Timo Gößler saß 2006 als Autor im vom US-Showrunner Morgan Gendel gecoachten Writers’ Room der Pro7-Krimiserie UNSCHULDIG und war nachhaltig von dieser Arbeitsweise beeindruckt. Seit 2009 lehrt er Dramaturgie und Serielles Erzählen an der Filmuniversität Babelsberg KONRAD WOLF und gibt Writers’-Room-Workshops für die nationale und internationale Branche, seit 2015 leitet er die Weiterbildung „WINTERCLASS Serial Writing and Producing“. Darüber hinaus arbeitet er als Seriendramaturg, Development Producer und Writers’ Room Coach und lebt in Berlin.
Katrin Merkel war 2004 einige Tage im Writers’ Room von THE SHIELD in Hollywood zu Gast – und sofort von der hochprofessionellen Effizienz begeistert. Sie leitete damals das Lektorat bei RTL in Köln, zuvor war sie als Autorin (unter anderem VERBOTENE LIEBE) und Lektorin tätig. Seit 2010 ist sie freiberuflich als Serien-Dramaturgin und als Dozentin für Dramaturgie und serielles Erzählen bzw. Stoffentwicklung im Writers’ Room tätig (ifs, Master School Drehbuch), außerdem arbeitet sie als Development Producer für diverse TV-Serien und lebt in Köln.
Schriften zu dramaturgischen und filmwissenschaftlichen Aspekten
Wir sind der festen Überzeugung, dass eine gelungene Stoffentwicklung maßgeblich für gute Filme und Serien ist und dass man nie genug darüber wissen kann.
Die Master School Drehbuch bietet seit 1995 Seminare und Lehrgänge in den Bereichen Drehbuchschreiben und Dramaturgie an. Der stets angeregte Austausch im Kolleg:innenkreis und unter den Freund:innen der Schule war unsere Motivation, im Jahr 2015 die Master School Drehbuch EDITION zu gründen.
Es macht uns Freude, tiefer in dramaturgische und filmwissenschaftliche Themen einzusteigen. Wir finden es wichtig, unser praktisches Know-how anderen zugänglich zu machen.
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Layout und Satz: Edgar Lange
Lektorat: Doris Schemmel
Herstellung und Vertrieb: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN: 978-3-946930-05-1(Print-Version)
ISBN: 978-3-946930-06-8 (ePUB-Version)
Wir leben in aufregenden Zeiten für die deutsche Serie. Immer mehr Anbieter produzieren immer mehr Serien in immer größerer Vielfalt. Plötzlich ist es möglich, mit Serienware „Made in Germany“ ein Millionenpublikum auf der ganzen Welt zu begeistern. Und immer mehr Formate sind nicht mehr für einen bestimmten Programmplatz und mit einem Korsett an inhaltlichen und formalen Vorgaben und Erwartungen konzipiert, sondern werden von Anfang an als Solitäre erschaffen: die sogenannten Qualitätsserien. Wir sehen sie weniger durch hohe Budgets als vielmehr durch formale und inhaltliche Komplexität, durch ein episodenübergreifendes, also horizontales Erzählen und nicht zuletzt durch Autor:innen als elementare Schöpfer:innen definiert.
Bei aller (berechtigten) Euphorie über die vielen neuen Möglichkeiten sollten wir aber nicht vergessen, dass die deutsche Fernsehbranche schon lange bevor all die neuen Player auf den Markt kamen, konstant ein großes Publikum begeisterte. Deutschland war seit jeher ein Serienland. Und doch: Seit die moderne deutsche Serie vor wenigen Jahren auch hierzulande in die Königsklasse audiovisuellen Erzählens aufgestiegen ist und sich durchaus selbstbewusst im globalen Serienmarkt positioniert, wird die Kluft zwischen traditionell entwickelten bzw. erzählten Formaten für den heimischen Markt und denen, die in neuen Arbeitsweisen entstehen immer sichtbarer. Wir befinden uns nicht nur in einem weltweiten Serienhype, sondern als Branche auch inmitten einer Umbruchphase. Das tradierte deutsche Redakteursfernsehen dominiert zwar noch weitgehend die Produktionslandschaft, wird aber zunehmend von einer sich rasch ausbreitenden neuen Serienkultur herausgefordert, die nicht nur global ausgerichtet ist, sondern auch hierzulande neue Publikumserwartungen weckt und dabei andere Qualitäts- und Produktionsstandards voraussetzt.
Was jahrzehntelang durch als unumstößlich geltende Strukturen und Abläufe definiert wurde, findet heute immer öfter ganz anders statt: neue Distributionswege, neue Modelle der Finanzierung und vor allem neue Modelle und Formen der Entwicklung und der Zusammenarbeit brechen sich mehr und mehr Bahn. Der Einfluss der USA, dem Ausgangspunkt dieses neuen, erstmalig globalen Golden Age of Television auf die deutsche Produktionslandschaft ist unübersehbar – zumindest, was die Begrifflichkeiten betrifft: Allerorten schießen „Writers’ Rooms“ aus dem Boden, immer öfter ist von „Showrunnern“ die Rede – auch wenn nicht alle Akteur:innen dasselbe mit diesen Begriffen meinen. Die mittlerweile ganz selbstverständliche und teilweise inflationäre Verwendung dieser Begriffe heißt noch lange nicht, dass wir deshalb ebenso beständig, ebenso effizient und in ebenso großer Breite serielle Qualität herzustellen in der Lage wären wie die Kolleg:innen jenseits des Atlantiks.
Klar, das ist ein völlig anderer Markt. Was aber viel entscheidender ist und was die US-Kolleg:innen uns im Wesentlichen voraushaben: einen breiten und allgemein akzeptierten Konsens darüber, in welcher Weise TV-Serien sowohl hochwertig als auch effizient entwickelt und hergestellt werden können. Diese vereinheitlichte Professionalisierung ist in den USA untrennbar verbunden mit einem komplexen Arbeitsmodell, das in eine durchökonomisierte Serienherstellungsstruktur eingebettet ist und alle Gewerke und Produktionsetappen umfasst: das Modell Writers’ Room. Es mag uns angesichts der künstlerischen Qualität vieler US-Serien verwundern, doch dieses Arbeitsmodell entstand aus ausschließlich ökonomischen Gründen, was in den USA – anders als bei uns in Deutschland und Europa – in keinerlei Widerspruch zu Relevanz und Anspruch steht.
Das Modell Writers’ Room setzt auf die Kombination größtmöglicher kreativer Freiheit und künstlerischer Synergie auf der einen Seite und strengsten Vorgaben, Schedules, Methoden und Hierarchien auf der anderen und reglementiert den gesamten Produktionsprozess – von der ersten Idee bis zur endgefertigten Serienepisode. Mit einer Art CEO an der Spitze, der die Verantwortlichkeiten unserer Chefautor:innen, Producer, Produzent:innen und Regisseur:innen in einer Person vereinigt: dem Showrunner. Ein Writers’ Room ist also beileibe nicht einfach nur ein Raum voller Autor:innen, das ist eines der ersten Missverständnisse. Ein paar Tage zusammen im Team brainstormen ist kein Writers’ Room. Und eine Autor:in, die ein Mitspracherecht beim Casting oder gar der Auswahl der Regie hat, ist noch lange kein Showrunner.
Nach den ersten Jahren des neuen deutschen Serienbooms scheint der ganz große Glamour dieser schicken US-Begriffe nun ein wenig verblichen zu sein. Gut so! Denn jetzt kann der ersten Begeisterung die nötige und konsequente Professionalisierung folgen. Denn wenn wir mit diesem komplexen Modell arbeiten wollen, müssen wir uns die nötigen Kompetenzen aneignen. Und dazu braucht es zunächst ein einheitliches Verständnis der Prozesse und Arbeitsweisen, ein Wissen darum, was ein Writers’ Room im Kern ist, wie er funktioniert, welche Tools er verwendet und was einen echten Showrunner definiert. Das ist – neben unserer professionellen Leidenschaft für dieses extrem effiziente Stoffentwicklungsmodell – einer der Gründe, warum wir dieses Buch geschrieben haben.
Machen wir uns nichts vor: Es ist schwierig, diese sehr US-amerikanische Arbeitsweise in unserem System anzuwenden. Und das hat viele Gründe, über die wir in diesem Buch sprechen wollen. Auch, wenn es gar nicht zwangsläufig unser Ziel sein sollte (und kann), das US-System eins zu eins auf den deutschen Markt zu übertragen, ist es aus unserer Sicht sinnvoll, die dem Writers’ Room Ansatz zugrunde liegenden Prinzipien wirklich zu durchdringen – und erst dann daraus abzuleiten, was für uns für welches Format, in welchem Kontext sinnvoll ist. Und auch für wen. Denn es ist natürlich absolut legitim, als Produktionsfirma oder Sender anders zu entwickeln oder als Autor:in nicht in einen Writers’ Room gehen zu wollen. Die Entscheidung aber, in dem Modell Showrunner/Writers’ Room zu arbeiten bzw. es wirklich ernst zu nehmen, hat weitreichende Konsequenzen auf verschiedenen Ebenen, sowohl im konkreten Entwickeln und Schreiben als auch produktionell, strukturell und nicht zuletzt finanziell.
Der German Room richtet sich deswegen an alle, die mit dem US-Modell arbeiten und dessen überaus komplexe Systematik verstehen wollen. Uns geht es dabei nicht darum, die US-Entwicklungskultur als einzig mögliche Idealnorm zu romantisieren und unsere Traditionen despektierlich über den Haufen zu werfen. Ganz im Gegenteil: Wir wünschen uns, das Beste beider Serienherstellungswelten miteinander zu verbinden, um die künstlerische Eigenheit europäischer Traditionen und die professionelle und ökonomische Effizienz des US-Modells miteinander in Einklang zu bringen.
Am Ende werden wir als Branche unseren eigenen Weg finden, unsere (zukünftigen) Standards selbst definieren und verbindlich verabreden müssen. Dabei können wir nicht nur von den US-Kolleg:innen lernen, sondern auch von den stetig zunehmenden Erfahrungen deutscher und auch europäischer Writers’-Room-Modelle und -Ansätze profitieren. Wir sind der Überzeugung, dass sich der Trend der konsequent kollaborativen Entwicklung und die längst überfällige Aufwertung der Autor:innen nicht länger aufhalten lassen. Und – als Schlüsselelemente erfolgreichen seriellen Erzählens – auch nicht aufgehalten werden sollten, wenn wir als deutsche Branche zukunftsfähig bleiben und als Kreative das volle Potenzial dieser aufregenden Gattung Serie freilegen wollen.
In Zeiten von global wie lokal permanent steigender Nachfrage und Konkurrenz und immer höheren qualitativen Ansprüchen (bei Macher:innen und Publikum) darf es zudem kein Tabu mehr sein, über die Optimierung und Ökonomisierung von Strukturen und Prozessen nachzudenken, die letztendlich aus einer anderen Ära stammen. In der es weder an Personal, Zeit oder Geld ernsthaft mangelte und es aus einem historischen Trauma heraus auf allen Ebenen stets galt, die Zentrierung von Entscheidungsgewalt institutionell zu verhindern – was zu einem schwerfälligen Apparat geführt hat. Eine weitere Hürde bei der Etablierung eines wie auch immer gestalteten „German Rooms“ ist unseres Erachtens auch unser kulturelles und strukturelles Mindset, das die Übertragung vieler Prinzipien des US-amerikanischen Originals für uns zu einer ganz besonderen Herausforderung macht.
Deshalb beschäftigen sich die ersten beiden Kapitel dieses Buches auch erst einmal mit der Frage, welche kulturhistorischen Begrifflichkeiten, Traditionen und Arbeitsweisen die Stoffentwicklung in Deutschland geprägt haben und immer noch dominieren. Wie und warum das US-System in vielen Aspekten diametral anders funktioniert, wollen wir im Anschluss beleuchten und dafür zunächst die historische Entwicklung im dortigen Markt skizzieren, um schließlich die Toolbox der US-Serienentwicklungsmethodik Writers’ Room detailliert vorzustellen. In den letzten beiden Kapiteln dieses Buches werden wir diverse aktuelle deutsche Writers’-Room-Ansätze analysieren und abschließend konkrete Vorschläge und Empfehlungen für ein sinnvolles Adaptieren der US-Vorgänge in unserer Branche zur Diskussion stellen. Wir wollen für Einsteiger:innen ebenso wie für Brancheninsider innerhalb und außerhalb Deutschlands Begrifflichkeiten (er-)klären, im besten Fall Unklarheiten beseitigen und außerdem (neue) Definitionen vorschlagen – unsere Version eines German Rooms.
Unser Buch versteht sich dabei nicht als dogmatisches One-fits-all-Patentrezept, sondern soll anregen und die immer noch spürbare Euphorie in der deutschen Serienbranche jetzt und in naher Zukunft mit innovativen Ideen, dem Mut zur Veränderung und einer umfassenden Professionalisierung im System Writers’ Room weiter befeuern. Hierzu laden wir nicht nur die Leser:innen dieses Buches, sondern die gesamte Branche ein. Denn wir sind überzeugt: von einem klug durchdachten, stringent konzipierten und konsequent umgesetzten German Room profitieren wir alle–und unsere Serien am allermeisten.
Um den gängigen Missverständnissen vorzubeugen, die das Sprechen über den Writers’ Room hierzulande hartnäckig begleiten, wollen wir zu Beginn einige Begriffe etwas näher beleuchten. Gerade im Bereich der Stoffentwicklung von TV-Serien kursieren im US-amerikanischen und im deutschen bzw. europäischen System sehr unterschiedliche Vorstellungen – und wir behaupten, dass bereits die Herkunft, die Verwendung und die Definition einiger Begrifflichkeiten es uns erschweren, das US-amerikanische Prinzip des Writers’ Rooms erfolgreich auf unseren Markt zu übertragen.
Aber bleiben wir in Europa, schließlich lernten die Bilder hier laufen, und zwar als kommerzielle Jahrmarktsattraktion. Über die Jahre entwickelte sich in Deutschland aus dem neuen Medium neben der kommerziellen Filmkultur aber schließlich auch die staatlich geförderte Kunstform Film, die nach dem Zweiten Weltkrieg kommerzielle Perspektiven erst einmal in den Hintergrund drängte. Und genauso geschah dies beim Fernsehen: Das fiktionale deutsche Fernsehen hat insofern seinen Ursprung für uns viel unmittelbarer in der Filmkunst und nicht im Kommerz. Womöglich deshalb betrachten und bewerten wir auch TV-Autor:innen – auch heute noch – eher aus einer schriftstellerischen und damit künstlerischen Perspektive.
„Ist das Kunst oder kann das weg?“ bis „Das ist doch kommerzieller Dreck!“ – diese Aussagen umreißen ungefähr die Pole und auch die Vorbehalte, zwischen denen sich Kulturschaffende, und insbesondere eben auch Medienschaffende hierzulande immer noch allzu oft positionieren müssen. Die Wertigkeiten, die sie implizieren, scheinen dabei unvereinbar: hier die hohe Kunst, dort der niedere Kommerz. Wer sich als Künstler:in versteht, muss sich rechtfertigen, wenn er oder sie auch Geld verdienen will, wer die brotlose Kunst wählt, wird von den einen bejubelt, von anderen mitleidig belächelt, weil: Geld kann man damit ja wohl nicht verdienen. Um in ihrer jeweiligen Branche überleben zu können, müssen Kreative und Medienschaffende also erst einmal herausfinden, wo und wie sie sich positionieren wollen oder wie sie sich verhalten müssen, um es sich weder mit dem einen noch mit dem anderen Lager zu verscherzen. Von den einen gibt es die Anerkennung, von den anderen in der Regel das Geld. Ob diese Dichotomie sinnvoll bzw. angemessen ist, wird dabei nicht wirklich infrage gestellt.
Doch woher kommen diese Wertvorstellungen eigentlich? In der Regel werden sie uns ganz explizit vermittelt: in der Familie, durch den Freundeskreis, den öffentlichen Diskurs oder in der Ausbildung. Ob bewusst oder unbewusst haben sie sich aber auch durch ein über Jahrhunderte gewachsenes kulturelles Verständnis eingebrannt. Eines der wirkmächtigsten ist dabei die Vorstellung der brotlosen Künstler:in – manifestiert zum Beispiel in dem Gemälde „Der arme Poet“ (1839) von Carl Spitzweg. Historisch gesehen verstehen wir in Europa Kunst seit der Aufklärung als Ausdrucksform der Schönen Künste und den Film neben Tanz und Theater als eine Unterkategorie der Darstellenden Künste, das ist quasi unsere begriffliche Ursuppe. Auch wenn die Realität uns eines Besseren belehrt und Kunstwerke seit Jahrhunderten gehandelt, beurteilt, verkauft und auch höchst kommerziell betrachtet werden, sind für uns vor allem zwei Begriffe prägend: der künstlerische Ausdruck als inneres Bedürfnis der Künstler:in zum einen und quasi das Verbot, daraus materiellen Gewinn zu erzielen: „Kunst ist (...) weniger das, was Kritiker und Spekulanten für wertvoll und handelbar halten, sondern vielmehr all das, worin der Künstler ein Stück von sich selbst gegeben hat.“1 Es gehört für uns – etwas zugespitzt formuliert – durchaus zum künstlerischen Selbstverständnis, sich a) überwiegend verkannt zu sehen, b) Beurteilungen durch andere tendenziell als persönlich und unangemessen wahrzunehmen und c) materiellen Erfolg keinesfalls als Antrieb, sondern vielmehr als suspekt zu empfinden.
Natürlich sind filmische, serielle oder sonstige mediale Bild-Erzeugnisse immer auch Kulturgüter und können selbstverständlich Kunst sein. Dennoch ist zu konstatieren, dass die – bewusste oder unbewusste – Einordnung von Filmen oder Serien und vor allem auch deren Drehbücher in die Kategorie künstlerisches Erzeugnis nicht unbedingt immer zutreffend und erst recht nicht immer hilfreich ist. Denn auch wenn das Fernsehen sowohl kulturell als auch technisch natürlich eine Fortentwicklung des Films darstellt, so ist die TV-Fernsehserie – und die ist ja der Gegenstand unserer Betrachtung – ihrem Wesen nach ein kommerzielles Produkt, das seinen Ursprung im US-amerikanischen Werbefernsehen hat. Genauer gesagt, in den sogenannten Daily Soaps, die wiederum ihren Ursprung im kommerziellen, werbefinanzierten Radio haben.2 Diese Herkunft und auch oft der Zweck heutiger serieller Entwicklungen werden von uns oft verdrängt, stattdessen wird der Ursprung der modernen Fernsehserie neben dem Arthouse-Kino auch häufig in der Literatur verortet, einer ganz klar künstlerischen Kulturpraxis also3 – die US- und die kontinentaleuropäische Perspektive unterscheiden sich diesbezüglich grundlegend.
Die hierzulande nicht selten despektierliche Haltung gegenüber der Unterhaltungsbranche fußt dabei auch auf der ursprünglich aus der Musikindustrie stammenden und immer noch wirkmächtigen Unterscheidung zwischen ernsthafter (sprich: relevanter) Kunst auf der einen Seite (E) und (kulturell unbedeutender) Unterhaltung (U) auf der anderen. Einige tonangebende Filmschaffende der deutschen Nachkriegsära sagten sich 1962 mit dem Oberhausener Manifest von „Papas Kino“ los, welches die Nazizeit verschwieg und das aufs Vergessen versessene deutsche Publikum mit (extrem erfolgreichen) Heimatfilmen einlullte. Bis in den medienkritischen Diskurs der 1970er und 80er Jahre wurde alles – also auch die meisten Fernsehserien –, was nicht auf Bildung und Erbauung, sondern primär auf Unterhaltung ausgerichtet war, als trivial gebrandmarkt, als: gewöhnlich, bedeutungs- bzw. niveaulos, ohne bemerkenswerten Ideengehalt.4
Der Film als Kunstwerk manifestierte sich in Deutschland aber nicht nur in Fachpresse und Feuilleton, sondern auch auf anderen Ebenen – eine davon ist zum Beispiel das Gütesiegel der 1951 gegründeten Behörde Deutsche Film- und Medienbewertung (FBW). Beurteilt wird von ihr die künstlerische Gestaltung eines Films im Zusammenhang mit den sittlichen Grundlagen der Kultur.5 Mit dem Siegel „wertvoll“ oder gar „besonders wertvoll“ lassen sich by the way nicht nur werbestrategische, sondern auch finanzielle Vorteile bei der Vermarktung erzielen. Vor allem wird hier jedoch eine Wertigkeit vermittelt, die sich tief in unsere Köpfe und auch in unseren Sprachgebrauch eingebrannt hat: Kunst = wertvoll. Ist eine kommerzielle Serie womöglich deshalb nur dann wirklich von Wert, wenn sie auch Kunst ist? Ein kompliziertes Verhältnis, denn Qualität definiert sich ja nicht ausschließlich durch künstlerischen Anspruch, erst recht nicht bei einer kommerziellen TV-Serie – und dennoch müssen Medienschaffende und ihre Produkte sich immer wieder mit diesem Maßstab messen lassen.
Während der hochwertige bzw. anspruchsvolle Film also aus seiner europäischen Historie heraus als Kunstform bewertet wurde und immer noch wird, sehen wir die moderne, hochwertige TV-Serie, wie sie sich uns seit einigen Jahren präsentiert, von ihrem Ursprung her als ein kommerzielles Produkt.6 US-amerikanische Serien folgen dabei seit ihren Anfängen konsequent ihrer kommerziellen Bestimmung: Die inhaltliche Ausrichtung ist auf die Befriedigung des Publikums ausgelegt und ihr Wert bemisst sich in der systemimmanenten Währung „kommerzieller Erfolg“. Die Entwicklung und Herstellung wird zudem konsequent unter dem Gesichtspunkt der Profitabilität und Qualitätsmaximierung organisiert – genau dafür steht der Writers’ Room, wie wir später ausführlich darlegen werden. Und selbst dann, wenn es sich um eine Serie handelt, die gar kein breites Publikum erreicht/erreichen muss, wird das Format auf indirekte Weise sehr wohl kommerziell gedacht.7
So leicht machen wir es uns in Europa nicht: da kreative Prozesse–also auch die Entwicklung und Erstellung von Drehbüchern – aus der europäischen Tradition heraus viel eher als künstlerische Arbeit verstanden werden, müssen sie womöglich aus diesem Grund nicht organisiert, sondern eher möglichst unauffällig begleitet werden. Ökonomische Effizienz und Kommerzialisierung sind in diesem Zusammenhang tendenziell suspekt und haben meist eine abwertende Konnotation. Und so haftet kreativen Produkten, die ein breites Publikum erreichen wollen und auf Gewinnerzielung ausgerichtet sind, in Deutschland oft etwas Anrüchiges an. Aber genau diese Gewinnabsicht steht in der Regel hinter der Entwicklung von Drehbüchern für TV-Serien.
Die kulturhistorisch behauptete Unvereinbarkeit von künstlerischem und kommerziellem Streben betrifft insofern nur folgerichtig auch das Verständnis, aber auch das Selbstverständnis von Medienschaffenden und die Haltung gegenüber ihren Produkten. Autor:innen sind zunächst einmal Personen, die ein sprachliches Werk verfassen – so weit, so gut, möchte man meinen. Doch die Berufsbezeichnung TV- bzw. Serienautor:in gilt hierzulande beileibe nicht als Gütesiegel und kann in bestimmten Umfeldern durchaus als defizitär wahrgenommen werden: Kann der/die keinen Film?! Meint: Kino. Obwohl wir in Deutschland schon so viele Jahre so viel Spaß mit TV-Serien haben, galten sie lange als die kleine ungeliebte Schwester des großen Films. Und dies hat logischerweise auch das Selbstverständnis der Akteur:innen geprägt. Flächendeckende und auch vom tonangebenden Feuilleton geteilte Begeisterung für Serien, das gibt es bei uns in Deutschland erst seit wenigen Jahren. Und wir meinen in diesem Zusammenhang Formate, die als TV-Serien gedacht, entwickelt und produziert werden – und nicht als seriell wahrgenommene Reihen oder (Kino-)Mehrteiler, wie etwa die epochale HEIMAT-Trilogie von Edgar Reitz.
Zwar sorgt die vergleichsweise neue, auch kulturelle Anerkennung der Gattung (Qualitäts-)Serie inzwischen für ein gewisses Maß an Aufwertung, aber beileibe noch nicht überall. Ein hochgradig spezialisierter Serien-Profi kann genauso gut etwas mitleidig als Fachidiot bezeichnet werden – und da wird die Spezialisierung zumindest anerkannt. Als besonders erfolgreich gilt jedoch nach wie vor, wer jedes Genre, jeden Sendeplatz und jedes nur erdenkliche Format bedienen kann – den eigenen Arthouse-Film genauso wie die Vorabendserie. Eine Art Universalgenie, dem die Vorstellung der genialischen Autor:in zugrunde liegt, wie sie sich ab der Mitte des 20. Jahrhunderts in verschiedenen filmischen Strömungen in Europa manifestiert hat: Angefangen mit dem Italienischen Neorealismus (ab 1943) über die Nouvelle Vague (ab 1959) und dem Neuen Deutschen Film (ab 1962) bis hin zur Dogma-Bewegung (ab1995) – in all diesen Strömungen stand der Autor (vorwiegend männlich) als Filmemacher, als Auteur, im kreativen Zentrum bei der Erschaffung von Filmkunst.
Grundsätzlich ist diese Fokussierung auf einen kreativen Kopf für das Verständnis der Funktionsweise des Writers’ Rooms durchaus zuträglich, unserer Erfahrung nach wurde dieses kreative Epizentrum aber weniger als inhaltliches und produktionelles Mastermind, sondern – typisch europäisch eben – viel mehr als künstlerisches Genie interpretiert. Denn auch der Geniegedanke hat im europäischen Diskurs eine tief verwurzelte Tradition.
Während im englischen Sprachraum das Wort für Genie vom lateinischen genius übernommen wurde (Verkörperung der männlichen Kraft und also ausschließlich dem Manne innewohnend ... no comment) leitet sich der europäische Geniebegriff von Lateinisch ingenium ab, welches ein natürliches, angeborenes Talent bezeichnet. Immanuel Kant vereinte diese beiden Genie-Begriffe8 und viele große europäische Denker – von Goethe über Humboldt bis Novalis – haben in der Folgezeit ihre eigene Interpretation geliefert. Aus dieser Vielfalt ist in unseren Köpfen vor allem eines hängengeblieben: Kreativität und Genialität sind (scheinbar) untrennbar miteinander verbunden.9 Dieser Geniegedanke verfolgt die im deutsch-traditionellen Sinne als Künstler:innen betrachteten TV-Autor:innen insofern von Anbeginn an – und hat sich wenig überraschend auch in die Bewertungsschemata von TV-Serien eingegraben.10
Der Wert und damit das Ansehen erfolgreicher (westdeutscher) Serienautor:innen erfolgte dabei lange in feinen Abstufungen: Ausgehend von der Tradition des (künstlerisch wertvollen) Autorenfilms, der Deutschland in der Nachkriegszeit endlich wieder internationale Aufmerksamkeit bescherte, standen europäische Autorenfilmer (vornehmlich männlich) lange ganz oben auf der Reputations-Treppe, wenn sie eine Serie machten, auch im Fernsehen. Ähnlich angesehen war der geniale Romanautor (auch gerne männlich), der zudem das Talent zu breitenwirksamer, aber gehobener Unterhaltung hatte und in Verbindung mit einem ebenso genialen Regisseur (männlich) deutsche TV-Geschichte geschrieben hat.11 Die Unterscheidung zwischen E und U schlägt dabei auch hier und bis heute voll durch: Der als hochwertig beurteilten Qualitäts-Serie wird mehr Respekt gezollt als dem reinen Unterhaltungsformat, wie etwa einer lang laufenden Vorabendserie.
Diesem Bewertungsmuster folgend wird reinen TV-Autor:innen nicht die gleiche Anerkennung zuteil wie Romanautor:innen, die auch Drehbücher schreiben; überhaupt gibt es die Berufsbezeichnung Serienautor:in erst seit wenigen Jahren. Einzige Ausnahme bilden hier die Heerscharen von (bekennenden oder anonymen) Soapautor:innen, die seit den 1990er Jahren äußerst produktiv und erfolgreich ihren Job machen. Was jedoch das Renommee betrifft, stehen die „Soapies“ ganz unten auf der Wertschätzungs-Skala.12 Außerhalb ihres eigenen Kosmos wird ihnen professionelle Anerkennung weitgehend verwehrt, und da ihre Werke keinerlei künstlerischen Anspruch erheben, sondern kommerzielle Produkte sind, gelten sie auch in der breiten öffentlichen Wahrnehmung als trivial und deswegen als künstlerisch wertlos.
Dem künstlerischen Genie wird hingegen zwar nicht unbedingt immer Respekt, aber zumindest Anerkennung gezollt – die sich zwar nicht finanziell, wohl aber in der Verleihung von Preisen manifestiert. Darüber hinaus wird allgemein angenommen, dass das künstlerische Genie vornehmlich alleine arbeitet, der Entstehungsprozess des jeweiligen Kunstwerkes unergründlich ist und keinen erlernbaren Regeln folgt. Auch diese Charakterisierung ist natürlich zugespitzt, doch wir behaupten, dass sich in unseren Hinterköpfen dieser Geniegedanke in einer Art und Weise eingenistet hat, die der unvoreingenommenen Begegnung mit dem US-Modell Writers’ Room nicht zuträglich ist.
Neben dem Geniegedanken ist aber auch die Betrachtung von fiktionalen Schriftwerken jedweder Art als Kunstwerk ein weiterer Stolperstein auf dem Weg in den US-amerikanischen Writers’ Room.
1 Siehe http://artfocus.com/kunst/.
2 Daily Soaps sind mit großem Ensemble konsequent horizontal und mit mehreren parallel erzählten Storylines angelegte, günstig produzierte Endlosserien, deren einfache Handlung sich zumeist aus stark dramatisierten zwischenmenschlichen Konflikten aller Art speist und die täglich – meist in der Daytime oder am Vorabend – ausgestrahlt werden.
3 Serielle Formen finden sich in allen kulturellen Bereichen und natürlich bilden alle seriellen Ausdrucksformen einen Referenzraum füreinander. Der Roman oder der Fortsetzungsroman vor allem aus dem 19. Jahrhundert gelte zum Beispiel laut Harald Keller als direkter Vorläufer serieller Kino- und Fernsehformen. Wenn der Autor auch direkt darauf verweist, dass es sich bei den Fortsetzungsromanen dieser Zeit sehr wohl auch um kommerziell gedachte Produkte handelte, die teilweise tatsächlich auch in Writers’ Room ähnlichen Strukturen entstanden. Vgl. Harald Keller: Vom Fortsetzungsroman zum TV-Event. In: epd film 5/21.
4 Siehe hierzu: Neil Postman: Wir amüsieren uns zu Tode. Frankfurt am Main 1985.
5 Vgl. https://www.fbw-filmbewertung.com.
6 Dies bedeutet weder, dass es keine als „wertvoll“ eingestuften kommerziellen Filme gibt, noch, dass es keine kommerziell erfolgreichen Serien mit künstlerischem Anspruch gibt.
7 Vgl. Kap. III. 1.
8 Vgl. Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. Diverse Ausgaben.
9 Vgl. Mark A. Runco und Garrett J. Jaeger: The Standard Definition of Creativity. In: Creativity Research Journal. Band 24, Nr. 1, Januar 2012.
10 Interessanterweise ist der englische Begriff „artist“ deutlich wertneutraler und meint einfach Personen, die sich in welcher Form auch immer kreativ betätigen, und impliziert keinerlei Widerspruch zur Kommerzialität.
11 Wie zum Beispiel Süskind und Dietl.
12 Völlig zu Unrecht, denn sie sind hochspezialisierte und extrem gut ausgebildete Profis, die für eine Arbeit im Writers’ Room bestens gerüstet sind, da sie das Prinzip industrieller, arbeitsteiliger Serienentwicklung und -produktion im Team ganz selbstverständlich und uneitel umsetzen. Mehr dazu in Kap. V. 1.
Im Tagesgeschäft ist ein Drehbuch zunächst einmal von juristischer Seite ein „Werk“ – in Verträgen werden Drehbücher konsequent so bezeichnet, es geht um verbindliche Vereinbarungen bezüglich Leistung und Entlohnung. An sich erstmal wertfrei, führt auch dieser Begriff unter Umständen in eine falsche Richtung: Wenn wir „Werk“ sagen, denken wir nicht eher an Kunstwerk als an Handwerk? Können wir uns die einsame Autorin in ihrem Kämmerlein nicht genauso leicht vorstellen, wie den scheuen Poeten, der sich in der Abgeschiedenheit seiner (natürlich kalten und zugigen) Mansarde mit der Erstellung seines nächsten Kunstwerkes abmüht? Mag sein. Aber auch auf der faktischen Ebene wird die künstlerische Interpretation unterstützt: So wie eine Künstler:in mit der Signatur die Echtheit eines Kunstwerkes bescheinigt, müssen Drehbuchautor:innen per Unterschrift versichern, dass sie alleinige Urheber:innen und Verfasser:innen ihres Werkes sind.13 Diese Fixierung auf die Einzelleistung und das fertige Drehbuch als das geldwerte Endprodukt negiert zudem sowohl strukturell als auch finanziell den kreativ viel wichtigeren und zeitaufwendigeren Prozess der Stoffentwicklung – das Herzstück des US-amerikanischen Writers’-Room-Modells.
Sicherlich kann und soll man Drehbücher für ihre Kunstfertigkeit wertschätzen und sie können natürlich auch wahre Kunstwerke sein. Aber: Für das Verständnis der Arbeits- und Funktionsweise des Arbeitsmodells ist es viel hilfreicher, insbesondere ein TV-Seriendrehbuch nicht als Individualleistung oder als (Kunst-)Werk, sondern als gemeinschaftlich entwickeltes Werkstück zu begreifen–ein Wort, das in unserem Sprachgebrauch eher im Handwerk und der Industrie Verwendung findet. Und die Kombination dieser beiden Begriffe ist durchaus sinnvoll, um ein Serien-Drehbuch etwas weniger verklärt als das zu betrachten, was es im Grunde ist: als ein Werkstück in einem Prozess, an dessen Ende das fertige Produkt steht. Und dieses Endprodukt ist nicht ein wunderbar zu lesendes Drehbuch einer einzelnen Episode, sondern eine Serienstaffel, deren Ausstrahlung eine erfolgreiche kommerzielle Auswertung zum Ziel hat.
13 Sofern nicht explizit eine gemeinschaftliche Urheberschaft vereinbart wird – mehr dazu in Kap. VI. 4.
Serielles Erzählen wurde nicht vom Fernsehen erfunden und ist auch beileibe nicht auf dieses Medium beschränkt, sondern findet in allen möglichen Formen statt: in der mündlichen Überlieferung genauso wie in der Musik, der Fotografie und natürlich der Literatur. Das fortgesetzte Erzählen einer Geschichte kann guten Gewissens als „Grundkonstante der menschlichen Kommunikation“ bezeichnet werden.14 Angefangen bei frühen Höhlenzeichnungen, über Homer oder den Erzählungen von Scheherazade von 1001 Nacht, über Comicstrips und Zeitungs-Fortsetzungsromane gelten wie schon erwähnt Radioserien gemeinhin als die direkten Vorläufer der TV-Serie, wie wir sie heute kennen.
Während das US-amerikanische Publikum schon in den 1940er Jahren mit werbefinanziertem Fernsehen in Kontakt kam, fand unsere Fernseh-Sozialisation im geteilten Nachkriegs-Deutschland durch einen staatlich finanzierten und folglich auch gelenkten öffentlich-rechtlichen Rundfunk statt – sowohl im Westen als auch im Osten. Nachdem die Nationalsozialisten den öffentlichen Rundfunk so gründlich für ihre Zwecke missbraucht hatten, war das Misstrauen gegenüber unkontrollierten Massenmedien groß und entsprechend ausgefeilt war die Gesetzgebung für die „mediale Erziehung“ des deutschen Publikums.
Bis zum Start der ersten Privatsender im Westen war das staatlich finanzierte Fernsehen hüben wie drüben absolut konkurrenzlos, erst in den 1980ern mit dem Aufkommen des Privatfernsehens gewann das Publikum mit seinen Bedürfnissen wirtschaftlich wieder an Bedeutung – eine Tendenz, die mit Pay-TV in den 1990ern und Streaming-Plattformen im neuen Jahrtausend schließlich voll zur Entfaltung kam.
Vor diesem Hintergr und wollen wir die inhaltliche und formale Entwicklung der Fernsehserie in Deutschland in ihrem historischen Kontext grob umreißen – denn auch diese hat unser Denken darüber geprägt, was Serien sind bzw. zu sein haben.
DIE FRÜHEN JAHRE: 1916 – 1949
Bereits zu Beginn des filmischen Erzählens am Anfang des vergangenen Jahrhunderts zeigte sich die ausgeprägte Krimileidenschaft der Deutschen, die unser (analoges) Fernsehprogramm bis heute so nachhaltig prägt: gleich mehrere sogenannte (Kino-)Serienfilme erfreuten sich zwischen 1916 und 1926 größter Beliebtheit, PHANTOMAS oder HARRY HIGGS hielten das Kinopublikum beispielsweise über Monate in Atem.15 Die Episodenlänge dieser ersten Stummfilm-Serienformate lag interessanterweise bereits zwischen 60 und 70 Minuten Spiellänge, die Episodenanzahl zwischen 16 und 36. Die Produktion dieser ersten Serienvorläufer brach allerdings mit dem Ende der Stummfilmära ab, die Nationalsozialisten entwickelten bekanntlich ihre eigenen medialen Strategien – TV-Serien für das brandneue Medium Fernsehen gehörten nicht dazu. Stattdessen standen propagandistisches Filmgut und die Übertragung von Großevents (wie beispielsweise der Olympischen Spiele 1936) im Fokus. Generell erlahmte während der Kriegsjahre die technische Weiterentwicklung des Fernsehens, sowohl in den USA als auch in Europa. Erst nach 1945 entwickelte sich wieder eine nennenswerte Serienkultur – zunächst einmal im Radio. Vor allem die Radioserie DIE HESSELBACHS erfreute sich im Nachkriegsdeutschland einer hohen Beliebtheit. Die Familienserie des Hessischen Rundfunks wurde von 1949 bis 1956 zunächst als Hörspiel gesendet und versinnbildlicht die nahtlose Transformation von der Radio- zur TV-Serie: von 1960 bis 1967 wurde das Format als Fernsehserie in drei Staffeln mit insgesamt 51 Episoden produziert und ausgestrahlt.
DIE HALBSTARKEN: 1950ER UND 60ER JAHRE
Dennoch: „die Stigmatisierung als triviale Erzählform“, aber auch programmpolitische und medienökonomische Aspekte bremsten in der nachkriegsdeutschen Bundesrepublik lange Zeit das Entstehen von eigenproduzierten Fernsehserien.16 In den 1950er Jahren bemühte man sich zwar um die kulturelle Aufwertung des Fernsehens, doch die begrenzten Finanzmittel und die Aufteilung der Programmproduktion zwischen den anfangs sechs, später neun Rundfunkanstalten der ARD führten dazu, dass in den 1950er Jahren lediglich eine einzige lang laufende deutsche Familienserie vom größten und finanzstärksten Sender NWDR (Nordwestdeutscher Rundfunk) produziert wurde: FAMILIE SCHÖLERMANN.17
Die bereits im Kino etablierte Krimitradition fand 1953 mit dem semidokumentarischen AKTENZEICHEN-XY-Vorläufer DER POLIZEIBERICHT MELDET (1953–1958) ihre Fortsetzung. Erfinder Jürgen Roland entwickelte aus diesem ursprünglich eher didaktisch-aufklärerischen Format und mit den Drehbüchern von Wolfgang Menge schließlich den Publikumsmagneten STAHLNETZ (1958–1968), der als Vorläufer der TATORT-Reihe gilt. Der NDR startete 1959 die (horizontal erzählte) Krimiserie DER ANDERE mit sechs Episoden à 35 Min. nach der Romanvorlage des erfolgreichen englischen Krimiautors Francis Durbridge. Auch in der DDR war Krimi Trumpf, hier gab die Serie BLAULICHT (1959–1968) einen realitätsnahen Einblick in die Arbeit der Kriminalpolizei.
Doch es ging auch unblutig, die Geburtsstunde eines gänzlich anderen TV-Klassikers soll an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben: das SANDMÄNNCHEN, bis heute fester Bestandteil frühkindlicher (serieller) Sozialisation in Ost- und Westdeutschland, ging 1959 auf Sendung.18 Eigenproduzierte, rein fiktionale Serien blieben jedoch hüben wie drüben die Ausnahme, eine solche war 1959 in der BRD zum Beispiel die Kriegsliteraturverfilmung und erste westdeutsche Mini-Serie, die nicht dem Krimi zuzuordnen ist: SO WEIT DIE FÜSSE TRAGEN(sechs Episoden).
Im Osten Deutschlands begann 1969 mit dem Sender DFF2 das Zeitalter des Farbfernsehens. Im Westen hatte bereits 1963 das Zweite Deutsche Fernsehen seinen Sendestart – und so hielten zu Beginn der 1960er Jahre im westdeutschen Fernsehen zunehmend US-amerikanische Serien Einzug ins Hauptabendprogramm. Die bis heute andauernde Konkurrenz zwischen ARD und ZDF belebte letztendlich im Westen das Geschäft mit eigenproduzierten Serien- und Mehrteilern. Denn die nun langsam einsetzende Zuschauerexpansion sorgte nicht nur für eine bessere finanzielle Ausstattung der Fernsehanstalten, sondern begünstigte auch eine stringentere Organisation: statt wenigen geplanten Live-Produktionen setzte man mehr und mehr auf vorproduzierte Programme – es entstanden Programmstrukturen mit festen Sendeplätzen. Serien als langfristig kalkulierbare Programmbausteine wurden immer attraktiver und erwiesen sich zudem als ideales Umfeld für das sogenannte Werberahmenprogramm.19
Der Bayerische Rundfunk war hier Vorreiter und gründete bereits 1949 die Bayerische Werbefunk GmbH, in den folgenden Jahren folgten auch die anderen Rundfunkhäuser mit eigenen Werbe-Tochterunternehmen. Während in den USA bereits seit 1941 Fernsehwerbung ausgestrahlt wurde und gesponsertes Programm zur Tagesordnung gehörte, flimmerte im Westen Deutschlands erst 1956 der allererste TV-Spot (Persil, was sonst) über die wenigen Fernsehbildschirme.20 In der DDR brachten ab 1960 die TAUSEND TELE-TIPS den Konsument:innen heimische Erzeugnisse der Planwirtschaft nahe. Allerdings nur bis 1975, ab dann waren die Fernsehprogramme der DDR werbefrei.
Inhaltlich war man jedoch nach wie vor skeptisch gegenüber kommerziellen seriellen Erzählformen. Soaps oder Telenovelas, wie sie vor allem in Südamerika schon äußerst beliebt und erfolgreich waren, erschienen den westdeutschen Programmmacher:innen offensichtlich (noch) undenkbar. Dennoch wuchs in den 1960er Jahren die erste Konsumentengeneration heran, die ihr Herz schon im Kindesalter an US-amerikanische Serienfiguren verlor: Im westdeutschen Nachmittagsprogramm hielten diverse amerikanische Tier- und Familienserien Einzug. Reifere Semester erinnern sich gerne an LASSIE, FURY, FLIPPER und natürlich: BONANZA, etwas später DIE WALTONS.
Der zunehmende Erfolg dieser ausländischen Formate einerseits, andererseits aber der Wunsch des Publikums nach einheimischen Produktionen und Darsteller:innen, nicht zuletzt aber die überaus erfolgreichen Edgar-Wallace-Verfilmungen im Kino sorgten dafür, dass die verantwortlichen Programmmacher:innen diesbezüglich mal wieder auf „spannungsgeladene Unterhaltung“ setzten: neben einigen weiteren Erfolgsformaten aus Francis Durbridges Feder wurde insbesondere DAS HALSTUCH (ebenfalls sechs Episoden) 1962 zum ultimativen Serienhit: Mit rund 90 Prozent Sehbeteiligung gilt die Ausstrahlung als Geburtsstunde des Begriffs „Straßenfeger“.21 Der horizontale Erzählansatz sollte trotz dieses überwältigenden Erfolges allerdings erst im neuen Jahrtausend eine dauerhafte (serielle) Fortsetzung finden (von den Daily Soaps einmal abgesehen).
In der DDR startete 1965 auf einem Spielfilm-Sendeplatz das serielle Format DER STAATSANWALT HAT DAS WORT und hielt sich dort bis 1991 mit rund 140 Episoden. Erwähnenswert vor allem deswegen, weil hier Bürger:innen gezeigt wurden, die nicht dem sozialistischen Idealtyp entsprachen. Anders als im späteren POLIZEIRUF 110 (seit 1971) stand hier nicht die Aufklärung von Verbrechen im Mittelpunkt, sondern ihr Ursprung: es wurden Probleme des Alltags und gesellschaftliche Fehlentwicklungen benannt, die in keinem anderen Format gezeigt werden konnten. Ein Ansatz, der für uns heute ganz natürlich scheint, für das DDR-Fernsehen der damaligen Zeit jedoch ungewöhnlich und mutig war.
Der Deutschen zweitliebstes Genre, die Familienserie, fand im Westen unter anderem in der Produktion ALLE MEINE TIERE (1962) des Südwestfunks ihren Niederschlag.22 Drehbuchautor Heinz Oskar Wuttig legte später noch mit weiteren Erfolgsformaten nach (unter anderem SALTO MORTALE 1968, MS FRANZISKA 1978). Auch in der DDR wurden Familienserien in den 1960er Jahren produziert, allerdings seltener als in der Bundesrepublik. DOLLES FAMILIENALBUM war 1969 bis 1971 die erste Serie der DDR, die vom Alltag einer Familie erzählte. Mit der sehr populären Produktion WEGE ÜBERS LAND (1968) wurde die deutsche Kriegs- und Nachkriegsgeschichte aufbereitet.
Der überwiegenden Mehrzahl dieser frühen deutschen Serien war jedoch ihre begrenzte Folgenanzahl gemein–heute würden wir sie Mini- oder Limited Series nennen. Und genau diese Begrenztheit machte diese Formate damals wie heute zu etwas Besonderem, hoben sie zumindest im Westen deutlich von den lang laufenden (US-amerikanischen) Kaufserien ab. Es ist auch durchaus bezeichnend, dass sie eher als „einmalige Events“ und nicht als Mehrteiler in de Programmzeitschriften angekündigt wurden– als ob dem Seriellen bereits damals schon etwas Anrüchiges angehaftet gewesen wäre.23
Bereits auf dieser subtilen Ebene manifestierte sich insofern das bis heute reichende deutsche Verständnis von einer Fernsehunterhaltung, die das limitierte Event favorisiert und tendenziell als anspruchsvoller klassifiziert und gleichzeitig die lang laufende kommerzielle Serie – die nur die „triviale“ Sehnsucht der breiten Massen befriedigt – als minderwertig stigmatisiert.
OUT OF THE BOX: DIE 1970ER BIS 80ER JAHRE
Erst Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre wurden lang laufende Eigenproduktionen für das Hauptabendprogramm in Angriff genommen, wenig überraschend vor allem im Krimibereich: das ZDF startete 1969 DER KOMMISSAR und nicht zuletzt einen der erfolgreichsten deutschen Serien-Exportschlager: DERRICK.24
Parallel dazu florierte in dieser Dekade im Westen das Genre Familienserie unter anderem mit Ekel Alfred, der 1973 seinen Ätz-Dienst in dem vom WDR produzierten Format EIN HERZ UND EINE SEELE aufnahm25, oder mit Manfred Krug, der mit seinem LKW AUF ACHSE ging (1978–1996). In der DDR setzte man ebenfalls auf die Kombination von Krimikost und Familienunterhaltung, hier dominierte DAS UNSICHTBARE VISIER (1973–1979), 1977 startete mit großem Erfolg die Serie ZUR SEE, die von der Schiffsmannschaft einer DDR-Handelsflotte erzählt.26
Horizontales Erzählen war nicht zuletzt aus programmplanerischen Gründen nach wie vor verpönt, auch die länger laufenden Serien wurden hauptsächlich in abgeschlossenen Episoden erzählt. In den deutschen Redaktionsstuben suchte man sowohl erzählerisch als auch strukturell weiterhin die Nähe zum Fernsehspiel, bis heute für viele immer noch die Königsklasse der öffentlich-rechtlichen Fernsehunterhaltung. Und so entstanden neben lang laufenden Formaten in den 1970er Jahren zunehmend auch weiterhin viele Mini-Serien und Reihen. Die beiden prominentesten, bis heute erfolgreichen Beispiele sind die von der ARD 1970 gestartete TATORT-Reihe, in der DDR ging 1971 die POLIZEIRUF-110-Reihe auf Sendung.
Doch die 1970er und frühen 80er Jahre waren vor allem in Westdeutschland das Jahrzehnt der sozialkritischen Formate. Rainer Werner Fassbinder lieferte in fünf Episoden à 88–100 Min. die proletarische Serie ACHT STUNDEN SIND KEIN TAG und natürlich 1980 – ebenfalls horizontal erzählt – BERLIN ALEXANDERPLATZ.27 Erwähnenswert auch die Vorabendserie DREI DAMEN VOM GRILL (1977–1991, 140 Folgen) des SFB, die ganz selbstverständlich von alleinstehenden Müttern und Frauen verschiedener Generationen und deren Zusammenhalt beim Betreiben einer Imbissbude erzählt. In der DDR erfreute sich die weitgehend unideologische vierteilige Reihe ABER VATI! (1974) großer Beliebtheit, für das ältere Publikum gab es RENTNER HABEN NIEMALS ZEIT (1977, 20 Teile à 25 Min.).
Überhaupt war das (Mini-)Serienangebot des Ostens inhaltlich deutlich facettenreicher als im Westen und bot beispielsweise dem jungen Publikum die mit großem Aufwand produzierten Kinder-Gruselserien SPUK UNTERM RIESENRAD (1979) und SPUK IM HOCHHAUS (1982). Unterhaltsam ging es im Westen vor allem für ein erwachsenes Publikum zu, zum Beispiel mit den beiden unvergesslichen Dietl-Serien MONACO FRANZE (1983) und KIR ROYAL (1986/87) oder natürlich Jurek Beckers LIEBLING KREUZBERG (1986–1998).
Mitte der 1980er Jahre konnte neben dem bis dato unanfechtbaren Duo Krimi und Familienserien ein weiteres Genre nachhaltig Fuß fassen: die Arztserie. Während in der DDR das Format ZAHN UM ZAHN (1985–1988) extrem erfolgreichwar, startete das ZDF 1985 die Mutter aller westdeutschen Arztserien: DIE SCHWARZWALDKLINIK (1985–1989).28 Aus dem Duo war also nun ein Genre-Trio geworden, welches in guter deutscher Manier auf Jahrzehnte in gesamtdeutschen Unterhaltungs-Beton gegossen wurde. Immerhin erblickte im Westen auch ein neues Genre das Licht des Bildschirms: Ab Dezember 1985 bekam das ARD-Publikum am Sonntagvorabend die erste echte Weekly serviert: DIE LINDENSTRASSe von dem Kölner Produzenten Hans W. Geissendörfer ging auf Sendung – und blieb es mit beeindruckenden 1758 Episoden bis März 2020.
Viel gravierender erschütterte jedoch in der BRD ein anderes Ereignis die bis zu diesem Zeitpunkt unangefochtene Vormachtstellung der Programmmacher:innen von ARD und ZDF: 1984nahmen in Deutschland die beiden werbefinanzierten Privatsender Sat1 und RTL ihren Betrieb auf, Anfang der 1990er Jahre folgten VOX, Pro 7 und Kabel 1 – und damit endete das öffentlich-rechtliche Monopol der westdeutschen TV-Erziehung und das sogenannte duale Rundfunksystem nahm seinen Dienst auf. Nun hatten die Zuschauer:innen plötzlich eine wesentlich breitere Auswahl – nicht nur an Fernsehprogrammen, sondern auch an Unterhaltungsphilosophien, denn die Privatsender bedienten eine ganz offensichtlich ungestillte Seh(n)sucht nach Trivialität, „die man bei ARD und ZDF lange ausgeblendet hatte“.29
Insofern fand hier in der deutschen Fernsehunterhaltung eine echte Zeitenwende statt. Auch in der DDR waren die Sender des Westens bis auf wenige Ausnahmen mit einigem technischen Engagement empfangbar.30 Vermutlich