europa wahrscheinlich die vier kleinen Dörfer betrachte, welche von den Franziskanermönchen am oberen Guainía errichtet wurden, fanden sich die Einwohner eben dadurch beleidigt, womit wir sie zu beruhigen gehofft hatten. Völkern, welche seit Jahrhunderten die Lebhaftigkeit ihres Nationalhasses beibehalten, kommt jede Gelegenheit, diesen zu nähren, erwünscht. Man findet Vergnügen in allem, was leidenschaftlich ist; im Bewußtsein kräftiger Gefühle, wie der Liebe so auch dem von veralteten Vorurteilen ausgehenden gehässigen Neid. Jede Individualität der Völker ist vom Mutterland in die entferntsten Kolonien herübergekommen, und die Nationalantipathie findet ihre Grenze auch da nicht, wo der Einfluß gleicher Sprachen aufhört. Wir wissen aus der anziehenden Erzählung in Krusensterns Reise, daß der Haß zweier flüchtiger Matrosen, eines Franzosen und eines Engländers, die Ursache eines langen Krieges zwischen den Bewohnern der Marquesas-Inseln geworden ist. Die Indianer der benachbarten portugiesischen und spanischen Dörfer am Amazonenstrom und am Río Negro hassen einander tödlich. Es sind amerikanische Sprachen, die diese armen Leute reden, und was am anderen Ufer des Ozeans, jenseits der großen salzigen Lache vorgeht, ist ihnen völlig unbekannt; aber die Kutten ihrer Missionare sind von anderer Farbe, und dies ärgert sie im höchsten Grad.

[Zur Kenntnisgeschichte des hydrographischen Systems der Gewässer nördlich des Amazonas]

Ich bin bei der Schilderung des Nationalhasses verweilt, den kluge Administratoren zu mildern gesucht haben, ohne ihn völlig dämpfen zu können. Diese Eifersucht hat nachteiligen Einfluß auf die geographischen Kenntnisse gehabt, welche wir uns bisher über die sich in den Amazonenstrom ergießenden Flüsse verschaffen konnten. Wenn die Verbindungen zwischen den Eingeborenen gehemmt sind und das eine Volk nahe an der Mündung, das andere am Oberlauf desselben Flusses angesiedelt ist, so fällt es denen, die genaue Karten aufnehmen wollen, schwer, zuverlässige Angaben zu erhalten. Die periodischen Überschwemmungen und besonders die Portagen, wodurch die Schiffe aus einem Fluß in den anderen, dessen Quellen nicht weit entfernt liegen, hinübergetragen werden, können Gabelteilungen und Zwischenarme der Flüsse vermuten lassen, die in der Tat nicht vorhanden sind. Die Indianer der portugiesischen Missionen zum Beispiel gelangen (wie ich an Ort und Stelle erfuhr) einerseits durch den Río Guaicia [so wird in San Carlos de Río Negro der im nahen portugiesischem Gebiet fließende Río Xié genannt] und den Río Tomo in den spanischen Río Negro, andererseits über die Portagen zwischen dem Cababuri, dem Pasimoni, dem Idapa und dem Mavaca in den oberen Orinoco, um hinter Esmeralda die aromatischen Beeren des Pucherylorbeers zu sammeln. Die Eingeborenen sind, ich wiederhole es, vortreffliche Geographen: Sie umgehen den Feind trotz der auf den Karten bezeichneten Grenzen, trotz der Fortíns und der Destacamentos [Militärposten]; und wenn die Missionare sie von ferne her und in verschiedenen Jahreszeiten eintreffen sehen, beginnen sie Hypothesen über angebliche Verbindungen der Flüsse aufzustellen. Jede Partei hat einige Gründe, um das geheimzuhalten, was sie zuverlässig weiß; und der Hang für alles, was geheimnisvoll ist, diese bei ungebildeten Menschen so verbreitete und starke Neigung, hilft die Ungewißheit unterhalten. Dazu kommt noch, daß die verschiedenen indianischen Völker, welche dieses Labyrinth von Flüssen besuchen, ihnen ganz abweichende Namen geben, die durch Endungen maskiert oder verlängert sind, deren Bedeutung „Wasser, großes Wasser, Strömung“ ist. Wie oft hat mich die Notwendigkeit, die Synonymie der Flüsse zu bestimmen, in Verlegenheit gesetzt, wenn ich die verständigsten Eingeborenen rufen ließ, um sie von einem Dolmetscher über die Zahl der Zuflüsse, über die Quellen und die Portagen befragen zu lassen! Weil drei und vier Sprachen in der Mission geredet werden, fällt es schwer, die Zeugen in Einklang zu bringen. Unsere Karten wimmeln von willkürlich verkürzten oder verstümmelten Namen. Um, was richtig darin sein mag, zu würdigen, muß man sich durch die geographische Lage der Zuflüsse (ich möchte fast sagen, durch einen gewissen etymologischen Takt) leiten lassen. Der Río Uaupés oder Uapes der portugiesischen ist der Guapué der spanischen Karten und der Ucayari der Eingeborenen. Der Anava der alten Geographen ist Arrowsmiths Anauahu und der Uanauhau oder Guanauhu der Indianer. Das Bestreben, keine Lücken auf den Karten zu lassen, um ihnen ein genaues Aussehen zu verschaffen, hat Flüsse erzeugt, denen Namen erteilt wurden, die nur Synonyma von anderen waren. In der neuesten Zeit erst haben die Reisenden in Amerika, in Persien und Indien die Wichtigkeit genauer Ortsbenennungen eingesehen. Nur mit Mühe kann man beim Lesen der Reise des berühmten Raleigh im See von Mrecabo den Maracaibo-See und im Marquis Paraco den Namen Pizarros, des Zerstörers des Inca-Reiches, erkennen.

Die großen Zuflüsse des Amazonenstroms führen selbst bei den Missionaren europäischer Herkunft an ihrem Ober- und Unterlauf verschiedene Namen. Die in den Missionen der Andaquies gehaltenen Nachfragen über den eigentlichen Ursprung des Río Negro sind vollends ohne Erfolg geblieben, weil man den indianischen Namen des Flusses nicht kannte. In Javita, in Maroa und in San Carlos hörte ich ihn Guainía nennen. Der gelehrte Historiker Brasiliens, Herr Southey, den ich überall sehr genau fand, wo ich seine geographischen Angaben mit den auf meinen Reisen gesammelten vergleichen konnte, sagt ausdrücklich, der Río Negro werde im Unterlauf von den Eingeborenen Guaiari oder Curana, im Oberlauf Ueneya genannt. Es ist dies das Wort Gueneya statt Guainía; denn die Indianer dieser Landschaften sagen ohne Unterschied Guaranacua oder Ouaranacua, Guarapo und Uarapo. Aus diesem letzteren Namen haben Hondius und alle alten Geographen infolge eines drolligen Mißverständnisses ihren Europa fluvius gebildet.

Hier ist der Ort, von den Quellen des Río Negro zu sprechen, welche seit längerem unter den Geographen strittig gewesen sind. Das Interesse an dieser Frage betrifft nicht nur den Ursprung aller großen Ströme; sie steht auch im Zusammenhang mit vielen anderen Fragen, über die angeblichen Bifurkationen des Caquetá, über die Verbindungen des Río Negro mit dem Orinoco und über die lokale Mythe vom Dorado, vormals Enim oder das Reich von Groß-Paytiti genannt. Das Studium der alten Karten dieser Landschaften und der Geschichte geographischer Irrtümer zeigt, wie nach und nach zugleich mit den Quellen des Orinoco die Dorado-Mythe nach Osten verpflanzt wurde. Von ihrem Ursprung am östlichen Abhang der Anden ausgehend, hatte sie sich anfangs, wie ich an anderer Stelle dartun werde, südwestwärts des Río Negro angesiedelt. Der tapfere Felipe de Urre [Philipp v. Hutten] suchte die große Stadt Manoa jenseits des Guaviare. Heutzutage noch erzählen die Indianer von São José de Marabitanas, mit nordwestlicher Schiffahrt auf dem Guapué oder Uaupés gelange man zu einer berühmten Laguna de oro, die von Bergen eingefaßt und so groß sei, daß man das jenseitige Ufer nicht sehen könne. Ein wildes Volk, die Guanes, gestattet nicht, das Gold im Sandufer des Sees zu sammeln. Der Pater Acuña verlegt den Manoa- oder Yenefiti-See zwischen den Japurá und den Río Negro. Von Manaos-Indianern (aus dem Wort Manoa, durch Verschiebung der Selbstlaute, die bei sehr vielen amerikanischen Nationen gewöhnlich ist) erhielt der Pater Fritz im Jahre 1687 zahlreiche Platten von geschlagenem Gold. Diese Nation, deren Namen noch gegenwärtig an den Gestaden des Urarira, zwischen Lamalonga und Moreira, bekannt ist, wohnte am Jurubesh (Yurnbech, Yurubets). Herr de La Condamine sagt vollkommen richtig, dieses Mesopotamien sei zwischen dem Caquetá, dem Río Negro, dem Jurubesh und dem Iquiare erster Schauplatz des Dorado. Wo soll man aber die Namen Jurubesh und Iquiare des Pater Acuña und des Pater Fritz suchen? Ich glaube, sie in den Flüssen Urubaxi und Iguari der portugiesischen Manuskriptkarten wiedererkannt zu haben, die ich besitze und die im Hydrographischen Depot von Rio de Janeiro entworfen worden sind. Ich habe seit einer langen Reihe von Jahren die Geographie des südlichen Amerika nördlich des Amazonenstroms, nach den ältesten Karten und mit Hilfe vieler ungedruckter Materialien, sorgfältig erforscht. Weil diese Reisebeschreibung den Charakter eines wissenschaftlichen Werks behalten soll, darf ich keinen Anstand nehmen, Gegenstände darin zu behandeln, über die ich einige Aufschlüsse liefern zu können hoffe [Hervorhebung vom Hrsg.]: die Quellen des Río Negro und des Orinoco nämlich, die Verbindung der zwei letzteren Flüsse mit dem Amazonenstrom und das Problem des Goldlandes, das die Bewohner der Neuen Welt so viel Blut und Tränen gekostet hat. Ich werde diese verschiedenen Aufgaben behandeln, sobald meine Reisetagebücher mich an die Orte führen, deren Einwohner sie selbst am lebhaftesten erörtern. Um jedoch kleinliche Einzelheiten, die als Belege meiner Angaben dienen, zu vermeiden, werde ich mich hier auf Darstellung der Hauptergebnisse beschränken und die ausführlicheren Darlegungen der Analyse der Karten dem ›Essai sur la géographie astronomique du Nouveau Continent‹ [›Examen critique‹, der die Analyse des ›Atlas géographique et physique du Nouveau Continent‹ ist] vorbehalten.

Diese Untersuchungen führen zu dem allgemeinen Schluß, daß die Natur in der Verteilung der auf der Oberfläche der Erde zirkulierenden Gewässer ebenso wie in der Bildung der organischen Körper einen ungleich weniger verwickelten Plan verfolgt hat, als man zu glauben versucht ist, wenn man sich nur durch schwankende Ansichten und die Neigung zum Wunderbaren leiten läßt. Man gelangt auch zu der Überzeugung, daß all diese Anomalien, all diese Ausnahmen von hydrographischen Gesetzen, die das Binnenland von Amerika aufweist, in der Tat nur scheinbar sind; daß der Lauf der fließenden Wasser in der Alten Welt gleich merkwürdige Erscheinungen darbietet, daß diese aber ihrer Kleinheit wegen die Aufmerksamkeit der Reisenden weniger anregen. Wenn unermeßliche Ströme als zusammengesetzt aus verschiedenen, einander parallellaufenden, aber ungleich tiefen Furchen angesehen werden können; wenn diese Ströme nicht in Tälern eingefaßt sind; und wenn das Innere eines großen Kontinents ebenso flach ist wie bei uns der Meeresstrand: dann müssen sich wohl die Verästelungen, die Gabelteilungen und die netzförmigen Verzweigungen ins Unendliche vervielfältigen. Demzufolge, was wir vom Gleichgewicht der Meere wissen, kann ich nicht glauben, daß die Neue Welt später als die Alte aus dem Meeresgrund erstanden und daß das organische Leben darin jünger oder neueren Ursprungs sein sollte; demnach läßt sich, ohne Gegensätze zwischen beiden Halbkugeln ein und desselben Planeten zuzugeben, begreifen, daß in der, welche eine größere Wassermenge besitzt, die verschiedenen Flußsysteme, um sich voneinander zu sondern und ihre gegenseitige Unabhängigkeit festzusetzen, mehr Zeit gebraucht haben. Die Anspülungen, welche sich überall bilden, wo die Schnelligkeit des laufenden Wassers sich mindert, tragen unstreitig dazu bei, die großen Strombetten zu erhöhen und die Überschwemmungen zu vermehren; auf die Dauer aber werden durch diese Überschwemmungen die Flußarme und die schmalen Kanäle, welche benachbarte Flüsse vereinigen, gänzlich angefüllt und verstopft. Die vom Regenwasser herbeigeschwemmten Materien bilden durch ihre Anhäufungen neue Schwellen, Isthmen angeschwemmten Landes, Wasserscheiden, die zuvor nicht vorhanden waren. Daraus ergibt sich, daß die natürlichen Verbindungskanäle sich nach und nach in zwei Zuflüsse teilen und daß diese infolge einer querlaufenden Erhöhung zwei entgegengesetzte Abhänge erhalten. Ein Teil ihrer Gewässer wird gegen den Hauptwasserbehälter zurückgetrieben, und zwischen zwei parallelen Betten erhebt sich eine Böschung, durch die zuletzt jede Spur der früheren Verbindung verschwindet. In Gabelteilungen findet nun die Vereinigung verschiedener Flußsysteme weiter nicht statt; da, wo Bifurkationen in der Zeit der großen Überschwemmungen fortdauern, sieht man, wie die Gewässer sich vom Hauptwasserbehälter nur entfernen, um nach kürzeren oder längeren Umwegen wieder in ihn zurückzukehren. Grenzen, welche anfangs schwankend und unsicher erschienen, fangen an, bestimmter zu werden; und im Lauf der Jahrhunderte, durch die Wirkung alles dessen, was auf der Oberfläche des Erdballs beweglich ist, durch die der Gewässer, der Anschwemmungen und Versandungen, trennen sich die Flußbetten, wie sich die großen Seen abteilen und wie die Binnenmeere ihre vormaligen Verbindungen verlieren.

Die Gewißheit, welche die Geographen schon im 16. Jahrhundert über das Dasein mehrerer Gabelteilungen und über die gegenseitige Abhängigkeit verschiedener Flußsysteme im südlichen Amerika erhalten hatten, verleitete sie, eine genaue Verbindung zwischen den fünf großen Zuflüssen des Orinoco und des Amazonenstroms – dem Guaviare, dem Inírida, dem Río Negro, dem Caquetá oder Hyapurá [Japurá] und dem Putumayo oder Iça – anzunehmen. Diese Hypothesen, die sich auf unseren Landkarten verschiedenartig dargestellt finden, sind teils von den Missionen der Ebenen, teils vom Rücken der Anden ausgegangen. Wer die Reise von Santa Fé de Bogotá durch Fusagasuga nach Popayán und Pasto macht, hört von den Bergbewohnern, daß aus dem Páramo de la Suma Paz (Páramo des ewigen Friedens), von Iscancé und von Aponte, auf ihrem östlichen Abhang, alle Flüsse entspringen, welche zwischen dem Meta und dem Putumayo durch die Wälder von Guayana ihren Lauf nehmen. Weil man die Zuflüsse für den Hauptstamm nimmt und den Lauf aller Flüsse bis an die Bergkette verlängert, verwechselt man dort die Quellen des Orinoco, des Río Negro und des Guaviare. Der äußerst schwierige Abstieg am steilen Abhang der Ostseite der Anden, die von engherziger Politik herrührenden Hemmungen des Verkehrs mit den Llanos des Meta, von San Juan und von Caguán, das geringe Interesse, welches die Bereisung der Flüsse zur Erforschung ihrer Verästlungen findet, sind alles Umstände, welche die geographischen Ungewißheiten vermehren helfen. Zur Zeit meines Aufenthalts in Santa Fé de Bogotá war kaum noch der Weg bekannt, welcher durch die Dörfer Usme, Ubaque oder Caqueza nach Apiay und zum Landeplatz des Río Meta führt. Erst kürzlich bin ich imstand gewesen, die Karte dieses Flusses mittels des Reisetagebuchs des Kanonikus Cortés Madariaga und mittels der während des Unabhängigkeitskrieges von Venezuela erhaltenen Angaben zu berichtigen.

Nachstehendes ist, was wir zuverlässig über die Lage der Quellen am Fuß der Cordilleren zwischen 4° 20′ und 1° 10′ nördlicher Breite wissen. Hinter dem Páramo de la Suma Paz, den ich von Pandi her aufnehmen konnte, entspringt der Río de Aguas Blancas, welcher mit dem Pachaquiaro oder Río Negro von Apiay den Meta bildet; mehr südwärts kommt der Río Ariari, welcher einer der Zuflüsse des Guaviare ist, dessen Mündung ich bei San Fernando del Atabapo gesehen habe. Verfolgt man den Rücken der Cordillere gegen Ceja und den Páramo de Aponte, findet man den Río Guayavero, der nahe beim Dorf Aramo vorbeifließt und sich mit dem Ariari vereinigt; unterhalb dieses Zusammenflusses nehmen die zwei Ströme den Namen Guaviare an. Südwestlich vom Páramo von Aponte entspringt am Fuß des Gebirges, in der Nähe von Santa Rosa, der Río Caquetá, auf der Cordillere selbst aber der in der Geschichte der conquista berühmte Río de Mocoa. Diese zwei Ströme, die sich etwas oberhalb der Mission San Agustín von Nieta vereinigen, bilden den Jupurá oder Caquetá. Die Quellen des Río de Mocoa werden durch den Cerro del Portachuelo, einen Berg, der sich auf dem Plateau der Cordilleren erhebt, von dem See (Ciénega) von Sebendoy getrennt, welcher der Ursprung des Río Putumayo oder Iça ist. Der Meta, der Guaviare, der Caquetá und der Putumayo sind demnach die einzigen großen Ströme, welche unmittelbar am östlichen Abhang der Anden von Santa Fé, von Popayán und von Pasto entspringen. Der Vichada, der Zama, der Inírida, der Río Negro, der Uaupés und der Apoporis, die auf unseren Karten gleichfalls westwärts bis zu den Bergen führen, haben ihren Ursprung entfernt von diesen teils in den Savannen zwischen dem Meta und dem Guaviare, teils in dem Gebirgsland, das nach den Angaben, die wir von den Eingeborenen erhielten, in der Entfernung von vier bis fünf Tagesreisen westwärts der Missionen von Javita und von Maroa seinen Anfang nimmt und sich durch die Sierra Tunuhy über den Xié hin gegen die Gestade des Issana dehnt.

Es ist allerdings bemerkenswert genug, daß dieser Cordillerenkamm, welcher die Quellen so vieler majestätischer Flüsse – des Meta, des Guaviare, des Caquetá und des Putumayo – birgt, ebensowenig mit Schnee bedeckt ist wie die Berge Abessiniens, von denen herab der Blaue Nil kommt; hingegen gelangt man, wenn man die Flüsse, welche die Ebenen durchschneiden, hinaufgeht, ehe man die Cordilleren der Anden berührt, zu einem noch wirklich tätigen Vulkan. Diese Erscheinung ist vor kurzem erst durch die Franziskanerordensmänner, welche von Ceja auf dem Río Fragua zum Caquetá hinabfahren, gemacht worden. Ein einzeln stehender Hügel, der Tag und Nacht raucht, steht nordöstlich von der Mission Santa Rosa, westlich vom Puerto del Pescado. Es ist das Ergebnis einer Seitenwirkung der Vulkane von Popayán und von Pasto, wie der Guacamayo und der Sangay, welche gleichfalls am Fuß des östlichen Abhangs der Anden liegen, das Ergebnis einer Seitenwirkung des Systems der Vulkane von Quito sind. Wenn man die Gestade des Orinoco und des Río Negro, wo der Granitfels überall zutage tritt, aus der Nähe gesehen hat, wenn man das gänzliche Nichtvorhandensein vulkanischer Öffnungen in Brasilien, in Guayana, auf dem Küstenland von Venezuela und vielleicht auf der ganzen Abteilung des Festlandes ostwärts der Anden bedenkt, gewinnt die Ansicht der drei tätigen Vulkane in der Nähe der Quellen des Caquetá, des Napo und des Río de Macas oder Morona dadurch ein eigentümliches Interesse.

Obgleich die imposante Größe des Río Negro schon Orellana beeindruckte, der ihn 1539 bei seiner Vereinigung mit dem Amazonenstrom gesehen hat, undas nigras spargens, so wurde doch erst ein Jahrhundert später sein Ursprung von den Geographen am Abhang der Cordilleren gesucht. Die Reise Acuñas ist die Veranlassung von Hypothesen geworden, die sich bis auf unsere Zeit fortgepflanzt haben und durch die Herren de La Condamine und d’Anville über die Maßen verbreitet worden sind. Acuña hatte 1638 an der Mündung des Río Negro vernommen, daß dessen Arm mit einem anderen großen Strom, an welchem die Holländer angesiedelt waren, zusammenhinge. Herr Southey bemerkt hierzu scharfsinnig, diese in so ungemein großer Entfernung von den Küsten empfangene Nachricht beweise, wie mannigfach und emsig zu jener Zeit der Verkehr der wilden Völker dieser Gegenden (vorzüglich unter denen vom Cariben-Stamm) gewesen sein müsse. Es bleibt zweifelhaft, ob die von Acuña befragten Indianer die Verbindung des Orinoco mit dem Río Negro durch den Casiquiare, einen natürlichen Kanal, welchen ich von San Carlos bis Esmeralda hinaufgefahren bin, gemeint haben oder ob sie nur unbestimmt von den Portagen sprechen wollten, die zwischen den Quellen des Río Branco und des Río Essequibo bestehen. Acuña selbst war nicht der Meinung, daß der große Strom, dessen Mündung die Holländer im Besitz hatten, der Orinoco sei; er ahnte eine Verbindung mit dem Río San Felipe, welcher westlich vom Kap Nord mündet und auf dem seiner Meinung nach der Tyrann Lope de Aguirre seine lange Flußfahrt beendigt hatte. Diese letztere Vermutung scheint mir sehr gewagt, obgleich, wie schon oben bemerkt wurde, der Tyrann in seinem ungereimten Brief an König Philipp II. selbst gesteht, er begreife nicht, wie er und die Seinen aus einer solchen Wassermasse sich retten konnten.

Bis zur Reise Acuñas und bis zu den schwankenden Angaben, welche er sich über Verbindungen mit einem anderen großen Fluß nordwärts des Amazonenstroms verschafft hatte, wurde der Orinoco von den unterrichtetsten Missionaren für eine Fortsetzung des Caquetá (Kaqueta, Caketa) gehalten. „Dieser Fluß“, sagt Fray Pedro Simón im Jahre 1625, „entspringt am östlichen Abhang des Páramo von Iscancé. Er nimmt den Papamene auf, welcher von den Anden von Neiva herkommt, und heißt nacheinander Río Iscancé, Tama (wegen der angrenzenden Landschaft der Tama-Indianer), Guayare, Baraguán und Orinoco. “ Die Lage des Páramo von Iscancé, einem hohen pyramidalischen Gipfel, den ich vom Plateau von Mamendoy und von den schönen Ufern des Mayo aus gesehen habe, bezeichnet in dieser Beschreibung den Caquetá. Der Río Papamene ist der Río de la Fragua, welcher mit dem Río de Mocoa einen der Hauptarme des Caquetá bildet. Wir kennen ihn aus den ritterlichen Reisen Georgs von Speier und Philipps von Hutten. Diese zwei Kriegsmänner mußten über den Ariari und den Guayavero setzen, um die Gestade des Papamene zu erreichen. Die Tama-Indianer sind noch heutzutage am nördlichen Gestade des Caquetá eine der verbreitetsten Völkerschaften. Darum darf man sich nicht wundern, daß dieser Strom nach Fray Pedro Simóns Angabe den Namen des Río Tama erhalten hat. Weil die Quellen der Zuflüsse des Caquetá den Zuflüssen des Guaviare sehr nahe liegen und dieser einer der großen, sich in den Orinoco ergießenden Ströme ist, so verfiel man schon zu Anfang des 17. Jahrhunderts in den Irrtum, den Caquetá (Río de Iscancé und Papamene), den Guaviare (Guayare) und den Orinoco für denselben Fluß zu halten. Niemand war den Caquetá zum Amazonenstrom hinabgefahren, um sich zu überzeugen, daß der Fluß, welcher weiter unten Japurá heißt, mit dem Caquetá identisch ist. Eine noch heutzutage unter den Bewohnern dieser Landschaften fortlebende Überlieferung, nach welcher ein Arm des Caquetá unterhalb des Zusammenflusses des Caguán und des Payoya zum Inírida und zum Río Negro geht, hat ohne Zweifel beigetragen, die Meinung zu beglaubigen, derzufolge der Orinoco an der Rückseite der Berge von Pasto entspringt.

Wir haben gesehen, daß in Neu-Granada die Meinung herrschte, die Wasser des Caquetá wie die des Ariari, des Meta und des Apure flössen dem großen Becken des Orinoco zu. Wenn man der Richtung dieser Zuflüsse mehr Aufmerksamkeit geschenkt hätte, würde man gemerkt haben, daß es trotz der allgemeinen östlichen Abdachung des Terrains in den Polyedern des Bodens, aus dem die Ebenen bestehen, nordöstliche und südöstliche Hänge zweiter Ordnung gibt. Ein fast unmerklicher Kamm oder eine Wasserscheide dehnt sich auf der Parallele von 2° von den Timana-Anden gegen die Landenge, welche Javita vom Caño Pimichín trennt, über die wir unsere Piroge bringen ließen. Nordwärts dieses Parallels von Timana ist der Lauf der Gewässer nordöstlich oder östlich gerichtet, und sie bilden die Nebenflüsse oder die Nebenflüsse der Nebenflüsse des Orinoco. Aber südlich des Parallels von Timana, in den Ebenen, welche denen von San Juan völlig zu gleichen scheinen, fließen der Caquetá oder Japurá, der Putumayo oder Iça, der Napo, der Pastaça und der Morona in südöstlicher und in südsüdöstlicher Richtung dem Bett des Amazonenstroms zu. Dabei ist auch bemerkenswert, daß diese Wasserscheide selbst nur eine Verlängerung derer ist, welche ich in den Cordilleren auf dem Weg von Popayán nach Pasto fand. Zieht man eine Wasserscheide durch Ceja (ein wenig südwärts von Timana), durch den Páramo de las Papas gegen den Alto del Roble, zwischen 1° 45′ und 2° 20′ der Breite, bei 970 Toisen Erhöhung, so findet man die divortia aquarum [Wasserscheide] zwischen dem Antillen [Caribischen]-Meer und dem Stillen Ozean.

Vor Acuñas Reise war es herrschende Meinung unter den Missionaren, der Caquetá, der Guaviare und der Orinoco seien nur verschiedene Namen desselben Flusses; der Geograph Sanson aber verfiel auf den Gedanken, in den von ihm nach Acuñas Beobachtungen gefertigten Karten den Caquetá in zwei Arme zu teilen, deren einer der Orinoco, der andere der Río Negro oder Curiguacuru sein sollte. Diese rechtwinklige Gabelteilung erscheint auf allen Karten von Sanson, von Coronelli, von Duval und von Delisle, seit 1656 bis 1730. Hierdurch glaubte man die Verbindung der großen Ströme zu erklären, deren erste Kunde durch Acuña von der Mündung des Río Negro hergeleitet worden war, und niemand ahnte, daß der Japurá die eigentliche Fortsetzung des Caquetá sei. Zuweilen wurde auch der Name des Caquetá völlig weggelassen, und der gabelförmig sich teilende Strom mit den Namen Río Paria oder Yuyapari belegt, welches die alten Benennungen des Orinoco sind. Delisle hat in seinen späteren Jahren die Gabelteilung des Caquetá wieder gelöscht, zum großen Bedauern von La Condamine; er zeichnete den Putumayo, den Japurá und den Río Negro als voneinander völlig unabhängige Flüsse, und um gleichsam jede Hoffnung einer Verbindung zwischen dem Orinoco und dem Río Negro zu vertilgen, zeichnete er zwischen beiden Strömen eine hohe Bergkette. Pater Fritz hatte auch [1722] schon dieser Meinung gehuldigt, welche zur Zeit des Hondius für die wahrscheinlichste gehalten wurde.

Die Reise des Herrn de La Condamine, die so viel Licht über manche Teile Amerikas verbreitet hat, brachte hingegen nur Verwirrung in alles, was den Lauf des Caquetá, des Orinoco und des Río Negro betrifft. Zwar hat dieser berühmte Gelehrte ganz richtig eingesehen, daß der Caquetá (von Mocoa) der Fluß sei, welcher im Amazonenstrom den Namen Japurá führt; er hat hingegen nicht nur Sansons Hypothese angenommen, sondern die Zahl der Gabelteilungen des Caquetá vollends verdreifacht. Durch eine erste sendet der Caquetá einen Arm (den Jaoya) dem Putumayo zu; eine zweite bildet den Japurá und den Río Paragua; durch eine dritte teilt sich der Río Paragua in zwei Ströme, den Orinoco und den Río Negro. Dieses imaginäre System findet sich in der ersten Ausgabe von d’Anvilles schöner Karte von Amerika dargestellt. Es erhellt daraus, daß der Río Negro sich vom Orinoco unterhalb der großen Katarakte trennt und daß man, um zur Mündung des Guaviare zu gelangen, den Caquetá oberhalb der Gabelteilung, die dem Río Japurá seinen Ursprung gibt, hinauffahren muß. Als Herr de La Condamine erkannte, daß die Quellen des Orinoco sich keineswegs am Fuß der Anden von Pasto befinden, sondern daß der Strom von der Rückseite der Berge von Cayenne herkomme, änderte er seine Meinung auf eine sehr sinnvolle Weise. Der Río Negro entspringt nun nicht mehr aus dem Orinoco; der Guaviare, der Atabapo, der Casiquiare und die Mündung des Inírida (unter dem Namen Iniricha) erhalten auf d’Anvilles zweiter Karte ungefähr ihre richtigen Stellungen; aus der dritten Gabelteilung des Caquetá aber entspringen der Inírida und der Río Negro. Dieses System wurde von Pater Caulin verteidigt, auf der Karte von La Cruz abgebildet und auf allen bis zu Anfang des 19. Jahrhunderts erschienenen Karten wiederholt. Die Namen Caquetá, Orinoco und Inírida können freilich die Teilnahme und die geschichtlichen Erinnerungen nicht wecken, welche mit den Strömen des Inneren von Nigritien verknüpft sind; aber die verschiedenen Mutmaßungen der Geographen des Neuen Kontinents erinnern an die seltsamen Darstellungen des Niger, des Weißen Nil, des Gambaro, des Joliba und des Zaire. Von Jahr zu Jahr wird das Gebiet der Hypothesen enger beschränkt; die Aufgaben sind genauer bestimmt, und dieser ältere Teil der Geographie, welcher der spekulative, um nicht zu sagen divinatorische heißen könnte, findet sich in engerem Raum eingegrenzt.

Also nicht an den Ufern des Caquetá, sondern an denen des Guainía oder des Río Negro mag man richtige Angaben über die Quellen des letzteren Stromes erhalten. Die in den Missionen von Maroa, Tomo und San Carlos wohnenden Indianer wissen nichts von einer höher gelegenen Vereinigung des Guainía mit dem Japurá. Ich habe seine Breite dem Fortín von San Agustín gegenüber gemessen, und sie betrug 292 Toisen; die mittlere Breite nahe bei Maroa beträgt 200 bis 250 Toisen. Herr de La Condamine schätzt sie nahe an der Mündung in den Amazonenstrom, an der schmalsten Stelle, auf 1200 Toisen, ein Zuwachs von 1000 Toisen auf 10° Länge des Flusses in gerader Entwicklung. Trotz der noch ziemlich beträchtlichen Wassermasse, die wir zwischen Maroa und San Carlos gefunden haben, versichern die Indianer, der Guainía nehme seinen Ursprung fünf Flußfahrttagereisen ostnordwestlich von der Mündung des Pimichín, in einem Gebirgsland, worin sich die Quellen des Inírida befänden. Da man in 10 bis 11 Tagen den Casiquiare von San Carlos bis zur Stelle der Gabelteilung hinauffährt, lassen sich fünf Tagereisen annehmen für die Auffahrt einer viel weniger schnellen Strömung auf etwas mehr als 1° 20′ direkter Entfernung; demnach würden die Quellen des Guainía zufolge den Längenbeobachtungen, die ich in Javita und San Carlos gemacht habe, 71° 35′ westlich vom Meridian der Pariser Sternwarte zu liegen kommen. Trotz der völlig übereinstimmenden Zeugnisse der Eingeborenen meine ich, diese Quellen müßten noch westlicher liegen, da die Kanus nicht weiter hinauffahren können, als das Flußbett gestattet. Man muß sich vor allzu bestimmten, durch die Analogie der europäischen Flüsse geleiteten Aussagen über die Verhältnisse zwischen Breite und Länge des Oberteils der Ströme in acht nehmen. In Amerika erhalten die Flüsse nicht selten bei nur geringer Erweiterung einen außerordentlich großen Zuwachs des Volumens ihrer Wassermasse.

(las cavezeras)lieues