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1975

„Ich bin ganz doll auf dem Baumstamm ausgerutscht und unten auf meinem Popo gelandet.“

„… aber sowas passiert euch doch allen ganz oft beim Spielen?!“

„… aber dieses Mal hat sich das Reh umgedreht und fürchterlich angefangen zu lachen … Und dann hat der Fuchs auch gelacht und überhaupt haben alle gelacht und ich habe mich ganz blöd und allein gefühlt.“

Prolog

Mai 2020

„No!“

„What?“

„Borrder is klohst.“

„But …“

„No!“

„Wie No?“

„No endrenz do boländ.“

„What? … Why?“

„Borrder is klohst.“

„Aber …“

„No.“

„Ich habe eine Einladung von TV Gdansk …“

… außerdem bin ich offiziell unterwegs und habe einen ultrawichtigen Journalistenausweis. Aber das interessiert den polnischen Grenzschützer natürlich nicht. Genauso wenig wie die Tatsache, dass Joanna jenseits dieser deutsch-polnischen-Grenze auf mich wartet, und wenn ich es jetzt nicht mal langsam zu ihr nach Danzig schaffe, dann wird das Thema gemeinsame Zukunft aber gewaltig ins Wanken geraten. Langsam reichen nämlich Telefonate, Video-Calls oder auch Cyber-Sex nicht mehr. Gefragt ist echter Körperkontakt und sich wieder mal „in echt“ zu sehen und zu unterhalten.

„Can I talk to your boss?“

„Borrder is klohst!“

Corona, du nervst …

Ich bin jetzt etwas über 50. Noch bis vor fünf Minuten fühlte ich mich wie ein verliebter Teenager, der mit wehenden Liebesfahnen loszog, seine Angebetete zu erobern. Und jetzt das:

„Törn!“, fordert mich der liebenswürdiger Grenzer mit aller Bestimmtheit auf.

Und ja, Herr Baumgarten törnt. Das ist der vielbeschriebene Unterschied zwischen an- und abturnen … Meine Rückenschmerzen melden sich und ich überlege, was ich jetzt tun kann, um unsere Beziehung zukunftsfest zu machen.

Interessanterweise wird das Auge ja nicht alt: Du schaust Tag für Tag, Jahr für Jahr mit strahlenden Auges auf diese Welt, fühlst die Frische, die Schönheit, und denkst, dass du das alles ja noch wirst viele Jahre genießen können. Die Rente ist Lichtjahre entfernt. Du bist fit, du bist jung, du liebst das Leben.

… und plötzlich sagt die 25-jährige neue Kollegin SIE zu dir.

Es ist in meiner Generation Mann schon ein gewisser Unterschied zwischen Selbstwahrnehmung und Realität feststellbar.

Das passt auch bei Komplimenten, die ich selbstverständlich reihenweise bekomme. Wenn ich höre „Du siehst aber echt jünger aus“, dann denke ich mir leise „na also“. Ehrlicherweise höre ich allerdings etwas häufiger die Version „Sie sehen jünger aus“.

Egal, jung war ich schließlich auch mal. Jetzt bin ich immer noch jung, aber … erfahrener.

Meine Tochter bemerkte einmal am Strand mit einem Lachen, dass meine Brüste ja inzwischen größer seien als ihre. Ja, toll … danke, dafür hängen meine mehr. Natürlich finde ich, dass ich im Großen und Ganzen doch recht gut aussehe. Vielleicht mit einer kleinen Einschränkung: Angezogen mittlerweile besser als nackt.

Die Leiden des jungen Baumgarten

Fit und schön … auch mit 50!

Das mit Aussehen und Körper bei uns Typen um die 50 ist schon so eine Sache. Komplimente bekommt man im Grunde nur noch aus Mitleid oder man wird verarscht, oder jemand will Geld.

Aber ich habe beschlossen, mich trotzdem besser zu fühlen, wenn jemand sagt, ich sähe jünger aus. Ein wenig schwieriger wird dieses Kompliment, wenn es um eine feine Nuance verändert wird: „Oh, Sie sehen aber jünger aus!“ Das SIE macht einfach alles zunichte, zumal ich mich ja auf Augenhöhe mit der Jugend wähne und selbstverständlich auf das DU bestehe. Hier klaffen meine Selbstwahrnehmung und die Realität ein wenig auseinander, für eine jüngere Generation ist alles jenseits der 28 schon verrentet, während ich mich fühle, als hätte ich bis dahin noch 30 Jahre Zeit.

Zeit für eine ehrliche Bestandsanalyse: Ich halte mich selbstverständlich noch für topfit und auf dem Niveau eines 30-jährigen, allerdings eines 30-jährigen von vor 30 Jahren, denn heutzutage hat man das Gefühl, jeder 30-jährige ist täglich in der Muckibude und anschließend beim Tätowierer, um sich die nächsten fünf Zentimeter Armumfang mit Liebesparolen verschönern zu lassen. Ja, der heute 30-Jährige ist anders als der 30-Jährige von früher. Ich, wie gesagt, gehöre mehr so der mittelfitten Version ohne Muckibude an. Wenn ich allerdings im leichten Dämmerlicht und ein wenig von oben betrachtet vorm Spiegel meine Muskeln anspanne, dann empfinde ich das schon als gewaltig, geradezu beeindruckend! Zumindest ist da ein Potenzial, das in einem Fitnessstudio ganz sicher zu neuem Leben erweckt werden könnte. Oder sagen wir mal so: insgesamt sieht man meinem Körper an, dass er mal einigermaßen in Shape gewesen ist, bilde ich mir ein.

Eine besonders schöne Situation dazu habe ich vor kurzer Zeit auf Mallorca erlebt.

Ich erfüllte mir da einen eigenwilligen Traum, indem ich mir ein Muscle-Shirt kaufte. Das sind diese Shirts, die etwas weiter geschnitten sein können, aber vor allem eben obenrum nur aus den schmalen Schulterträgern bestehen und die Gesamtumhüllung des Körpers mit Stoff dann erst knapp unterhalb der Brustwarzen beginnt. Ein wenig proletenhaft, so ein Shirt, aber irgendwie wollte ich das immer schon mal ausprobieren. Was soll ich sagen? Es ist sensationell: Man bekommt Schulterbräune und fühlt sich frei, obwohl man angezogen ist. Schatzi fand das Shirt zwar unmöglich, aber ich hatte mir vorgenommen, mich da mal durchzusetzen. Beim Autofahren mit offenem Fenster umweht der Fahrtwind meinen Oberkörper, alles fühlt sich leicht und frei an. Wir parken den Wagen und gehen zum Strand. Es ist ein lebendiges Halbnacktgefühl, es ist Robinson Crusoe für VW-Fahrer, es ist … Ich übertreibe, es ist einfach anders, locker und angenehm. Später besuchen wir noch eine Strandbar und auch hier komme ich mir echt cool vor. Zwar bilde ich mir ein, die Leute würden ein wenig missbilligend gucken, aber das ist mir egal, schließlich bin ich angezogen. Das letztendliche Urteil zu dem Thema fällt dann Joanna: So ein Muscle-Shirt wäre ja vielleicht ganz praktisch und könnte auch sexy aussehen. Aber sie hätte noch nie jemanden in einem Muscle-Shirt ohne Muskeln gesehen.

Hätten wir das auch geklärt …

Übrigens hat mir Schatzi neulich Fotos von mir geschickt, wo man sehr deutlich meine Augenpartie in Augenschein nehmen kann. Sie hätte gerne, dass ich mir meine Augen operieren lasse. Genauer gesagt, die Lider. Etwas exakter formuliert, die Schlupflider. Also ich persönlich finde ja, das leicht überhängende Oberlid gibt mir eine Art verwegenen Schlafzimmerblick, andere wiederum meinen, es mache mich lediglich alt. Na gut, es kommt eben immer auf das Auge des Betrachters an. Etwas mehr stören mich die Tränensäcke unter meinen Augen. In der Maske lasse ich diese Partie immer etwas dunkler schminken, damit die Tränensäcke in der Kamera optisch nach hinten treten. Hilft aber nicht besonders viel, und vor allem nicht, wenn ich, wie meistens eben, ungeschminkt rumlaufe. Ich mag dieses Geschminktsein beim Fernsehen eh nicht so sehr. Dass mir jemand im Gesicht rumfummelt, finde ich noch prima, aber hinterher das Gefühl, eine Schicht auf der Haut zu haben, stört mich einfach.

Mein Freund Ralf hat das Augenkomplettprogramm in einer Beauty-Klinik machen lassen. Vor etwa zwei Jahren kam er dafür mit seiner Frau Taya von Mallorca rüber nach Hamburg. Selbstverständlich habe ich mich damals um ihn gekümmert, psychisch und physisch. Er ist ein kleiner Schisser und brauchte ein wenig Zuspruch, um vor dem Messer nicht wegzulaufen. Er ließ oben und unten gleichzeitig machen, Schlupflider und Tränensäcke in einem Abwasch. Dazu muss ich sagen, mir als Mann war eigentlich nie aufgefallen, dass er damit irgendwelche Probleme gehabt hätte, wobei er schon Mitte sechzig ist. Direkt nach der OP rief er mich an: „Lass uns erst morgen treffen, ich bin noch kaputt und außerdem sehe ich zum Fürchten aus.“ Wieso zum Fürchten? Ziel war doch, besser auszusehen? An die Blutergüsse und Wunden, die bei so einer Operation entstehen, hatte ich nicht gedacht.

Anderntags wirkte auf den ersten Blick eigentlich alles ganz normal, was damit zusammenhing, dass er mich mit Sonnenbrille begrüßte. „Zeig mal“, sage ich, „so schlimm kann es ja nicht sein.“ Es war schlimmer. Mein Gott, musste ich lachen, der sah sogar komplett verboten aus: Oben und unten total rot und blau und rund um die Augen etwas Schorf, und ich glaube, da waren auch kleine Nähte zu sehen, dazu alles leicht geschwollen. Ich machte schnell ein Foto. Ruckzuck hatte er die Brille wieder auf und berichtete, dass die OP eigentlich ganz gut verlaufen sei; gefährlich sehe es aus, weil eben Schlupflider und Tränensäcke in einem Durchgang erledigt wurden. Als kleine ärztliche Fortbildung weiß ich seitdem, dass bei den Lidern meistens einfach geschnitten und genäht wird, man bei den Tränensäcken dagegen von der Seite reingeht, die Fettablagerungen rausholt und die Kanäle unter dem Auge verschlossen werden, damit da auch nichts mehr reinlaufen kann. Binnen zehn Tagen verschwinden Blutergüsse und Schwellungen wieder.

Und man muss sagen, inzwischen sieht er wirklich wieder normal aus beziehungsweise besser! Unterm Auge kein Derrick mehr, da ist jetzt alles glatt, und von oben drückt ihm auch nichts mehr aufs Auge. Wenn man schadenfroh sein möchte, was ich natürlich nur selten bin, dann möchte man meinen, da kann auch nichts mehr drücken, weil die Augen jetzt ein wenig mehr aufgerissen sind. Aber er selber findet es gut, und das ist ja das Wichtigste.

Werde ich mir denn jetzt nun die Schlupflider richten lassen? Vielleicht. Aber wenn, dann nur so ein ganz klein wenig, das soll auf keinen Fall auffallen, will mich doch nicht lächerlich machen. Aber ist das wirklich wichtig? Ich meine jetzt die Meinung anderer, nicht die Operation. Ist das nicht total dämlich, dass man Angst hat, sich lächerlich zu machen? Ich glaube, das Thema Schönheitsoperationen ist nur in Deutschland so negativ behaftet. Natürlich reden wir jetzt nicht von fehloperierten Menschen, die wie zurechtgezurrte Fratzen aussehen. Frauen oder Männer, die etwas an sich haben machen lassen, sind uns hierzulande ganz grundsätzlich erst mal suspekt. Dabei geht es mich doch eigentlich gar nichts an, wie die aussehen. Wenn sich jemand schöner damit fühlt, dann soll sie oder er es doch machen. Aber wie wir Deutschen so sind, leider kann ich mich da nicht immer ausnehmen, wird gerne erst mal gelästert. Na klar, es gibt nichts Schöneres, als natürlich und in Würde zu altern. Aber wenn man das zumindest äußerlich ein wenig bremsen kann, dann ist das doch okay, oder nicht? Hauptsache, es entsteht kein Zwang daraus, in die eine wie in die andere Richtung.

In diesem Zusammenhang fällt mir ein, wie ich ganz schnell meinen Körper aufpimpen könnte, um im Muscle-Shirt die entsprechende Figur abzugeben. Man kann sich, wie der wirklich sehr nette Harald Glööckler mir mal über sich erzählt hat, Muskelkissen implantieren lassen.

Aber ne, spätestens da bin ich raus.

Was ich mir allerdings tatsächlich überlege, ist, mir neue Linsen in die Augen einsetzen zu lassen. Soll ganz easy sein und du kannst sofort alles wieder nah und fern erkennen. Da habe ich wirklich Bock drauf, denn das Thema Brille nervt mich schon ziemlich. Es wird ja auch definitiv nicht besser, trotz gelegentlichem Augentraining und Vitamintabletten. Früher konnte ich gar nicht begreifen, warum Papa eines Tages anfing, eine Lesebrille zu benutzen, ich selbst hatte immer Augen wie ein Adler und konnte mir nie vorstellen, das die mal nachlassen würden. Bis dann so mit 40 plötzlich die Buchstaben in der Zeitung anfingen zu verschwimmen. Im Grunde ist das doch schrecklich, oder? Da passiert etwas mit deinem Körper und du kannst es nicht mehr umdrehen, es nagt der Zahn der Zeit erbarmungslos weiter und weiter – es sei denn, man schlägt ihm ein Schnippchen und lässt sich neue Linsen einsetzen! Bis dahin muss ich auf eine der gefühlten zehn Lesebrillen zurückgreifen, die vom Auto übers Badezimmer bis ins Büro überall verteilt sind. Brille hat auch Vorteile: Kann ein modisches Accessoire sein, für Gesprächsstoff sorgen, oder, wie in meinem Fall, einfach nur das Doofe aus dem Gesicht nehmen.

Momentan spare ich trotzdem für die Linsen.

In meinem Alter kommt es ja häufiger mal vor, dass Versicherungsvertreter, Bankangestellte oder Ärzte fragen, was man denn sportlich so machen würde. Golf und joggen, sage ich dann immer. Das bedeutet nicht, dass ich einen günstigeren Kredit bekomme oder der Arzt mir den Fitnessstempel erteilt, nein, es erwirkt erstmal nur ein „das ist doch ganz okay“. Ich finde, schlecht ist das nicht. Allerdings ausbaufähig, zumindest wenn ich nicht bald einen BH oder „Spanks“ (diese formenden Unterhosen), tragen will. Ernsthafterweise können wir hier aber auch mal wirklich den gesundheitlichen Aspekt mitreinbringen. Ich erinnere mich noch an meinen Vater, einen erklärten Sportmuffel. Es war in den 80ern und unser Nachbar Herr Fechner hatte das Joggen in einer Zeit für sich entdeckt, als so etwas auf viele Menschen noch verdächtig wirkte. Mindestens jeden Sonntag warf Herr Fechner erst einen kurzen Blick auf seine Uhr und rannte dann für etwa eine Stunde los. „Jetzt rennt der schon wieder, also sowas Dämliches, unglaublich“, war dann von Papa zu hören, der sich das Schauspiel vom Küchenfenster aus ansah und sich dabei noch eine Windsor de Luxe ansteckte. Ja, Papa ist schon gestorben, Herr Fechner rennt immer noch.

Derart vorgeprägt war Joggen jetzt nie wirklich meine absolute Leidenschaft. Obwohl, als wir in der Schule 1000-Meter-, später dann auch 5000-Meter-Läufe machten, war meine Bestzeit bei Letzteren mit knapp 21 Minuten gar nicht mal schlecht. Beim Bund mussten wir auch ständig laufen. Es gab die kleine und die große Runde um die Kaserne in Lüneburg. Zumindest war danach der Alkohol vom Vorabend raus. Danach bin ich lange Zeit nicht mehr Laufen gegangen. Erst so mit 40 ging das wieder los mit Dreiviertelstundenläufen durch die Eilenriede in Hannover und später in Hamburg hinten bei Hagenbeck entlang. Es soll ja Leute geben, die können Joggen genießen. Ich gehöre nicht dazu. Vorher habe ich absolut keinen Bock und währenddessen denke ich nur daran, dass es hoffentlich bald zu Ende ist. Hinterher allerdings fühle ich mich großartig, die Glückshormone kommen bei mir wahrscheinlich erst nach dem Laufen aus dem Startblock. Damit das übrigens klar ist: Auch Golf ist ein Sport! Als Profigolfer muss man heute topfit und durchtrainiert sein, wenn man eine Chance haben will. Das Golfen allein allerdings hält auch schon fit. Klingt vielleicht lahm, aber bei einer Runde geht man so in etwa zehn Kilometer und muss nebenbei immer wieder einen vernünftigen Schwung ausführen, was eine gute Körperkoordination erfordert. Leider hat sich bei mir inzwischen ein körperliches Problem eingestellt: Im Bemühen, meine technischen Unzulänglichkeiten mit Kraft und Schnelligkeit auszugleichen, habe ich mir was in der Hüfte geholt. Nach monatelangen Internetrecherchen und Konsultationen bei Orthopäden, Chiropraktikern und Osteopathen ist das Ergebnis: Blockade in der Hüfte. Das Iliosakralgelenk macht Probleme infolge von Muskelverspannungen, ausgelöst durch zu langes Sitzen und einseitige Fehlbelastung beim Golf. Joggen fällt daher ohnehin flach, es schmerzt in den Lendenwirbeln. Ich habe schon versucht, in den Schmerz reinzulaufen, ihn zu überlisten, hat er aber gemerkt und konnte danach nur mit einer verstärkten Dosis Diclofenac wieder runtergeregelt werden.

Joanna liegt mir ständig in den Ohren, ich müsse was für meinen Rücken tun. Sie wird nicht müde, mir irgendwelche Übungen an die Hand zu geben, oder versucht, mich zu einem ihrer Kurse mitzunehmen. Aber ich sage euch: Wenn es eines gibt, was wir Männer hassen, dann so etwas. Das zieht sich bei vielen von uns durchs ganze Leben: Wenn ihr uns was aufdrängen wollt, dann machen wir es nicht. Wir machen das lieber allein, von uns aus, auf unsere Art, und außerdem checken wir vorher noch andere Möglichkeiten. Und tatsächlich habe ich jetzt die, zumindest vorerst, richtigen Dehnübungen (boah, tun die weh!) für mich gefunden. Und, jetzt kommt’s: Ich habe mich im Sportsclub Eppendorf angemeldet! Zum ersten Mal in meinem Leben bin ich Mitglied in einem Fitnessstudio, und was soll ich sagen: ist der Hammer, macht mir echt Spaß. Statt zu joggen gehe ich jetzt 20 Minuten auf den Crosstrainer und danach mache ich ein Zirkeltraining an verschiedenen Geräten, die Rücken- und Brustmuskeln explodieren lassen werden. Jawoll!

Ich bin wie ein kleines Kind, das sich freut, denn ich spüre tatsächlich schon eine Besserung im Rücken. Auch sonst ist es doch ganz simpel: Was man bewegt, bleibt auch beweglich. Und wenn ich nichts mache, dann roste ich ein und man kann die Uhr danach stellen, wann irgendwo weitere Probleme auftreten.

Seien wir doch mal ehrlich: Wir denken als 50-Jährige, wir könnten bei den 18-Jährigen draußen auf dem Bolzplatz noch locker mithalten. Aber wenn wir dann mal wirklich mitspielen, sind wir hinterher garantiert verletzt. Wahrscheinlich, weil wir mangelnde Fitness mit übertriebenem Einsatz wettzumachen versuchen. Oder mal eben ein Handstand. Locker, denkt sich da der 50-Jährige, der früher ein ganz passabler Turner war. Von wegen. Da knicken die Arme schneller ab, als die Beine überhaupt hochkommen. Das ist die Realität und nicht die vollmundigen Ankündigungen am Stammtisch, was man alles noch könnte, wenn man nur wollte.

Aber hätte ich mir das mit 20 vorstellen können? Dass ältere Leute nicht fit sind, das habe ich mir schon gedacht, aber dass auch mein Körper, der mich jetzt schon einige Jahrzehnte begleitet, tatsächlich auch mal etwas weniger leistungsbereit sein könnte, lag zumindest bis vor Kurzem außerhalb meines Vorstellungsvermögens. Nur in einem bin ich mir inziwschen sicher: Das jetztige Fitnesslevel werde ich halten.

Aporos Level:

Joanna erwartete, dass unsere Beziehung jetzt langsam mal eine Entwicklung nimmt, sozusagen ein verbindliches Level erreicht. Genau das war mein Plan gewesen, als ich nach Danzig fuhr. In diesem Fall allerdings für sie, Joanna, völlig überraschend.

Was bist du bereit, für deine Liebe zu tun?

Teil 1: Mach was!

ANFANG MAI 2019. Der Tacho zeigt 187 Stundenkilometer, ich bin unterwegs nach Danzig. Was muss ich noch erledigen? Den Ring habe ich dabei. Irgendwo muss ich noch Blumen kaufen. Rote Rosen natürlich. Das Navi sagt mir irgendetwas von Ankunftszeit 21 Uhr, und da ich ja morgen früh vor der Schule stehen will, muss ich noch heute die Rosen kaufen. Hotel! Welches nehme ich da? Hm … das mit dem Park, nicht weit von Adas Schule ist doch super! Booking.com aufrufen während der Fahrt ist nicht gerade ideal. Egal, muss jetzt mal gehen, geht auch, zumindest nach fünfmaligem Verschreiben. Als ich dann endlich die Lesebrille benutze, klappt’s plötzlich. Ist auch nicht so richtig gut zum Fahren, aber besser zum Hotel buchen! Was man eben so macht an einem Spätnachmittag im Mai mit 187 km/h auf der A20 Richtung polnische Grenze. Hotel Quadrille, 73 Euro für eine Nacht ist bestätigt. Oder doch lieber zwei Nächte? Ne, macht keinen Sinn, schließlich gibt’s nur zwei Möglichkeiten: Entweder sie nimmt den Antrag an, dann werde ich ja wohl bei ihr die nächste Nacht schlafen, oder sie lehnt ab, dann habe ich da ja nun auch nichts mehr verloren und verschwinde. Gibt es noch was dazwischen? Weiß ich jetzt auch nicht. Hauptsache erst mal ankommen und eine Nacht sicher gebucht haben. Übrigens gut, dass ich das mit dem Buchen jetzt schon erledigt habe, denn hinter Rostock wird das Netz irgendwie löchrig. Handyempfang? Mal ja, mal nein. Wir sind halt in Deutschland. Bisschen blöd ist es nur, dass ich jetzt auch noch einen Blumenhändler irgendwo auf der Strecke rund um Stettin finden muss. Das verschiebe ich auf später, wenn ich wieder besseres Netz habe. Immerhin ist die Autobahn frei und ich komme flott voran. Langsam kommt die Grenze näher. Das ist gut, denn ich befürchte, um 18 Uhr schließen die Läden. Direkt nach Stettin reinzufahren, würde jetzt zu viel Zeit kosten. Am besten wäre also ein Dorf in der Nähe der Autobahn. Nach dem Motto: runterfahren, Blumen kaufen, wieder rauf auf die Autobahn und weiter nach Danzig.

Eben gerade habe ich die beiden Oder-Arme überquert und jetzt kommt auch schon das Schild „Letzte Ausfahrt vor der Grenze“. Mit entspannten 100 statt 80 gleite ich rüber nach Polen, im Grunde ändert sich kaum etwas: Straßen sind gut, Landschaft ist ähnlich, nur die Schilderbeschriftung ist eben auf Polnisch.

Natürlich gibt es in Europa schon lange keine richtigen Grenzen mehr. Deswegen sieht es in den ehemaligen Grenzgebäuden links und rechts der Autobahn eher verlassen aus. Nie hätte ich gedacht, dass später dann diese Geschichte von einem Virus aus China unser aller Leben so grenzenlos auf den Kopf stellen würde und dabei wieder Grenzen schafft, die mich dann noch schwer beschäftigen werden.

Doch noch ahnt der Hinnerk nichts davon. Neben der Sprache ist hier auf polnischen Autobahnen auch noch der Unterschied, dass es ein Tempolimit gibt, und, dass der Sprit günstiger ist und logischerweise in Zloty angezeigt wird. Die Autobahn rund um Stettin wird momentan gerade ausgebaut, hier stockt es ein wenig, aber das ist nichts Besonderes. Im Grunde ist das sogar gut für mich. Jetzt kann ich endlich wieder nach einem Blumenladen fahnden. Das Netz in Polen funktioniert übrigens perfekt – da könnte sich Deutschland mal ein Scheibchen von abschneiden – und schon werde ich fündig. Es ist

17:15 Uhr

und in Goleniow in etwa 20 Kilometer Entfernung, direkt an der Autobahn, gibt es einen Blumenladen, der bis 18:00 Uhr geöffnet hat. Na also, direkt auf den Routenplaner im Handy geklickt: Ankunft in 28 Minuten.

Als ich in Goleniow ankomme ist es, wie geplant,

17:43 Uhr

es herrscht leichter Verkehr, aber ich liege gut in der Zeit. Und das beruhigt mich etwas, denn ein Antrag ohne Blumen und die Frau ist fähig, den Antrag allein deswegen platzen zu lassen!

Der Laden soll an dieser Straße, auf der ich mich gerade befinde, auf der rechten Seite sein. Ah! Hier ist ein Parkplatz, zwar noch 100 Meter entfernt, aber egal, den Rest gehe ich zu Fuß.

17:48 Uhr

… aber wo ist der Laden? Hier müsste er eigentlich sein, oder doch auf der anderen Seite? Nichts, absolut nichts an dieser doch recht stark befahrenen, schmalen Straße deutet auf einen VERDAMMTEN BLUMELADEN hin. Meine Frage nach einem „Flauerschopp“ läuft ins Leere.

17:51 Uhr.

Zurück am Auto, suche ich nochmal im Internet. Um

17.54 Uhr

entdecke ich über die Navigations-App ein Einkaufscenter in der Nähe. Also los, Gas geben, rechtsrum auf die Straße, falsch!

17: 56 Uhr

In den nächsten Hauseingang reinfahren, rückwärts zurück und in die andere Richtung weiterfahren.

17: 57 Uhr

Noch 400 Meter, sagt Google-Maps.

17:58 Uhr

Ich stehe auf einem Parkplatz fast direkt vor dem Eingang des Centers, springe aus dem Auto und spurte los.

17:59 Uhr

… und nichts deutet darauf hin, dass hier IRGENDEIN Geschäft … schließen würde. Leute kommen und gehen in Scharen. Puhhhh! Im Einkaufscenter spreche ich jemanden in gebrochenem Polnisch an: „Kwiaty prosze?“ Es funktioniert, der Herr scheint mein „Blumen bitte?“ richtig zu deuten und zeigt mit der Hand auf die erste Etage, mehr oder weniger direkt über mir. Treppe rauf und da ist er, der Blumenladen, den ich gesucht hatte. Mit so richtig dicken, fetten, großen, blühenden roten Rosen. Wow, wie viele davon sind noch zu haben. Wie viele soll ich überhaupt nehmen? Ich zähle mit der sehr netten Verkäuferin nach. Es sind 19. Man soll immer eine ungerade Zahl verschenken und 19 klingt dann auch besser als 11 oder 15. Ich nehme alle. „Selten habe ich so einen schönen, großen, puren Strauß Rosen gesehen!“, denke ich und sehe am Blick der Verkäuferin, dass sie wohl ahnt, dass ich Größeres vorhabe.

Beim Rausgehen sehe ich einen Stoffhund, den ich in meiner romantisch verklärten Stimmung ebenfalls mitnehme. Als Geschenk und Symbol für Ada: Wenn alles klargeht, kaufen wir ihr den ersehnten echten Hund! Dass Joannas Tochter inzwischen eher nicht mehr so sehr auf Stofftiere steht, verdränge ich in diesem Moment und bin von meiner Idee eher begeistert.

So, das wäre geschafft, Rosen gekauft, Geschenk für Ada, Hotel gebucht, jetzt wieder auf die Autobahn und ab geht’s weiter Richtung Danzig.

Das Schöne am Fahren auf polnischen Autobahnen ist, dass sie nicht so voll sind wie deutsche. Liegt, wie in vielen anderen Ländern, an der Maut für Autobahnen, aber eben einfach auch daran, dass Polen kein so starkes Transitland wie Deutschland ist. Die Autobahn Richtung Danzig hat noch einen weiteren Vorteil: Man muss hier bislang noch keine Maut bezahlen und sie ist außerdem wunderbar neu. Allerdings geht sie nicht ganz durch, mehr als die Hälfte fehlt momentan noch: Locker und lässig mit Tempomat durchrutschen kann man bis Koszalin, das sind etwa 160 Kilometer. Bei Koszalin gelangt man wegen fehlerhafter geologischer Gutachten zur Achillesferse dieser Autobahn. Während am Rest der Strecke der neuen S6 weiter fleißig gebaut wird, gerät hier der Fortschritt leider etwas ins Stocken, sprich: Hier ist Schluss mit Autobahn und Tempomat. Ab dieser mittelgroßen polnischen Stadt, die sich rund 20 Minuten östlich vom bekannten Küstenort Kolberg befindet und selbst auch nur ein paar Kilometer von der Ostsee entfernt liegt, geht es leider nur über die Bundesstraße weiter, das sind dann noch mal schlappe 200 Kilometer bis zum Ziel meiner Reise, 200 Kilometer, die sich durch Trucks und einige langsam fahrende Autos ziehen können. Allerdings sind die meisten polnischen Autofahrer eher flott unterwegs. Und auch etwas risikofreudiger als deutsche Autofahrer. Überholen gehört hier wie selbstverständlich dazu, gerne auch bei Gegenverkehr. Der Langsame weicht auf der breit ausgebauten Bundesstraße einfach nach rechts aus, wenn er merkt, hinter ihm will jemand überholen. Nach dem Einscheren bekommt er dafür einen kleinen Gruß durch kurzes Betätigen der Warnblinkanlage. Da ich mich gerne den Sitten in anderen Ländern anpasse, fahre ich also wie ein Pole. Wie ein schneller Pole. Ehrlicherweise muss ich gestehen, dass diese Überholmanöver nicht immer nur ungefährlich sind.

Unwillkürlich muss ich dran denken, wie ich im Urlaub in der Dominikanischen Republik vor vielen Jahren mal fast in den Gegenverkehr gerast bin. Wir hatten uns Motorräder ausgeliehen und ich hatte noch einen jüngeren Freund bei mir hinten drauf. Nicht weit von der Stelle, wo Falco 1998 bei einem Unfall ums Leben kommen sollte, befindet sich eine langgezogene Rechtskurve. Ich bin damals gut drauf, der Junge hinter mir hat auch Spaß an Geschwindigkeit, und so drehe ich ein bisschen am Hahn meiner Honda XR600. Leider befindet sich am rechten Straßenrand ein etwa fünf Meter hoher Wall und ich kann die vor mir befindliche Rechtskurve nicht richtig einsehen.

Es kommt, wie es kommen muss: Ich bin etwas zu schnell und muss in der Kurve über die Mittellinie hinausfahren. In diesem Moment kommt uns ein Bus entgegen. Mir stockt der Atem. Ich bin auf Kollisionskurs und versuche zu bremsen, ohne die Kontrolle über die Maschine zu verlieren, und diese weiter nach rechts zu drücken. Es sind am Ende nur Zentimeter, die wir am Bus vorbeirauschen. Zentimeter, die das Ende hätten bedeuten können. Zentimeter können auch auf einer dämmrigen polnischen Bundesstraße das Ende bedeuten. Leider kann sowas sehr schnell gehen.

Abschied von Papa

Teil 1: Biscaya

FEBRUAR 2016. Als ich vor der Urne stehe, bekomme ich weiche Knie, kriege kaum noch richtig Luft und kämpfe mit den Tränen. Die Kapelle des Ramlinger Friedhofs ist klein und eigentlich sehr nüchtern. Heute aber strahlt sie von innen. Es ist ein kalter, aber heller Februartag und die Sonnenstrahlen, die fast waagerecht durch Tür und Fenster dringen, tauchen die Wände in ein gelbes, fast grelles Licht. Die Blumen auf dem Podest neben der Urne vermitteln eine Frische und einen Duft von Frühling.

Viele Trauergäste sind gekommen. Familie, Freunde, entferntere Freunde, aber auch Menschen, die meinen Vater einfach nur kannten und offensichtlich auch mochten. Etwa 30 Gäste finden in der Kapelle Platz, wir lassen die Türen offen, davor versammeln sich noch mal etwa 20 und warten auf … ja, auf was eigentlich? Eine Zeremonie, ein Innehalten, eine Predigt, ein Abschiednehmen?

Ich stehe in meinem schwarzen Anzug leicht fröstelnd vor der Urne und auf mein Zeichen hin klingt James Last aus den Boxen: Biscaya, ein Titel, den Papa geliebt hat. Es entsteht dabei eine ganz spezielle Atmosphäre, es wird irgendwie warm und ist vertraut, aber der Song nimmt mich auch mit auf eine Reise mit unbekanntem Ziel.

Hier also findet das Leben meines Vaters sein Ende. Hier verabschieden wir uns von ihm.

Schon an seinem Todestag war für mich klar, dass ich es niemandem überlassen möchte, meinen Vater zu verabschieden, der ihn nicht kannte. Was er sich gewünscht hätte für diesen Moment, konnte ich nur ahnen. Etwas Persönliches und Echtes wahrscheinlich. Niemals hätte er das von mir verlangt, aber ich spürte, dass ich hier die Verantwortung übernehmen musste. Deswegen stehe ich jetzt hier vorne und habe mir alles überlegt: Musik, Gebete, Ansprache. Wenigstens das hatte mein Vater verdient. Die letzten Jahre waren einfach zu beschissen zu ihm.

Inzwischen sitzen alle Trauergäste, ein leichtes Hüsteln ist hier und da zu hören, Taschentücher in den Händen, ersticktes Weinen. Ich merke, wie diese Musik eine Verbindung aufgebaut hat. Langsam klingt der Titel aus und ich spüre, wie eine Traurigkeit immer mehr komplett von mir Besitz ergreift. Ich fürchte, keinen Ton rauszukriegen und weiß auch gar nicht mehr so genau, was ich eigentlich sagen will.

Langsam gehe ich zum Podest, halte kurz vor der Urne inne und trete dann hinter das Pult mit dem Mikrofon. Ich spüre, wie meine Energie zurückkehrt, wie mir in diesem Moment mein Job hilft und ich mich auf die Kraft der Sprache verlassen kann. Mir fällt auch wieder der Satz ein, der mir in der Vorbereitung in den Sinn gekommen ist, der Satz, der mir für meinen Vater und alle, die ihn liebten, wichtig ist. Es ist der Satz, den ich später am Ende meiner Ansprache sagen werde und der allen Anwesenden einen eigenen Abschied ermöglicht.

Sohn von Papa

Ja, ich habe meinen Vater geliebt. Ich tue das immer noch, weil er in meinem Herzen natürlich immer noch da ist. Weil es Situationen gibt, in denen ich ihn gerne etwas fragen würde, es Situationen mit meiner Tochter gibt, die mich an ihn und mich erinnern.

Das ist etwas Wunderbares: Familienliebe ist einfach da. Normalerweise stellt man die nie infrage.

Obwohl ich schon sagen muss, dass mein Bruder wahrscheinlich eher von distanzierter Liebe sprechen würde. Sven ist älter und war immer besser in der Schule als ich, Leutnant bei der Bundeswehr, danach das Maschinenbau-Studium mit Bravour bewältigt. Sogar den Doktor hat er gemacht. Dr. Sven. Im Grunde gab es nie was zu meckern. Hat unser Vater aber. Es gab ewig Streit zwischen Mutti und Papa wegen Sven. Das ging dann später sogar in die nächste Generation über. Ich erinnere mich, dass wir mit Svens Sohn Robertchen sonntags beklommen am Mittagstisch saßen, weil wir befürchteten, der kleine Robert würde sich nicht anständig am Tisch benehmen und Papa daraufhin ausrasten. Wie kritisch er auch die beruflichen Ambitionen von Sven betrachtete! Nichts war richtig, alles nicht gut genug. Svens Frau natürlich auch nicht. Und die Kinder Annika und Robert waren zwar okay, aber Papas Meinung nach nicht richtig erzogen. Warum er da so hart war, verstehe ich bis heute nicht. Ich habe mit Mutti oft drüber gesprochen. Vielleicht war es eine gewisse Eifersucht, da Sven vieles von dem erreicht hat, was sich Papa für sich selbst auch gewünscht hätte. Oder es war sein eigener beruflicher Stress, den er irgendwo entladen musste.

Mir gegenüber war er ganz anders. Grundsätzlich war ich schlechter in der Schule als mein Bruder, habe häufiger Mist gebaut (Gott sei Dank waren wir versichert und meine Eltern mussten die Hauswand, die ich aus Spaß an einem Neubau mit Teerfarbe beschmiert hatte, nicht selbst bezahlen), ich bin schon mit 16 um die Häuser gezogen, habe die Bundeswehr als normaler W15er abgeleistet, in Abwesenheit meiner Eltern Partys im Haus gefeiert und mit dem Studium lief das auch nicht gerade rund. Aber irgendwie hatte ich immer einen guten Draht zu meinem Vater. Wir konnten reden. Zum Beispiel erinnere ich mich an einen heftigen Streit zwischen Mutti und Papa. Ich war so etwa 17 und er brüllte dermaßen durchs Haus, dass sich keine Maus mehr aus dem Loch getraut hat. Es war ein komische Moment, in dem ich fühlte, hier passt etwas nicht, das ist zu viel, du musst Mutti helfen. Es gab nie Gewalt zwischen meinen Eltern, aber diese Lautstärke im Streit war schlimm genug und wühlte mich auf. Und da stand ich dann vor meinem Vater mit erhobener Faust. Ich weiß noch genau, wo das war. Unten an der Haustür befand sich eine etwa anderthalb Meter hohe Mauer vor der Kellertreppe. Papa schickte sich an, wutentbrannt aus dem Haus zu stürmen, sich ins Auto zu setzen und nach Frankfurt abzudüsen. Ich halte ihn auf und schreie ihn mit erhobener Faust und zitternd am ganzen Körper an: „Wenn du Mutti einmal was antust, dann schlage ich zu, hört endlich auf zu streiten!“ Er gibt mir eine Ohrfeige, aber plötzlich ist die Situation entschärft.

Meine Aktion muss ihn geschockt haben. Ich weiß noch, wie er sich nach der Ohrfeige augenblicklich beruhigt und zu mir sagt, es sei alles in Ordnung, dann setzt er sich mit wässrigen Augen ins Auto.