
Das Verhalten pflegebedürftiger Klient*innen wird manchmal allzu schnell als „Problemverhalten“ eingestuft. Das wird ihnen und ihrer Situation jedoch nicht ausreichend gerecht. Vielmehr muss gefragt werden, was der Hintergrund für ein solches Verhalten ist. Diese Klient*innen können häufig nicht klar formulieren, dass sie Probleme haben und welche das sind. Um die Aufmerksamkeit zu bekommen, die sie brauchen, drücken sie sich daher auf ihre ganz eigene Weise aus – die allerdings oft nicht verstanden wird.
Geert Bettinger gibt anhand von Fallbeispielen einen Einblick in die zugrundeliegenden Prozesse. Sein Buch bietet damit eine hilfreiche Handreichung für die tägliche Praxis der Betreuung und Behandlung von Klient*innen mit herausforderndem Verhalten.
„Das Buch von Geert Bettinger zeigt anhand einer Vielzahl von unterschiedlichsten Fallgeschichten, wie Menschen mit einer intellektuellen Entwicklungsstörung und Verhaltensweisen, die ihr Umfeld herausfordern, einfühlsam begleitet werden können. Die unterhaltsame Lektüre hilft, diesen Personenkreis besser verstehen und unterstützen zu können.“
(PD Dr. Tanja Sappok, FÄ für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie und Nervenheilkunde)
„Innehalten, um zu sich zu kommen. Innehalten, um im Moment zu sein. Innehalten, um nachzudenken. Innehalten, um Verhalten und die emotionalen Bedürfnisse dahinter zu verstehen. Innehalten, um damit Problemverhalten letztlich zu überwinden. Innehalten, um weiterzukommen.“
(Dr. med. Brian Fergus Barrett, Chefarzt Liebenau Kliniken)

Geert Bettinger (1952) ist Trainer und Teamcoach im Bereich Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege. Er arbeitet u. a. als Berater für das CCE (Centre for Consultation and Expertise) und wird oft eingeladen, Masterclasses an Universitäten, sozialen Organisationen oder bei Symposien (Amsterdam, London, Bukarest, Wuxi – China) sowie Fortbildungen für Pflegepersonal oder Familien von Menschen mit Demenz oder Entwicklungsbehinderungen zu geben. Davor war er als Pflegekoordinator und Lehrer an einer Schule für soziale Berufe und Wohlfahrtspflege, als selbständiger Betreuer von Opfern sexuellen Missbrauchs, als Sozialarbeiter für ältere Menschen und als Betreuer von Familien mit entwicklungsbehinderten Kindern tätig.
Geert Bettinger ist glücklich verheiratet, hat drei Söhne, drei Schwiegertöchter und ist stolzer Großvater von vier Enkelkindern.
Geert Bettinger
Innehalten, um weiterzukommen
Ein anderer Blick auf „Problemverhalten“

Tübingen
2021
Aus dem Englischen übersetzt von Lena Rudert, Bremen
First published by B.V. Uitgeverij SWP Amsterdam, Netherlands with the title: Door stil te staan kom je verder: Een andere kijk op ‘probleemgedrag’
Copyright © Geert Bettinger 2014
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2021 dgvt-Verlag
Im Sudhaus
Hechinger Straße 203
72072 Tübingen
E-Mail: dgvt-Verlag@dgvt.de
Internet: www.dgvt-Verlag.de
Gestaltung & Satz: Julia Franke, Tübingen
Illustrationen: Dirk Bettinger
E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
Auch als Printausgabe erhältlich: ISBN 978-3-87159-162-4
ISBN E-Book: ISBN 978-3-87159-450-2
Inhalt
Einleitung
Ich war ein Problemkind
Wo bist du?
Versteh doch, was ich will!
Bin ich eine Zielgruppe?
Sorgst du gut für mich?
Einfach „Ja“ sagen
Ich mag dich
Einmal gelernt und nie mehr vergessen
Lass uns zusammensein
Das war es, was ich wollte!
Bin ich das wirklich?
Geht es noch um mich?
Wer entscheidet?
Einfach mal hinschauen
Ich will es auf meine Weise tun
Ignoriere mich nicht
Das macht mich unsicher
Was tust du da?
Haben Sie das gewusst?
Seien Sie vorsichtig
Ich habe nicht den Mut, so etwas zu tun
Endlich bist du da
Erst glauben, dann sehen
Einleitung
Dieses Buch habe ich für all diejenigen geschrieben, die mit pflegebedürftigen Klient*innen arbeiten. Das können Betreuer*innen, Therapeut*innen, Krankenschwestern/-pfleger, Heil- und Erziehungspfleger*innen, Erzieher*innen, Pflegehilfskräfte, Altenpfleger*innen oder Auszubildende in der Pflege sein; in diesem Buch werde ich sie der Einfachheit halber unter dem Begriff „Betreuer*innen“ zusammenfassen.
Ich bin der Ansicht, dass man es sich zu einfach macht, wenn man von „Problemverhalten“ der Klient*innen spricht. Dieser Begriff sagt nicht genug über deren tatsächliche Situation aus. Ich habe es immer als interessantere Herausforderung angesehen, die den Verhaltensweisen zugrundeliegenden Ursachen zu verstehen. Pflegebedürftige Klient*innen können sich oft verbal nicht oder nicht adäquat ausdrücken oder trauen sich nicht zu sagen, dass sie Probleme haben. Sie müssen also häufig auf andere Weise darauf aufmerksam machen, wenn etwas nicht stimmt.
In diesem Buch beschreibe ich meine Vorstellung von der Betreuung und Unterstützung dieser Klient*innen. Vor allem sollten wir zuerst einmal innehalten und darauf hören, was sie uns mit ihrem Verhalten mitteilen. Dieses Buch eignet sich für den Einsatz in Peer-Review-Seminaren, sowohl in der Lehre und Weiterbildung als auch in der Praxis. Anhand echter Fallbeispiele, in denen die Namen der betreffenden Personen geändert wurden, beschreibe ich alltägliche Situationen und wie man diese verändern und wenn nötig verbessern kann. Am Ende der meisten Kapitel werden Fragen gestellt, die dazu anregen sollen, die eigene tägliche Praxis zu reflektieren und über sich selbst nachzudenken. Einige Themen greife ich mehrfach auf, um meine Sichtweise zu verdeutlichen.
Die Motivation, dieses Buchs zu schreiben, hat mit meiner eigenen Lebensgeschichte zu tun; darum wird es im ersten Kapitel gehen. Ich wurde als Kind sexuell missbraucht. Mein Schmerz und meine Verwirrung führten dazu, dass ich von meinem Umfeld vor allem negative Aufmerksamkeit einforderte. Damals konnte ich mich niemandem anvertrauen. Demzufolge zeigte ich jede Menge „Problemverhalten“. Ich signalisierte der Außenwelt immer wieder, dass etwas nicht stimmte, aber meine Signale wurden missverstanden.
Auch pflegebedürftige Klient*innen fordern aus ihrer persönlichen Lage heraus auf „negative“ Weise die Aufmerksamkeit ihres Umfelds ein. Dies ist ein Thema, das mir besonders am Herzen liegt. Ich biete allerdings keine einfachen, gebrauchsfertigen Lösungen an, denn die gibt es nicht. Ich will vielmehr Orientierungshilfen und Anregungen geben, wie man mit schwierigen Situationen, in denen sich manche Klient*innen befinden, besser umgehen kann. Mit diesem Buch möchte ich versuchen, zu ihrer „Stimme“ zu werden. Ich habe daher Überschriften für die einzelnen Kapitel gewählt, die Sie so lesen können, als hätte einer der Klient*innen sie ausgesprochen.
Wir müssen bewusst innehalten und unsere Aufmerksamkeit darauf richten, die Signale pflegebedürftiger Klient*innen besser zu verstehen – nur so können wir weiterkommen.
Geert Bettinger

Ich war ein Problemkind
Woran ich mich am intensivsten erinnere, wenn ich an meine Kindheit zurückdenke, ist Folgendes: Ich war ein Problemkind, vor allem zu Hause in der Familie. Das wurde mir immer wieder gesagt. Vielleicht zu oft? Draußen in der Welt fühlte ich mich anders. Als Kind versteht man ja nicht viel, aber inzwischen weiß ich, wie wichtig es ist, was deine Eltern von dir denken. Das, was sie sagen, hältst du für die Wahrheit. Und wenn sie dir oft genug sagen, dass du schwierig und anstrengend bist, dann bist du eben schwierig und anstrengend.
Wir lebten in Eindhoven, in den Niederlanden. Meine Großeltern, Onkel und Tanten lebten alle in Limburg. In den 1950er- und 1960er-Jahren war es noch eher die Ausnahme, ein Auto zu besitzen, aber meine Familie hatte eins und wir fuhren damit oft zu meinen Omas und Opas. Mein einer Opa war Schneider, der andere Bäcker und Konditor und ich fand beide Berufe ganz großartig. Eine Bäckerei ist für Kinder natürlich immer besonders attraktiv, mit all den Süßigkeiten und anderen leckeren Sachen! Weil die Großeltern ziemlich weit entfernt von Eindhoven wohnten, blieben wir häufig über Nacht, während der Ferien sogar für mehrere Tage. Ich war immer gerne bei ihnen. Für mich war es wunderbar, dem einen Opa zuzusehen, wenn er im Schneidersitz auf einem großen Tisch saß und Anzüge für seine Kunden nähte. Dieses Bild habe ich noch deutlich vor Augen. Auch die Besuche bei den anderen Großeltern waren immer ein großes Vergnügen. Ich habe viele Stunden in der Backstube verbracht. Dort wurde Brot gebacken und die Kuchen und Torten wurden mit Früchten und Schlagsahne dekoriert. Und es war einfach gemütlich. Mehrere meiner Onkel arbeiteten ebenfalls in der Bäckerei und ab und zu durfte ich mitkommen, wenn sie Brot an die Kund*innen auslieferten. Diese Touren liebte ich ganz besonders, denn ich konnte sicher sein, dass mir überall irgendeine Leckerei zugesteckt wurde.
Mein Onkel Arie war ein echtes Original. Ständig erzählte er irgendwelche wilden Geschichten, die, im Nachhinein betrachtet, oft reichlich übertrieben und unwahrscheinlich waren. Aber er brachte sogar meine Eltern damit zum Lachen, und mir gefiel das. Auch für uns Kinder zauberte er immer wieder neue Überraschungen aus dem Hut.
Ich übernachtete, wie schon gesagt, oft bei meinen Großeltern. Sie hatten ein großes Haus mit vielen Zimmern, in dem auch eine meiner Tanten und die Familie eines weiteren Onkels wohnten. Dort gab es ein Badezimmer, das mir riesig vorkam. Ich weiß noch genau, wie es dort aussah – dicke Heizungsrohre und große Wasserhähne –, das Bild habe ich noch klar vor Augen. Eines Tages, ich war ungefähr zehn Jahre alt, kam der besagte lustige Onkel Arie herein, als ich gerade in der Badewanne saß. Das kam mir damals noch nicht einmal besonders seltsam vor, obwohl sonst nie jemand einfach hereinkam, außer vielleicht meine Oma, um mir ein Handtuch zu bringen. Onkel Arie setzte sich neben die Wanne und fing an, meinen Rücken zu streicheln. Seine Hand wanderte direkt nach unten. Ich weiß nicht mehr, was ich in dem Moment dachte, nur, dass ich total durcheinander war. Ich weiß auch noch, dass ich einfach mitlachte, als er zu lachen anfing – worüber er lachte, daran kann ich mich nicht erinnern. Und ich weiß, dass ich eine Erektion hatte. Ich verstand das nicht. Im Nachhinein habe ich mich gefragt, ob es mir vielleicht doch gefallen hat. Ich wusste nicht, dass es nicht ungewöhnlich ist, wenn das Opfer einer Missbrauchssituation eine Erektion hat. Es ist eine normale körperliche Reaktion auf eine beängstigende Situation (die wenigsten Menschen wissen das).
Onkel Arie gab sich ganz kumpelhaft und erklärte mir, es sei doch toll, dass ich schon so ein großer Junge sei, und er würde mir zeigen, was ich tun sollte. Dann holte er seinen Penis aus der Hose. Ich sehe noch vor mir, wie er dastand und hinter sich die Tür abschloss. Mein Kopf war völlig leer, ich ließ einfach alles über mich ergehen, sagte nichts und tat nichts. Was er da machte, begriff ich nicht. Erst viel später wurde mir klar, dass er ins Badewasser ejakulierte.
Danach änderte sich die Situation schlagartig. Mein Onkel redete mit leiser, eindringlicher Stimme auf mich ein: Ich dürfe keinem davon erzählen, sonst könnte ich nie wieder bei Oma und Opa übernachten. Außerdem würden meine Eltern sehr böse auf mich werden und mich schwer bestrafen. Trotz meiner damaligen Verwirrung erinnere ich mich noch ganz genau an seine Worte. Und dann ging er einfach. Was anschließend passierte, weiß ich nicht mehr – es ist wie aus meinem Gedächtnis gelöscht. Ich weiß nur, dass ich irgendwann wieder in der Bäckerei stand und mit meinem Onkel Hank sprach, als sei nichts geschehen. Er war derjenige, der die Torten verzierte, und ich bekam immer Sahne aus dem großen Spritzbeutel. Auch an diesem Tag sprühte er mir einen großen Kleks direkt in den Mund – alles war wie sonst auch, ganz normal.
In den darauffolgenden Monaten dachte ich nicht mehr an das, was im Badezimmer geschehen war. In Eindhoven ging alles seinen gewohnten Gang. Meine Mutter war häufig wütend auf mich, und wie schon vor der Missbrauchssituation bekam ich zu hören, was für ein schwieriges Kind ich doch sei. Immer fand sie mich anstrengend, sagte mir das auch wieder und wieder. Irgendwann fing ich an, ihr Kleingeld aus der Jackentasche zu klauen. Sie hatte dort stets so viele Münzen drin, dass sie es bestimmt nicht bemerken würde. Von dem Geld kaufte ich mir immer etwas Süßes. Inzwischen ist mir klar, warum es stets Süßigkeiten waren – ich versuchte auf diese Weise, meinen Schmerz, meine Trauer und die Gefühle des Unbehagens zu kompensieren.
Ein paar Monate später übernachtete ich wieder einmal bei den Großeltern. Und wieder erschien Onkel Arie – wie aus dem Nichts – im Badezimmer. Es geschah fast dasselbe wie beim ersten Mal. Es fällt mir schwer zu sagen, was anders war, selbst nach all den Jahren ist es schwierig. Der Unterschied zum ersten Mal war, dass er mir einen Gulden gab, bevor er das Badezimmer wieder verließ. „Kauf dir was Schönes dafür, das hast du dir verdient.“ Ein Gulden war Anfang der 1960er-Jahre viel Geld, und ich habe es genommen. Damit war der „Geheimhaltungspakt“ besiegelt. Davor hätte ich meinen Eltern vielleicht erzählen können, was mir widerfahren war, aber nachdem ich Geld dafür angenommen hatte, war das ausgeschlossen. Sie hätten mir sowieso nicht geglaubt. Arie war schließlich der nette Onkel und ich ein schwieriges, schwer erziehbares Kind.
Es kam noch zu zwei, drei weiteren Vorfällen dieser Art. Wann genau es aufhörte und warum, kann ich nicht sagen. Ich weiß nur, dass wir irgendwann nach Venlo umzogen und danach gab es keine Übernachtungsbesuche mehr bei meinen Großeltern. Da war ich ungefähr dreizehn.
In der Pubertät war ich noch schwieriger und anstrengender im Umgang (fanden meine Eltern). Es gab immer wieder Auseinandersetzungen mit meiner Mutter und ich wurde so oft bestraft, dass ich mehrfach von zu Hause wegelaufen bin. Meist ging ich dann zu meiner Tante Bep, die ich sehr gerne hatte und mit deren Sohn ich gut befreundet war. Nach meinem Empfinden war Tante Bep meine „wirkliche“ Mutter. Ich fühlte mich bei ihr immer willkommen.
Einmal war ich kurz davor, ihr zu berichten, was Onkel Arie mit mir gemacht hatte. Aber ausgerechnet in diesem Moment fing sie an, zu erzählen, wie herzensgut er und seine Frau doch seien und was für schlimme Sorgen sie mit ihren Kindern hätten. Also schwieg ich und verbarg das Vorgefallene nur noch umso tiefer in mir. Für meine Freunde und Klassenkamerad*innen war ich ein immer fröhlicher Kumpel, der viel und gerne lachte, für jeden Spaß zu haben war und auf jeder Party für Stimmung sorgte. Daheim war ich hingegen ganz anders. Ich fühlte mich niedergeschlagen und schlecht. Ich hatte immer mehr das Gefühl, zwei unterschiedliche Leben zu führen, besonders nachts, wenn ich in meinem Bett lag.
Die Beziehung zwischen mir und meiner Mutter war schon immer schwierig gewesen. Begonnen hat das schon kurz nach meiner Geburt. In meinen ersten beiden Lebensjahren war ich häufig und lange im Krankenhaus, und heute ist mir klar, dass diese von Angst und Sorge geprägte Zeit der Entwicklung einer stabilen Mutter-Kind-Bindung nicht förderlich war. Mein Vater war für mich „der große Abwesende“ – sowohl körperlich als auch emotional. Wenn er dann nach Hause kam, berichtete meine Mutter ihm regelmäßig, wie aufsässig ich wieder gewesen sei – irgendetwas war immer. Mein Vater hielt sich am liebsten aus allem raus und beschränkte sich darauf, mir zu sagen, ich solle nicht so unartig sein, meine Mutter habe es schließlich schwer genug mit mir.
Meine zwei Brüder und zwei Schwestern bekamen nicht viel davon mit, was bei mir los war; vermutlich fanden sie es ganz in Ordnung, dass ihr Bruder Geert das schwarze Schaf war, weil ihnen so weniger negative Aufmerksamkeit zuteil wurde.
Meine Frau und meine Kinder wissen erst seit fünf oder sechs Jahren, was mir damals passiert ist. Vor ungefähr zwei Jahren habe ich es dann auch meinen Geschwistern erzählt. Daraufhin berichtete mir mein ältester Bruder, er wisse, dass ich als Vierjähriger wahrscheinlich von einem Nachbarn missbraucht worden sei. Ich habe keinerlei Erinnerung daran, aber ich war dennoch sehr schockiert. Die Sache bereitete mir großes Unbehagen und ich fragte ihn, ob unsere Eltern davon gewusst und was sie dagegen unternommen haben. Mein Bruder erwiderte, er wisse nur, dass unser Vater auf diesen Nachbarn immer schlecht zu sprechen gewesen sei. Ich frage mich auch heute noch manchmal, was schlimmer ist: zu wissen, dass mein Onkel mich missbraucht hat, oder nicht zu wissen, was dieser Nachbar mir angetan hat. Das ist alles sehr verwirrend.
Ich wünschte mir, ich hätte mich meiner Frau früher anvertrauen können. Es gab sogar einen „richtigen“ Moment, der sich dafür geradezu angeboten hätte: Onkel Arie beging viele Jahre nach dem Missbrauch Selbstmord. Zu dieser Zeit arbeitete ich mit Opfern von sexuellem Missbrauch. Ich selbst aber hatte meinen Schmerz so tief in mir vergraben, dass nicht einmal der Selbstmord meines Onkels als Trigger ausreichte. Meiner Frau habe ich meine schmerzlichen Erfahrungen eines Tages nach dem Abendessen ganz unvermittelt mitgeteilt: „Ich bin als Kind sexuell missbraucht worden, aber ich möchte nicht darüber sprechen.“ Das war in der Zeit, als sexueller Missbrauch in der katholischen Kirche an die Öffentlichkeit kam. Tatsächlich habe ich seit diesem Tag auch nie wieder über das Thema mit ihr gesprochen. Ich kann und will auch jetzt noch nicht darüber reden, was sich damals im Badezimmer meiner Großeltern abgespielt hat. Irgendwie gibt es nicht die richtigen Worte dafür. Aber das ist auch nicht so wichtig. Wichtiger ist, zu wissen, dass es passiert ist und welche verheerenden Auswirkungen es auf mich als Kind gehabt hat. Auch heute als Erwachsenen überkommen mich zuweilen ganz unerwartet schmerzhafte Erinnerungen daran.
Warum ich nun in diesem Buch von meinen Erfahrungen berichten will? Weil mir mittlerweile klar geworden ist, dass ich meiner Umwelt viele Signale gesendet habe, auch wenn ich nie etwas davon erzählt habe. Diese Signale waren sehr unterschiedlicher Art. Ein schwieriges Kind zu Hause, ein fröhlicher Junge außerhalb. Nachts im Bett quälende Gedanken, in der Schule und mit Freunden der Clown. Aufgrund dieser Erfahrung fällt es mir heutzutage immer sehr schwer, mit anzuhören, wie Eltern, Lehrer*innen oder Betreuer*innen sagen: „Dieses Kind/dieser Schüler/diese Klientin/dieser demente alte Mensch ist so schwierig. Meiner Meinung nach ist er verhaltensgestört und ich habe dauernd mit seinem Problemverhalten zu tun.“ Es verletzt mich aufgrund meiner persönlichen Erfahrungen noch immer, wenn auf diese Art über Klient*innen gesprochen wird. Ich möchte in diesem Buch deutlich machen, dass wir mit Urteilen wie „schwierig“, „gestört“ oder „problematisch“ keinen Schritt weiterkommen, im Gegenteil. Indem wir es weiterhin auf diese Weise betrachten, rufen wir damit möglicherwiese sogar noch extremeres Verhalten hervor. Sobald wir aber das Verhalten als ein Signal von Schmerz, Trauer, Angst oder Unsicherheit erkennen, besteht die Chance, unser Gegenüber wirklich zu erreichen, Kontakt aufzunehmen. Mit aufrichtigem Interesse können wir sicher mehr zur Lösung tieferliegender Probleme beitragen.
Woher wissen wir nun aber, welche Signale auf Probleme hindeuten? Ich habe damals schließlich zwei vollkommen unterschiedliche Signale gesendet: schwierig und fröhlich. Ich komme in diesem Buch noch ausführlich darauf zurück.
Zum Schluss noch ein weiterer wichtiger Grund, weshalb ich meine eigene Erfahrung in diesem Buch öffentlich mache: Viele pflegebedürftige Klient*innen verfügen einfach nicht über die Worte, um zu sagen, was in ihrem Leben nicht in Ordnung war oder ist. Und so bleibt ihnen nichts anderes übrig, als ihre Geschichte mithilfe von Signalen zu erzählen.
Fragen zur Reflexion
1.Nachdem Sie dieses Kapitel gelesen haben – was waren Ihre ersten Gedanken?
2.Haben Sie zu dem, was Sie gelesen haben, eine klare Meinung?
3.In diesem Kapitel ging es unter anderem um sexuellen Missbrauch von Jungen. Wie kommt es, dass wir glauben, vor allem Mädchen seien davon betroffen?
4.Was denken Sie über Onkel Arie?
5.Können Sie sich vorstellen, dass Sie Ihren Eltern ebenfalls nicht von einem solchen Vorfall erzählt hätten?
6.Wie hätte die Situation sein müssen, damit Sie ihnen doch alles anvertrauen?
7.Können Sie verstehen, warum ich außerhalb meines Zuhauses ein fröhlicher Junge war?
8.Wie denken Sie darüber, dass ich das Geld von meinem Onkel angenommen habe?
9.Wie denken Sie über Onkel Aries Selbstmord?
10.Ist es schon vorgekommen, dass Sie von „Problemverhalten“ eines Klienten oder einer Klientin gesprochen haben?

Wo bist du?
Klient*innen, die sich unverstanden fühlen und denen keine Lösung für ihre Probleme angeboten wird, fühlen sich oft einsam. Einsamkeit kann auf viele unterschiedliche Arten definiert werden; auf zwei davon möchte ich hier näher eingehen, weil sie mir besonders wichtig erscheinen.
Definition eins:
das Gefühl, allein und von „den anderen“ isoliert zu sein.
Diese Definition beschäftigt mich am meisten. Wer sind „die anderen“? Hat sich da jemand selbst zurückgezogen/isoliert? Wenn ja, was ist der Grund dafür? Oder haben andere sie oder ihn ausgegrenzt? Falls ja, warum haben sie das getan? Ist es ein grundlegendes menschliches Bedürfnis, sich von anderen zu isolieren? Wenn ja – wie kann das sein? Sind nicht alle Menschen soziale Wesen?
Eine sichere Bindung zwischen Eltern und Kind ist von Geburt an von enormer Bedeutung. Ein Kind tut alles Mögliche, um seine Eltern dazu zu bewegen, es mit allem Notwendigen zu versorgen. Eine Mutter wird alles tun, damit ihr Kind isst. Es ist schon viel über Situationen geschrieben worden, in denen dieser Bindungsprozess nicht gut funktioniert hat. Alle Menschen suchen nach Bindung – oder anders gesagt: Jeder Mensch sucht nach Sicherheit. Fehlende Sicherheit verhindert eine gesunde Entwicklung. Selbst das körperliche Wachstum kann dadurch behindert werden.
Zurück zu meiner Frage: „Wer isoliert wen?“ Meiner Ansicht nach ziehen sich wehrlose Kinder selten aus eigenem Antrieb von ihren Bezugspersonen zurück. Es wäre geradezu unnatürlich, wenn ein Kind den Kontakt mit der versorgenden Person, und somit auch die Nahrung, verweigerte. Denn dies könnte seinen Tod bedeuten. Also kann die Kontaktverweigerung nur von einer Seite ausgehen, nämlich von der der Eltern oder Betreuer*innen. Es geht hier nicht um Schuldzuweisung, Grund dafür können auch Unvermögen oder Überforderung sein. Wenn wir nach Schuldigen suchen, bringt uns das nur weiter von den eigentlichen Problemen und so auch von deren Lösung weg.
Da ein Baby nicht mit Worten beschreiben kann, was ihm fehlt, muss es dies auf andere Weise signalisieren. Das kommt niemandem verrückt oder seltsam vor. Das vorrangige Signal eines Säuglings ist Weinen oder Schreien. Eltern sind auf dieses Signal sozusagen „programmiert“ und reagieren sofort.
Um herauszufinden, was das Kind braucht, wird es beobachtet. Ist ihm unter seiner Decke warm genug? Hat es Hunger? Muss es ein „Bäuerchen“ machen? Leidet es unter Koliken? Tut ihm etwas anderes weh? Ist die Windel nass? Ist es müde oder fühlt es sich allein? Meist ist das Problem schnell gelöst, das Kind hört auf zu schreien und der*die Erwachsene weiß, dass alles wieder in Ordnung ist.
Wird keine Lösung gefunden, wird das Kind weiter weinen oder sogar schreien, um uns zu „zwingen“, etwas zu tun, das den unangenehmen Zustand beendet. Ein Beispiel dafür sind sogenannte „Schreikinder“. Durch ihr unentwegtes Schreien teilen sie unmissverständlich mit, dass sie sich unwohl fühlen, und ihre Eltern suchen fieberhaft nach möglichen Ursachen und Lösungen, Aber egal was sie machen, das Kind hört einfach nicht auf zu weinen. Das wiederum verursacht bei der Betreuungsperson Unruhe und Anspannung. Und das spürt auch das Baby. Es fühlt sich nicht sicher und geborgen. Also wird weiter nach Ursachen gesucht. Es kommen gute Ratschläge aus der Familie, der Kinderarzt oder die Kinderärztin untersucht das Kleine, wenn vorhanden, wenden sich die Eltern vielleicht an eine „Schreiambulanz“ – kurzum, es werden viele Menschen mobilisiert, um hinter die Ursachen des dringlichen Signals – andauerndes Schreien – zu kommen. In den meisten Fällen gelingt das auch irgendwann – und gerade die Unsicherheit, die Eltern empfinden, wenn ihr Kind nicht zu schreien aufhört, scheint dabei eine nicht unwesentliche Rolle zu spielen. Eine unsichere und zunehmend verzweifeltere Betreuungsperson wird immer gestresster, das Baby spürt das und schreit umso mehr – es entsteht ein Teufelskreis. Dieser Teufelskreis kann nur durchbrochen werden, wenn die Eltern die Ruhe bewahren oder jemand anderes sich zwischenzeitlich um das Kind kümmern kann. Auf keinen Fall sollte man die Signale des Kindes einfach ignorieren, denn dadurch isoliert man es. Es ist zwar verständlich, dass man die Signale aus lauter Hilflosigkeit am liebsten ignorieren möchte, aber wir sollten alles daransetzen, dass das Kind sich trotz allem von uns gehört fühlt. Nur dann kann sein unsicheres Gefühl wieder in Geborgenheit und Vertrautheit verwandelt werden.
Zweite Definition von Einsamkeit:
die Diskrepanz zwischen gewünschten und tatsächlichen Kontakten
Ein Baby spürt diesen Unterschied, aber es kann ihn nicht verstehen, ebenso wenig wie jemand mit einer schweren geistigen Entwicklungsstörung oder fortgeschrittener Demenz. „Gewünschte Kontakte“ ist ein abstrakter Begriff und abstraktes Denken ist diesen Menschen kaum möglich. Sie können aber mitteilen, ob sie sich bei einer Betreuungsperson gut aufgehoben fühlen oder nicht. Das geht auch ohne Worte, beispielsweise durch Schreien oder große Unruhe, und es ist besonders wichtig, auf solche Signale zu reagieren. Wenn wir sie wahrnehmen und auf die richtige Art reagieren, fühlen die Klient*innen sich verstanden und können aufhören, uns Signale zu senden.
Pflegebedürftige Klient*innen mit einem Entwicklungsalter von circa zwei Jahren können ihrem Umfeld ganz gut mitteilen, bei wem sie sich in bestimmten Momenten sicher fühlen und bei wem nicht. Wahrscheinlich fallen jedem Beispiele dafür ein, wie sie das deutlich machen können. Das heißt nicht, dass die Klient*innen auch jederzeit die Möglichkeit haben, unerwünschte Kontakte zu vermeiden – vielleicht in Gedanken, aber nicht in Worten und Taten. Da sie nichts sagen, ist ihnen sozusagen nichts anzumerken, was dazu führt, dass sie sich noch einsamer fühlen. Jemand, der sich nicht verstanden fühlt, bedient sich der Signale, die ihm zur Verfügung stehen. Auffallend ist, dass in solchen Situationen selten durch Weinen oder Schreien signalisiert wird, dass etwas nicht stimmt, sondern weit häufiger durch „Problemverhalten“. Darauf werde ich später noch näher eingehen.
Fragen zur Reflexion
1.Was verstehen Sie unter Einsamkeit?
2.Bedeutet Einsamkeit für Sie dasselbe wie „Alleinsein“?
3.Sind Sie manchmal einsam?
4.Zeigen Sie das Ihrer Umgebung?
5.Gibt es in Ihrem Umfeld einsame Menschen?
6.Sind hilfebedürftige Klient*innen öfter einsam als beispielsweise ihre Betreuer*innen?
7.Kennen Sie einsame Klient*innen?
8.Könnte diese Einsamkeit mit Ihrem Verhalten zu tun haben?
9.Können Sie Ihre Klient*innen davor bewahren, sich einsam oder isoliert zu fühlen?
Versteh doch, was ich will!
Dieses Kapitel könnte auch die Überschrift „Vom Problem zum Signal“ haben. Es beginnt mit einer der vielen Definitionen des Begriffs „Problem“, die ich am interessantesten finde: „Ein Problem ist die Differenz zwischen der aktuellen und der gewünschten Situation“.
In Sozial- und Pflegeeinrichtungen ist häufig von „Problemverhalten“ die Rede. Beschreibungen wie: „Das sind Klient*innen mit schweren Verhaltensproblemen“ oder Begriffe wie „verhaltensgestörte Klient*innen“ sind allgemein üblich. In größeren Einrichtungen gibt es sogar spezielle Abteilungen für „schwer verhaltensgestörte Klient*innen“! Ich bin jedoch der Meinung, es ist höchste Zeit, zu hinterfragen, was eigentlich damit erreicht werden soll, wenn Menschen als Problemfälle ausgegrenzt werden. Seit Jahren wird im pädagogischen Bereich (beispielsweise in Kitas, Schulen und Jugendzentren) von „schwer erziehbaren Kindern“ oder „Sonderschulkindern“ gesprochen. Aber indem wir Kinder in solche Schubladen stecken und mit entsprechenden Etiketten versehen, machen wir alles nur schlimmer. Denn die Betonung liegt hier stets auf dem „negativen“ Verhalten, das uns vor Herausforderungen stellt. Was hier gänzlich fehlt ist der Blick auf das einzelne, individuelle Kind.
Warum verwenden wir Begriffe wie „Problemverhalten“, wenn wir doch kaum etwas über die Ursachen des jeweiligen Verhaltens wissen? Wem hilft es, wenn wir sagen: „Das ist ein schwer erziehbares Kind“ oder „ein verhaltensgestörtes Kind“? Was sagt das über das jeweilige Kind aus? Auf diese Weise stigmatisieren wir es nur, ohne den geringsten Beitrag zur Lösung seiner Probleme zu leisten.