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Alexander von Humboldt

DARMSTÄDTER AUSGABE

Sieben Bände

Herausgegeben von Hanno Beck

BAND V

Alexander von Humboldt

Ansichten der Natur

Erster und zweiter Band

Herausgegeben und kommentiert von Hanno Beck

in Verbindung mit Wolf-Dieter Grün, Sabine Melzer-Grün,
Detlef Haberland, Paulgünther Kautenburger †, Eva Michels-Schwarz,
Uwe Schwarz und Fabienne Orazie Vallino

 

 

 

 

 

 

 

 

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Impressum

Forschungsunternehmen der Humboldt-Gesellschaft, Nr. 40 Mit Förderung der Academia Cosmologica Nova

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-534-19691-3

Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich:
eBook (PDF): 978-3-534-73935-6
eBook (epub): 978-3-534-73936-3

 

 

Seinem teuren Bruder
WILHELM VON HUMBOLDT
in Rom

Berlin, im Mai 1807.         der Verfasser

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INHALT

Vorrede zur ersten Ausgabe

Vorrede zur zweiten und dritten Ausgabe

Ansichten der Natur. Erster Band

Über die Steppen und Wüsten

Erläuterungen und Zusätze

Über die Wasserfälle des Orinoco bei Atures und Maipures

Erläuterungen und Zusätze

Das nächtliche Tierleben im Urwald

Erläuterungen und Zusätze

Hypsometrische Nachträge

Ansichten der Natur. Zweiter Band

Ideen zu einer Physiognomik der Gewächse

Erläuterungen und Zusätze

Über den Bau und die Wirkungsart der Vulkane in den verschiedenen Erdstrichen

Erläuterungen und Zusätze

Die Lebenskraft oder der rhodische Genius. Eine Erzählung

Erläuterung und Zusatz

Das Hochland von Cajamarca, der alten Residenzstadt des Inka Atahuallpa. Erster Anblick der Südsee von dem Rücken der Andenkette

Erläuterungen und Zusätze

Zu dieser Ausgabe der ›Ansichten der Natur‹ Alexander v. Humboldts

Allgemeines

Zu den drei Ausgaben der ›Ansichten der Natur‹

Zur Erstausgabe

Die zweite Ausgabe

Die dritte Ausgabe

Zur weiteren Editionsgeschichte nach Humboldts Tod

Zur Wirkungsgeschichte

Zu den Anmerkungen Humboldts in den ›Ansichten der Natur‹

Hinweise zu den einzelnen Essays des Werkes

Ansichten der Natur, Band I

1. Über die Steppen und Wüsten

2. Über die Wasserfälle des Orinoco bei Atures und Maipures

3. Das nächtliche Tierleben im Urwald

Ansichten der Natur, Band II

4. Ideen zu einer Physiognomik der Gewächse

5. Zu Goethes Rezension der ›Ideen zu einer Physiognomik der Gewächse ‹

6. Über den Bau und die Wirkungsart der Vulkane

7. Die Lebenskraft oder der rhodische Genius

8. Das Hochland von Cajamarca, der alten Residenzstadt des Inka Atahuallpa. Erster Anblick der Südsee von dem Rücken der Andenkette

Dank des Herausgebers

Vorrede zur ersten Ausgabe

Schüchtern übergebe ich dem Publikum eine Reihe von Arbeiten, die im Angesicht großer Naturgegenstände, auf dem Ozean, in den Wäldern des Orinoco, in den Steppen von Venezuela, in der Einöde peruanischer und mexikanischer Gebirge entstanden sind. Einzelne Fragmente wurden an Ort und Stelle niedergeschrieben und nachmals nur in ein Ganzes zusammengeschmolzen. Überblick der Natur im Großen, Beweis von dem Zusammenwirken der Kräfte, Erneuerung des Genusses, welchen die unmittelbare Ansicht der Tropenländer dem fühlenden Menschen gewährt, sind die Zwecke, nach denen ich strebe. Jeder Aufsatz sollte ein in sich geschlossenes Ganzes ausmachen, in allen sollte eine und dieselbe Tendenz sich gleichmäßig aussprechen. Diese ästhetische Behandlung naturhistorischer GegenständeI hat, trotz der herrlichen Kraft und der Biegsamkeit unserer vaterländischen Sprache, große Schwierigkeiten der Komposition. Reichtum der Natur veranlaßt Anhäufung einzelner Bilder, und Anhäufung stört die Ruhe und den Totaleindruck des Gemäldes. Das Gefühl und die Phantasie ansprechend, artet der Stil leicht in eine dichterische Prosa aus. Diese Ideen bedürfen hier keiner Entwicklung, da die nachstehenden Blätter mannigfaltige Beispiele solcher Verirrungen, solchen Mangels an Haltung darbieten.

Mögen meine ›Ansichten der Natur‹, trotz dieser Fehler, welche ich selbst leichter rügen als verbessern kann, dem Leser doch einen Teil des Genusses gewähren, welchen ein empfänglicher Sinn in der unmittelbaren Anschauung findet. Da dieser Genuß mit der Einsicht in den inneren Zusammenhang der Naturkräfte vermehrt wird, so sind jedem Aufsatz wissenschaftliche Erläuterungen und Zusätze beigefügt.

Überall habe ich auf den ewigen Einfluß hingewiesen, welchen die physische Natur auf die moralische Stimmung der Menschheit und auf ihre Schicksale ausübtII. Bedrängten Gemütern sind diese Blätter vorzugsweise gewidmet. „Wer sich herausgerettet aus der stürmischen Lebenswelle“, folgt mir gern in das Dickicht der Wälder, durch die unabsehbare Steppe und auf den hohen Rücken der Andenkette. Zu ihm spricht der weltrichtende Chor:

Auf den Bergen ist Freiheit! Der Hauch der Grüfte
Steigt nicht hinauf in die reinen Lüfte;
Die Welt ist vollkommen überall,
Wo der Mensch nicht hinkommt mit seiner QualIII.

I

„Behandlung naturhistorischer Gegenstände“: Schon Kant hatte in seiner ›Physischen Geographie‹ diesen Ausdruck beanstandet, da er nicht, wie nun allerdings bei Humboldt, wirklicher Entwicklungsgeschichte im genetischen Sinn entspräche. Hierzu auch Wolf Lepenies: Das Ende der Naturgeschichte. München 1976.

II

„den ewigen Einfluß …, welchen die physische Natur auf die moralische Stimmung der Menschheit ausübt“: 1793 wird erstmals erweisbar, daß dem jungen A. V. Humboldt ein regelrecht geodeterministisches Programm vorgeschwebt haben muß. Obwohl dieses im Rahmen der sich entfaltenden säkularisierten Wissenschaft als Fortschritt gelten muß, hat Humboldt nicht an ihm festgehalten wegen zu großer empirischer Beweisnot. Hier kehrt es noch einmal in abgeschwächter Form wieder, ohne je die Hauptrolle in einem insgesamt empirischen Text spielen zu können.

III

„Wo der Mensch nicht hinkommt mit seiner Qual“: Aus Friedrich v. Schiller: Die Braut von Messina, 4. Aufzug, 7. Auftritt, Worte des Chors. Das kurz zuvor von Humboldt zitierte „Wer sich herausgerettet aus der stürmischen Lebenswelle“ ist freie Handhabung des gleichen Textes. Bei Schiller heißt es:

Und auch der hat sich wohl gebettet,
Der aus der stürmischen Lebenswelle,
Zeitig gewarnt, sich heraus gerettet
In des Klosters friedliche Zelle.

Vorrede zur zweiten und dritten Ausgabe

Die zwiefache Richtung dieser Schrift (ein sorgsames Bestreben, durch lebendige Darstellungen den Naturgenuß zu erhöhen, zugleich aber nach dem dermaligen Stand der Wissenschaft die Einsicht in das harmonische Zusammenwirken der Kräfte zu vermehren) ist in der Vorrede zur ersten Ausgabe fast vor einem halben Jahrhundert bezeichnet worden. Es sind damals schon die mannigfaltigen Hindernisse angegeben, welche der ästhetischen Behandlung großer Naturszenen entgegenstehen. Die Verbindung eines literarischen und eines rein szientifischen Zweckes, der Wunsch, gleichzeitig die Phantasie zu beschäftigen und durch Vermehrung des Wissens das Leben mit Ideen zu bereichern, machen die Anordnung der einzelnen Teile und das, was als Einheit der Komposition gefordert wird, schwer zu erreichen. Trotz dieser ungünstigen Verhältnisse hat das Publikum der unvollkommenen Ausführung meines Unternehmens dauernd ein nachsichtsvolles Wohlwollen geschenkt.

Die zweite Ausgabe der ›Ansichten der Natur‹ habe ich in Paris im Jahr 1826 besorgt. Zwei Aufsätze: ein ›Versuch über den Bau und die Wirkungsart der Vulkane in den verschiedenen Erdstrichen‹, und die ›Lebenskraft oder der rhodische Genius‹, wurden damals zuerst beigefügt. Schiller, in jugendlicher Erinnerung an seine medizinischen Studien, unterhielt sich während meines langen Aufenthalts in Jena gern mit mir über physiologische Gegenstände. Meine Arbeit über die Stimmung der gereizten Muskel- und NervenfaserI durch Berührung mit chemisch verschiedenen Stoffen gab oft unseren Gesprächen eine ernstere Richtung. Es entstand in jener Zeit der kleine Aufsatz von der Lebenskraft. Die Vorliebe, welche Schiller für den „rhodischen Genius“ hatte, den er in seine Zeitschrift der ›Horen‹ aufnahm, gab mir den Mut, ihn wieder abdrucken zu lassen. Mein Bruder berührt in einem Brief, welcher erst vor kurzem gedruckt worden ist (Wilhelm von Humboldt’s Briefe an eine Freundin, T. II, S. 39), mit Zartheit denselben Gegenstand, setzt aber treffend hinzu: „Die Entwicklung einer physiologischen Idee ist der Zweck des ganzen Aufsatzes. Man liebte in der Zeit, in welcher derselbe geschrieben ist, mehr, als man jetzt tun würde, solche halbdichterische Einkleidungen ernsthafter Wahrheiten.“

Es ist mir noch im achtzigsten Jahre die Freude geworden, eine dritte Ausgabe meiner Schrift zu vollenden und dieselbe nach den Bedürfnissen der Zeit ganz umzuschmelzen. Fast alle wissenschaftlichen Erläuterungen sind ergänzt oder durch neue, inhaltsreichere ersetzt worden. Ich habe gehofft, den Trieb zum Studium der Natur dadurch zu beleben, daß in dem kleinsten Raume die mannigfaltigsten Resultate gründlicher Beobachtung zusammengedrängt, die Wichtigkeit genauer numerischer Angaben und ihrer sinnigen Vergleichung untereinander erkannt und dem dogmatischen Halbwissen wie der vornehmen Zweifelsucht gesteuert werde, welche in den sogenannten höheren Kreisen des geselligen Lebens einen langen Besitz haben.

Die Expedition, die ich in Gemeinschaft mit Ehrenberg und Gustav Rose auf Befehl des Kaisers von Rußland im Jahr 1829 in das nördliche Asien (in den Ural, den Altai und an die Ufer des Kaspischen Meeres) gemacht, fällt zwischen die Epochen der 2. und 3. Ausgabe meines Buches. Sie hat wesentlich zur Erweiterung meiner Ansichten beigetragenII in allem, was die Gestaltung der Bodenfläche, die Richtung der Gebirgsketten, den Zusammenhang der Steppen und Wüsten, die geographische Verbreitung der Pflanzen nach gemessenen Temperatur-Einflüssen betrifft. Die Unkenntnis, in welcher man so lange über die zwei großen schneebedeckten Gebirgszüge zwischen dem Altai und dem Himalaja, über den Thian-schan und den Kuen-lun, gewesen ist, hat bei der ungerechten Vernachlässigung chinesischer QuellenIII die Geographie von Inner-Asien verdunkelt und Phantasien als Resultate der Beobachtung in vielgelesenen Schriften verbreitet. Seit wenigen Monaten sind fast unerwartet der hypsometrischen Vergleichung der kulminierenden Gipfel beider Kontinente wichtige und berichtigende Erweiterungen hinzugekommen, deren Kunde zuerst in der nachfolgenden Schrift (Bd. I, S. 38) hat gegeben werden können. Die von früheren Irrtümern befreiten Höhenbestimmungen zweier Berge in der östlichen Andenkette von Bolivia, des Sorata und Illimani, haben dem Chimborazo seinen alten Rang unter den Schneebergen des Neuen Kontinents mit Gewißheit noch nicht ganz wieder erteilt, während im Himalaja die neue trigonometrische Messung des Kantschendschinga 26.438 Pariser Fuß [8586m] diesem Gipfel den nächsten Platz nach dem, nun ebenfalls trigonometrisch genauer gemessenen Dhaulagiri [8172 m] einräumt.IV

Um die numerische Gleichförmigkeit mit den zwei vorigen Ausgaben der ›Ansichten der Natur‹ zu bewahren, sind die Temperatur-Angaben in diesem Werke, wenn nicht das Gegenteil bestimmt ausgesprochen ist, in Graden des 80theiligen Réaumurschen Thermometers ausgedrückt. Das Fußmaß ist das altfranzösische, in welchem die Toise 6 Pariser Fuß zählt. Die Meilen sind geographische, deren 15 auf einen Äquatorialgrad gehen. Die Längen sind vom ersten Meridian der Pariser Sternwarte gerechnet.

Berlin, im März 1849

I

Die › Versuche über die gereizte Muskel- und Nervenfaser nebst Vermuthungen über den chemischen Process des Lebens in der Thier- und Pflanzenwelt (2 Bde. Posen u. Berlin 1797) waren das umfangreichste Werk des jungen Humboldt.

II

„Sie hat wesentlich zur Erweiterung meiner Ansichten beigetragen“: Hier äußert sich A. v. Humboldt selbst unmißverständlich über den Wert seiner Reise nach Rußland 1829, einer Meinung, der Adolf Meyer-Abich grundlos widersprochen hat; hierzu Hanno Beck: Alexander von Humboldts Reise durchs Baltikum, nach Rußland und Sibirien. 2. verb. Aufl. Stuttgart 1984, S. 10, 174, 186.

III

„Vernachlässigung chinesischer Quellen“: Sie wurden von Humboldt und den mit ihm befreundeten Sinologen geographisch überschätzt; so war etwa die Reliefkenntnis chinesischer Geographen recht bescheiden, vor allem fehlten klare hypsometrische Vorstellungen.

IV

In Wirklichkeit sind Sorata [6550 m] und Illimani [6882 m] höher als der Chimborazo [6310 m], während der Kantschendschinga, wie oben in eckigen Klammern angegeben, höher als der Dhalaugiri ist. Aus dem Text ergibt sich die zeitgenössische Unsicherheit der Meßwerte, die selbst gegenwärtig oft noch, wenn auch nicht in dieser krassen Weise, besteht und vermutlich erst in der nächsten Zukunft ausgeglichen werden wird. So geben zwei Atlanten aus einem Verlagshaus 1974 u. 1985 die Höhe des Illimani mit 6882 bzw. mit 6322 m an.

Ansichten der Natur,

mit

wissenschaftlichen Erläuterungen.

Von

Alexander von Humboldt.

Erster Band.

Dritte verbesserte und vermehrte Ausgabe.

 

Stuttgart und Tübingen.

J. G. Cotta’scher Verlag.

1849.

Über die Steppen und Wüsten

Am Fuße des hohen Granitrückens, welcher im Jugendalter unseres Planeten bei Bildung des Antillen-MeerbusensI dem Einbruch der Wasser getrotzt hat, beginnt eine weite, unabsehbare Ebene. Wenn man die Bergtäler von Caracas und den inselreichen See Tacarigua [Valencia-See]1 in dem die nahen Pisang-StämmeII sich spiegeln, wenn man die Fluren, welche mit dem zarten und lichten Grün des tahitischen Zuckerschilfes prangen, oder den ernsten Schatten der Kakao-Gebüsche zurückläßt: so ruht der Blick im Süden auf Steppen, die scheinbar ansteigend in schwindender Ferne den Horizont begrenzen.

Aus der üppigen Fülle des organischen Lebens tritt der Wanderer betroffen an den öden Rand einer baumlosen, pflanzenarmen Wüste. Kein Hügel, keine Klippe erhebt sich inselförmig in dem unermeßlichen Raum. Nur hier und dort liegen gebrochene Flözschichten von zweihundert Quadratmeilen Oberfläche bemerkbar höher als die angrenzenden Teile. Bänke2 nennen die Eingeborenen diese Erscheinung gleichsam ahnungsvoll durch die Sprache den alten Zustand der Dinge bezeichnend, da jene Erhöhungen Untiefen, die Steppen selbst aber der Boden eines großen Mittelmeeres waren.

Noch gegenwärtig ruft oft nächtliche Täuschung diese Bilder der Vorzeit zurück. Wenn im raschen Aufsteigen und Niedersinken die leitenden Gestirne den Saum der Ebene erleuchten oder wenn sie zitternd ihr Bild verdoppeln in der untern Schicht der wogenden Dünste, glaubt man den küstenlosen Ozean3 vor sich zu sehen. Wie dieser erfüllt die Steppe das Gemüt mit dem Gefühl der Unendlichkeit und durch dieses Gefühl, wie den sinnlichen Eindrücken des Raumes sich entwindend, mit geistigen Anregungen höherer Ordnung. Aber freundlich zugleich ist der Anblick des klaren Meeresspiegels, in welchem die leichtbewegliche, sanft aufschäumende Welle sich kräuselt; tot und starr liegt die Steppe hingestreckt wie die nackte Felsrinde4 eines verödeten Planeten.

In allen Zonen bietet die Natur das Phänomen dieser großen Ebenen dar. In jeder haben sie einen eigentümlichen Charakter, eine Physiognomie, welche durch die Verschiedenheit ihres Bodens, durch ihr Klima und durch ihre Höhe über der Oberfläche des Meeres bestimmt wird.

Im nördlichen Europa kann man die Heideländer, welche, von einem einzigen, alles verdrängenden Pflanzenzuge bedeckt, von der Spitze von Jütland sich bis an den Ausfluß der Schelde erstrecken, als wahre Steppen betrachten: Aber Steppen von geringer Ausdehnung und hochhügeliger Oberfläche, wenn man sie mit den Llanos und Pampas von Südamerika oder gar mit den Grasfluren am Missouri5 und KupferflusseIII vergleicht, in denen der zottige Bison und der kleine Moschusstier umherschwärmen.

Einen größeren und ernsteren Anblick gewähren die Ebenen im Innern von Afrika. Gleich der weiten Fläche des Stillen Ozeans hat man sie erst in neueren Zeiten zu durchforschen versucht; sie sind Teile eines Sandmeeres, welches gegen Osten fruchtbare Erdstriche voneinander trennt oder inselförmig einschließt wie die Wüste am Basaltgebirge Harudsch [Harudz el-Asuad; 1200 m]6, wo in der dattelreichen Oase von Siwa die Trümmer des Ammon-Tempels den ehrwürdigen Sitz früher Menschenbildung bezeichnen. Kein Tau, kein Regen benetzt diese öden Flächen und entwickeln im glühenden Schoß der Erde den Keim des Pflanzenlebens. Denn heiße Luftsäulen steigen überall aufwärts, lösen die Dünste und verscheuchen das vorübereilende Gewölk.

Wo die Wüste sich dem Atlantischen Ozean nähert wie zwischen Wadi Run und dem Weißen Vorgebirge [Kap Blanco], da strömt die feuchte Meeresluft hin, die Leere zu füllen, welche durch jene senkrechten Winde erregt wird. Selbst wenn der Schiffer durch ein Meer, das wiesenartig mit Seetang bedeckt ist, nach der Mündung des Gambi steuert, ahnt er, wo ihn plötzlich der tropische Ostwind verläßt7, die Nähe des weitverbreiteten wärmestrahlenden Sandes.

Herden von Gazellen und schnellfüßige Strauße durchirren den unermeßlichen Raum. Rechnet man ab die im Sandmeere neuentdeckten Gruppen quellenreicher Inseln, an deren grünen Ufern die nomadischen Tibbus und Tuaregs8 schwärmen, so ist der übrige Teil der afrikanischen Wüste als dem Menschen unbewohnbar zu betrachten. Auch wagen die angrenzenden gebildeten Völker, sie nur periodisch zu betreten. Auf Wegen, die der Handelsverkehr seit Jahrtausenden unwandelbar bestimmt hat, geht der lange Zug von Talfilet bis Timbuktu oder von Murzuk bis Bornu: kühne Unternehmungen, deren Möglichkeit auf der Existenz des Kamels beruht, des Schiffs der Wüste9, wie es die alten Sagen der Ostwelt nennen.

Diese afrikanischen Ebenen füllen einen Raum aus, welcher den des nahen Mittelmeeres fast dreimal übertrifft. Sie liegen zum Teil unter den Wendekreisen selbst, zum Teil denselben nahe; und diese Lage begründet ihren individuellen Naturcharakter. Dagegen ist in der östlichen Hälfte des Alten Kontinents dasselbe geognostischeIV Phänomen mehr der gemäßigten Zone eigentümlich.

Auf dem Bergrücken von Mittel-Asien zwischen dem Goldberg oder Altai und dem Kuen-lun10, von der chinesischen Mauer an bis jenseits des HimmelsgebirgesV und gegen den Aral-See hin, in einer Länge von mehreren tausend Meilen, breiten sich, wenn auch nicht die höchsten, doch die größten Steppen der Welt aus. Einen Teil derselben, die Kalmücken- und Kirgisen-Steppen zwischen dem Don, der Wolga, dem Kaspischen Meer und dem chinesischen Saisan-See, also in einer Erstreckung von fast 700 geographischen Meilen, habe ich selbst zu sehen Gelegenheit gehabt, volle dreißig Jahre nach meiner südamerikanischen Reise. Die Vegetation der asiatischen, bisweilen hügeligen und durch Fichtenwälder unterbrochenen Steppen ist gruppenweise viel mannigfaltiger als die der Llanos und Pampas von Caracas und Buenos Aires. Der schönere Teil der Ebenen, von asiatischen Hirtenvölkern bewohnt, ist mit niedrigen Sträuchern üppig weißblühender Rosaceen, mit Kaiserkronen (Fritillarien), Tulpen und Cypripedien geschmückt. Wie die heiße Zone sich im ganzen dadurch auszeichnet, daß alles Vegetative baumartig zu werden strebt, so charakterisiert einige Steppen der asiatischen gemäßigten Zone die wundersame Höhe, zu der sich blühende Kräuter erheben: Saussureen und andere Synanthereen; Schotengewächse, besonders ein Heer von Astragalus-Arten. Wenn man in den niedrigen tatarischen Fuhrwerken sich durch weglose Teile dieser Krautsteppen bewegt, kann man nur aufrecht stehend sich orientieren und sieht die waldartig dichtgedrängten Pflanzen sich vor den Rädern niederbeugen. Einige dieser asiatischen Steppen sind Grasebenen; andere mit saftigen, immergrünen, gegliederten Kali-Pflanzen bedeckt; viele fernleuchtend von flechtenartig aufsprießendem Salz, das ungleich, wie frischgefallener Schnee, den lettigen Boden verhüllt.

Diese mongolischen und tatarischen Steppen, durch mannigfaltige Gebirgszüge unterbrochen, scheiden die uralte, lang gebildete Menschheit in Tibet und Hindostan von den rohen, nordasiatischen Völkern. Auch ist ihr Dasein von mannigfaltigem Einfluß auf die wechselnden Schicksale des Menschengeschlechts gewesen. Sie haben die Bevölkerung gegen Süden zusammengedrängt, mehr als der Himalaja, als das Schneegebirge von Srinagar und Gorka den Verkehr der Nationen gestört und im Norden Asiens unwandelbare Grenzen gesetzt der Verbreitung milderer Sitten und des schaffenden Kunstsinns.

Aber nicht als hindernde Vormauer allein darf die Geschichte die Ebene von Inner-Asien betrachten. Unheil und Verwüstung hat sie mehrmals über den Erdkreis gebracht. Hirtenvölker dieser Steppe: die Mongolen, GetenVI, Alanen und ÜsunVII, haben die Welt erschüttert. Wenn in dem Lauf der Jahrhunderte frühe Geisteskultur gleich dem erquickenden Sonnenlicht von Osten nach Westen gewandert ist, so haben späterhin in derselben Richtung Barbarei und sittliche Roheit Europa nebelartig zu überziehen gedroht. Ein brauner Hirtenstamm11 (tukiuischer, d. i. türkischer Abkunft), die HiongnuVIII, bewohnte in ledernen Zelten die hohe Steppe von Gobi. Der chinesischen Macht lange furchtbar, ward ein Teil des Stammes südlich nach Innerasien zurückgedrängt. Dieser Stoß der Völker pflanzte sich unaufhaltsam bis in das alte Finnenland am Ural fort. Von dort aus brachen Hunnen, Awaren, ChasarenIX und mannigfaltige Gemische asiatischer Menschenrassen hervor. Hunnische Kriegsheere erschienen erst an der Wolga, dann in Pannonien, dann an der Marne und an den Ufern des Po, die schön bepflanzten Fluren verheerend, wo seit Antenors Zeiten die bildende Menschheit Denkmal auf Denkmal gehäuft. So wehte aus den mongolischen Wüsten ein verpesteter Windeshauch, der auf zisalpinischem Boden die zarte, langgepflegte Blüte der Kunst erstickte.

Von den Salzsteppen Asiens, von den europäischen Heideländern, die im Sommer mit honigreichen, rötlichen Blumen prangen, und von den pflanzenleeren Wüsten Afrikas kehren wir zu den Ebenen von Südamerika zurück, deren Gemälde ich bereits angefangen habe mit rohen Zügen zu entwerfen.

Das Interesse, welches ein solches Gemälde dem Beobachter gewähren kann, ist aber ein reines Naturinteresse. Keine Oase erinnert hier an frühe Bewohner, kein behauener Stein12, kein verwilderter Fruchtbaum an den Fleiß untergegangener Geschlechter. Wie den Schicksalen der Menschheit fremd, allein an die Gegenwart fesselnd, liegt dieser Erdwinkel da, ein wilder Schauplatz des freien Tier- und Pflanzenlebens.

Von der Küstenkette von Caracas erstreckt sich die Steppe bis zu den Wäldern der Guyana; von den Schneebergen von Merida, an deren Abhange der Natron-See Urao ein Gegenstand des religiösen Aberglaubens der Eingeborenen ist, bis zu dem großen Delta, welches der Orinoco an seiner Mündung bildet. Südwestlich zieht sie sich gleich einem Meeresarm 13 jenseits der Ufer des Meta und des Vichada bis zu den unbesuchten Quellen des Guaviare und bis zu dem einsamen Gebirgsstock hin, welchen spanische Kriegsvölker im Spiel ihrer regsamen Phantasie den Paramo de la Suma Paz, gleichsam den schönen Sitz des ewigen Friedens, nannten.

Diese Steppe nimmt einen Raum von 16.000 Quadratmeilen ein. Aus geographischer Unkunde hat man sie oft in gleicher Breite als ununterbrochen bis an die Magellan-Meerenge fortlaufend geschildert: Nicht eingedenk der waldigen Ebene des Amazonenflusses, welche gegen Norden und Süden von den Grassteppen des Apure und des La Plata-Stromes begrenzt wird. Die Andenkette von Cochabamba und die brasilianische Berggruppe senden, zwischen der Provinz Chiquitos und der Landenge von Villabella, einzelne Bergjoche sich entgegen14. Eine schmale Ebene vereinigt die HyläaX des Amazonenflusses mit den Pampas von Buenos Aires. Letztere übertreffen die Llanos von Venezuela dreimal an Flächeninhalt. Ja ihre Ausdehnung ist so wundervoll groß, daß sie auf der nördlichen Seite durch Palmengebüsche begrenzt und auf der südlichen fast mit ewigem Eise bedeckt sind. Der kasuarähnliche Tuyu (Struthio Rhea) ist diesen Pampas eigentümlich: wie die Kolonien verwilderter Hunde15, welche gesellig in unterirdischen Höhlen wohnen, aber oft blutgierig den Menschen anfallen, für dessen Verteidigung ihre Stammväter kämpften.

Gleich dem größten Teile der Wüste Sahara16 liegen die Llanos oder die nördlichste Ebene von Südamerika in dem heißen Erdgürtel. Dennoch erscheinen sie in jeder Hälfte des Jahres unter einer verschiedenen Gestalt: bald verödet wie das libysche Sandmeer, bald als eine Grasflur wie so viele Steppen von Mittelasien17.

Es ist ein belohnendes, wenngleich schwieriges Geschäft der allgemeinen Länderkunde, die Naturbeschaffenheit entlegener Erdstriche miteinander zu vergleichen und die Resultate dieser VergleichungXI in wenigen Zügen darzustellen. Mannigfaltige, zum Teil noch wenig entwickelte Ursachen vermindern die Dürre und Wärme des neuen Weltteils18.

Schmalheit der vielfach eingeschnittenen Feste in der nördlichen Tropengegend, wo eine flüssige Grundfläche der Atmosphäre einen minder warmen aufsteigenden Luftstrom darbietet, weite Ausdehnung gegen beide beeiste Pole hin, ein freier Ozean, über den die tropischen kühleren Seewinde wegblasen, Flachheit der östlichen Küsten, Ströme kalten Meereswassers aus der antarktischen Region, welche anfänglich von Südwest nach Nordost gerichtet, unter dem Parallelkreis von 35° südlicher Breite an die Küste von Chile anschlagen und an den Küsten von

 

Vorrede zur ersten Ausgabe

Schüchtern übergebe ich dem Publikum eine Reihe von Arbeiten, die im Angesicht großer Naturgegenstände, auf dem Ozean, in den Wäldern des Orinoco, in den Steppen von Venezuela, in der Einöde peruanischer und mexikanischer Gebirge entstanden sind. Einzelne Fragmente wurden an Ort und Stelle niedergeschrieben und nachmals nur in ein Ganzes zusammengeschmolzen. Überblick der Natur im Großen, Beweis von dem Zusammenwirken der Kräfte, Erneuerung des Genusses, welchen die unmittelbare Ansicht der Tropenländer dem fühlenden Menschen gewährt, sind die Zwecke, nach denen ich strebe. Jeder Aufsatz sollte ein in sich geschlossenes Ganzes ausmachen, in allen sollte eine und dieselbe Tendenz sich gleichmäßig aussprechen. Diese ästhetische Behandlung naturhistorischer GegenständeXII hat, trotz der herrlichen Kraft und der Biegsamkeit unserer vaterländischen Sprache, große Schwierigkeiten der Komposition. Reichtum der Natur veranlaßt Anhäufung einzelner Bilder, und Anhäufung stört die Ruhe und den Totaleindruck des Gemäldes. Das Gefühl und die Phantasie ansprechend, artet der Stil leicht in eine dichterische Prosa aus. Diese Ideen bedürfen hier keiner Entwicklung, da die nachstehenden Blätter mannigfaltige Beispiele solcher Verirrungen, solchen Mangels an Haltung darbieten.

Mögen meine ›Ansichten der Natur‹, trotz dieser Fehler, welche ich selbst leichter rügen als verbessern kann, dem Leser doch einen Teil des Genusses gewähren, welchen ein empfänglicher Sinn in der unmittelbaren Anschauung findet. Da dieser Genuß mit der Einsicht in den inneren Zusammenhang der Naturkräfte vermehrt wird, so sind jedem Aufsatz wissenschaftliche Erläuterungen und Zusätze beigefügt.

Überall habe ich auf den ewigen Einfluß hingewiesen, welchen die physische Natur auf die moralische Stimmung der Menschheit und auf

Die südamerikanische Steppe, die Llanos, haben von Osten gegen Westen gemessen eine dreimal geringere Ausdehnung als die afrikanischen Wüsten. Jene empfangen den tropischen Seewind; diese, unter einem Breitenzirkel mit Arabien und dem südlichen Persien gelegen, werden von Luftschichten berührt, die über heiße, wärmestrahlende Kontinente hinwehen. Auch hat bereits der ehrwürdige, langverkannte Vater der Geschichte, Herodot, im echten Sinn einer großen Naturansicht, alle Wüsten in Nordafrika, in Jemen, Kerman und Mekran (Gedrosia der Griechen), ja bis Multan in Vorderindien hin, als einziges zusammenhängendes Sandmeer21 geschildert.

Zu der Wirkung heißer Landwinde gesellt sich in Afrika, so weit wir es kennen, noch der Mangel an großen Flüssen, an Wasserdampf aushauchenden, kälteerregenden Wäldern und hohen Gebirgen. Mit ewigem Eise bedeckt ist bloß der westliche Teil des Atlas22, dessen schmales Bergjoch, seitwärts gesehen, den alten Küstenfahrern wie eine einzelne stehende luftige Himmelsstütze erschien. Östlich läuft das Gebirge bis gegen Dakul hin, wo, jetzt in Schutt versunken, das meergebietende Carthago lag. Als langgedehnte Küstenkette, als gätulische [nach antikem Volk südlich des Atlas] Vormauer, hält es die kühlen Nordwinde und mit ihnen die aus dem Mittelmeere aufsteigenden Dämpfe zurück.

Über die untere Schneegrenze erhaben, dachte man sich einst das Mondgebirge, Djebel al-Komr23, von welchem man fabelte, daß es einen Bergparallel zwischen dem afrikanischen Quito, der hohen Ebene von Habesch, und den Quellen des Senegal bilde. Selbst die Kordillere von Lupata, die sich an der östlichen Küste von Mozambique und Monomotapa wie die Andenkette an der westlichen Küste von Peru hinzieht, ist in dem goldreichen Machinga und Mocanga mit ewigem Eis bedeckt. Aber diese wasserreichen Gebirge liegen weit entfernt von der ungeheuren Wüste, welche sich von dem südlichen Abfall des Atlas bis an den östlich fließenden Niger erstreckt.

Vielleicht wären alle diese aufgezählten Ursachen der Dürre und Wärme nicht hinlänglich, so beträchtliche Teile der afrikanischen Ebenen in ein furchtbares Sandmeer zu verwandeln, hätte nicht irgendeine Naturrevolution, z.B. der einbrechende Ozean, einst diese flache Gegend ihrer Pflanzendecke und der nährenden Dammerde beraubt. Wann diese Erscheinung sich zutrug, welche Kraft den Einbruch bestimmte, ist tief in das Dunkel der Vorzeit gehüllt. Vielleicht war sie Folge des großen Wirbels24, welcher die wärmeren mexikanischen Gewässer über die Bank von Neufundland an den alten Kontinent treibt, und durch welche westindische Kokosnüsse und andere Tropenfrüchte nach Irland und Norwegen gelangen. Wenigstens ist ein Arm dieses Meeresstroms noch gegenwärtig von den Azoren an gegen Südosten gerichtet und schlägt, dem Schiffer Unheil bringend, an das westliche Dünenufer von Afrika. Auch zeigen alle Meeresküsten (ich erinnere an die peruanischen zwischen Amotape und Coquimbo), wie Jahrhunderte, ja vielleicht Jahrtausende, vergehen, bevor in heißen regenlosen Erdstrichen, wo weder Lecideen noch andere Flechten25 keimen, der bewegliche Sand den Kräuterwurzeln einen sicheren Standort zu gewähren vermag.

Diese Betrachtungen genügen, um zu erklären, warum trotz der äußeren Ähnlichkeit der Länderform Afrika und Südamerika doch die abweichendsten klimatischen Verhältnisse, den verschiedensten Vegetationscharakter darbieten. Ist aber auch die südamerikanische Steppe mit einer dünnen Rinde fruchtbarer Erde bedeckt, wird sie auch periodisch durch Regengüsse getränkt und dann mit üppig aufschießendem Grase geschmückt, so hat sie doch die angrenzenden Völkerstämme nicht reizen können, die schönen Bergtäler von Caracas, das Meeresufer und die Flußwelt des Orinoco zu verlassen, um sich in dieser baum- und quellenleeren Einöde zu verlieren. Daher ward die Steppe bei der Ankunft europäischer und afrikanischer Ansiedler fast menschenleer gefunden.

Allerdings sind die Llanos zur Viehzucht geeignet; aber die Pflege milchgebender Tiere 26 war den ursprünglichen Einwohnern des Neuen Kontinents fast unbekannt. Kaum wußte einer der amerikanischen Völkerstämme die Vorteile zu benutzen, welche die Natur auch in dieser Hinsicht ihnen dargeboten hatte. Die amerikanische Menschenrasse (eine und dieselbe von 65° nördlicher bis 55° südlicher Breite, die Eskimos etwa abgerechnet) ging vom Jagdleben nicht durch die Stufe des Hirtenlebens zum Ackerbau über. Zwei Arten einheimischer Rinder weiden in den Grasfluren von Westkanada, in Quivira, wie um die kolossalen Trümmer der Azteken-BurgXIII, welche (ein amerikanisches Palmyra) sich verlassen in der Einöde am Gila-Flusse erhebt. Ein langhörniges Mufflon, ähnlich dem sogenannten Stammvater des Schafes, schwärmt auf den dürren und nackten Kalkfelsen von Kalifornien umher. Der südlichen Halbinsel sind die Vicuñas, Guanacos, Alpacas und Lamas eigentümlich. Aber von diesen nutzbaren Tieren haben nur die ersten zwei Jahrtausende lang ihre natürliche Freiheit bewahrt. Genuß von Milch und Käse ist, wie der Besitz und die Kultur mehlreicher Grasarten27, ein charakteristisches Unterscheidungszeichen der Nationen des Alten Weltteils.

Sind daher von diesen einige Stämme durch das nördliche Asien auf die Westküste von Amerika übergegangen und haben sie kälteliebend 28 den hohen Andenrücken gegen Süden verfolgt, so muß diese Wanderung auf Wegen geschehen sein, auf welchen weder Herden noch Cerealien den neuen Ankömmling begleiten konnten. Sollte vielleicht, als das lang erschütterte Reich der Hiongnu zerfiel, das Fortwälzen dieses mächtigen Stammes auch im Nordosten von China und Korea Völkerzüge veranlaßt haben, bei denen gebildete Asiaten in den Neuen Kontinent übergingen? Wären diese Ankömmlinge Bewohner von Steppen gewesen, in denen Ackerbau nicht betrieben wird, so würde diese gewagte, durch Sprachvergleichung bisher wenig begünstigte Hypothese wenigstens den auffallenden Mangel der eigentlichen Cerealien in Amerika erklären. Vielleicht landete an den Küsten von Neu-Kalifornien, durch Stürme verschlagen, eine von jenen asiatischen Priester-Kolonien, welche mystische Träumereien zu fernen Seefahrten veranlaßten und von denen die Bevölkerungsgeschichte von Japan29 zur Zeit der Thsinschi-huang-tiXIV ein denkwürdiges Beispiel liefert.

Blieb demnach das Hirtenleben, diese wohltätige Mittelstufe, welche nomadische Jägerhorden an den grasreichen Boden fesselt und gleichsam zum Ackerbau vorbereitet, den Urvölkern Amerikas unbekanntXV, so liegt in dieser Unbekanntschaft selbst der Grund von der Menschenleere der südamerikanischen Steppen. Um so freier haben sich in ihr die Naturkräfte in mannigfaltigen Tiergestalten entwickelt: Frei, und nur durch sich selbst beschränkt wie das Pflanzenleben in den Wäldern am Orinoco, wo der Hymenäe und dem riesenstämmigen Lorbeer nie die verheerende Hand des Menschen, sondern nur der üppige Andrang schlingender Gewächse droht. Agutis, kleine buntgefleckte Hirsche, gepanzerte Armadille, welche rattenartig den Hasen in seiner unterirdischen Höhle aufschrecken, Herden von trägen Chiguiren, schön gestreifte Viverren, welche die Luft verpesten, der große ungemähnte Löwe, buntgefleckte Jaguare (meist Tiger genannt), die den jungen selbsterlegten Stier auf einen Hügel zu schleppen vermögen: – Diese und viele andere Tiergestalten30 durchirren die baumlose Ebene.

Fast nur ihnen bewohnbar, hätte sie keine der nomadischen Völkerhorden, die ohnedies (nach asiatisch-indischer Art) die vegetabilische Nahrung vorziehen, fesseln können, stände nicht hier und da die Fächerpalme, MauritiaXVI, zerstreut umher. Weit berühmt sind die Vorzüge dieses wohltätigen Lebensbaumes. Er allein ernährt am Ausflusse des Orinoco, nördlich der Sierra de Imataca, die unbezwungene Nation der Guaraunen31. Als sie zahlreicher und zusammengedrängt waren, erhoben sie nicht bloß ihre Hütten auf abgehauenen Palmenpfosten, die ein horizontales Tafelwerk als Fußboden trugen; sie spannten auch (so geht die Sage) Hängematten, aus den Blattstielen der Mauritia gewebt, kunstvoll von Stamm zu Stamm, um in der Regenzeit, wenn das Delta überschwemmt ist, nach Art der Affen auf den Bäumen zu leben. Diese schwebenden Hütten wurden teilweise mit Letten bedeckt. Auf der feuchten Unterlage schürten die Weiber zu häuslichem Bedürfnis Feuer an. Wer bei Nacht auf dem Flusse vorüberfuhr, sah die Flammen reihenweise auflodern, hoch in der Luft, von dem Boden getrennt. Die Guaraunen verdanken noch jetzt die Erhaltung ihrer physischen und vielleicht selbst ihrer moralischen Unabhängigkeit dem lockeren, halbflüssigen Moorboden, über den sie leichtfüßig fortlaufen, und ihrem Aufenthalt auf den Bäumen: einer hohen Freistatt, zu der religiöse Begeisterung wohl nie einen amerikanischen Styliten32 leiten wird.

Aber nicht bloß sichere Wohnung, auch mannigfaltige Speise gewährt die Mauritia. Ehe auf der männlichen Palme die zarte Blütenscheide ausbricht, und nur in dieser Periode der Pflanzen-Metamorphose, enthält das Mark des Stammes ein sagoartiges Mehl, welches, wie das Mehl der Jatropha-Wurzel, in dünnen brotähnlichen Scheiben gedörrt wird. Der gegorene Saft des Baumes ist der süße, berauschende Palmwein der Guaraunen. Die engschuppigen Früchte, welche rötlichen Tannenzapfen gleichen, geben wie Pisang und fast alle Früchte der Tropenwelt eine verschiedenartige Nahrung: Je nachdem man sie nach völliger Entwicklung ihres Zuckerstoffes oder früher im mehlreichen Zustande genießt. So finden wir auf der untersten Stufe menschlicher Geistesbildung (gleich dem Insekt, das auf einzelne Blütenteile beschränkt ist) die Existenz eines ganzen Völkerstammes an fast einen einzigen Baum gefesselt.

Seit der Entdeckung des Neuen Kontinents sind die Ebenen (Llanos) dem Menschen bewohnbar geworden. Um den Verkehr zwischen der Küste und der Guyana (dem Orinoco-Lande) zu erleichtern, sind hier und da Städte33 an den Steppenflüssen erbaut. Überall hat Viehzucht in dem unermeßlichen Raum begonnen. Tagereisen voneinander entfernt, liegen einzelne mit Rindsfellen gedeckte, aus Schilf und Riemen geflochtene Hütten. Zahllose Scharen verwilderter Stiere, Pferde und Maulesel (man schätzte sie zur friedlichen Zeit meiner Reise noch auf anderthalb Millionen Köpfe) schwärmen in der Steppe umher. Die ungeheure Vermehrung dieser Tiere der alten Welt ist um so bewundernswürdiger, je mannigfaltiger die Gefahren sind, mit denen sie in diesen Erdstrichen zu kämpfen haben.

Wenn unter dem senkrechten Strahl der nie bewölkten Sonne die verkohlte Grasdecke in Staub zerfallen ist, klafft der erhärtete Boden auf, als wäre er von mächtigen Erdstößen erschüttert. Berühren ihn dann entgegengesetzte Luftströme, deren Streit sich in kreisender Bewegung ausgleicht, so gewährt die Ebene einen seltsamen Anblick. Als trichterförmige Wolken34, die mit ihren Spitzen an der Erde hingleiten, steigt der Sand dampfartig durch die luftdünne, elektrisch geladene Mitte des Wirbels empor: Gleich den rauschenden Wasserhosen, die der erfahrne Schiffer fürchtet. Ein trübes, fast strohfarbiges Halblicht wirft die nun scheinbar niedrigere Himmelsdecke auf die verödete Flur. Der Horizont tritt plötzlich näher. Er verengt die Steppe wie das Gemüt des Wanderers. Die heiße, staubige Erde, welche im nebelartig verschleierten Dunstkreise schwebt, vermehrt die erstickende Luftwärme35. Statt Kühlung führt der Ostwind neue Glut herbei, wenn er über den lang erhitzten Boden hinweht.

Auch verschwinden allmählich die Lachen, welche die gelb gebleichte Fächerpalme vor der Verdunstung schützte. Wie im eisigen Norden die Tiere durch Kälte erstarren, so schlummert hier, unbeweglich, das Krokodil und die Boa-Schlange, tief vergraben in trockenem Letten. Überall verkündet Dürre den Tod; und doch überall verfolgt den Dürstenden im Spiel des gebogenen Lichtstrahls das Trugbild36 des wellenschlagenden Wasserspiegels. Ein schmaler Luftstreifen trennt das ferne Palmengebüsch vom Boden. Es schwebt durch Kimmung [Luftspiegelung] gehoben bei der Berührung ungleich erwärmter und also ungleich dichter Luftschichten. In finstere Staubwolken gehüllt, von Hunger und brennendem Durste geängstigt, schweifen Pferde und Rinder umher: Diese dumpf aufbrüllend, jene mit langgestrecktem Halse gegen den Wind anschnaubend, um durch die Feuchtigkeit des Luftstromes die Nähe einer nicht ganz verdampften Lache zu erraten.

Bedächtiger und verschlagener sucht das Maultier auf andere Weise seinen Durst zu lindern. Eine kugelförmige und dabei vielrippige Pflanze, der Melonen-Kaktus37, verschließt unter seiner stachligen Hülle ein wasserreiches Mark. Mit dem Vorderfuße schlägt das Maultier die Stacheln seitwärts, und wagt es dann erst die Lippen behutsam zu nähern und den kühlen Distelsaft zu trinken. Aber das Schöpfen aus dieser lebendigen vegetabilischen Quelle ist nicht immer gefahrlos; oft sieht man Tiere, welche von Kaktus-Stacheln am Huf gelähmt sind.

Folgt auf die brennende Hitze des Tages die Kühlung der hier immer gleich langen Nacht, so können Rinder und Pferde selbst dann nicht sich der Ruhe erfreuen. Ungeheure Fledermäuse saugen ihnen während des Schlafes vampirartig das Blut aus oder hängen sich an dem Rücken fest, wo sie eiternde Wunden erregen, in welche Moskitos, Hippoboscen und eine Schar stechender Insekten sich ansiedeln. So führen die Tiere ein schmerzvolles Leben, wenn vor der Glut der Sonne das Wasser auf dem Erdboden verschwindet.

Tritt endlich nach langer Dürre die wohltätige Regenzeit ein, so verändert38 sich plötzlich die Szene in der Steppe. Das tiefe Blau des bis dahin nie bewölkten Himmels wird lichter. Kaum erkennt man bei Nacht den schwarzen Raum im Sternbild des südlichen Kreuzes. Der sanfte phosphorartige Schimmer der Magellan-Wolken verlischt. Selbst die scheitelrechten Gestirne des Adlers und des Schlangenträgers leuchten mit zitterndem, minder planetarischem Lichte. Wie ein entlegenes Gebirge erscheint einzelnes Gewölk im Süden, senkrecht aufsteigend am Horizont. Nebelartig breiten allmählich die vermehrten Dünste sich über den Zenit aus. Den belebenden Regen verkündet der ferne Donner.

Kaum ist die Oberfläche der Erde benetzt, so überzieht sich die duftende Steppe mit Kyllingien, mit vielrispigem Paspalum und mannigfaltigen Gräsern. Vom Lichte gereizt, entfalten krautartige Mimosen ihre gesenkt schlummernden Blätter, und begrüßen die aufgehende Sonne, wie der Frühgesang der Vögel und die sich öffnenden Blüten der Wasserpflanzen. Pferde und Rinder weiden nun in frohem Genusse des Lebens. Das hoch aufschießende Gras birgt den schön gefleckten Jaguar. Im sicheren Versteck auflauernd und die Weite des einigen Sprunges vorsichtig messend, erhascht er die vorüberziehenden Tiere, katzenartig wie der asiatische Tiger.

Bisweilen sieht man (so erzählen die Eingeborenen) an den Ufern der Sümpfe den befeuchteten Letten sich langsam und schollenweise erheben39. Mit heftigem Getöse wie beim Ausbruche kleiner Schlammvulkane wird die aufgewühlte Erde hoch in die Luft geschleudert. Wer des Anblicks kundig ist, flieht die Erscheinung; denn eine riesenhafte Wasserschlange oder ein gepanzertes Krokodil steigen aus der Gruft hervor, durch den ersten Regenguß aus dem Scheintode erweckt.

Schwellen nun allmählich die Flüsse, welche die Ebene südlich begrenzen: der Arauca, der Apure und der Payara, so zwingt die Natur dieselben Tiere, welche in der ersten Jahreshälfte auf dem wasserleeren, staubigen Boden vor Durst verschmachteten, als Amphibien zu leben. Ein Teil der Steppe erscheint nun wie ein unermeßliches Binnenwasser40. Die Mutterpferde ziehen sich mit den Füllen auf die höheren Bänke zurück, welche inselförmig über dem Seespiegel hervorragen. Mit jedem Tage verengt sich der trockene Raum. Aus Mangel an Weide schwimmen die zusammengedrängten Tiere stundenlang umher und nähren sich kärglich von der blühenden Grasrispe, die sich über dem braungefärbten gärenden Wasser erhebt. Viele Füllen ertrinken; viele werden von den Krokodilen erhascht, mit dem zackigen Schwanze zerschmettert und verschlungen. Nicht selten bemerkt man Pferde und Rinder, welche, dem Rachen dieser blutgierigen, riesenhaften Eidechsen entschlüpft, die Spur des spitzigen Zahnes am Schenkel tragen.

Ein solcher Anblick erinnert unwillkürlich den ernsten Beobachter an die Biegsamkeit, mit welcher die alles aneignende Natur gewisse Tiere und Pflanzen begabt hat. Wie die mehlreichen Früchte der Ceres, so sind Stier und Roß dem Menschen über den ganzen Erdkreis gefolgt: vom Ganges bis an den Plata-Strom, von der afrikanischen Meeresküste bis zur Gebirgsebene des Antisana, welche höher als der Kegelberg von Teneriffa liegt41. Hier schützt die nordische Birke, dort die Dattelpalme den ermüdeten Stier vor dem Strahl der Mittagssonne. Dieselbe Tiergattung, welche im östlichen Europa mit Bären und Wölfen kämpft, wird unter einem anderen Himmelsstriche von den Angriffen der Tiger und der Krokodile bedroht!

Aber nicht die Krokodile und der Jaguar allein stellen den südamerikanischen Pferden nach, auch unter den Fischen haben sie einen gefährlichen Feind. Die Sumpfwasser von Bera und Rastro42 sind mit zahllosen elektrischen Aalen gefüllt, deren schleimiger, gelbgefleckter Körper aus jedem Teile die erschütternde Kraft nach Willkür aussendet. Diese Gymnoten haben 5 bis 6 Fuß Länge. Sie sind mächtig genug, die größten Tiere zu töten, wenn sie ihre nervenreichen Organe auf einmal in günstiger Richtung entladen. Die Steppenstraße von Uritucu mußte einst verändert werden, weil sich die Gymnoten in solcher Menge in einem Flüßchen angehäuft hatten, daß jährlich vor Betäubung viele Pferde in der Furt ertranken. Auch fliehen alle anderen Fische die Nähe dieser furchtbaren Aale. Selbst den Angelnden am hohen Ufer schrecken sie, wenn die feuchte Schnur ihm die Erschütterung aus der Ferne zuleitetXVII. So bricht hier elektrisches Feuer aus dem Schoße der Gewässer aus.

Ein malerisches Schauspiel gewährt der Fang der Gymnoten. Man jagt Maultiere und Pferde in einen Sumpf, welchen die Indianer eng umzingeln, bis der ungewohnte Lärm die mutigen Fische zum Angriff reizt. Schlangenartig sieht man sie auf dem Wasser schwimmen und sich verschlagen unter den Bauch der Pferde drängen. Von diesen erliegen viele der Stärke unsichtbarer Schläge. Mit gesträubter Mähne, schnaubend, wilde Angst im funkelnden Auge, fliehen andere das tobende Ungewitter. Aber die Indianer, mit langen Bambusstäben bewaffnet, treiben sie in die Mitte der Lache zurück.

Allmählich läßt die Wut des ungleichen Kampfes nach. Wie entladene Wolken zerstreuen sich die ermüdeten Fische. Sie bedürfen einer langen Ruhe und einer reichlichen Nahrung, um zu sammeln, was sie an galvanischer Kraft verschwendet haben. Schwächer und schwächer erschüttern nun allmählich ihre Schläge. Vom Geräusch der stampfenden Pferde erschreckt, nahen sie sich furchtsam dem Ufer, wo sie durch Harpunen verwundet und mit dürrem, nicht leitendem Holz auf die Steppe gezogen werden.

Dies ist der wunderbare Kampf der Pferde und Fische. Was unsichtbar die lebendige Waffe dieser Wasserbewohner ist, was durch die Berührung feuchter und ungleicher Teile43 erweckt in allen Organen der Tiere und Pflanzen umtreibt, was die weite Himmelsdecke donnernd entflammt, was Eisen an Eisen bindet und den stillen wiederkehrenden Gang der leitenden Nadel lenkt: Alles, wie die Farbe des geteilten Lichtstrahls, fließt aus einer Quelle; alles schmilzt in eine ewige, allverbreitete Kraft zusammen.

Ich könnte hier den gewagten Versuch eines Naturgemäldes der Steppe schließen. Aber wie auf dem Ozean die Phantasie sich gern mit den Bildern ferner Küsten beschäftigt, so werfen auch wir, ehe die große Ebene uns entschwindet, vorher einen flüchtigen Blick auf die Erdstriche, welche die Steppe begrenzen.

Afrikas nördliche Wüste scheidet die beiden Menschenarten, welche ursprünglich demselben Weltteil angehören und deren unausgeglichener Zwist so alt wie die Mythe von Osiris und Typhon44 scheint. Nördlich vom Atlas wohnen schlicht- und langhaarige Völkerstämme von gelber Farbe und kaukasischer Gesichtsbildung. Dagegen leben südlich vom Senegal, gegen den Sudan hin, Negerhorden, die auf mannigfaltigen Stufen der Zivilisation gefunden werden. In Mittelasien ist durch die mongolische Steppe sibirische Barbarei von der uralten Menschenbildung auf der Halbinsel von Hindostan [Indien] getrennt.

Auch die südamerikanischen Ebenen begrenzen das Gebiet europäischer Halbkultur45. Nördlich, zwischen der Gebirgskette von Venezuela und dem Antillen-Meere, liegen gewerbsame Städte, reinliche Dörfer und sorgsam bebaute Fluren aneinander gedrängt. Selbst Kunstsinn, wissenschaftliche Bildung und die edle Liebe zu Bürgerfreiheit sind längst darinnen erwacht.

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