Die Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

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Einbandillustration: © Hyazinth Pakulla, Paderborn

Innenabbildung von © Arnim Hott, Kandel

Herstellung und Verlag: Books on Demand GmbH, Norderstedt

© 2022 Hermann Simon

ISBN 978-3-7562-9979-9

Für Waltraut
Gefährtin meiner späten Jahre

Inhaltsverzeichnis

Weder in der Seele des Einzelmenschen noch in der Seele eines Volkes verwandelt sich einmal Erlebtes in ein Nichts.

ZENTA MAURINA

Vorwort

Die Hauptakteurin in den Geschichten aus dem alten Paderborn ist historisch, bis zu dem Grade einer verwandtschaftlichen Beziehung, dass ich sie als Tante Maria kennenlernte. Im Familienkreis wurde sie Tante Elsie genannt, zur Unterscheidung von den anderen Namensträgerinnen der Maria. Vor oder nach der Trennung von ihrem Ehemann, mit dem sie wenig Freundliches erlebte, zog es sie zu ihrer Cousine, meine Großmutter, nach Paderborn. Ich erinnere Tante Elsie als eine lebendige Erzählerin von Döneken, die auch einen unwilligen Zuhörer zum Lachen anstifteten. Mein Vater nannte sie die olle Quasselstrippe, die Leute von der Arbeit abhielt. Das Besondere an ihrer Erzählart war, sie hielt es nicht auf dem Sitz, sondern entlud ihre innere Spannung, indem sie aufsprang, drohend die Hände hochriss, zu tanzen versuchte wie der Hund Ullmann oder im Spagatsprung die Zuhörer davon überzeugen machte, dass ihr Vater ihr selbst ernannter Artistentrainer gewesen sei.

Der Frage nach der Historizität der mitgeteilten Begebenheiten muss ich mich entziehen, verbürge mich jedoch dafür, dass ich das Erzählte gemäß meiner Erinnerungen angemessen wiedergegeben habe. Und stütze mich ferner auf den berühmten Russen Dostojewski: Was sind alle unsere Erfindungen, die fantastischen Romane gegen das Leben? Nur Schatten, denn wenn das Leben beginnt, ja das Leben … Und seine Tochter Aimée berichtet von den Turbulenzen bei Vaters Beerdigung, dass Polizeikräfte überfordert waren, einen würdigen Verlauf der Trauerfeierlichkeiten zu gewährleisten.

Kurzer Sinn der langen Rede: Unser Schreiben ist begrenzt, aber das Leben, das Leben …!

HERMANN SIMON

Augenstern
und kesses Mädchen

Auf meinen Papa lass ich nichts kommen«, widersetzte sich Tante Elsie mit vibrierendem Protest in der Stimme. »Er nannte mich seinen Augenstern, weil meine Ankunft seine Sehnsucht nach einer Tochter erfüllte, nach einer Reihe von Jungen, die schon mal unser Haus in Rimbeck erzittern machten. Für die war Mama zuständig, während sich Papa meiner Erziehung annahm.

Der hoch angesehene, so glaubte er jedenfalls, königlich preußische Wagenmeister wollte mit mir hoch hinaus. Ich sollte etwas Besonderen werden, etwas, in dessen Glanz er sich selber sonnen könnte, nicht einfach so eine Bürotippse oder Lehrerin.

Papa war zirkusbesessen. Ja, so eine, die konnte sein Idealbild von seiner Lieblingstochter erfüllen: die in Glanz und Glitter Kunststücke auf dem Hochseil vorführt. Davon träumte er für mich, und ihr könnt euch nicht vorstellen, was ich in meiner Kindheit auszuhalten hatte.«

Dass Tante Elsie, von Kindheitserinnerungen überfallen, sich selber bedauern konnte, war mir bisher verborgen geblieben. Sie zog ein Taschentuch aus dem Ärmel ihrer Bluse und tupfte sich eine Träne ab. Dabei sah sie mich aus den Augenwinkeln an und lächelte in sich hinein.

»Nein, auf meinen Papa lass ich nichts kommen«, wiederholte sie. »Nur, dass ich mich als Kind manchmal gegrämt habe, nicht so sein zu dürfen wie andere Kinder, dieser Verzicht beschattet den Blick auf meine Kindheit, von der ich mir doch immer vormache, sie sei ausnahmslos glücklich verlaufen.«

*

»Ich koch uns erst mal eine Kanne Kaffee, damit unsere Unterhaltung richtig in Fahrt kommt. Ich fürchte, der Bohnenkaffee ist mir ausgegangen und du musst mit Muckefuck zufrieden sein. Mein Sergeant versprach mir für nächste Woche ein Pfund Rohkaffee. Er könne nur etwas durchs Kasernentor bringen, wenn die rechte Rocktasche nicht wisse, was die linke beinhalte. Als ich ihm einmal Kaffee im Besprechungsraum servierte, sog ich genussvoll den Duft ein. Er bemerkte meinen wonnigen Gesichtsausdruck und schmetterte mich an: »›Would you like to taste the mackefack?‹«

*

Tante Elsie hatte zu meiner Mutter Vertrauen gefasst und erzählte: Ihre Ehe war kinderlos geblieben. Nachdem sich ihr Mann nach Hamburg abgesetzt hatte, zog es sie zu ihrer Paderborner Verwandtschaft, in der Hoffnung, in der Stadt leichter Arbeit zu finden. Als ich sie kennenlernte, arbeitete sie in einem Offizierscasino in einer englischen Kaserne, zuerst in der Küche, dann servierte sie bei Tisch.

*

Tante Elsie hatte ihre Wohnung auf dem Ükern im Haus Nummer 15. Das backsteinrote Haus hatte nicht nur den Krieg, sondern dreißig Jahre hindurch auch Tante Elsies dreiste Mitbewohnerschaft überstanden.

*

Die Mehrzahl unserer Treffen, an die ich mich so gern erinnere, fanden vor der Währungsreform statt. Wir hungerten zwar nicht, doch fehlten unserem täglichen Einerlei jene Köstlichkeiten, die eine Zusammenkunft zum Fest hätten erheben können. In Tante Elsies Wohnung fand sich manches, was ich bis dahin nur vom Hörensagen gekannt hatte. Tantes stereotype Antwort lauteten: »Auch von meinem Sergeant.«

Und der war ihr Ein und Alles. Allein die Nennung des Titels stärkte der kleinen, stämmigen, alleinlebenden Frau den Rücken. Ihrem Vermieter hatte sie einmal erwidert: »Reiß dein Maul nicht so weit auf, du Arschbacke! Sonst stopft es dir mein Sergeant!« Derartige Redensarten despektierlichen Niveaus glaubte Tante Elsie sich schuldig zu sein, war doch ihr Hausbesitzer eine stadtbekannte Nazigröße gewesen. In Goldfasanenuniform umherspazierend, achtete er streng auf die Linientreue seiner Mitbewohner und Ükeraner.

Die ärgerlichen Begebenheiten mit den Nazi-Vormündern waren noch zu frisch, als dass man ihnen 1000-jährige Vergangenheit hätte zubilligen können.

*

Tante war in der Nazizeit angekommen, und mir schwante, ihre Erzählungen würden bis in die hereinbrechende Dunkelheit fortdauern. Und fragte deshalb: »Verrätst du mir, wie dich dein Papa zur weltberühmten Zirkusprinzessin gemacht hat?«

»Ja doch! Papa war der Meinung, für einen Salto, einen Spagat, eine Hochseilnummer müsse man den Körper von frühester Jugend an trainieren, die Muskulatur stärken und die Biegsamkeit aller Körperteile bewirken.

Ich war wohl in dem Alter, in dem ein Kleinkind sich eben auf den Beinen halten kann, als Papa mit meinem Training begann. ›Die Zirkusartistin muss Muskeln haben wie ein Zugochse und biegsam sein wie ein Flitzebogen‹, pflegte er seine Tortur zu rechtfertigen. So musste ich kleines Würstchen mich an der Teppichstange festkrallen, die sich gut zwei Meter über dem Rasen befand. ›Festhalten, das stärkt Arm- und Rückenmuskel. Es kann dir gar nichts passieren, mein Kleines. Dein Papa steht unter dir und fängt dich auf, wenn deine Kraft versagen sollte.‹

So hängte mich Papa Tag für Tag an die Teppichstange, sobald er von Dienst zurück war, als ob es nichts Wichtigeres zu tun gegeben hätte. Mama sagte nichts, schüttelte aber immer öfter den Kopf.

Eines Tages ließ er mich einfach hängen: ›Ich gehe nur kurz ins Haus, um mir eine Zigarre anzuzünden.‹ Da hing ich nun und dachte darüber nach, was er mit kurz gemeint haben könnte. Die Muskeln in den Oberarmen begannen zu schmerzen, die Finger verkrampften, aber Papa kam nicht, um mich zu befreien. Ich gab mir aber nicht die Blöße, mich herabfallen zu lassen. Dann wäre Mama eingeschritten und hätte dem Unfug, wie sie unser Training nannte, ein Ende gemacht.

Vom Hause her hörte ich Rumoren und »Mama!«-Rufe. Papa konnte wieder einmal weder Zigarren noch Streichhölzer finden, und Mama war nicht zur Stelle, ihm suchen zu helfen. In praktischen Dingen war Papa selten ungeschickt und hilflos. Deswegen nannte ihn Mama häufig ›mein Jüngstes‹.