Robert Bohn
DIE PIRATEN
C.H.Beck
Das Leben der Piraten hat die Phantasie immer schon beflügelt. Sie wurden oft zu Helden der Meere stilisiert, doch die Wirklichkeit des Seeräuberlebens war alles andere als das verwegener Rebellen. Die Geschichte der Piraterie ist eine endlose Kette von Gräuel- und Mordtaten, von Plünderungen, Elend und Verzweiflung, aber auch von blutiger Verfolgung und gnadenloser Ahndung. Robert Bohn erzählt die Geschichte der Piraterie von der Antike bis zur Gegenwart. Der Schwerpunkt seines spannend geschriebenen Buches liegt auf dem «Goldenen Zeitalter» der Piraterie vom 16. bis zum 18. Jahrhundert. Er beschreibt die Verflechtungen der Piraterie mit den Interessen der Herrschenden und bietet einen tiefen Einblick in die Lebenswelt dieser rauen Gesellschaft, zu der erstaunlicherweise auch einige Frauen gehörten.
Robert Bohn war bis zu seiner Pensionierung 2018 Professor für Mittlere und Neuere Geschichte an der Europa-Universität Flensburg.
Vorwort
1. Raum und Zeit
Antike und Mittelalter
Frühe Neuzeit
Kaperfahrer – Freibeuter – Piraten
Erscheinungsformen des Seeraubs
2. Seeraub und Seemacht
Koloniale Eroberung und Freibeuterei
Französische Korsaren
Englische Freibeuter
Francis Drake – Seefahrer und Pirat der Königin
Niederländische Freibeuterei
3. Die Bukaniere Westindiens
Die Entstehung der karibischen Seeräubergemeinschaft
Tortuga
Die Bukaniere und der koloniale Umverteilungskampf in der Karibik
4. Auf der Schattenlinie
Seeraub als Instrument der Kolonialpolitik
Henry Morgan – der Schrecken der Karibik
Thomas Tew und der Seeraub im Indischen Ozean
Captain William Kidd – Geschichte eines Losers
5. Das «Goldene Zeitalter» der Piraten
Madagaskar und das «Arabische-Meer-Fieber»
Henry Every – der erfolgreiche Pirat
Die Bahamas-Piraten des frühen 18. Jahrhunderts
6. Profiteure, Handlanger und maritime Outlaws
Die Neuengland-Kolonien und die Piraterie
Westafrika und das Ende des «Goldenen Zeitalters»
7. Piratinnen: Die Geschichte von Anne Bonny und Mary Read
8. Gegenwelt oder negativer Spiegel?
Piratenleben: Realität und Fiktion
Wie man Pirat wurde
Wie man als Pirat lebte
Piratenmythen
Literaturhinweise
Register
Der mittlere Atlantik zur Zeit der Freibeuter und Piraten
Der Indische Ozean um 1700 zur Zeit des «Arabisches-Meer-Fiebers»
Die Geschichte der Piraterie ist eine endlose Kette von Gräuel- und Mordtaten, von Raub und Plünderung, Elend und Verzweiflung, aber auch von blutiger Verfolgung und gnadenloser Ahndung. Sie ist keine zusammenhängende Geschichte, keine zielgerichtete Entwicklung, sondern, wie Kriminalität überhaupt, Ausdruck gesellschaftlicher Instabilität, die unter bestimmten politischen Rahmenbedingungen aufblüht. Heutzutage treibt die Armut an den Küsten vieler unterentwickelter Länder die Menschen als Seeräuber aufs Meer hinaus. Andernorts wiederum sind es gut organisierte und hochtechnisierte Piratenbanden mit ausgeklügelter Logistik und Vernetzung mit regionalen Behörden, die die Handelsschifffahrt in einem Maße bedrohen, dass die Reeder für bestimmte Seegebiete kaum noch Versicherungen bekommen.
In den beiden letzten Jahrzehnten registrierte die International Maritime Organization mehrere Tausend Piratenüberfälle auf Handelsschiffe. Die regionalen Schwerpunkte waren dieselben wie zur «klassischen» Zeit der Piraterie – die Karibische Inselwelt einschließlich der südamerikanischen Ostküste, die afrikanische Küste und die fernöstlichen Hauptfahrwasser (Indischer Ozean, Straße von Malakka, Indonesisches Meer). Bei diesen Piratenangriffen wurden mehrere Hundert Seeleute und Passagiere getötet oder verletzt. Der jährliche Schaden durch Piraterie wird auf mehrere Hundert Millionen US-Dollar geschätzt, doch dürfte die Dunkelziffer erheblich größer sein. Man vermutet mit guten Gründen ein Vielfaches der Erhebung.
Und dennoch: Obwohl uns die Vernunft gebietet, auch die historischen Piraten als verabscheuungswürdige Kriminelle zu betrachten, begegnet uns der Pirat in der Literatur, im Film, in Kinderspielen und -büchern (in der neuesten Variante auch in Computer- und Videospielen) als in der Regel positiv konnotierte Figur – bei Pippi Langstrumpf im Takatukaland ebenso wie im Lego-Katalog. Und allerorten stellen Freizeitparks Piraten und szenisch nachgespielten Seeraub als besondere Attraktion heraus.
Viele der populären Vorstellungen vom Piratentum haben ihren Ausgangspunkt bei einem bemerkenswerten Buch, das erstmals 1724 in London veröffentlicht wurde und schnell mehrere Neuauflagen erlebte. Denn es war seinerzeit wie kaum eine Publikation beim Lesepublikum nachgefragt und fand auch rasch Eingang in andere Sprachen. Sein Autor war ein mysteriöser Captain Charles Johnson, und das Buch trug den barocken Titel A General History of the Robberies and Murders of the Most Notorious Pyrates, and also their Policies, Discipline and Government. Im Mittelpunkt dieses mehrere Hundert Seiten umfassenden Werkes stehen die Biographien von vierunddreißig herausragenden Piraten, allesamt Engländer, aus den Jahrzehnten um 1700. Es ist ein unerschöpfliches Kompendium, in dem alle Versatzstücke zu finden sind, die später von den Imaginationsmedien verwertet wurden. Dieses Werk ist eine wertvolle Quelle, aber nicht immer ganz zuverlässig, wie die moderne Forschung ergeben hat, obwohl es überwiegend auf Gerichtsakten und Prozessbeobachtungen aufbaut. Es wurde dennoch zu einer Art Handbuch für die Geschichte der Piraterie und ist es auch geblieben, denn immer wieder wurde und wird es zurate gezogen – nicht zuletzt beim Film.
Auch wenn die Schicksale der Piratenkapitäne von Johnson in aufklärerischer und letztlich auch abschreckender Absicht beschrieben wurden, kann der Autor seine Bewunderung für manch eine Leistung, auch und gerade auf dem Gebiet der Seefahrerkunst, nicht verbergen. In den 1930er-Jahren glaubte ein amerikanischer Historiker durch scharfsinnige Analyse herausgefunden zu haben, dass sich hinter dem Autorennamen Captain Johnson niemand anderes als der Gerichtsreporter und Schriftsteller Daniel Defoe verbarg, der in seiner Zeitschrift Review regelmäßig über dieses Sujet schrieb. Neueste kritische Untersuchungen haben dies wieder in Zweifel gezogen und vermuten hinter dem Autor Johnson einen jener damals zahlreichen Gerichtsreporter und Journalisten, die aus den Schicksalen der Seeräuber und den exotischen Schauplätzen ihren beliebten Stoff zogen.
Wie populär dieses Thema zu jener Zeit bereits war, zeigt die Tatsache, dass es auch schon allerlei Versuche gab, es literarisch zu bewältigen. Dabei sind allerdings nur wenige ernst zu nehmende Schriften entstanden, unter denen zwei herausragen, nämlich zum einen das Buch De Americaensche Zee-Rovers, das erstmals 1678 in Amsterdam auf Niederländisch erschien. Der Verfassername Alexandre Exquemelin dürfte authentischer sein als der des Captain Johnson, und was er uns zu berichten weiß, hatte er aus eigener Anschauung mitgemacht. Er bezeichnete sich selbst als Arzt, war aber eigentlich ein autodidaktischer Quacksalber, den es für zwölf Jahre unter die Bukaniere der Karibik verschlagen hatte. Er hat mit dieser populären Schrift, die viele unkritisch angereicherte Neudrucke und Übersetzungen erlebte, wesentlich das Bild geprägt, das sich die Zeitgenossen und die Nachwelt von dieser Piratengemeinschaft machten.
Das zweite zeitgenössische Werk, das genannt werden muss, ist das Tagebuch des englischen Freibeuters William Dampier. Er ist einer der Wenigen gewesen, die über ihr abenteuerliches Leben auf See literarisch Rechenschaft ablegten, denn viele wirkliche Schriftsteller hat es nicht unter die schwarze Flagge getrieben. Dampier hat in den beiden letzten Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts lange Zeit unter Piraten und Freibeutern gelebt, war selbst zwar nie Kapitän, doch nahm er als Navigator und Geograph an zahlreichen Raubfahrten teil, die ihn viele Jahre sowohl in die Karibik als auch in den Pazifik führten. Während er an Bord von rund einem Dutzend Freibeuter- und Piratenschiffen kreuz und quer durch die Welt segelte, hat er fleißig Tagebuchaufzeichnungen seiner Erlebnisse niedergeschrieben, die später Grundlage seines beachtlichen literarischen Werkes wurden.
1881 erblickte dann die unsterblichste und berühmteste aller Piratenerzählungen das Licht der literarischen Welt: Robert L. Stevensons Schatzinsel. In diesem Werk finden wir all die Versatzstücke, die wir brauchen, um uns das Piratenleben in der vormodernen Welt vorzustellen: den verschlagenen Piratenkapitän, der trotz des Handicaps eines Holzbeins an Geschicklichkeit kaum zu übertreffen ist, den unverzichtbaren Papagei, die Skelette, die von Suff und Zwietracht gekennzeichnete Piratengemeinschaft und schließlich den Piratenschatz auf einer einsamen Insel. Doch auch Stevenson hatte Inspirationsquellen, nicht nur Captain Johnsons Kompendium. Die Figur des John Silver ist von Herman Melvilles Captain Ahab beeinflusst, und auch andere Ingredienzen der Schatzinsel finden sich bereits im Repertoire der Mysterien- und Abenteuergeschichten des frühen 19. Jahrhunderts, wobei Edgar Allan Poe auch hier die Meisterstücke vorlegte.
Zum Kern der romantischen, legendenumwobenen Sichtweise auf die Seeräuber und Seeabenteurer zählt die stark überwiegende Abwesenheit von Arbeit. Nicht ohne Grund formte und festigte sich der Piratenmythos in einer Zeit, in der industrielle Arbeit, geregelt von der Stechuhr bei den einen und dem Terminkalender bei den anderen, die freie Verfügbarkeit von Zeit immer mehr einengte. Das romantische Bild des Piratenlebens mit seinen ganz anderen Zeitperspektiven stellt gegen diese Zwänge Momente eines ungebundenen, freien Lebens, das realiter nicht nachgeahmt werden kann. Und doch sehnen wir uns danach. Deshalb wird der Pirat, schöner noch der edle Freibeuter, zu einer Traumfigur, die alle kritischen Einwände überleben wird, denn sie ist die Gegenfigur des Arbeiters und Bourgeois und erst recht des Spießers.
So gilt auch hier das Wort John Fords, eines der bedeutendsten der großen Regisseure des klassischen Hollywood und Arbeiters am modernen amerikanischen Pionier-Mythos. Er hat das, worum es auch bei der Geschichte der Piraten geht, auf den Punkt gebracht: «Wenn Menschen die Wahl haben zwischen der wahren Geschichte und der Legende, dann wählen sie allemal die Legende.»
Antike und Mittelalter. Seitdem es Seefahrt und Seehandel gibt, gibt es Seeraub. Dieses Faktum ist ebenso simpel und einleuchtend wie die Tatsache, dass auch an Land zu allen Zeiten Raub in den verschiedensten Ausprägungen stattgefunden hat. Bis ins späte 18. Jahrhundert – und in manchen Regionen noch länger – konnte keine Seereise unternommen werden, ohne das Risiko des Seeraubes ernsthaft einzubeziehen. Das betraf Überseefahrer und Küstenfischer gleichermaßen. So ist – um beim Thema Seeraub und Piraterie nicht ins Beliebige oder Anekdotische abzugleiten – eine Abgrenzung des zeitlichen wie geographischen Rahmens genauso vonnöten wie die Aufstellung des allgemeinen geschichtlichen Bezugsrahmens, der sich vor allem an sozial- und wirtschaftsgeschichtlichen Fragen im Zusammenhang der kolonialen Expansion der europäischen Staaten und deren frühneuzeitlicher Machtpolitik orientieren soll. Denn auf diesen Zeitraum bezieht sich der populäre Piratenmythos in der Regel, und hier können überdies in besonders anschaulicher Weise die Mechanismen und Muster ermittelt werden, die den Seeraub im großen Stil zu allen Zeiten ermöglicht haben.
Doch zunächst ein Blick zurück. Bereits im altgriechischen Mythos begegnen uns die peirates als Heimsuchung der hellenischen Gestade. Und von Homer erfahren wir die enge Verbindung von kaufmännischen und piratischen Interessen. Das erste Geschichtswerk überhaupt, die Bücher Herodots, beginnt mit Seeräuberei. Der rote Faden der Auseinandersetzung mit der Piraterie läuft durchgängig bis in die römische Zeit, wobei der innere Zusammenhang zwischen Roms Machtentfaltung und dem gleichzeitigen Auseinanderbrechen staatlicher ordnender Macht an den Randgebieten des Reiches evident ist. Dadurch nahm die Piraterie an diesen mittelmeerischen Peripherien einen Aufschwung. Bei Appian und Plutarch ist im Einzelnen nachzulesen, zu welch einer Plage die Piraterie schließlich für Handel und Seefahrt Roms wurde und wie sich während einer Schwächephase der Republik im letzten Jahrhundert v. Chr. selbst Männer von Vermögen und vornehmer Abkunft, die dazu noch als klug und einsichtsvoll galten, zu den Piraten gesellten und sich dort neben weiteren Reichtümern Ruhm und Ehre erhofften. Von Kilikien an der Südküste Kleinasiens breitete sich zu dieser Zeit die Piraterie über das ganze Mittelmeer aus. Die Piratenflotten stachen Plutarch zufolge nicht nur durch ausgesuchte Bemannung und beste Bewaffnung, sondern insbesondere durch dreisten Übermut hervor. Über eintausend Seeräuberschiffe soll es schließlich gegeben haben, und vierhundert Städte sollen geplündert worden sein, keine Küste des Mittelmeeres war vor ihnen sicher. Als sogar die lebenswichtigen Getreidelieferungen nach Rom abbrachen und es zu Hungerrevolten kam, verlieh – durch Cicero der Nachwelt überliefert – der römische Senat im Jahr 67 v. Chr. Pompeius diktatorische Vollmachten, wie sie einem einzelnen Römer vorher nie gegeben waren, um dieses piratische Übel drakonisch zu bekämpfen. Pompeius startete denn auch zu Wasser und zu Lande einen wahren Kriegszug, wie wenn es gegen einen feindlichen Staat ginge: mit 500 Schiffen, 120.000 Soldaten und dazu noch 5000 Reitern, in summa wohl das ganze militärische Potential Roms, hatte er in kurzer Zeit die Seeräuberflotten und deren Stützpunkte niedergemacht. Die Piraten trugen durch diese Machtübertragung auf einen einzelnen Feldherrn ungewollt zur Aushöhlung des klassischen römischen Staatsrechts und zur Auflösung der Republik bei.
Eine ähnliche Plage und ein Hemmnis für den Seehandel stellten seit dem letzten Viertel des 14. Jahrhunderts in der Nord- und Ostsee die Seeräuberscharen dar, die unter der Bezeichnung Vitalienbrüder oder Likedeeler (Gleichteiler) in die Geschichtsbücher eingingen. Der Name Vitalienbrüder ist von Viktualien, also Lebensmittel, abgeleitet, mit denen sie das durch eine dänische Seeblockade belagerte Stockholm im Auftrag der Mecklenburger Fürsten versorgten. Zur Blüte gelangten diese Vitalienbrüder in den Wirren der Kämpfe um die Vereinigung der drei skandinavischen Königreiche, bei denen auch die Hanse und einige norddeutsche Küstenfürsten mitmischten und wo jeder dieser Interessenten sich der Seeräuber als Hilfstruppe bediente. Die in zunehmender Zahl umherschweifenden Seeräuber entwickelten sich zu einer Gefahr, der man nach Abschluss der Kämpfe nicht mehr Herr wurde.
Die Insel Gotland wurde in den 1390er-Jahren für fast zehn Jahre zu ihrer Festung, von der aus die Schifffahrt der ganzen Ostsee in einem Maße bedroht wurde, dass sich selbst die mächtige Hansestadt Lübeck genötigt sah, ihren Schiffen die Fahrt nur noch im Konvoi und in Begleitung von «Friedenskoggen» zu gestatten. Einer ihrer sagenhaften Anführer war Klaus Störtebecker, der vermutlich aus Wismar stammte. Als die Vitalienbrüder, deren Zahl vom Deutschen Orden 1392 auf 1500 Mann geschätzt wurde, ihre räuberischen Aktivitäten immer stärker auch auf die Nordsee ausdehnten und selbst reiche Hafenstädte wie das norwegische Bergen vor ihnen nicht mehr sicher waren, sah sich der Hansebund wie dereinst der römische Senat zu massiven Gegenmaßnahmen gezwungen. Lübeck veranschlagte die Flotte der Vitalienbrüder 1394 auf 300 Schiffe. Eine große Zahl von «Friedenskoggen», finanziert durch eine Sondersteuer, nahm den Kampf gegen diese Seeräuber auf, und ein Heer des Deutschen Ordens eroberte 1398 das Seeräubernest Gotland.
Mit der Hinrichtung Störtebeckers und seiner Mannen in Hamburg zweieinhalb Jahre später war das Piratentum im Hanseraum zwar einigermaßen eingedämmt, ganz beseitigt werden konnte es aber nie, weil immer wieder politische und wirtschaftliche Interessen einem einheitlichen Vorgehen im Wege standen. Stets von Neuem statteten Fürsten Schiffsführer mit «Stelbreven» aus, wie Kaperbriefe seinerzeit im niederdeutschen-skandinavischen Raum treffend genannt wurden. Insofern ist durchaus der Aussage beizupflichten, dass das «Piratenhandwerk zu den Entwicklungskrankheiten des Völkerverkehrs» gehört. Auch die Großkaufleute in den italienischen Seehandelsmetropolen des Mittelalters betrachteten den Seeraub vom Standpunkt des Geschäftsmannes als gewinnbringende Unternehmung und schritten erst dann dagegen ein, wenn sich die Piraterie gegen die eigenen Wirtschaftsinteressen richtete.
Überall lauerten im Mittelalter Piraten und Kaper, denn es gab keine staatliche Gewalt, die in der Lage gewesen wäre, die Seehandelswege wirksam zu schützen. Deshalb durfte nach damaligem Rechtsverständnis der Geschädigte auf eigene Faust sein Recht durchsetzen und mithilfe von Repressalien – das hieß Kaperei, Güterwegnahme – erlittenen Schaden ausgleichen. Dass dabei Missbrauch und Willkür Tür und Tor geöffnet waren und die Schwelle zur echten Piraterie leicht überschritten wurde, liegt auf der Hand. Selbst die Einführung des Prisenrechts (franz. prise = Wegnahme) konnte dem nicht abhelfen. Im Gegenteil: Die nur im jeweils nationalen Recht verankerten Prisenordnungen schufen in Zweifelsfällen neue Konfliktlagen.
Frühe Neuzeit. Als sich mit dem Beginn der kolonialen Epoche der europäischen Wirtschaftsgeschichte im 16. Jahrhundert der Schwerpunkt des Seehandels von den europäischen Binnenmeeren auf die Weiten der Ozeane verlagerte, trat auch die Geschichte der Seeräuberei in eine neue Epoche ein, die später einmal deren Goldenes Zeitalter genannt werden würde. Es waren nicht allein die Entdeckungsfahrten spanischer und portugiesischer Seefahrer und die im Anschluss daran erfolgte Eroberung und Ausbeutung der überseeischen Welt, die zu dieser Überhöhung des Seeräuberwesens beigetragen haben. Der Seeraub nahm einen ganz anderen Charakter an, als er im Altertum und im Mittelalter besessen hatte. Er verband sich im 16. und 17. Jahrhundert wie nie zuvor mit Politik und Religion. Denn die scharfen religiösen und politischen Gegensätze, die die europäische Geschichte der Frühen Neuzeit prägten, flossen auch in das Erscheinungsbild des Seeraubes ein. Ein Übriges trug der Formierungsprozess des frühmodernen Staates bei, in dem soziale Randgruppen aus der ständisch-absolutistischen Gesellschaft ausgegrenzt und in die Kriminalität gedrängt wurden, weil sie anders ihren Lebensunterhalt nicht mehr sichern konnten.
Hatten sich im frühneuzeitlichen Europa schon so etwas wie Frühformen eines zwischenstaatlichen Rechts herausgebildet, nach dem sich die Nationen in ihrem Verhältnis zueinander im Allgemeinen und bei der Regelung von Konflikten im Besonderen richteten, so waren die Meere, insbesondere die außereuropäischen Gewässer, weiterhin ein gleichsam rechtsfreier Raum – oder genauer gesagt: ein Raum, den die kolonisierende Macht gewissermaßen als Privatbesitz betrachtete und rücksichtslos mit eigenem Recht füllte. In den Weltgegenden, in die uns die nachfolgenden Kapitel führen werden, hießen diese Mächte Spanien und Portugal.
Gegen die mit päpstlicher Unterstützung vorgenommenen Versuche der rechtlichen Absicherung der iberischen Interessensphären in der Neuen Welt hat sich in den dadurch ausgeschlossenen seefahrenden Staaten Nordwesteuropas von Beginn an Widerstand geregt. Dessen Motiv war allerdings weniger die Sorge um die Freiheit der Seefahrt und des Handels als vielmehr der Wille, an den von den Iberern erschlossenen neuen Quellen des Reichtums teilzuhaben. So leitete Hugo Grotius in seinem 1609 im Auftrag der wenige Jahre zuvor gegründeten Vereinigten Ostindischen Compagnie (VOC) verfassten Buch Über das Beuterecht in einem langen, juristisch scharfsinnigen Abschnitt, der später einmal als eigenständige Schrift (Mare liberum) erscheinen sollte, naturrechtlich die Freiheit der Meere her. Grotius begründete darin das Recht der Holländer auf freie Schifffahrt und Handel mit der überseeischen Welt.
Doch alle gegen die spanisch-portugiesische überseeische Hegemonie vorgebrachten politischen und insbesondere juristischen Argumente prallten nicht nur an der Unnachgiebigkeit vor allem Spaniens ab, sondern litten auch schlicht unter dem Dilemma, dass sich die althergebrachten Rechtsvorstellungen auf die neuen ozeanischen Verhältnisse nicht anwenden ließen. Es sollte sich bald zeigen, dass die Absicherung der überseeischen Erwerbungen und der Wege dorthin nicht durch schön hergeleitete, aber stets zweifelhafte Rechtstitel zu erzielen war, sondern allein durch militärische Kraft erreicht werden konnte. Die Folge war, dass sich um die Güterströme im Freiraum der Ozeane ein permanenter Seekrieg entwickelte, an dem sich schließlich alle aufstrebenden seefahrenden Staaten Europas mehr oder weniger munter beteiligten, ohne auf die offiziellen Beziehungen, die in Europa gerade untereinander herrschten, Rücksicht zu nehmen. Die Herrscher nahmen skrupellos Schiffsführer aller Couleur in ihre Dienste, wenn sie nur die Gewähr zu bieten schienen, die Schätze der Gegner in die eigenen Häfen zu leiten.
Kaperfahrer – Freibeuter – Piraten. So traten zu den herkömmlichen Erscheinungsformen des Seeraubs neue Ausprägungen hinzu, die nicht mehr ins gewohnte Bild des Piraten auf der einen und des Kaperfahrers auf der anderen Seite passten. Das gilt vor allem für den sogenannten Freibeuter, der streng genommen weder Kaperfahrer noch echter Pirat war, obwohl er vom Geschädigten mit gutem Grund immer mit Seeräuber gleichgesetzt wurde, weil sein Tun in der Praxis nicht von Piraterie zu unterscheiden war. So hat Spanien konsequenterweise die zu seinem Schaden begangene Freibeuterei stets als Piraterie betrachtet und auch so bezeichnet. Folglich wurden gefangene Freibeuter von den Spaniern als Piraten drakonisch bestraft.
Der Kaperfahrer im herkömmlichen Sinn, wie ihn die spätmittelalterliche Seekriegführung hervorgebracht hat, erfreute sich obrigkeitlichen Auftrags, was durch die Ausstattung mit einem Kaperbrief («Stelbrev», engl. letter of marque) durch eine kriegführende Macht gekennzeichnet wurde. Kaperfahrer (engl. privateer) im staatlichen beziehungsweise fürstlichen Auftrag gab es folglich nur in Kriegszeiten dieses Staates und nur bezogen auf dessen Gegner. Dieser Kombattantenstatus wurde von den jeweils Kriegführenden in der Regel anerkannt, aber auch auf gleiche Weise beantwortet. So war beispielsweise ein Seekrieg zwischen der Hanse und England oder zwischen Dänemark und den Niederlanden in erster Linie ein Kaperkrieg, der von Kauffahrteischiffen geführt wurde und auf die Schädigung des gegnerischen Seehandels zielte. Es war jedoch, wie angedeutet, ein Spezifikum der neuen Zeit, dass in Europa zwischen den Mächten offiziell Frieden herrschen konnte, während gleichzeitig auf hoher See und besonders in den überseeischen Gebieten ein Kleinkrieg zwischen Angehörigen dieser Staaten ausgefochten wurde.
In dieser paradoxen Situation betrat der Freibeuter die Bühne der Seefahrtsgeschichte, und der Gebrauch von Euphemismen zu seiner begrifflichen Kennzeichnung zeigt bereits, dass er – wenngleich offiziell ohne Auftrag – mit machtstaatlicher Duldung unterwegs war. Im Englischen wurde er schlicht adventurer oder freebooter genannt, die Franzosen nannten ihn corsair in Anlehnung an eine Bezeichnung für die arabischen Piraten des Mittelmeeres. Die drei aufstrebenden Seefahrtsnationen und späteren Kolonialmächte Frankreich, England und schließlich die Niederlande waren es vor allem, die kein Interesse an einer Hegemonie Spaniens und Portugals in der Neuen Welt und deren Beherrschung der Seehandelswege hatten.
Der Ausspruch Francis Drakes «kein Friede jenseits der Linie!» brachte das staatliche Seeraubprogramm auf den Punkt. Die Linie, die hier angesprochen wurde, war der imaginäre Längengrad etwa 1000 Seemeilen westlich der Kapverdischen Inseln, der nach einem Machtwort von Papst Alexander VI. (einem Spanier) im Jahr 1493 (Bulle «Inter caetera») die Interessensphären Spaniens und Portugals abgrenzen und die übrigen europäischen Staaten von der Aufteilung der Neuen Welt ausschließen sollte. Der Papst wollte, dass die neu entdeckten Erdteile im katholischen Machtbereich blieben. Alles Land westlich dieser Linie sollte an Spanien, östlich davon an Portugal fallen, was die beiden Kronen 1494 im Vertrag von Tordesillas einander bestätigten. Die Schiffe aller anderen Nationen, die sich in diese Fahrwasser wagten, sollten, so das Wort des Papstes, als Piraten angesehen werden.