Malinos Reise in die vergessene Märchenwelt
Auf Dreihorns Spuren
Band 2
Inge Skrzybski
Mit Illustrationen von Verena Valmont
Impressum:
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Veröffentlicht im Tribus Buch & Kunstverlag GbR
März 2022
1. Auflage
Alle Rechte vorbehalten
Copyright © 2022 Tribus Buch & Kunstverlag GbR
Texte: © Copyright by Inge Skrzybski
Illustrationen: © Copyright by Verena Valmont
Lektorat: Verena Valmont
Druck: epubli, ein Service der neopubli GmbH, Berlin
Coverdesign: Verena Valmont
Bildmaterial: Canva, Pixabay
Layout: Verena Valmont
Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und wird strafrechtlich verfolgt.
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49124 Georgsmarienhütte
Deutschland
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Der Winter war über das Land gezogen. Malino saß am Tisch in seinem Zimmer. Gedankenverloren schaute er aus dem geschlossenen Fenster. Langsam glitten seine Finger über die Eisblumen, die sich auf der Fensterscheibe gebildet hatten.
Sein Blick streifte die schneebedeckte Wiese und den dahinter liegenden Wald. Mit einem Mal hörte er schallendes Gelächter. Er wischte sich die Finger, die mittlerweile nass geworden waren, an seinem Pullover ab. Neugierig presste der Junge die Nase an die Glasscheibe. Seine Augen wanderten hinunter zur Wiese.
Einige Kinder bauten einen Schneemann, andere wiederum bewarfen sich mit Schneebällen.
Für ihn war es unverständlich, wie man daran Spaß haben konnte.
Oh, wie verabscheute er den Schnee! Es war kalt und ungemütlich, sobald er fiel. Wie liebend gern würde er jetzt auf der Wiese im hohen Gras herumtollen oder mit seinem Fotoapparat einige Blumen fotografieren. Aber weit und breit sah man nur Weiß. Zum Glück waren Ferien, deshalb brauchte er bei diesem Wetter nicht in die Schule. Somit musste er nicht das Haus verlassen. Malino stand auf und schüttelte sich. Die Kälte kroch seinen Nacken hinauf. Die Heizung funktionierte schon wieder nicht. Es war höchste Zeit, seinen Vater darüber in Kenntnis zu setzen. Als er das Zimmer verlassen wollte, blieb er vor dem Kleiderschrank stehen. Dieser war über und über mit seinen Fotografien beklebt. Erinnerungen wurden in ihm geweckt.
Er dachte zurück an den Sommer und die vergessene Märchenwelt. Was hatte er mit seinen neugewonnenen Freunden alles erlebt! Malino betrachtete die Fotos. Ein Bild mochte er besonders gern. Vorsichtig löste er es von der Schranktür, sodann legte der Knabe sich damit auf das Bett. Die warme Decke über seinen Körper gezogen, schaute er sich die Aufnahme an.
Dreihorn, der Zentaur strahlte ihn an. Links neben ihm stand Rührei, der Elfenjunge. Herzchen, die kleine Fee, lugte aus dessen Gürteltasche. Neben dem Elfen befand sich seine Mutter, Königin Solei, mit dem König Rohei. Zu Füßen erkannte man bei genauerem Hinsehen Frank, den Skorpion, wie er seinen Fangarm mit der Schere ausstreckte. Ein Schmunzeln legte sich über Malinos Mund. Er glaubte das Klappern von Franks Schere zu hören.
Wie vermisste er Dreihorn und die anderen!
Ihm fiel ein, wie er nach seinem Abenteuer am Frühstückstisch mit den Eltern und Großeltern gesessen hatte. Voller Aufregung hatte er ihnen das Erlebte erzählt, aber niemand hatte ihm geglaubt. Typisch Erwachsene! Auf den Fotos, die Großvater für ihn entwickelt hatte, erkannten sie natürlich bis auf einen Nebelschleier nichts. Doch er wusste es besser. Ein Seufzer kam über die Lippen.
Der Junge wurde aus seinen Gedanken gerissen. Ein Ruf drang an seine Ohren. Was wollte Mutter denn nun wieder von ihm? Die Decke über den Kopf gezogen, versuchte er die Stimme zu ignorieren. »Malino nun komm doch mal herunter, wir haben Gäste!«
Hatte er richtig gehört?
Er wunderte sich. Wer könnte bei solch einem Wetter noch das Haus verlassen? Abgesehen von den Kindern, die auf der Wiese spielten.
Neugierig zog er sich eine Strickjacke über. Bevor er jedoch das Zimmer verließ, hing er das Foto zurück an den Schrank. Trödelnd ging er die Stufen hinab zur Stube. »Endlich, wo warst du denn so lange?« Seine Mutter sah ihn ermahnend an, dann wandte sie sich dem Besuch zu. »Das ist Malino, unser Sohn.«
Der Junge nickte zur Begrüßung höflich mit dem Kopf.
»Das sind unsere neuen Nachbarn. Familie Regen und ihre Tochter Kalea. Sie wird nach den Ferien auf deine Schule gehen«, erklärte sie ihm im Anschluss.
Kalea schaute mit gesenktem Blick zu Malino. Irgendwie kam ihm das Mädchen seltsam vor, als ob sie etwas zu verbergen hätte.
»Setz dich!«, forderte seine Mutter ihn auf, »unsere Nachbarn haben selbst gebackenen Kuchen mitgebracht.«
Während sie das Gebäck aßen, schielte Malino immer wieder zu Kalea hinüber.
»Haben wir uns irgendwo schon mal gesehen?« Aufmerksam beobachtete er das Mädchen, als er ihr die Frage stellte.
»Sonst bist du doch auch nicht so schüchtern Kalea, du darfst dich ruhig unterhalten!« Herr Regen stupste seine Tochter mit den Ellenbogen an, aber sie schüttelte nur energisch mit dem Kopf. Ihre dunklen Haare, die zu einem Zopf gebunden waren, wackelten hin und her. Kein Wort kam ihr über die Lippen. Sie stocherte nur ununterbrochen mit der Gabel in den Krümeln herum, die vor ihr auf dem Teller lagen.
»Was hältst du davon, wenn du Kalea dein Zimmer zeigst?« Malinos Vater blickte abwechselnd zu seinem Sohn und dem Mädchen.
»Das ist eine gute Idee.« Frau Regen sah ihre Tochter auffordernd an. »Na los, worauf wartest du!«
Kalea erhob sich lustlos und schlich hinter dem Jungen die Treppen hinauf.
Als sie sein Zimmer betraten, erhellten sich ihre Augen. Sie blieb erstaunt vor dem Kleiderschrank stehen und blickte auf die Fotos. Eines der Bilder betrachtete sie besonders lange. Malino stellte sich neben das Mädchen und folgte ihrem Blick. Verwundert stellte er fest, dass sie sich das Foto ansah, das er noch vor einigen Minuten selbst in den Händen hielt. »Kannst du etwas auf dem Bild erkennen außer Nebelschleier?«, fragte er neugierig.
Kalea nickte leicht mit dem Kopf, dabei drehte sie sich zu ihm um. Ihre Blicke trafen sich.
Malino war vollkommen irritiert.
»Ich kenne dich, deine Augen!«
Kurz danach zeigte sie mit dem Finger auf das Foto.
»Das ist Dreihorn und das hier ist Frank. Die anderen habe ich bis jetzt nicht getroffen.«
Ungläubig starrte er Kalea an. »Wer bist du?«
»Kannst du es dir nicht ausmalen?« Ihre Lippen formten ein Lächeln.
»Ich wusste sofort wer du bist, als du die Stube betreten hast.«
In Malinos Kopf flogen die Gedanken nur so umher. Schlagartig fielen ihm die Blumen ein.
»Ich habe damals dein Gesicht in der Blume der Dunkelheit gesehen, die mich nach Vermär gebracht hat und in der Blüte der weißen Rose, mit der ich wieder nach Hause gekommen bin. Wir sind uns aber bereits an einem anderen Ort begegnet!«
Der Junge überlegte weiter.
»Nein, das kann nicht sein oder etwa doch? Ringelchen, das Regenbogeneinhorn!?«
»Du hast ein gutes Gedächtnis, obwohl wir nicht lange auf Vermär miteinander zu tun hatten«, unterbrach Kalea ihn und setzte sich unaufgefordert auf den Stuhl vor dem Fenster.
»Du hast mit allen deinen Annahmen recht. Tatsächlich bin ich das Regenbogeneinhorn, genauso wie das Gesicht in den Blumen, aber das darfst du niemanden erzählen.« Sie sah ihn eindringlich an.
»Das würde mir sowieso niemand glauben. Aber wie kann das sein? Du, ein Regenbogeneinhorn?«, fragte Malino wissbegierig. »Ich werde dir die Geschichte erzählen, wie es dazu gekommen ist, aber psst!« Geheimnisvoll hielt sie den Zeigefinger vor dem Mund.
Der Junge setzte sich, während sie anfing zu berichten. »Meine Großmutter hat mich auf gewisse Weise durch ihre Erzählungen nach Vermär, also in die vergessene Märchenwelt, gebracht. Da ich Einhörner liebe, erfand sie eine Geschichte über dieses Wesen. Daraufhin stellte ich mir vor, ich sei das Fabeltier. Wir erfanden einen Namen. So kam Großmutter auf die Idee, es sollte die Farben eines Regenbogens haben. Jeden Abend vor dem Einschlafen fuhr sie mit der Geschichte fort und so entstand das Regenbogental. Sie war der Meinung, es sollte mir als Einhorn gutgehen. Eines Tages, nachdem Großmutter von uns gegangen war, lag ich traurig in meinem Bett und weinte. Ich sehnte mich nach ihr und ihren Erzählungen. Einige Tränen fielen auf meine Bettdecke. Diese hatten plötzlich die Farben eines Regenbogens. Daraufhin versuchte ich vorsichtig die Tränen aus dem Gesicht zu entfernen, um sie genauer zu betrachten. Doch es gelang mir nicht. Ehe ich mich versah, erwachte ich zum ersten Mal im Regenbogental als Regenbogeneinhorn.«
Aufmerksam hörte Malino Kalea zu. Er kam aus dem Staunen nicht mehr heraus.
»Du kommst also durch deine Tränen nach Vermär?«, unterbrach er sie. Das Mädchen bejahte.
»Aber was passiert, wenn du keine bunten Tränen weinst? Wie kommst du dann dorthin?« Kalea griff mit der Hand an ihren Hals und holte etwas unter dem Rollkragenpullover hervor. Sie hielt eine Kette zwischen den Fingern, daran hing eine kleine Flasche.
»Mit viel Übung habe ich es geschafft, meine Tränen in dem Fläschchen aufzufangen. Für den Fall, dass ich mal keine weine.«
Malino war sichtbar überrascht.
»Kannst du mich nach Vermär mitnehmen?«, fragte er.
Kalea schüttelte mit dem Kopf. »Du bist damals mit der schwarzen Blume in die vergessene Märchenwelt gekommen. Deshalb kann dich nur eine schwarze Blume dorthin bringen.«
»Und eine weiße Blume wieder zurück!«, sprach Malino weiter.
»Genau!« Kalea stand vom Stuhl auf.
»Woher weißt du das alles? Hat Dreihorn eine Ahnung, dass du ein Mensch bist?« Vor lauter Aufregung konnte der Junge nicht mehr still sitzenbleiben. Er rutschte mit dem Po auf dem Bett hin und her und wartete gespannt auf eine Antwort.
»Woher ich das alles weiß? Es ist einfach in meinem Kopf. Dreihorn weiß nicht, wer ich wirklich bin. Warum auch! Auf Vermär bin ich kein Mensch, sondern genau wie er, entsprungen aus einer Geschichte.«
»Kalea kommst du? Wir wollen nach Hause!«, hörten beide Frau Regen rufen.
»Bitte, du musst mir mehr von dir als Regenbogeneinhorn erzählen«, bettelte Malino.
»Morgen Nachmittag können wir uns an der Wiese treffen«, schlug Kalea vor. Sofort willigte er ein, ohne darüber nachzudenken. Erst im Nachhinein, als das Mädchen längst gegangen war, fiel ihm das kalte Wetter wieder ein.
Der Junge schüttelte sich, kroch unter die warme Decke und träumte vor sich hin.