Cover

Michael Lüders

Never

Say

Anything

Thriller

C.H.Beck

Zum Buch

Die Journalistin Sophie Schelling hatte sich auf eine ganz normale Dienstreise eingestellt. Doch manchmal ist man zur falschen Zeit am falschen Ort: Sophie sieht etwas, das sie nie hätte sehen dürfen. Immer tiefer verstrickt sie sich in das Netz eines übermächtigen Gegners, bis ihre Suche nach Wahrheit zu einem blutiger Kampf ums Überleben wird.

Der Bestsellerautor Michael Lüders führt den Leser auf die dunkle Seite der Macht und stellt seine Heldin vor eine Gewissensfrage: Wie weit bist du bereit zu gehen, um die Wahrheit herauszufinden? Würdest du dafür deine Zukunft aufs Spiel setzen? Oder vergisst du lieber, was du erlebt und erfahren hast? Dieser Thriller ist eine höchst aktuelle Auseinandersetzung mit Geheimdiensten und entfesselter Moral. Erzählt aus der Sicht einer mutigen Frau, die ihren Beruf als Journalistin ernster nimmt als ihr guttut. Der Inhalt ist fiktiv, doch Ähnlichkeiten mit der Wirklichkeit sind unvermeidlich!

Über den Autor

Michael Lüders, Autor und Orientalist, ist häufiger Gast in Hörfunk und Fernsehen. Bei C.H.Beck erschien zuletzt sein viel beachteter Bestseller «Wer den Wind sät. Was westliche Politik im Orient anrichtet» (2015). Bisher hat er vier Romane und einen Erzählungsband veröffentlicht, darunter «Aminas Restaurant» (2006).

Inhalt

ERSTES KAPITEL: MARRAKESCH, MAROKKO

ZWEITES KAPITEL: GOURRAMA, MAROKKO

DRITTES KAPITEL: DAVIDSON, NORTH CAROLINA, USA

VIERTES KAPITEL: IRGENDWO IM SÜDEN MAROKKOS

FÜNFTES KAPITEL: DAVIDSON, NORTH CAROLINA, USA

SECHSTES KAPITEL: BERLIN, DEUTSCHLAND

SIEBTES KAPITEL: LOS ANGELES, USA

ACHTES KAPITEL: BERLIN, DEUTSCHLAND

NEUNTES KAPITEL: LOS ANGELES, USA

ZEHNTES KAPITEL: BERLIN, DEUTSCHLAND

ELFTES KAPITEL: BOSTON, USA

ZWÖLFTES KAPITEL: BERLIN, DEUTSCHLAND

DREIZEHNTES KAPITEL: HAMBURG, DEUTSCHLAND

VIERZEHNTES KAPITEL: BERLIN, DEUTSCHLAND

FÜNFZEHNTES KAPITEL: BERLIN, PRENZLAUER BERG

SECHZEHNTES KAPITEL: BERLIN-MITTE

SIEBZEHNTES KAPITEL: BERLIN, PRENZLAUER BERG

ACHTZEHNTES KAPITEL: WUSTROW, MECKLENBURG, DEUTSCHLAND

NEUNZEHNTES KAPITEL: BERLIN, DEUTSCHLAND

ZWANZIGSTES KAPITEL: WUSTROW, MECKLENBURG, DEUTSCHLAND

EINUNDZWANZIGSTES KAPITEL: BERLIN, DEUTSCHLAND

ZWEIUNDZWANZIGSTES KAPITEL: BERLIN, HOTEL DE ROME

DREIUNDZWANZIGSTES KAPITEL: BERLIN, HOTEL DE ROME, SOUTERRAIN

VIERUNDZWANZIGSTES KAPITEL: BERLIN, BERGHAIN

FÜNFUNDZWANZIGSTES KAPITEL: BERLIN, NIEBUHRSTRASSE

SECHSUNDZWANZIGSTES KAPITEL: OSLO, NORWEGEN

ERSTES KAPITEL

MARRAKESCH, MAROKKO

Ihren Blick in die Höhe gerichtet, auf die mit Zinnen bewehrte Lehmarchitektur vergangener Zeiten, sah sie die Katze, die in hohem Bogen über die Brüstung geflogen kam und in die Tiefe rauschte, fast auf sie zu, im Fallen mehrfach um sich selbst kreisend, bis sie auf allen vieren nicht weit vor Sophies Füßen auf dem Bürgersteig landete. Eine fliegende Katze – es passte zu Marrakesch, ging ihr durch den Kopf, wo auf dem Großen Platz, der Djamaa al-Fna, allabendlich Schlangenbeschwörer und Affendompteure ihre Kunststücke feilboten, ohne Rücksicht auf die geschundenen Tiere. Das Fell der Katze war schneeweiß, so makellos weiß wie sie blond, dachte Sophie, beides ungewöhnlich in Marokko. Mag sein, dass sie sich auch deswegen hinunterbeugte und die Hand nach ihr ausstreckte. Doch die Katze ergriff die Flucht, sprang auf die Straße, wo sie augenblicklich erst von den Hufen eines Pferdegespanns, dann von den Rädern der Kutsche erfasst wurde. Sophie glaubte, das leise Knacken von Knochen zu vernehmen, und hielt die Luft an. Ein Passant, der ihr Entsetzen bemerkt haben mochte, sagte nicht ohne Anteilnahme: «C’est la vie, Madame», und sie nickte, der Gruppe Touristen nachblickend, die in der Kutsche nichts mitbekommen hatte von der kleinen Tragödie.

Unwillkürlich schloss Sophie die Augen. Die Bilder vom Tod der Katze verflogen nicht. Sie berührten die erfahrene Reporterin. Sosehr sie sich auch dagegen wehrte, stiegen Fragen in ihr hoch: Was eigentlich bliebe von dir, solltest du selbst einmal unter die Räder geraten? Wer würde um dich trauern? In ein paar Tagen bist du 35, und du hast weder einen Mann noch ein Kind, die mit dir feiern. Die Uhr tickt, aber du hast niemanden, der auf dich wartet. Was ist gut daran, alleine zu sein?

Sophie verscheuchte die Gedanken und besann sich auf ihren Termin. Nach einigem Suchen fand sie die unscheinbare, in die Stadtmauer eingelassene eiserne Flügeltür, die man ihr beschrieben hatte. Knarrend öffnete sich das Tor, nachdem sie den metallenen Ring zweimal gegen den dazugehörigen stilisierten Stierkopf geschlagen hatte. Ein junger Mann mit Vollbart und traditionellem Berbergewand hieß sie willkommen und führte sie durch einen schmalen Gang, an dessen Ende Hassan Maliki sie mit freundlichem Blick erwartete.

«Wie schön, Sie wiederzusehen», sagte er und reichte ihr die Hand.

«Die Freude ist ganz meinerseits, Herr Maliki.» Er wies ihr den Weg in den Innenhof des Riads, eines traditionellen marokkanischen Hauses, das zur Straßenseite hin wenig mehr zu erkennen gab als eine Öffnung in der Begrenzungsmauer, einer Wand aus Lehm inmitten des Gassengewirrs. Der Innenhof war mit prachtvollen Bodenfliesen ausgestattet und hatte die Anmutung eines weitläufigen Wohnzimmers: Ornamentreiche Sitzmöbel mit Bezügen aus Satin verteilten sich großzügig um den plätschernden Springbrunnen, eine Treppe führte hinauf zu den oberen Etagen, zwei jeweils umlaufende Arkadengänge, von denen die Zimmer abgingen. Zum Schutz vor der Sonne waren drei weiße Leinentücher über den Innenhof gespannt, wie schwebende Segel. Jeder einzelne Quadratmeter Wandfläche war gefliest mit Fayencen, die sich zu größeren Mosaiken fügten, zu Arabesken und geometrischen Mustern, überwiegend in Weiß, Blau, Grün und Rot.

Hassan Maliki geleitete seine Besucherin zu der Sitzgruppe, die dem Springbrunnen am nächsten stand. Darin schwammen Rosenblätter, ebenso in den mit Wasser gefüllten Schalen auf dem Boden, in denen Duftkerzen brannten. Hölzerne Rundbögen umgaben das Atrium, jede Wölbung mit kalligrafischen Schriftzeichen verziert. Die Rundbögen wiederum ruhten auf geweißtem Lehm. Und jetzt entdeckte Sophie auch die sepiafarbenen Fotografien, die gerahmt auf dem Kaminsims standen, offenbar Familienfotos aus dem vorigen Jahrhundert. Vögel flogen zwitschernd über ihren Köpfen, leise ertönte im Hintergrund eine melancholische Melodie.

«Was für ein Haus», staunte Sophie. «Das hätte ich mir niemals vorstellen können, trotz Ihrer Erzählungen.»

«Es freut mich, dass es Ihnen gefällt.»

Seine Körperhaltung zeigte dieselbe Unsicherheit, die auch sie selbst empfand. Sie kannten einander kaum und waren doch vertraute Fremde, seit Sophie ihm vor ein paar Monaten Berlin gezeigt hatte. Er bat sie, Platz zu nehmen, und schenkte Pfefferminztee aus großer Höhe in die bereitstehenden Gläser ein, in denen die Flüssigkeit brodelte und schäumte.

«Ich bin mir natürlich darüber im Klaren, dass ich den Medienpreis in erster Linie Ihnen zu verdanken habe», sagte er in jenem Tonfall, der sich wie eine sanfte Berührung anfühlte und noch Wochen später nachgewirkt hatte, als er längst zurück in Marokko war. Er sah ihr nicht direkt in die Augen, sondern blickte an ihr vorbei. Auf Sophie wirkte diese Zurückhaltung wie ein Versprechen.

«Sie verdanken ihn der Qualität Ihrer Zeitschrift», erwiderte sie, ihre Stimme kam ihr ungewohnt hoch vor, und las in seinem fein ziselierten Gesicht. Es zeigte, obwohl er in ihrem Alter war, kaum Falten, sofern sie nicht von seinem Dreitagebart verschluckt wurden.

Auf dem Boden lagen reihenweise Stapel des Magazins Outland, dessen Herausgeber und Chefredakteur Hassan Maliki war.

«Wie sind Sie eigentlich auf die Idee gekommen zu Ihrem Magazin?», fragte Sophie, auf der Suche nach sicherem Grund. Sie roch sein betörendes Parfüm und wünschte fast, er hätte einen erkennbaren Makel. Doch er war schlank, groß gewachsen, sein Gesicht oval und ebenmäßig, von leichter Bräune.

«Gute Frage», erwiderte er. «Ehrlich gesagt hat es sich ergeben, so, wie manchmal die Dinge einfach geschehen, wenn der richtige Zeitpunkt gekommen ist.» Beim Reden zeichneten seine schlanken Hände Figuren in die Luft. «Sagen wir so: Ich mag mich nicht abfinden mit den Verhältnissen, wie sie sind. Nicht ohne Grund heißt Outland im Untertitel ‹Ein Magazin der Möglichkeiten›.»

«Ja, so haben Sie es bereits in Ihrer Dankesrede in Berlin formuliert.»

Er deutete ein Lächeln an: «Ich bitte um Verzeihung. Ich wollte Sie nicht langweilen.»

«Das tun Sie nicht», entgegnete Sophie eilig und trank einen Schluck Tee. Einen Moment fürchtete sie, ihr Gegenüber könne ihre Gedanken lesen. «Die Vögel haben aufgehört zu zwitschern», schob sie hinterher, nicht ohne Verlegenheit.

Wieder lächelte er und sah ihr erstmals in die Augen. «Ihre Schönheit verwirrt die armen Tiere», sagte er.

Sophie spürte, wie sie errötete. Sie musste aufpassen, dass die Begegnung nicht aus dem Ruder lief. Rede mit ihm über die Himmelstreppe, riet ihre innere Stimme. Und dann nichts wie raus hier.

***

Der Lärm war ohrenbetäubend, und die Rauchschwaden der Grillstände lagen in der Luft wie Nebel. Nachdem die Details der Reise geklärt waren, hatte Sophie vorgeschlagen, an der weltberühmten Djamaa al-Fna essen zu gehen. Abends verwandelte sich dieser Platz der Gaukler und fliegenden Händler zusätzlich in ein weitläufiges Freiluftrestaurant, wo sich eine mobile Garküche an die andere reihte. Hassan Maliki mochte diese Touristenfalle nicht, wie er sagte, Sophie dagegen fühlte sich endlich wieder auf sicherem Grund. Sie hatten auf einer langen Bank an einem Kebab-Grill Platz genommen, und ihr Begleiter winkte den Kellner zu sich heran.

«Wissen Sie eigentlich», fragte er, «was Djamaa al-Fna im Wortsinn bedeutet?»

«Keine Ahnung», gestand sie.

«Platz der Vernichtung. Hier fanden früher die öffentlichen Hinrichtungen statt, entweder mit dem Schwert oder dem Strick.»

Sophie tunkte das Fladenbrot in die scharfe Harissa-Sauce. «Verstehe. Wo die Leute sich am prallen Leben erfreuen, sind einst Menschen gestorben.»

«Alles eine Frage der Perspektive, nicht wahr? In Marokko ist der König vielen verhasst, euch gilt er als zuverlässiger Partner. Also hat er einen Freibrief. Und den nutzt er. Jeder, der das Königshaus kritisiert, muss damit rechnen, im Gefängnis zu landen.»

«Aber Sie kritisieren ihn doch.»

«Ich kenne die Grenzen sehr genau, glauben Sie mir. Ich weiß, wie weit ich gerade noch gehen kann. Und ich genieße die Gnade der rechten Geburt. Mein Nachname, Maliki, bedeutet königlich. Ich gehöre gewissermaßen zur Familie. Das verschafft mir etwas Spielraum.»

Sophie hörte ihm aufmerksam zu. Sie war öfter schon im Orient gewesen, aber ihr Wissen war in erster Linie angelesen. Ohne Hassan Maliki wäre sie niemals auf die Idee gekommen, sich für eine Himmelstreppe in der Wüste zu interessieren, dem Ziel ihrer Reise.

«Wie ist Ihre Geschichte über diese Treppe eigentlich in Marokko aufgenommen worden?», fragte sie.

«So gut wie gar nicht. Dafür ist Outland zu klein und zu unbedeutend. Außerdem liest nur die Oberschicht Englisch. Wie Sie wissen, ist unsere Zielgruppe eher das internationale Publikum, sonst würden wir auf Arabisch publizieren. Englisch hat außerdem den Vorteil, dass sich die Zensur für fremdsprachige Texte wenig bis gar nicht interessiert.» Hassan nagte am Knochen seines Lammkoteletts. «Der Ort», so fuhr er fort, «ist aus anderen Gründen in die Schlagzeilen geraten.»

«Gourrama, in die Schlagzeilen geraten? Ein Dorf mit hundert Einwohnern und einer Treppe, am östlichen Ende des Atlasgebirges, am Ende der Welt?»

«Die Regierung behauptet, in der Gegend trieben sich bewaffnete Islamisten herum, die aus Algerien eingesickert seien.»

Sophie runzelte die Stirn. «Ich dachte, in Marokko gäbe es keine gewaltbereiten Dschihadisten.»

«Gibt es auch nicht. Bislang jedenfalls nicht. Das alles ist Unsinn. Die algerische Grenze ist zwar nicht weit weg, wird aber auf beiden Seiten scharf bewacht. Gut, im Zweifel finden diese Leute immer einen Weg. Mein Eindruck ist dennoch, dass die Regierung die Terrorkarte einsetzt, um Washington und Paris zu beeindrucken. Nach dem Motto: Wir sitzen alle in einem Boot, bekämpfen denselben Feind. Oder sie bereitet weitere Zwangsmaßnahmen gegen die Opposition vor, unter dem Deckmantel der Terrorbekämpfung.»

«Dann könnte unser Ausflug ja spannend werden.» Sophie bemühte sich um ein Lächeln.

«Könnte sein», sagte Hassan tonlos. «Könnte durchaus sein.»

***

Die Sonne war gerade aufgegangen und tauchte das vor den Toren Marrakeschs liegende Atlasgebirge in ein rostbraunes Licht. Hassan Maliki saß am Steuer des Geländewagens, Sophie auf dem Beifahrersitz. Es roch nach brennenden Abfällen, Jasmin und Orangenblüten. Eine sonderbare Mischung, dieses Nebeneinander von Tod und Leben, von Zerfall und Schönheit; sie kannte sie so oder ähnlich aus vielen ärmeren Ländern. Der Tag erwachte, und vermutlich würde er heiß werden, dem azurblauen Himmel nach zu urteilen. Bauern auf Eselskarren waren auf dem Weg in die Stadt zu den Märkten, noch in Decken gehüllt. Autowerkstätten, Kleingewerbe, hier und da eine Schule oder ein öffentliches Gebäude. Großflächige Plakate warben für Golfplätze und luxuriöse Immobilienprojekte. Palmen säumten die Straße.

Zunächst fuhren sie durch eine oasenähnliche Landschaft, bis der Anstieg zum Tizi-n-Tichka-Pass in 2280 Metern Höhe begann. Immer karger wurde die Landschaft, bestand nur mehr aus Felsen und Kakteen, wie es schien. Die Ausblicke waren spektakulär, hinter jeder Haarnadelkurve offenbarten sich andere, noch grandiosere Facetten einer unendlich anmutenden Weite.

Sophie konnte noch immer nicht glauben, dass ihr Chefredakteur diese Reise tatsächlich genehmigt hatte. Auf den Spuren eines merkwürdigen Heiligen, der mit den Vögeln sprach und Gott gelobt hatte, eine Treppe zu bauen, die zu ihm führe, vom Dunkel ins Licht. Eines Tages war er vor dem Riad Hassan Malikis aufgetaucht, nachdem der im Radio für Outland geworben hatte, auf der Suche nach dem Randständigen, nach Menschen mit Geschichten, nach Stimmen jenseits der großen Worte. Sophie überlegte, Hassan darauf anzusprechen, aber seit ihrer Abfahrt wirkte er in sich gekehrt, und die Kurven verlangten seine volle Aufmerksamkeit. Teilweise waren sie ungesichert, und eine kleine Unachtsamkeit würde genügen, sie in den Abgrund stürzen zu lassen.

Sie liebte diese Freiheit. Unterwegs in einer unbekannten Welt, der Alltag ein ferner Fluch, jeder Augenblick ein bleibender Eindruck. Manchmal trieb sie der Gedanke um, sie könne süchtig sein, süchtig nach der Ferne. Die glücklichsten Momente erlebte sie auf der Flucht, bei ihren Auslandsreisen. In ihrer Wohnung hielt sie es nie lange aus, mit sich allein schon gar nicht. Ein Terminkalender ohne Eintrag der nächsten Abreise konnte sie in Panik versetzen.

«Alles okay?», fragte Hassan Maliki.

Sophie nickte und war froh, abgelenkt zu werden. Warum fuhr er mit ihr, opferte seine Zeit für sie? Weil er nicht so ein Egomane ist wie du, schoss es ihr durch den Kopf, während sie sich mit beiden Händen abstützte. Sie waren von der Hauptstraße auf eine Schlaglochpiste abgebogen, die den Stoßdämpfern einiges abverlangte. Immer tiefer drangen sie in ein spärlich besiedeltes, heißes Hochtal vor. Ab und zu kreuzten Ziegen ihren Weg, auf der Suche nach Sträuchern und Wasser. Nach einiger Zeit hielt Hassan an, um ihr das ausgetrocknete Flussbett zu zeigen, das nur wenige Wochen im Jahr Wasser führte – dann aber in solchen Mengen, dass weiter unten im Wadi Landwirtschaft möglich war. Sophie fiel auf, dass an diesem Ort absolute Stille herrschte. Kein Geräusch drang an ihr Ohr, nicht einmal das Summen einer Fliege oder das Zirpen von Zikaden. Das Einzige, was sie hörte, war das Blut, das an ihre Schläfen pochte. Hassan hielt die Arme über der Brust verschränkt und die Augen geschlossen. Er schien dieses absolute Nichts zu genießen, während Sophie die Hände ineinander legte, als brauche sie die Gewissheit, dass sie tatsächlich existierte.

«Erstaunlich, dass Menschen hier leben können», sagte sie.

«Sie haben keine Wahl», erwiderte er und blickte Sophie prüfend an. «Kommen Sie», sagte er, «ich will Ihnen noch mehr zeigen.»

Nach halbstündiger Fahrt erreichten sie den Flecken Télouet, eine Ansammlung einfacher Häuser. Es war Markttag, Händler und Bauern aus dem Umland standen zu Dutzenden um ihre Ware. Das Blöken von Schafen und Gemecker der Ziegen untermalten deren lautstarkes Feilschen. Kinder spielten inmitten der Tiere. Am Ende des Dorfes erhob sich zur Rechten auf einer Anhöhe eine Kasbah, eine gewaltige Festung. Doch war die einst prachtvolle Burganlage aus Lehm in weiten Teilen verfallen, ebenso die angrenzenden Gebäude; von einigen standen nur noch die Grundmauern. Überall lagen Müll und Schutt. Hassan parkte den Wagen an der Auffahrt zur Kasbah auf dem Parkplatz eines kleinen, weißen Hotels mit meerblauen Fensterläden. Kaum waren sie ausgestiegen, trat ein älterer Herr auf die Straße, ergriff Hassans Hand und tauschte mit ihm in einem Tonfall tiefer Ergebenheit Begrüßungsformeln aus. Der Hotelbesitzer bestand darauf, zu Ehren der Gäste eine Ziege zu schlachten.

Sie liefen Richtung Burgtor, und jetzt erkannte Sophie, dass die Anlage aus mehreren Wohnburgen bestand, die jeweils von eigenen Mauern begrenzt waren. Mehr als tausend Menschen hätten einst in dieser Kleinstadt gelebt, erzählte Hassan. Beamte, Händler, Soldaten, Angestellte der Burgherren aus dem Geschlecht der Glaoui, die von hier aus jahrhundertelang den gesamten Süden Marokkos und die Wüste bis nach Timbuktu beherrscht hatten. Strategisch günstig an der alten Passstraße gelegen, die alle Karawanen und Reisenden nehmen mussten, ob sie von Nord nach Süd oder von Ost nach West zogen. Sie zahlten Steuern und Zölle. Die Glaoui wurden reicher und mächtiger als der König.

Hier, inmitten des Verfalls, war es still. Sie schritten marode Treppen hinauf in die Beletage der Kasbah, zwei gewaltige Säle, die Wände und Böden mit schönen Mosaiken und Kacheln ausgelegt, die geschnitzte und bemalte Holzverkleidung hing in Teilen von der Decke herab. Aus vergitterten Fenstern sah Sophie hinaus auf die schneebedeckten Gipfel des Hochgebirges. Sie spürte den Wind auf ihrem Gesicht. Unwillkürlich kam ihr der grausame Herrscher in Tausendundeiner Nacht in den Sinn. Und Scheherezade, die ihn mit ausschweifenden Erzählungen davon abhielt, sie nach einer Liebesnacht zu töten. Auch sie erzählte Geschichten, dachte Sophie. In ihren Reportagen. Doch die retteten sie nicht.

Hassan schien ein anderer geworden zu sein. Er durchschritt die Kasbah, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, und inspizierte das Gebäude mit eingefrorenen Gesichtszügen. «Der letzte Glaoui, Mohammed, hatte sich auf die Seite der französischen Kolonialherren gestellt», sagte er unvermittelt. «Über Jahrzehnte hat er die Nationalbewegung bekämpft. Als Marokko 1956 unabhängig wurde, kam die Quittung. Das Vermögen der Glaoui wurde eingezogen, die Gebäude hier verstaatlicht. Anschließend hat man sie verfallen lassen. Sie sehen ja selbst.»

«Sie sagen das mit Verbitterung?»

«Ja, es macht mich wütend, dass etwas so Schönes dem Untergang geweiht ist.»

«Warum sind wir dann hier? Wir hätten einfach weiterfahren können.»

Hassan nickte. «Das stimmt. Aber ich wollte Ihnen meine Heimat zeigen. Diese Kasbah. Liegt ohnehin auf dem Weg.»

Sophie machte einen Schritt auf ihn zu. «Dann sind Sie …»

«Ein Glaoui, ja», fiel er ihr ins Wort, «aber ich heiße anders, weil mein Vater den Familiennamen ändern ließ. Der Name Glaoui löst in Marokko ähnliche Gefühle aus wie bei Ihnen Hitler oder Himmler.»

«So viele Menschen haben Ihre Vorfahren auf dem Gewissen?»

«Nein, keine Millionen. Aber das Prinzip war dasselbe. Wer sich den Glaouis in den Weg stellte, wurde vernichtet. Ganze Dörfer und Landstriche. Sie haben nur eine Herrschaft akzeptiert, die eigene.»

Sophie dachte seinen Worten hinterher und schlenderte in Richtung einer Treppe, die auf das Dach führte. Sie hörte Hassan noch «Halt!» rufen, aber da brach der morsche Boden unter ihr ein, und sie sackte eine Etage in die Tiefe. Es ging so schnell, dass sie kaum reagieren konnte. «Oh, mein Gott!», hörte sie sich rufen. Sie war mit Füßen und Gesäß auf einer Bretterverkleidung aufgeschlagen, versuchte aufzustehen, doch da gaben die lose aufliegenden Bretter nach und fielen nach unten, auf einen Felsüberhang zehn, zwölf Meter unter ihr. Sophie gelang es, sich an einem Wandvorsprung festzuhalten. Sie versuchte, sich wieder hochzuziehen, doch es gelang ihr nicht. Sie schrie. Wieder und wieder setzte sie an, doch mit jedem Versuch spürte sie ihre Kräfte schwinden. Ihr Körper pendelte bedrohlich, und die verschwitzten Hände liefen Gefahr, abzurutschen. Ihre Beine ruderten in der Luft, suchten nach Halt – dann fiel sie. Glaubte sie zu fallen, denn in dem Moment hatten sie zwei Hände an den Unterarmen gepackt. Sie hörte nicht auf zu schreien. Bis sie Hassans Stimme vernahm: «Hör auf, verdammt noch mal! Beruhige dich, und sieh mich an! Hörst du?! Du sollst mich ansehen! Hör auf zu strampeln, sonst falle ich mit dir!»

Hassans Hände sprangen ihre Arme entlang bis in Höhe der Achseln, als wäre sie ein Eimer Wasser an einem Strick, dann zog er sie seitlich aus dem Loch. Mit einem Ruck drehte er sich und warf Sophie dabei nach hinten in Sicherheit. Keuchend und stöhnend, bedeckt von Staub, lag sie da. Sie zitterte am ganzen Körper und hatte Mühe, sich zu fassen. Hassan half ihr beim Aufstehen. Sophie wehrte sich nicht, ihr war schlecht. Der Hotelbesitzer, wohl gerufen von ihren Schreien, kam ihnen entgegengelaufen. Als er Sophie erblickte, zog er sein bodenlanges Gewand aus und wickelte sie darin ein. Jetzt steht er da halb nackt, dachte sie und war sich nicht sicher, was sie idiotischer fand, diesen Anblick oder die Tatsache, dass sie sich darüber den Kopf zerbrach.

***

Im Hotel stellte sich Sophie als Erstes unter die Dusche. Sie hätte das Wasser am liebsten überhaupt nicht mehr abgestellt, obwohl das Sünde war in dieser Halbwüste. Es kam ihr vor wie eine rituelle Waschung. Sie empfand Scham und Reue über ihren Leichtsinn, mehr noch aber schämte sie sich für ihren Kontrollverlust, den Verlust ihrer Selbstbeherrschung – vor sich selbst, vor ihrem Lebensretter. Das alles ergab keinen Sinn, und genau das machte ihr zu schaffen. Dieser fehlende Sinn. Abwechselnd dachte sie: Du könntest jetzt tot sein. Und: Dieser Tod hätte etwas Lächerliches. Einfach sterben, ohne Grund, zur falschen Zeit am falschen Ort. Sophie verstärkte noch den Wasserstrahl. Vielleicht wäre es das Beste, ins nächste Flugzeug zu steigen.

Sie beschloss, ihm in die Augen zu blicken und ihm zu danken. Danach würde sie die Sache nie mehr ansprechen. Noch immer zitterten ihre Knie. Sie brauchte lange, sich wieder anzuziehen.

***

Das Hotel war leer. Im Restaurant saßen Hassan und der Hotelbesitzer, die Blicke auf den Fernseher an der Wand gerichtet. Er zeigte Soldaten in khakifarbenen Uniformen, die mit Dorfbewohnern redeten, das Gewehr im Anschlag. Als Hassan Sophie bemerkte, wandte er sich ihr zu: «Hunger?»

«Ja.»

Der Hotelbesitzer, der ihr einen freundlichen Blick zuwarf, klatschte in die Hände. Kurz darauf kamen zwei Frauen ihres Alters aus der Küche und servierten gegrilltes Ziegenfleisch. Sie lächelten Sophie an, die beide aufforderte, Platz zu nehmen, mit ihnen zu essen. Sie schüttelten kichernd den Kopf, eine fasste ihr kurz ins blonde Haar. Dann verschwanden sie wieder, noch immer kichernd.

Kaum hatten sie aufgegessen, verabschiedete sich der Hotelbesitzer. Hassan entließ ihn mit flüchtiger Geste. Die beiden Frauen aus der Küche räumten ab und brachten Tee.

«Wir müssen reden», sagte Hassan.

«Ja, natürlich. Ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken soll. Es tut mir unendlich leid.»

Hassan legte den Kopf zur Seite und verschränkte die Arme. «Was tut Ihnen leid? Dass die Burg ein Sicherheitsrisiko ist? Dafür ist mein Großvater verantwortlich, nicht Sie.»

«Na ja, aber gerade deswegen war es dumm, Sie und mich in Gefahr zu bringen.»

Er hielt die Teekanne in die Höhe und schenkte ein, ohne einen Tropfen zu vergießen, was ihr noch nie gelungen war.

«Ich weiß nicht, was Sie meinen. Unsere kleine Sportübung?» Hassan stellte die Kanne ab und legte seine Hand kurz auf ihren Unterarm. «Ich wollte Sie doch nur beeindrucken.» Er lachte. «Nein, im Ernst.» Hassan strich sich durch die Haare – ein schöner Anblick. «Es gibt da ein Problem. Sie haben die Fernsehbilder gesehen?»

Sophie bejahte und strich sich ihrerseits durch die Haare. «Ich finde, wir sollten uns duzen», sagte sie und errötete.

Hassan nickte kurz, ohne sie anzusehen. «Das war ein Bericht aus Gourrama.»

«Wo die Himmelstreppe steht?»

«Exakt.»

«Dann sind wir ja zur richtigen Zeit am richtigen Ort.»

«Oder auch nicht. Die Sicherheitskräfte sind überall in der Gegend. Weil da vor ein paar Tagen Kämpfer von Al-Qaida im Maghreb aufgetaucht seien. Sie hätten die Bevölkerung aufgefordert, sich ihrem Kampf anzuschließen. Und anschließend Geld verteilt. Sagen sie im Fernsehen.»

Sophie schürzte die Lippen. «Hältst du das für wahrscheinlich?»

«Keine Ahnung.»

«Dann sollten wir das herausfinden.»

«Und wie?»

«Indem wir hinfahren.»

Hassan seufzte. «Mir ist klar, dass Sie da um jeden Preis hinwollen, pardon, dass du da um jeden Preis hinwillst. Das verstehe ich sehr wohl. Aber … mein Instinkt sagt mir, die Sache ist nicht ungefährlich.»

«Wir sind vorsichtig.» Sophie spürte ihre aufkeimende Ungeduld. Sie konnten die Reise jetzt doch nicht abbrechen.

«Ich werde nachher einige Telefonate führen. Danach entscheiden wir, was wir tun. Weder mit den Sicherheitskräften noch mit Al-Qaida ist zu spaßen.»

***

Sophie hatte im Internet recherchiert, aber nichts über den Vorfall in Gourrama gefunden. Die Nacht war hereingebrochen, der Sternenhimmel glasklar. In der Ferne jaulte ein Hund. Sie saß auf der Terrasse, schlürfte kalt gewordenen Pfefferminztee und dachte nach. Tausend Gedanken schwirrten ihr durch den Kopf. Hassans Ausführungen hatten ihr einen Adrenalinstoß versetzt, an Schlaf war nicht zu denken. Du bist doch verrückt, Sophie. Gerade noch dem Tod von der Schippe gesprungen, und jetzt suchst du freiwillig die Gefahr? Opfer eines Unfalls zu werden, war das eine. Vorsätzlicher Leichtsinn ein anderes.

Kaum hatte Hassan seine Hand auf ihre Schulter gelegt, war sie hellwach. Sie musste eingenickt sein. Noch immer saß sie draußen, in eine Decke gehüllt.

«Was gibt’s Neues», fragte sie und richtete sich auf.

«Ich habe mit den Leuten im weiteren Umfeld des Dorfes telefoniert. War gar nicht so einfach. Handyempfang gibt es dort nicht, in Gourrama auch kein Festnetz. Erst hundert Kilometer weiter nördlich habe ich jemanden erreicht.»

«Und?»

Er massierte seinen Bart. «Tja. Offenbar sind Bewaffnete in Geländewagen erschienen. Keine Leute aus der Gegend. Algerier auf der Flucht, heißt es. Vor den Drohnenangriffen der Amerikaner auf der anderen Seite der Grenze.»

Sophie stand auf.

Hassan ergänzte, dass er auch mit dem zuständigen Offizier der Nationalgarde gesprochen habe und aus dessen Sicht keine Einwände bestünden, Gourrama zu besuchen.

«Das ist ja großartig!», jubelte Sophie.

Hassan schnaubte. «Natürlich wird man uns anschließend in Empfang nehmen und gründlich verhören. Verstehst du, was ich meine?»

«Ich denke schon.»

«Nein, ich denke nicht. Die Dorfbewohner haben Angst vor der Gendarmerie und dem Geheimdienst. Denen erzählen sie, was sie glauben, dass die hören wollen, und selbst das nur unter Schlägen und Drohungen. Das wissen die Sicherheitskräfte natürlich und hoffen, dass wir mehr herausfinden.»

«Na ja, dann erzählen wir denen eben irgendwas.»

Hassan lachte höhnisch. «Irgendwas! Du bist naiv. Glaubst du, die lassen sich für dumm verkaufen? Die können sonst was mit uns anstellen – bis sie haben, was sie wollen.»

Mit den Augen suchte Sophie eine Sternengruppe ab, ohne sie zuordnen zu können. Sie fasste einen Entschluss, spontan, ohne weiteres Nachdenken: die Entscheidung Hassan zu überlassen. Er konnte das Risiko einschätzen, sie nicht. Wenn er Nein sagte, fuhren sie nicht. Dann war es eben so.

«Hassan. Fahren wir nach Gourrama oder nicht?»

Er warf beide Hände in die Höhe, als ergebe er sich.

«Ich weiß es nicht», sagte er.

«Was sagt dein Gefühl, Hassan, ja oder nein?»

«Ohne dich würde ich keinen Moment zögern. Nein.»

«Okay. Dann fahren wir nicht.»

Hassan blickte sie erstaunt an, widersprach aber nicht. Sophie konnte kaum glauben, wie leicht ihr diese Worte über die Lippen gekommen waren. Sie sank wieder auf den Stuhl und verschränkte die Arme. Nachdem sie eine Weile schweigend dagesessen hatten, entschuldigte sich Hassan für einen Moment. Er kam mit zwei Flaschen Bier zurück. «Ich wusste doch, dass der alte Gauner seine Vorräte irgendwo versteckt hat», sagte er.

Sie stießen an. «Warum eigentlich warst du bereit, mit mir auf diese Reise zu gehen?», fragte Sophie. «Ich meine, was hast du davon?»

Hassan antwortete nicht sofort. «Gute Frage. Ich habe ein sehr gespaltenes Verhältnis zu Europa. Einerseits das große Freiheitsversprechen, andererseits die Kumpanei mit unseren Königen und Präsidenten. Irgendwie bist du – anders. Du meinst, was du sagst. Das spürt man. Du verkaufst deine Seele nicht. Und irgendwie – fühle ich mich dir verbunden.»

ZWEITES KAPITEL

GOURRAMA, MAROKKO

Der Morgen schleicht blau durch meine Seele, dachte Sophie, als ihr Blick über das weite Land strich, das sie umarmte wie eine Vertraute. Aufmerksam, aber leidenschaftslos steuerte Hassan den Geländewagen durch die steinige Halbwüste, ohne ein Zeichen der Anstrengung oder Anspannung. Er nahm einen anderen Weg als auf der Hinfahrt, Richtung Südosten, und bald schon gewann Sophie den Eindruck, sie führen entlang einer Gletscherspalte. Die Asphaltstraße verlief auf einem Plateau, das zur Rechten weit aufgerissen war und den Blick freigab auf eine tiefer gelegene, grün wuchernde Flusslandschaft. Ein Dorf reihte sich an das nächste, nah und gleichzeitig fern, wie aus einer anderen Welt. Ab und zu führte eine Piste hinunter zum blauweiß schimmernden Fluss.

Hassan bremste, an einer Weggabelung kamen sie zum Stehen. Rechts ging es nach Marrakesch, links nach Gourrama.

«Links oder rechts, Sophie?»

Sie seufzte lang und resigniert. «Marrakesch», sagte sie knapp.

«Okay.» Er blinkte rechts, zögerte einen Moment und zog das Lenkrad nach links.

«Hassan!», rief Sophie, ein sanftes Lächeln im Gesicht.

Sie verließen die Hauptstraße und fuhren über steinige Staubpisten, Stunde um Stunde. Menschenleer erschien die Gegend, bis sie den ersten Militärfahrzeugen begegneten. Zu ihrer Überraschung ließen die Soldaten sie unbehelligt passieren. Sophie spürte die leise Anspannung, die sie ergriffen hatte. Es lag etwas in der Luft. Ihre Gefühle täuschten sie selten, doch waren sie zu unbestimmt und vage. Und dann, hinter einer Kurve, Gourrama. Gänzlich unspektakulär, eine Ansammlung von schlichten Häusern aus Naturstein oder Lehm. Rechts am Rand eine über zwanzig Meter in die Höhe ragende Säule, ebenfalls aus gemauertem Naturstein, gesichert mit einem hölzernen Gerüst. Bei näherem Hinsehen erwies sich die Säule als Treppe. Kinder rannten auf das Auto zu, verlangten lauthals Kaugummi und Kugelschreiber. Dann zeigten sich die Mütter, schließlich die Männer, die meisten alt. Neugierig umringten sie das Fahrzeug und mehr noch Sophie, deren blonde Haare stets erneut Staunen und Bewunderung auslösten, obwohl sie fast ganz von einem Kopftuch bedeckt waren.

Hassan wurde freundlich begrüßt und bestürmt, hatte er doch den Namen ihres Dorfes in die Welt getragen.

«Gibt es hier eigentlich auch junge Männer?», fragte Sophie ihren Begleiter.

«Die sind in den Slums der Großstädte», erwiderte Hassan ungerührt und entzog sich den Bitten und Einladungen zum Tee. Zunächst wollte er Said Attar seine Aufwartung machen, dem Erbauer der Himmelstreppe, und ihm Sophie vorstellen. Die Dorfbewohner hielten respektvoll vor der Treppe inne und erweckten den Eindruck, nichts in der Welt könne sie da hinaufbekommen. Die Säule ruhte auf einem breiten Fundament und verjüngte sich nach oben, an den Seiten gesichert von einem Seil. Es kostete Sophie einige Überwindung, dem voransteigenden Hassan zu folgen. Sie war nicht ganz schwindelfrei, mochte sich aber keine Blöße geben und starrte auf die Treppenstufen vor sich, ohne einen Blick zur Seite zu werfen. Oh Gott, dachte sie. Auf dem Rückweg würde sie die Augen so weit wie möglich geschlossen halten. Immerhin gab das Gerüst der Treppe zusätzlichen Halt. Selbst wenn sie stolpern sollte, war da immer noch das Seil.

Oben thronte einsam Said Attar und verputzte Fugen. Er summte vor sich hin, besser gesagt hielt er einen einzigen, gleichförmigen Ton, der aus nur einem Buchstaben bestand: Uuuuu. An der Spitze der Treppe war es windig und zugig, während gleichzeitig die Sonne stach. Kein Ort für vernünftige Menschen. Nachdem Hassan den arabischen Friedensgruß entboten hatte, wandte sich Said Attar um. Als er Sophie erblickte, erstarrten seine Gesichtszüge. Die Kelle noch in der Hand richtete er den Zeigefinger auf sie und sagte: «Du bist das Licht, und du wirst brennen.» Auch ohne Hassans Übersetzung beschlich sie eine dunkle Vorahnung. Prediger, Wahnsinnige und Kinder brauchen keinen Dolmetscher.

Während sie die Treppe hinunterstiegen, redete Hassan auf sie ein. Doch Sophie war irritiert, beunruhigt durch die Fantastereien eines Eremiten. Er mochte den Verstand verloren haben, aber seine Botschaft hatte er mit bemerkenswerter Klarheit vorgetragen.

***

Der Dorfälteste bat die Besucher in sein Haus, und sie setzten sich zu ebener Erde auf den Boden, auf Sitzkissen, die entlang der Wände verteilt waren. Durch das Fenster sah Sophie Kinder, die spielten, sie seien Flugzeuge. Dabei machten sie stets dasselbe Geräusch, jenes monotone, lang anhaltende Uuuuu. Pfefferminztee wurde gereicht, und der Dorfälteste erzählte, was sich seit Hassans letztem Besuch im Dorf zugetragen hatte. Nicht viel, im Grunde gar nichts, abgesehen von den Ereignissen der letzten zwei Wochen. Da seien auf einmal Bewaffnete aufgetaucht, mitten in der Nacht. Hätten sie geweckt und sich nach dem Weg erkundigt. Nach Algerien. Drei Geländefahrzeuge, zehn, elf Männer, alle schwarz gekleidet und vermummt. Die verängstigten Nachbarn hätten die Leute zu ihm geführt, dem Dorfältesten. Er habe unwillkürlich ein Gebet gesprochen, weil er damit rechnete, umgebracht zu werden. Doch so Furcht einflößend die Männer auch aussahen, waren sie doch einigermaßen höflich. Ließen sich Brot und Lebensmittel bringen, die sie bezahlten.

«Algerier?», fragte Hassan.

Der Dorfälteste bewegte seinen Kopf nach links, nach rechts und wieder nach links. Eine Geste des Abwägens. Sophie, einzige Frau in dieser Männerrunde, die sich nach und nach eingefunden hatte, überlegte, was das bedeuten mochte.

Sie hätten in marokkanischen Dirham bezahlt. Und keinen algerischen Dialekt gesprochen.

Hassan strich sich über das Kinn. So nachdenklich hatte Sophie ihn noch nicht gesehen. Dann berichtete der Dorfälteste, wie Polizisten und Soldaten in den Tagen darauf Haus für Haus durchkämmt, die Bewohner stundenlang verhört hätten. Als sie erfuhren, dass die Bauern den Terroristen zu essen und zu trinken gegeben hatten, wurden die Männer geschlagen und einige von ihnen verhaftet. Seither seien sie wie vom Erdboden verschluckt. An dieser Stelle fielen dem Dorfältesten die übrigen Anwesenden ins Wort und erzählten durcheinander, was sie bewegte: die Sorge um die Männer, Verwandten, Angehörigen, Nachbarn. Sophie verstand die Sprache nicht, doch ließen Gesten und Erregung wenig Fragen offen. Umso mehr überraschte sie, wie viel Freundlichkeit und Würde sich diese Leute bewahrt hatten, ungeachtet ihrer Beunruhigung. Neben ihr saß ein Mann, der kaum noch Zähne hatte und beim Reden ungewollt Speichel versprühte. Als er merkte, dass ihre Unterarme, mit denen sie ihre hochgezogenen Knie umklammerte, allmählich feucht wurden, zog er ein Taschentuch hervor, das eindeutig bessere Tage gesehen hatte, legte seine rechte Hand aufs Herz, sagte lächelnd «sorry» und beseitigte seine Spuren. Anschließend fiel er zurück in seine Rede. Sophie kam sein Auftritt vor wie eine einzige, durchgehende Bewegung.

Dann hörten sie es. Ein surrendes Geräusch, über ihren Köpfen. Unangenehm, penetrant, die Stille der Natur durchreißend. Ein basstiefes Uuuuu. Sophie eilte nach draußen, sah in den grellblauen Himmel. Nichts zu sehen, außer der Sonne und ein paar Vögeln. Das Geräusch wurde nicht lauter, nicht leiser, es verharrte unsichtbar in der Luft. Die Kinder sprangen auf und spielten erneut Flugzeug, bildeten Flügel mit ihren ausgestreckten Armen und zogen Kreise um Sophie. Hassan gesellte sich zu ihr, ebenso einige der Männer und zwei oder drei Frauen, die ihre Kinder aufforderten, sofort von der Straße zu verschwinden.

«Verdammt!», rief sie. «Was ist das?»

«Unsichtbare Flugzeuge», erwiderte Hassan. «So nennen sie die Dorfbewohner.»

«Drohnen? Warum sehen wir die nicht?»

«Weil sie zu hoch fliegen. Bis zu zehn Kilometern.»

«Wieso das denn? Glaubst du ernsthaft, dass sich die Amerikaner für dieses Kaff interessieren?»

«Tja, Sophie.» Hassan kratzte sich am Kopf. «Wenn wir das wüssten. Ich habe keine Ahnung, was hier los ist.»

Die Amerikaner, überlegte Sophie. Warum kommst du als Erstes auf die? Weil sie als Einzige in der Lage wären, ihre Drohnen ungestraft über Marokko kreisen zu lassen?

Und dann war das Geräusch weg. So plötzlich, wie es gekommen war, hatte es sich auch wieder verflüchtigt. Reine Einbildung, könnte man glauben. Würde auch Sophie denken, hätte sie es nicht selbst vernommen, wüssten die Dorfbewohner nicht zu berichten, dass Drohnen regelmäßig ihre Kreise über der Gegend zogen, seit jener Nacht, als die Vermummten hier aufgetaucht waren.

Wie sie da so standen, inmitten der einzigen Straße aus Staub, die das Dorf in zwei Hälften teilte, umgeben von Unbekannten, deren Blicke voller Sehnsucht und Scheu auf Sophie ruhten, fühlte sie sich nichtig und klein. Das Dorf war ein lebender Organismus, jeder Bewohner Teil des Ganzen. Nur als Gemeinschaft konnten die Menschen existieren, einzeln wären sie in dieser Umgebung dem Untergang geweiht. Doch so karg die Landschaft auch war, reichte das Wasser immerhin für einige Haine und Dattelgärten. Von dem wenigen, was der Boden hergab, lebten die Bewohner. Und von ihren Ziegen, die in Herden von einigen Dutzend Tieren durch die Gegend zogen, bewacht von Hirtenjungen.

Eine Witwe hatte Sophie in ihrem Haus aufgenommen. Angezogen lag sie auf dem Bett, den Kopf zur Seite gewendet, und sah durch das offene Fenster hinaus in das tiefe Dunkel, gelblich schimmernd durchbrochen von Mond und Sternenhimmel. Auf einmal stand Hassan draußen vor dem Fenster.

«Ich bin zu aufgedreht, um zu schlafen», sagte er.

«Geht mir auch so.»

«Ich kann mir einfach keinen Reim auf das hier machen.»

«Ich auch nicht.»

Sie setzte sich auf das Fensterbrett, etwas überrascht von seinem Erscheinen. Es war Vollmond, stellte sie fest.

«Sophie?»

«Ja?»

«Ich möchte mit dir schlafen.»

«Oh, ich … also, äh …» Sie fuhr sich durch die Haare und spürte, wie ihre Hände zu schwitzen begannen. «Nein. Hier? … Nein, ich kann nicht … mir ist… Hassan, ich möchte … es tut mir leid.» Sophie sprang auf, schloss das Fenster und flüchtete auf ihr Bett. Laut schlug ihr Herz, und sie dachte: Wie dämlich bist du eigentlich? Da steht dieser Mann vor dir, der dich anzieht, und was machst du? Gott im Himmel! Geh doch gleich ins Kloster, Sophie Schelling.

***

Ein gellender Schrei riss sie aus dem Tiefschlaf. Sie brauchte einen Moment, sich in Erinnerung zu rufen, wo sie war, suchte schlaftrunken ihre Kleider. Wenig später wieder ein Schrei, der überging in ein Wimmern. Sie hörte Türen, die geschlagen wurden, Stimmen. Trat hinaus ins Freie, sich die Augen reibend. Es war früh am Morgen, die Luft noch kalt. Der wolkenfreie Himmel im Osten rot eingefärbt. Am Ende der Gasse auf dem Platz sah Sophie eine Frau, die ihren Sohn in Armen hielt, umringt von Nachbarn. Die Kleidung des Teenagers war blutbefleckt, er war in heller Aufregung, während er etwas erzählte, was bei den Zuhörern sichtbares Entsetzen hervorrief. Sie schlugen sich mit der flachen Hand mehrfach ins Gesicht und riefen: «Ya Allah!» Dann war auch Hassan da und übersetzte Sophie, sich das Hemd zuknöpfend, was vorgefallen war. Der Junge war mit seinem Vater Ziegen hüten in den Bergen weiter nördlich. Dort hätten sie erst dieses Uuuuu gehört, und dann habe plötzlich die Erde gebebt. Der Junge hockte zu dem Zeitpunkt hinter einem Felsen, «auf Toilette», was ihm wohl das Leben gerettet hatte. Das Beben sei kurz und heftig gewesen, so heftig, dass umliegende Steine aufzuspringen schienen, begleitet von grellen Blitzen. Der Junge sei vor Angst wie gelähmt gewesen. Der Gestank von verbranntem Fleisch drang ihm in die Nase. Als er sich aus seinem Versteck hervortraute, war es bereits dunkel geworden. Er habe seinen Vater gesucht, die Ziegen, aber … Der Junge versuchte zu beschreiben, was er gesehen hatte, doch versagte ihm die Stimme. Er sagte nur noch, dass er hergerannt sei, die ganze Nacht über, unterbrochen von kurzen Pausen. Ein großes Wehklagen hub an, und die Menge begleitete Mutter und Sohn in ihr Haus, dessen rechte Hälfte ein Ziegenstall war.

Der Dorfälteste trat an Hassan heran und bat ihn, zum Ort des Geschehens zu fahren, da abgesehen von seinem Geländewagen kein weiteres Fahrzeug zur Verfügung stand. Hassan hatte keine Wahl. Das ganze Dorf war auf den Beinen, die Straße eingetaucht in eine Wolke aus Staub und Erregung. Um Hassans Wagen hatte sich bereits eine Gruppe Männer versammelt, die den Eindruck erweckte, mitfahren zu wollen.

«Wir hätten nicht kommen sollen», sagte Hassan zu ihr, die Stimme besorgt.

Auch Sophie war das Risiko bewusst. Es brauchte nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, dass der Hirte Opfer eines Drohnenangriffs geworden war. Soweit sie wusste, hatte noch nie ein westlicher Journalist den Schauplatz eines solchen Angriffs aufgesucht. Sie wäre die Erste, und auf diesen Scoop würde sie freiwillig nicht verzichten.

Hassan verlangte, dass nur zwei Männer aus dem Dorf mitfahren sollten. Sie müssten schließlich den Toten und womöglich noch anderes transportieren. Der Dorfälteste willigte ein. Er und sein Cousin würden Hassan und Sophie begleiten. Nachdem sie Wasser und einige Lebensmittel verstaut und ein Leichentuch besorgt hatten, brachen sie auf, begleitet von den stummen Blicken der Bewohner. Sie hatten das Dorf noch nicht verlassen, als auf einmal das Wagendach erbebte. Ein Mann war auf den Gepäckträger gesprungen, ein Jagdgewehr in der Hand. Said Attar.

Anders als der Junge konnten sie nicht den direkten Weg nehmen, sondern mussten den Bergrücken umfahren. Fast zwei Stunden waren sie unterwegs, bis sie zu dem Weideplatz gelangten. Unterwegs entschuldigte sich Hassan für seine Aufdringlichkeit in der Nacht.

«Oh, das musst du nicht. Ich hätte dich nicht so stehen lassen dürfen. Lass uns später darüber reden, das hier ist jetzt wichtiger.»