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Frank Westerman

Das Schicksal
der weißen Pferde

Eine andere Geschichte
des 20. Jahrhunderts

Aus dem Niederländischen
von Gerd Busse
und Gregor Seferens

Verlag C.H.Beck

Zum Buch

Frank Westerman erzählt die Geschichte des 20. Jahrhunderts im Spiegel der Geschichte der Lipizzaner-Pferde. Der Leser verfolgt atemlos mit, wie gekrönte Häupter und Diktatoren um die „perfekten Tiere” kämpften – und gewinnt dabei erstaunliche Erkenntnisse über das Selbstverständnis des Menschen und sein Streben nach eigener Perfektion.

„Wenn du einen Lipizzaner berührst, berührst du Geschichte”, wurde Frank Westerman als Kind belehrt. Dass diese Geschichte unheimlich und abgründig ist, hat er Jahre später als reisender Journalist und Schriftsteller auf den Spuren der Lipizzaner erfahren. Sie beginnt im heute slowenischen Lipica und in der Spanischen Hofreitschule zu Wien, wo die „lebenden Kronjuwelen” des Habsburgerreiches gezüchtet und ausgebildet werden. Nach dem Ersten Weltkrieg streiten sich Italiener, Österreicher und Tschechen um die wertvolle Zucht. Hitler begeistert sich für die weißen Pferde und bringt sie unter seine Kontrolle. 1945 evakuieren die Amerikaner die überlebenden Tiere in einer abenteuerlichen Aktion vor den Truppen Stalins und liefern damit den Stoff für einen Hollywood-Film. Schließlich wird in den Nachfolgestaaten Jugoslawiens heftig um die Pferde gestritten. Frank Westerman versteht es meisterhaft, uns am Beispiel der Lipizzaner die Träume von Reinheit und Perfektion vor Augen zu führen, die im 20. Jahrhundert zu unzähligen Katastrophen geführt haben, aber bis heute lebendig sind.

Über den Autor

Frank Westerman, geboren 1964 in den Niederlanden, Journalist und Schriftsteller, ist ein Meister der literarischen Reportage. Er studierte Agrarwissenschaften, bevor er als Auslandskorrespondent für zwei große Tageszeitungen aus Russland und Osteuropa berichtete. Seine Bücher wurden in mehr als zehn Sprachen übersetzt und mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet.

“Westerman ist ein exzellenter Schriftsteller. Seine Erzählfäden und Charaktere greifen so kunstvoll ineinander wie ein Uhrwerk. Wie Bruce Chatwin and Ryszard Kapuscinski … ist er ein brillanter, magischer Erzähler.” The Sunday Times

„Der Name Frank Westerman steht für eine neue Art von Literatur, für die es im Deutschen noch keine passende Bezeichnung gibt. … Es genügt, an dieser Stelle die Namen Bruce Chatwin und Ryszard Kapuscinski zu nennen oder den diesjährigen Nobelpreisträger Jean-Marie Le Clézio: Nomadisierende Schriftsteller, deren Werk Gattungsgrenzen wie geographische Horizonte überschreitet und sich mit souveräner Selbstverständlichkeit durch fremde Kulturen bewegt.” Hans Christoph Buch, Frankfurter Allgemeine Zeitung

„Westerman schreibt Sachbücher mit der Feder und Bravour eines großen Romanciers.” De Standaard

„Wie auf dem Hintergrund der Geschichte ein höchst aktuelles Bild Russlands und seiner früheren kolonialen Annexe im Süden entsteht – das ist nicht nur instruktiv und bewegend, sondern so spielerisch und spannend erzählt, wie man es etwa von den Reportagen und Erzählungen eines Bruce Chatwin kennt.” Gerd Koenen, Literaturen (über „Ingenieure der Seele”)

„Wer sich für das Russland von heute interessiert, der sollte sich diese Studie über das Russland von gestern nicht entgehen lassen.” Rainer Traub, Der Spiegel (über „Ingenieure der Seele”)

„Dass Westerman seine Detektiv-Recherche reportagehaft erzählt, bringt doppelten Ertrag: Er macht die Geschichte Lesern zugänglich, die eine herkömmliche historische Studie zum selben Thema aus der Hand legen würden.” René Aguigah, Literaturen (über „El Negro”)

Inhalt

Prolog

– I –

Das zz in «Lipizzaner»

Blutauffrischung

Der Kranichfuß

K.u.k.-Leute

Das Schwarz mendelt aus

Die Gehorsamsprobe

– II –

Die Rückkehr des Tarpans

Heim ins Reich

Pflanze 4711

Aufruf zur Deckpflicht

Die Zuchtstation

Operation Cowboy

– III –

Bratstvo i jedinstvo

Animal Farm

Die Kavallerie des Kalten Kriegs

Der Menschenpark

Conversano Batosta

Stammbaum

Quellennachweis

Prolog

«Für meine Schwestern, meinen Bruder und mich verlief der Krieg so, als sei Frieden. Im Sommer verging kein Tag, ohne dass ich mit dem Pferd am Fluss entlangritt. Vater leitete ein Hengstdepot im Süden Polens. Er hatte mehr als hundert Rassepferde unter seiner Obhut, die edelsten im ‹Reich›. Jedes Jahr im Frühling gingen die Hengste auf eine Deckstation, um die Stuten der Züchter zu decken; im Juli kamen sie wieder zurück zu uns. Es waren ranke Englische Vollblüter dabei, zwei Lipizzaner der Spanischen Hofreitschule in Wien, fünf Berber, die in Frankreich erbeutet worden waren, eine Handvoll Araber, Vollblut und Halbblut, sowie gutmütige Huzulen, auf denen ich selbst mit fünf Jahren reiten gelernt hatte.

Wir lebten in ‹Schloss› Ochab, einem weißverputzten Landhaus, das als Offizierswohnung diente. Das Hengstdepot Draschendorf lag auf der anderen Seite der Weichsel, dort lebten auch die polnischen Stallmeister und Gestütswärter – die jüngsten von ihnen, die Reitburschen, auf dem Heuboden über den Ställen. Auschwitz lag fünfunddreißig Kilometer stromabwärts. Wir Kinder wussten nicht, was ein ‹Konzentrationslager› war. Es war ein schwieriges Wort, deshalb sagten wir ‹Konzertlager›.

Kurz vor Weihnachten wählten wir ein fettes Schwein zum Schlachten aus. ‹Churchill, jetzt bist du dran›, sagte Vater, während er das Signal gab, dem Tier die Kehle durchzuschneiden. Ich hüpfte vor Aufregung hin und her, auch wenn ich keine Ahnung hatte, wer Churchill war. Der Schlachter machte daraus Rollbraten und Würste, mit denen wir für Monate genug hatten. An Heiligabend sang Mutter Lieder aus dem evangelischen Gesangbuch, wobei sie sich selbst auf dem Klavier begleitete. Vater spielte Cello; er nahm Unterricht bei einer Cellistin, die er eigens aus Wien hatte kommen lassen, ein Fräulein, zu dem wir ungeheuer aufblickten, weil sie die Einzige war, die Vater zu widersprechen wagte.

Zu seinen Untergebenen, aber auch zu uns Kindern, war er hart und streng. Er schlug uns zwar nie mit dem Gürtel, teilte jedoch Ohrfeigen aus. In regelmäßigen Abständen mussten die unverheirateten Stallburschen während des Appells ihre Hosen herunterlassen; dann kam der Tierarzt vorbei, um zu sehen, ob sie auch keine Geschlechtskrankheiten hatten.

Im Sommer 1944 ließ Vater wegen der Partisanen auf dem Dach von Schloss Ochab eine Sirene installieren und richtete eine Nachtwache ein, so dass wir ruhig schlafen konnten. Ich fing an, vom ‹Iwan› zu träumen: dass er uns zu fassen kriegen würde, oder die Pferde. Wir wussten, dass die Russen rasch näher kamen, sie hatten unsere Soldaten bereits von der Wolga bis weit hinter den Dnjepr zurückgedrängt. Doch an der Weichsel, so versicherte man uns, würden sie zum Stehen gebracht werden. Unser Haus stand auf der richtigen Seite des Flusses, doch das Gestüt selbst lag am Ostufer. Die Pferde durften um keinen Preis in die Hände der Roten Armee fallen.

Vater begann, Notfallevakuierungen zu üben. Zu unvorhergesehenen Zeiten ließ er die Sirenen heulen, und dann mussten alle in Windeseile die Hälfte der Pferde satteln und die andere Hälfte vor die Fuhrwerke aus der Remise spannen. Hafer und Heu, Seile, Geschirre, Gerätschaften des Hufschmieds und des Tierarztes – alles wurde verladen und festgezurrt, und innerhalb von drei Stunden stand eine Wagenkolonne mit Männern und Pferden auf der Straße. Als wir einmal hohen Besuch hatten, gab Vater bei einer solchen Demonstration auch den Befehl zum Abmarsch. Er schickte den Tross nicht über die Brücke, sondern geradewegs in die Weichsel. Alle mussten den Fluss durchwaten und auf der anderen Seite die Böschung hinaufsteigen.

‹Für den Fall, dass der Feind die Brücken gesprengt hat›, erklärte er uns abends.

Am 7. August 1944 erschien erstmals ein Schwarm russischer Bomber am Himmel. Ich rannte hinaus und sah unter dem Schutz einer Buche, wie sie über uns hinwegflogen. Die Luft bebte von dem Gedröhn. Es waren so viele, dass es am helllichten Tag zu dämmern begann. Unter den Hunderten von Flugzeugen war eines, dessen Laderaum aufklappte. Eine Bombe glitt heraus, die schräg hinter unserem Wohnhaus einschlug, nahe beim Privatstall, wo die Kutschpferde standen und auch Hildach, Vaters Reitpferd. Ich bereitete mich auf den Knall vor, doch er blieb aus. Als wir hingingen und nachsahen, lag dort ein Fünfhundert-Liter-Treibstofftank mit Benzin, das jedoch ausgelaufen war und rundum Pfützen bildete. ‹Eine Brandbombe›, sagte Vater, ‹für uns bestimmt.›

Ich war neun. Von diesem Moment an wusste ich, dass der Krieg auch uns erreichen würde.

Meine zwei Jahre ältere Schwester und ich lernten das Pistolenschießen. ‹Beate! Komm, benimm dich wie eine Soldatentochter!› bekam sie zu hören, wenn sie etwas unheimlich oder schwierig fand. Wir wussten nicht, dass Vater bereits seit Wochen darauf drängte, seine Hengste hinter die Oder zurückzuziehen. Doch er bekam keine Erlaubnis, das wäre ein Zeichen von Schwäche gewesen. Es durfte nicht der Eindruck entstehen, dass das Reich dem Zusammenbruch nahe war, also ging alles seinen normalen Gang. In der ersten Woche des Jahres 1945 machten sich alle für die neue Decksaison bereit. Am 16. Januar feierten wir Heidis siebten Geburtstag; sie hatte eine Freundin eingeladen, und alle waren fröhlich. Am nächsten Morgen wurde Vater vom Landrat angerufen. ‹Sofort aufbrechen!› lautete der Befehl. Die Russen hatten in der Nacht die Weichsel überschritten und waren im Begriff durchzustoßen.

Mutter packte die Koffer und trug Beate, Heidi und mir auf, unsere Schulhefte sowie jeder ein Spielzeug einzupacken. Am Tisch schmierte sie einen Riesenstapel Butterbrote. Heidi und ich sollten als Erste abfahren, zusammen mit einem Gefreiten. Unser Kutscher stand schon bereit, um uns mit dem Pferdeschlitten zum Bahnhof zu bringen. Es war noch dunkel, nur der Schnee glitzerte ein wenig. Ich stellte mir vor, dass die Landschaft uns ein Lebewohl zuwinkte. Wir mussten eine Dreiviertelstunde auf den Zug warten und anschließend fünf Mal umsteigen. Dann waren wir an unserem Zufluchtsort hinter der Oder, nicht mehr in Polen, sondern in der Tschechoslowakei.

Mitten in der Nacht traf unser Chauffeur mit Mutter, Beate und den beiden Kleinen im Dienstwagen ein. Vater folgte mit Pferd und Wagen. Seine Soldaten und Knechte brauchten für die Strecke fünf Tage, bei zwanzig Grad Frost. Wer im Sattel saß, führte auch noch einen Hengst an der Hand. Alle zwei Stunden mussten die Reiter selbst eine Stunde laufen, um nicht zu erfrieren.

Unsere neue Bleibe war das Landgut eines Grafen, das genügend Wohnräume hatte. Ich fühlte mich sicher, auch weil ich glaubte, die Oder sei tiefer als die Weichsel. Doch in der ersten Februarwoche wurde Mutter krank; ihr machte ein Stechen im Unterleib zu schaffen. Vater brachte sie im Dienstwagen ins Krankenhaus in Olmütz, wo man sie sofort aufnahm. Jeden Tag besuchte er sie und nahm dann immer eins der Kinder mit. Heidi, die als Erste mitgekommen war, erzählte abends, dass Mutter kreidebleich gewesen sei, mit eingefallenen Wangen. Am 15. Februar war ich an der Reihe. Als wir ankamen, wartete Frau Hartwig, die Mutter versorgte, beim Tor auf uns. Vater stieg aus und sprach sie mit unsicherer Stimme an. Ich wusste sofort, dass mit Mama etwas passiert war. Es war schrecklich kalt im Auto, und ich saß nur da und wartete. Plötzlich drehte Vater sich um: ‹Friedel! Mutti ist tot!› sagte er.

Wir betraten das Krankenhaus, liefen durch hohe Gänge und nahmen die Treppe nach oben. Als ich Mamas Kleid liegen sah, konnte ich nicht mehr an mich halten. Frau Hartwig und die Krankenschwestern versuchten, mich zu trösten, aber nichts half. Bis Vater seine Majorsstimme erhob. Weinen fand er unsoldatisch, das hatte er uns schon früh abgewöhnt.

Wir haben Mutter am folgenden Tag auf dem Friedhof von Olmütz eingeäschert und ihre Asche in eine Urne getan. Es war schade, dass wir ihr Lieblingslied Befiehl du deine Wege nicht singen konnten, da der Organist keine Noten davon hatte. Im Anschluss legte Vater Beate und mir ans Herz, dass wir, als Älteste, von nun an sehr tapfer sein müssten. Es würden uns noch mehr schwierige Momente erwarten, sagte er. Wir wagten nicht zu fragen: ‹Was für schwierige Momente?› Doch beide hatten wir das Gefühl, dass Vater etwas Wichtiges aus der Welt der Erwachsenen mit uns teilte, und allein deshalb schon fühlten wir uns sehr groß.

Kurz vor meinem Geburtstag, dem zehnten, ließ Vater uns allein zurück. Er hatte den Befehl erhalten, so viele Pferde wie möglich auf der Schiene in Richtung Dresden zu bringen. Dort sollte er versuchen, sie über die Elbe zu setzen, und sobald dies gelungen war, würde er zurückkommen, um uns zu holen, zusammen mit den letzten fünfzehn verbliebenen Hengsten. In der Zwischenzeit sollten wir das ‹Nachkommando› des Landgestüts Draschendorf bilden, unter Leitung von Wachtmeister Wizisk. Vater reiste am Samstag vor Ostern ab, und wir haben ihn nie wiedergesehen. Der Abschied verlief in großer Hast, da plötzlich die Viehwaggons bereitstanden.

Den ganzen Monat April warteten wir auf seine Rückkehr. Jeden Tag hörten wir neue Gerüchte über die Russen. Die Vorhut der Roten Armee zog wie ein Speer in Richtung Berlin, ein gutes Stück nördlich von uns, doch die dahinterliegende Front schwenkte in unsere Richtung aus. Und Vater kam einfach nicht mehr zurück. Ende April nahm Wachtmeister Wizisk unsere eigene Flucht in Angriff. Neben zwei deutschen Obergefreiten bestand unsere Gruppe noch aus sieben polnischen Pferdepflegern. Hinzu kamen die fünfzehn Pferde, unter ihnen Poseur, ein Englisches Vollblut, Nero, ein Holsteiner, Ibn Saud und Dakkar, zwei Arabische Halbblüter, sowie die beiden Lipizzaner der kaiserlichen Reitschule in Wien: Conversano Olga und Conversano Gratiosa – zwei silberweiße Herren im Alter von sechzehn und zweiundzwanzig Jahren. Um sie auseinanderzuhalten, benutzten wir ausschließlich ihre Namen mütterlicherseits, Olga und Gratiosa, was bei zwei Deckhengsten natürlich lustig klang. Kurz vor der Flucht wurden sie vom Gestütsschmied neu beschlagen.

Oma, die nach der Einäscherung unserer Mutter bei uns geblieben war, saß mit den Kleinen im Planwagen. Sie trug stets eine Tasche mit zwei großen Griffen bei sich; darin steckte die Urne mit Mutters Asche. Vaters Chauffeur sollte im Auto mit der Kommandoflagge des Hengstdepots Draschendorf an der Spitze fahren, doch der Wagen wollte plötzlich nicht mehr anspringen und musste ins Schlepptau genommen werden. Ich saß neben Soldat Sylvester auf einem kleinen Kutschwagen mit dem Lipizzanergespann. Wir machten alles genau so, wie Vater es uns aufgetragen hatte, auch wenn wir keine berittenen Kundschafter vorne und hinten hatten. Wenn wir bei einer Rast hintereinander aufgestellt dastanden, bildeten wir eine kleine, etwa sechzig Meter lange Karawane. Wir wollten weg, doch der örtliche Wehrmachtskommandant gab keine Erlaubnis. Es war der 30. April; wir wussten nicht, dass Hitler an diesem Tag Selbstmord begangen hatte. Der Kommandant übrigens auch nicht.

Erst am 6. Mai ließ er uns ziehen. Wir wollten nach Westen, entlang einer Route, die als ‹Sudetenstraße› bekannt war und in einem Bogen um Prag herum führte. Unser Ziel war das große Lipizzanergestüt Hostau im Böhmerwald, nahe der Grenze zu Deutschland. Doch sogleich steckten wir fest; der Weg war zu steil, es regnete, die Wagen erwiesen sich als zu schwer beladen. Wir legten am ersten Tag vielleicht zwanzig Kilometer zurück, mehr nicht. Dabei hatten wir noch Glück, dass wir in einer Flachsspinnerei übernachten konnten, in der ballenweise Flachswerg herumlag, aus dem wir uns ein Schlaflager machten. Sobald ich die Augen schloss, sah ich überall Russen mit rot angelaufenen Gesichtern.

Am nächsten Tag sollte ich reiten. Und wenn einer der Gestütswärter die Spitze übernahm, bekam ich auch den Strick des Pferdes zugeworfen, das er an der Hand mitführte. Unseren einzigen Wallach verkauften wir für sechshundert Reichsmark an eine Familie, die zwar einen Wagen hatte, aber kein Pferd. Die Straßen waren verstopft mit Flüchtlingen und Kriegsgefangenen, die sich zu Fuß und in Kolonnen fortbewegten. Alles, was deutsch war, begab sich auf die Flucht. Überall hörten wir das Muhen der Kühe, die nicht mehr gemolken wurden. Als wir an einem verlassenen Gehöft vorbeikamen, sprangen die Polen vom Pferd, um nach etwas Essbarem zu suchen, Eier beispielsweise, die sie in einem Zug ausschlürften. Nach der Mittagspause, die viel zu lange gedauert hatte, begannen sie zu meutern. Sie wollten einen Vorschuss in Zloty, sonst würden sie sich nicht mehr für die ‹Majorsfamilie› abrackern. So sagten sie das wörtlich. Oma kletterte auf einen Kutschbock und hielt ihnen eine strenge Ansprache im Geiste Vaters. Das half ein bisschen, denn sie beschlossen, nicht Reißaus zu nehmen.

Doch in der Nacht vom 8. auf den 9. Mai, den wir unter dem Sternenhimmel verbrachten, betranken sie sich. In der Morgendämmerung wollten wir aufbrechen. Ich sollte die Lipizzaner lenken und saß auch schon bereit. Plötzlich schrie jemand: ‹Russen überall!› Da war es nicht mehr nötig. Um uns herum tauchten Frauengesichter auf, mongolische Frauengesichter. Ich hatte noch nie weibliche Soldaten gesehen, und schon gar nicht asiatische. Sie trugen ihre Gewehre quer vor der Brust, und an ihrem Koppel hingen große Patronentrommeln. Manche lagen bäuchlings auf den Wagen. Ich dachte: Deutsche Soldaten würden aufrecht sitzen. Zwei Soldatinnen kamen grinsend auf mich zu – ich sah das Gold in ihrem Mund glänzen. Im nächsten Moment richteten sie die Waffe auf mich. Sie bedeuteten mir mit dem Lauf ihres Gewehres, dass ich vom Bock steigen sollte. Sie würden mich nach Sibirien mitnehmen, da war ich mir sicher. Doch sie zeigten sich in keiner Weise interessiert an einem strohblonden Bürschchen von zehn. Wohl aber an den beiden Lipizzanern. Ich musste die Leinen abgeben, und das war’s.»

–I–

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Das zz in «Lipizzaner»

Wer am Rande einer Stadt aufwächst, kann zweierlei tun. Entweder zieht es einen ins Zentrum – zum Kino am Marktplatz, von wo aus man, eine Selbstgedrehte rauchend, die Hauptstraße im Blick hat, die nach dreißig Kilometern bei einer anderen Stadt endet, einer größeren.

Oder es zieht einen auf die Weiden.

In dem Viertel, in dem ich lebte, bestand der Stadtrand sehr physisch aus den Hochhäusern an der Speenkruidstraat, drei im Glied aufgestellten, elfgeschossigen Betonwänden. Jedes Haus hatte am Ende der Laubengänge eine Feuertreppe, die sich akrobatisch nach unten wand und direkt über einem Wassergraben und einer elektrisch gesicherten Umzäunung endete. Genau dort fing die erste Weide an. Überquerte man sie, gelangte man zu einer Wagenspur, die an säuerlichen Silagen vorbei bis an das Flüsschen Deurzerdiep lief.

An schönen Sommertagen trieben wir, die wir uns für die Weiden entschieden hatten, in Schlauchbooten stromabwärts. Weiter als bis zum Wehr bei Deurze kamen wir nicht. In meiner Grundschulzeit war dies der entfernteste Punkt der Welt. Das Diep besaß hier einen Uferwall, der wie fürs Sonnenbaden gemacht schien. Doch ich hatte für eitles Herumliegen keine Geduld oder Veranlagung. Eines Nachmittags, während sich die anderen wie Eidechsen wärmten, kletterte ich über einen Zaun, um das Hinterland zu erkunden.

Vorbei an einem Weidenwäldchen und einer Badewanne, die als Tränke diente, kam ich zu einem anderen Wall, steil wie eine Bahnböschung und mit einer Reihe Pappeln auf der Höhe. Da ich viel zu klein war, um darüber hinwegschauen zu können, robbte ich wie ein Spion auf Ellbogen und Knien hinauf. Ich reckte meinen Hals wie ein Reptil und blickte über ein Rechteck aus weißem Sand mit kreisförmigen und diagonalen Abdrücken darin. Strenge, symmetrische Figuren. Der Sand reichte bis an eine Scheune mit zwei geschlossenen Stalltüren. Gerade als ich mich aufrichten wollte, hörte ich ein Wiehern.

Eine Tür wurde seitwärts aufgeschoben, und in der dunklen Öffnung schien ein weißes Pferd auf, das einen Moment zögerte, wie um zu posieren. Das Tier trat mit einem steifen Schritt aus der Einfassung, an der Hand eines Mädchens in Stiefeln und mit Haaren, die bis zum Po reichten. Zwanzig, dreißig Schritte vor meinem Versteck hielten sie an. Kopf an Kopf, ja, Lippe an Lippe standen sie dort, wie beim Bumsen.

Nun öffnete sich die andere Stalltür, und auch aus diesem schwarzen Quadrat kam ein weißes Pferd zum Vorschein, nicht duldsam, sondern trabend, schnaubend, den Schweif erhoben wie eine erbeutete Flagge. Ein kahlköpfiger Mann mit auffallenden Backenbärten hing nach hinten gebeugt am Halfter, zog daran wie an einer Notbremse, und gemeinsam drehten sie sich ein paar Mal um ihre eigene Achse. Sand spritzte hoch. Ich roch den durchdringenden Duft von Pferdeleibern.

Das wartende Tier begann rhythmisch mit einem Huf auf dem Boden zu scharren. »Leg doch mal die Fessel an», hörte ich den Mann dem Mädchen zurufen. Daraufhin griff sie zu einem Riemen, den sie wie ein Lasso an ihre Taille gebunden hatte, und schlug ihn mühsam um eines der Hinterbeine; das andere Ende zog sie zwischen den Vorderbeinen hindurch und schnallte es um den Hals ihres Pferdes. Mir war klar, dass die beiden Schimmel nicht nach draußen gebracht worden waren, um Trainingsrunden zu traben. Doch auf das, was nun kommen sollte, war ich nicht vorbereitet. Die Stute mit dem gefesselten Bein schon. Sie schwang ihren Schweif zur Seite und erstarrte in dieser Position zu einem Standbild.

Der Hengst, viril umhertrabend an seinem gelockerten Strick, schüttelte den Kopf und stand abrupt still. Seine schwarzen Augen waren auf die Pappelspitzen oder die Stapelwolken dahinter gerichtet, jedenfalls sah er direkt über mich hinweg. Ich drückte mich noch flacher an die Böschung, um nicht gesehen zu werden, aber auch, um nicht alles zu sehen. Unter seinem Körper schob sich sein teleskopartiges Glied Segment für Segment heraus. Ich wollte wegrennen, blieb jedoch wie gebannt liegen und sah zu. Das Geschlechtsteil des Hengstes war schwarz mit einem fleischfarbenen Ende, länger als ich es für möglich gehalten hätte, und krumm und gummiartig wie ein Rüssel. Dann sprang er. Der kahlköpfige Mann ergriff das krumme Organ seines Hengstes und zerrte daran, um es richten zu helfen. Das mächtige Tier verwandelte sich in einen Trockenschwimmer, der, mit den Vorderbeinen zappelnd, keinen Halt auf den Flanken der Stute vor ihm finden konnte. Bei jedem Stoß fiel ihm seine Mähne albern über die Ohren. Ich erinnere mich, dass er seinen Kopf zur Seite drehte, nach links, nach rechts, um seine gelben Pferdezähne in den Widerrist der Stute zu setzen. Er biss sie, sie ließ es über sich ergehen – und das alles vollzog sich geräuschlos und etwas ruckartig wie in einem Stummfilm.

Freddy «Pommes» behauptete, dass Menschen immer Lust auf Sex hätten, Tiere aber nur, wenn sie brünstig, läufig oder stierig seien, und dass das den Unterschied ausmache. Er begann von einem bestimmten Mädchen aus der Reitschule zu erzählen, mit Haaren wie denen von Kate Bush, nur dass sie Deutsch sprach. Freddy sagte, dass er seine Seiko-Uhr darauf verwetten würde, dass sie niemals die Tonhöhen von «Wuthering Heights» erreichen würde.

Jelle und ich, beide dreizehn, kapierten nicht, wovon er sprach, aber wir waren doch einer Meinung mit ihm. Wir gingen zu dritt über den Acker, mit Pjotr, der hinter uns hertrabte. «Sie hat sich mit dem Motorrad hingelegt… Bäng! – direkt gegen einen Brückenpfeiler. Sie saß bei ihrem Freund hintendrauf. Der war auf der Stelle tot.» Freddy trug ein Palästinensertuch und war bestimmt fünf Jahre älter als wir.

Kam ein Trecker oder Mähdrescher über die geklinkerte Straße angedonnert, zogen wir Pjotr an den Straßenrand und ließen ihn grasen. Der Mais war hoch, und man sah die Maschinen erst im letzten Moment ankommen, während der Lärm uns bereits wie ein Kokon aus flirrender Luft umfing. «Brav so», sagte Eddy, und zu mir: «Du kannst eine Kanone neben ihm abfeuern, und sogar dann grast er noch weiter.»

Jelle, ein Junge aus meiner Nachbarschaft, der seit den Sommerferien ritt, nickte ernst, als ob er nun plötzlich Ahnung von Pferden hätte.

Mir schien es keine gesunde Reaktion. «Aber dann hat er ja seinen Instinkt für Gefahren verloren», versuchte ich es.

Freddy stellte sich vor mich hin und fing an, mir zu erklären, dass dies nun gerade das Schöne an dem seit Menschengedenken betriebenen Zähmen und Züchten sei: Ein gut ausgebildetes Pferd vertraut dem Menschen blind. «Es vertraut dir.» Im nächsten Moment überlegte sich Freddy etwas, von dem er nicht mehr abzubringen war: Dass ich es auch einmal probieren sollte.

Pferde sagten mir nichts. Ich war nur mit Jelle mitgekommen, um Freddy zu sehen, auch wenn ich kaum mehr von ihm wusste, als dass er in der Pommes-Bude hinter der Shell-Tankstelle auf dem Industriegelände arbeitete – und dass bei ihm zu Hause, das eine Mal, das ich dort gewesen war, ein zerknüllter Hunderter auf dem Tisch gelegen hatte. Einfach eine kleine Papierkugel, die dort lag, wie um weggeworfen zu werden. Aber dann aus Geld.

Ich klopfte Pjotr auf den Hals, etwas, das ich bis dahin nicht getan oder gewagt hatte. «Aber dann müssen wir erst wieder ganz zurück, um einen Sattel zu holen», sagte ich.

Das sei Unsinn. Ohne Sattel ginge es auch.

«Aber wie komme ich hinauf?»

Jelle faltete seine Hände zu einem Steigbügel und wies mit einer Bewegung seines Kinns nach oben.

Während ich mit einer Hand in ein Büschel Mähne griff und die andere auf den warmen Pferderücken legte, fiel mir auf, dass alle Haare aus der Nähe betrachtet entweder pechschwarz oder weiß waren. Aus einiger Entfernung hatte Pjotr noch unbestimmbar grau und fleckig ausgesehen, ganz anders als jetzt. Als ich dies bemerkte, erzählte Freddy, dass Pjotr schwarz geboren sei und in ein paar Jahren vollkommen weiß werden würde. «Er ist ein Halbblut-Lipizzaner. Und die Fohlen von Lipizzanern werden schwarz geboren. Mit acht oder neun sind sie weiß.»

Es war das erste Mal, dass ich das Wort «Lipizzaner» hörte, eine Art Fabelwort, in dem die beiden «z» knallten wie eine Zirkuspeitsche.

Ich schob mein Knie über Pjotrs Rücken und richtete mich auf, mit angedrückten Oberschenkeln, um nicht wegzurutschen. Sobald ich auch die Waden anspannte, setzte er sich in Bewegung, während er noch am Gras kaute und seine Mähne schüttelte. Da ich eine kurze Hose trug, saß ich Haut an Haut mit dem Tier, so dass ich ganz genau die Motorik der Schulterblätter fühlte. Es ging aufwärts-vorwärts, wie bei den Antriebsstangen einer Lokomotive. Kräftig, regelmäßig. Ich saß da und wurde bewegt, ohne mich selbst zu bewegen.

Warum fühlte sich dies so herrlich an? Freddy, Jelle, Pjotr und ich gingen an Kartoffeläckern und Maisfeldern vorbei, doch der Einzige, der nicht selbst laufen musste, war ich. Als Einziger konnte ich auch ungehindert über den Mais hinwegsehen. Hoch zu Pferde sah die Welt um mich herum anders aus: Die Kieselsteine am Wegesrand und der trockene Boden des Grabens zeigten sich in einem anderen Winkel, einem steileren. Ich musste mich vor Ästen bücken, die ich sonst nicht bemerkt hätte. Wenn ich aufsah, öffnete sich ein Panorama, das pompöser war als ich es kannte: Ich blickte über das Flusstal des Deurzerdiep bis hinüber zum Stauwerk und der hölzernen Fahrradbrücke, die dort vor kurzem gebaut worden war. Die Perspektive hatte sich geweitet und vertieft. Ich war auf die Schultern gehoben worden wie ein Ringkämpfer nach dem Sieg. Niemand war größer als zwei Meter zehn, doch ich wusste mich einen Kopf größer als der längste Montenegriner oder Nubier. Ich fühlte mich erhaben. Es gab Fußvolk, und es gab Reiter.

Fast jeden Nachmittag nach der Schule waren Jelle und ich auf De Tarpan zu finden, auch am Wochenende und in den Ferien. Der gepflasterte Hof der Reitschule war unsere Domäne, wir durften überall hin: in die Sattelkammer, auf den Dachstuhl der großen Scheune, um eine klappernde Wellblechplatte festzuschrauben, zwischen die hörbar atmenden Pferde in den Ställen und sogar ins Wohnhaus des Eigentümers. Auch wenn wir dort nicht schliefen, so schien es doch, als wenn wir, Stallburschen und -mädchen, auf De Tarpan eine Bleibe gefunden hätten – ebenso wie die Pferde.

Meine Eltern hielt ich aus der Sache heraus, sie hätten es doch nicht verstanden. Ich aß kein Pferderauchfleisch mehr, auch wenn ich keinen Augenblick darüber nachdachte, Vegetarier zu werden. Zu Hause in meinem Schlafzimmer zeichnete ich mit Holzkohle einen lebensgroßen Araber an die Decke. Araber hatten eine hohle Nasenlinie wie die Tülle einer orientalischen Teekanne. Und sie besaßen eine Rippe weniger als andere Pferde: siebzehn statt achtzehn.

Da ich keine Angst vor Pferden hatte, durfte ich dabei helfen, die Vierjährigen an den Sattel zu gewöhnen. Wenn ich einen Ausritt der Ponyklasse begleiten musste, entschied ich mich für den immer weißer werdenden Pjotr. Gemeinsam mit Jelle trainierte ich auch den Warmblutwallach des Direktors der Königlichen Keramikfabrik Goedewaagen, der aus dem Sattel geworfen worden war, nachdem er mit dem Fuß am Pfosten der Schiebetür hängengeblieben war. Herr Goedewaagen hatte noch versucht, wieder aus dem Sand hochzukommen, doch er war wie ein Hund mit durchgebogenem Rücken auf Händen und Knien sitzengeblieben – in dieser Haltung war er von den Sanitätern abtransportiert worden.

Im Prinzip standen uns alle Pferde zur Verfügung, bis auf den weißen Hengst. Dieses Tier war zwar nicht das größte Pferd im Stall, doch es besaß den meisten «Adel». Es hatte einen Hals wie ein Gewölbe, eine silbergraue Mähne mit einer kunstvollen Tolle und Augen, die durch ihre Größe und Schwärze auffielen. Kam eine rossige Stute vorbei, warf er sich links und rechts gegen die Bretterwand. Seine Nase war voller pigmentloser Flecken, auf seinem linken Unterkiefer war ein «L» eingebrannt und auf seiner linken Hinterhand ein «P» mit einer Kaiserkrone darüber. An seiner Stalltür hing ein Namensschild:

CONVERSANO PRIMULA

Primula, oder kurz Priem, gehörte Piet. In den fünf Jahren, die ich auf De Tarpan verbrachte, habe ich unseren Reitschulbesitzer nicht ein einziges Mal auf seinem Lipizzaner reiten sehen. Piet schulte Primula, indem er direkt hinter ihm herlief, wie ein Kutscher ohne Kutsche, mit den Händen an beiden Seiten des Schweifs. Wenn es nachmittags keine Reitstunden gab, holte er ihn aus dem Stall für diese «Arbeit am langen Zügel». Andere stiegen auf ihr Pferd und gaben ihm die Sporen, doch für Piet Bakker war dies die höchste denkbare Disziplin. Er brauchte keine Sporen, Reithosen oder Reitstiefel.

Ein einziges Mal habe ich Piet gefragt, was an Primula denn so anders sei als an anderen Pferden.

«Sein Blut», antwortete er.

«Was ist mit dem Blut?»

«Es ist blau. Blauer als das irgendeines anderen Pferdes.»

Ich hatte bei den Nachmittagsübungen zugeschaut. Primula konnte so langsam galoppieren, gewissermaßen in Zeitlupe, dass Piet ihm im Gehen folgen konnte. Das gehörte sich auch so: Bei der Langzügelarbeit durfte man nicht einmal rennen. Die Kraft des Pferdes richtete sich vor allem aufwärts, so dass es sich vom Boden löste. Man sah das am besten beim Schwebetrab: Dann schien es so, als ob Primula hochfederte wie auf einem Trampolin und jedes Mal für den Bruchteil einer Sekunde still in der Luft hing.

Schnelltraben hieß ermüden, hetzen. Pferderennen konnte man Piet zufolge am besten mit den jährlichen Motorradrennen in Assen vergleichen. Doch auch die verfeinerten Bewegungsarten waren ihm nicht raffiniert genug. Springen war Leichtathletik. Dressur: Turnen. Was wir auf De Tarpan betrieben, war «klassische Reitkunst», und der Name sagte es schon: Es war Kunst. Ballett.

Nach dem Ende des Nachmittagstrainings rief Piet mich zu sich in den weißen Sand des Reitplatzes. Während Primula auf einer Handvoll Kraftfutter kaute, erzählte Piet, dass man schon seit Jahrhunderten an der Lipizzanerrasse herumtüftele. Im kaiserlichen Gestüt des Habsburger Hofes, auf einem Bergkamm oberhalb Triests gelegen, hatte man seit 1580 einem Pferd Gestalt gegeben, das Könige und Kaiser tragen sollte. Die Oberstallmeister Österreich-Ungarns hatten dort eine reine und edle Rasse ins Leben gerufen. Kraft und Anmut, Loyalität und Lernbegierde – das alles war in diesem einen Tier durch Auslese und Kreuzung zusammengeführt worden.

Piet ließ seine Fingerspitzen über Primulas Rückgrat gleiten, wie ein Tierarzt, und zählte die einzelnen Wirbel von der Schweifrübe aufwärts. Zwischen dem dreizehnten und dem vierzehnten hielt er inne und drückte auf den Knorpel. «Schön, nicht?»

Ich muss mit den Achseln gezuckt haben.

Piet sagte, dass dies ein Rassenmerkmal des Lipizzaners sei: Er besitze vom dreizehnten Wirbel an eine eingezüchtete Biegsamkeit. Dadurch könne er geschmeidiger als andere Pferde eine Levade machen, die Haltung, in der er sich ein paar Sekunden auf seinen Hinterbeinen erhebe – wie eine kontrollierte Form des Aufbäumens. Es war die Pose, in der ein triumphierender Feldherr sich bei seinem Souverän meldete und in der er dann später auf dem Gemälde oder in der Skulptur verewigt wurde.

Primula machte ein paar Schritte zur Seite und schwenkte den Kopf. «Hat die Musterung lang genug gedauert?» Piet sah ihn an wie ein Vater seinen Sohn und rieb ihm über den Hals.

«Mach das auch mal», sagte er zu mir.

Ich dachte, dass er mich fühlen lassen wollte, dass sein Hengst nicht einmal schwitzte, doch das tat er.

«Und? Fühlst du es?»

«Was soll ich fühlen?»

«Wenn du einen Lipizzaner berührst», sagte Piet, «berührst du Geschichte.»

Für den reinblütigen Conversano Primula, speziell für ihn, bauten wir eine Tribüne.

Die Idee und die Initiative kamen von Leny, Piets Frau, die über eine Anzeige eine Partie Kirchenbänke aufgekauft hatte. Sie hatte Freddy zu sich gerufen, weil er Trecker fahren konnte, und ihm einen Zettel mit der Adresse gegeben.

Jelle und ich durften mit, jeder saß auf einem Kotflügel und hielt sich mit beiden Händen am Sturzbügel fest. Mit dem Geklapper des flachen Anhängers hinter uns fuhren wir in die Stadt, durch die Eisenbahnunterführung, an der Acmesa-Milchfabrik und der Zentrale der Landesentwicklungsgesellschaft vorbei, in der Jelles Vater Direktor war.

Bei den neuen Verkehrsampeln kletterte ich vom Trecker. Groningerstraat 74, war das am Ende der Straße links oder rechts? Die Dame, die ich angesprochen hatte, nahm den Zettel und beäugte mich kritisch. «Sie suchen die Synagoge?»

«Nein, eine Kirche», sagte ich. «Wir wollen Kirchenbänke abholen.»

Es stellte sich heraus, dass die Adresse gleich um die Ecke lag, rechts. Nummer 74 war ein schmales Gebäude mit drei hohen Bleiglasfenstern und ebenso vielen Türmchen. Ein Mann mit sehr viel Haarschuppen auf den Schultern machte auf. Er nahm uns über einen aufgesprungenen Fliesenboden mit ins Innere. Ein Grauschleier hatte sich wie ein Vlies über die Bankreihen, das Taufbecken und die Kanzel gelegt. Der Boden war übersät mit krümeligen Klumpen Taubenkot sowie hier und da einer Glasscherbe. Wir hörten, dass dies die alte Synagoge war, die nach dem Krieg als evangelisch-reformierte Kirche gedient hatte. Doch die Calvinisten waren vor kurzem in ein kleineres Gebäude gezogen, so dass dieses Ungetüm nun endlich abgerissen werden konnte.

Das Wort «Synagoge» blieb mir im Gedächtnis haften. Erst fünfundzwanzig Jahre später war dort – an der Stelle, an der Freddy den Trecker gewendet hatte – ein Gedenkstein aufgestellt worden, der die Inschrift trug:

HIER UM UNS HERUM BEFAND SICH DAS
VIERTEL, IN DEM 1940 550 JUDEN LEBTEN.
NACH DEM KRIEG KEHRTEN NICHT MEHR
ALS 25 DIESER ASSENER BÜRGER ZURÜCK.

Zeitgleich mit der Enthüllung dieses kleinen Denkmals hatte das Kaufhaus Vanderveen ein Buch über die Geschichte der Assener Juden herausgegeben. Darin stand, dass ein Teil des Mobiliars, wegen dem wir hergekommen waren, bereits im Jahre 1940 nach Westerbork transportiert worden war, um daraus ein Lagertheater zu zimmern.

Die Bänke, die noch übrig waren, hatten eine Länge von vier Metern. Schwer wie Blei, ließen sie sich gerade noch zu dritt heben: Freddy an einem Ende, Jelle und ich am anderen. Sobald man mit diesen Monstern nach draußen kam, wehte einem der Staub ins Gesicht. Wir schoben sie auf den Anhänger und banden sie mit einer Longierleine fest. Drei nebeneinander, zwei oben drauf.

Zurück auf De Tarpan fuhr Freddy direkt zur Zuschauerecke des Reitplatzes, wo wir die Bänke auf einen Boden aus ausrangierten Holzpaletten stellten.

Als die Tribüne fertig war und Piet kam, um sie zu inspizieren, stand dort eine Formation aus zwanzig Bänken, in vier Reihen zu fünf Bänken. Er fuhr mit der Hand über die Lehnen und tastete auch die Unterseite der Sitze ab, wo wir bereits eine ganze Kollektion an Kaugummi-Flatschen entdeckt hatten. Piet betrachtete sie missbilligend. Die steinharten Pusteln sollten wir mit einem Spachtel abkratzen. Noch weniger gefiel ihm die miserable Qualität des Holzes. Von einem der Sitze brach er mit bloßen Händen ein Stück ab, zerrieb es zu Pulver und stiefelte davon, zurück zu seinen Reitstunden auf der Reitbahn.

Über die Schulter rief er: «Zerlegt das Zeug. Die schlechten Stücke gehen in den Ofen, die guten heben wir auf.»

In einiger Entfernung folgten wir Piet, um Brechstangen und Tischlerhammer zu holen. Dann eben keine Tribüne.

Wir kamen dahinter, dass man am besten erst bei jeder Bank die Seitenteile abschlagen musste, woraufhin das Mittelteil auseinander fiel. Eigentlich brauchte man dann nur noch die Rückenlehne von der Sitzfläche zu trennen, weiter gab es nichts zu zerlegen. Wir lebten unsere ganze Frustration über unsere nutzlose Arbeit aus, und als Freddy einfiel, dass seine Seiko eine Stoppuhr hatte, beschlossen wir, daraus einen Wettkampf zu machen. Es trat immer ein wechselndes Zweierteam an, das mit Vorschlaghämmern im Anschlag auf das «Jetzt!» der Nummer 3 wartete. Mit erhitzten Gesichtern droschen wir schließlich innerhalb von sechs Minuten eine Synagogenbank in Stücke.

Primula begegnete mir das letzte Mal in einem Film. In einem fast leeren Kino sah ich 1991 fünf seiner Söhne und Töchter vorbeiziehen. Zunächst einmal Pjotr, ferner Lublice, Tarras, Latka und Sarpa – alles Halbblüter, die die Zeit des Erwachens bereits erreicht hatten, also lipizzanerweiß waren. Sie spielten, zusammen mit der reinrassigen Lipizzanerstute Nobila, eine Rolle in einem Stück von Shakespeare, Der Sturm.

Die Szene, auf die ich wartete, kam ungefähr nach drei Vierteln des Films. Primulas Nachkommen spazierten in ihrem strahlenden Weiß durch den langen Flur eines Palastes. Sie erschienen unangekündigt und beiläufig aus Seitentüren zur Linken und zur Rechten – wie Zuschauer, die zufällig durch den Künstlereingang auf die Bühne laufen. Gemeinsam bildeten sie den Hintergrund für eine Liebesszene, die sich inmitten einer Orgie aus Farben und Figuren abspielte, auf die der Regisseur – Peter Greenaway – ein Patent zu haben schien. Wie ein Lichtmaler projizierte er durchgängig bunte, übervölkerte Tableaux vivants übereinander, als einziger Ruhepol der Schauspieler John Gielgud, siebenundachtzig Jahre alt, der sowohl Shakespeare als auch dessen Schöpfung Prospero darstellte.

Entspannt und scheinbar regielos drängten die Pferde nach vorn, bis sie Prosperos Tochter und den in Ketten liegenden Königssohn Ferdinand umringten. Inzwischen gestanden sich die beiden ihre Liebe – «Bewunderte Miranda! In der Tat/Der Gipfel der Bewund’rung» – «Ich bin töricht,/Zu weinen über etwas, das mich freut»–, doch die Pferde liefen ungestört weiter, schnupperten an Mirandas Kleid, kratzten am Teppich, bis Nobila sich der Kameralinse zuwandte und das ganze Bild für sich einforderte. Shakespeare/Prospero sah mich an und deklamierte: «Wir sind solcher Zeug/Wie der zu Träumen, und dies kleine Leben/Umfasst ein Schlaf.»

Es saßen sechs Besucher im Saal, mich selbst mitgerechnet. Anderthalb Stunden lang wurden wir in eine Märchenwelt versetzt. Geflügelte Engel auf Schaukeln kamen ins Bild, auch Windhunde, die stromlinienförmigsten aller Landtiere. Shakespeare vermittelte einem nicht den Eindruck, dass der faule Mensch «die Krone der Schöpfung» sei. Er sprach von einem Teufel – «Ein Teufel, ein geborner Teufel ist′s,/An dessen Art die Pflege nimmer haftet»–, um uns die Unverbesserlichkeit der Schurkenfigur einzubläuen. Die Lipizzaner strahlten in dieser Inszenierung Ruhe und Unschuld aus, als ob sie über der menschlichen Betriebsamkeit stünden. Ich fand, dass sie aufrechter aussahen als ihre Meister.

Seinerzeit fragte ich mich erstmals, und seither öfter, was Menschen mit den Tieren zum Ausdruck bringen wollen, mit denen sie sich umgeben. Oder, im Fall des Pferdes: Was verkörpert es in den Augen des Menschen? Mir wurde bewusst, dass das Pferd der Träger einer Reihe menschlicher Eigenschaften ist. Die Charakterzüge wurden ihm auferlegt, eingebläut, zugeschrieben – was nicht bedeutet, dass es davon nicht durchtränkt ist. Das Pferd war zunächst einmal zum Sklaven gemacht worden, fügsam und zahm. Dies hatte sechstausend Jahre gebraucht, doch das Resultat ließ sich dann auch sehen: Anders als das Zebra aß das Pferd dem Menschen aus der Hand. Es ließ seine Hufe beschlagen und sich die Zähne mit Zahnseide reinigen – so wie es täglich mit den Arabern König Hassans geschah. In nahezu allen Kulturen stand das Pferd über dem sonstigen Vieh, es hütete es. In Riemen gespannt, pflegte es mit seiner Muskelkraft die Erde aufzureißen, so dass sich der Ertrag des Bodens steigerte; den Überschuss schleppt es mit eigener Kraft zur Stadt. So manche Zivilisation war auf vier Hufe gegründet worden, und gerieten diese Zivilisationen miteinander in Konflikt, entschieden nicht selten die Schnelligkeit und Wendigkeit des Pferdes über den Ausgang des Kampfes.

Ein Hund konnte falsch sein (was als die tierische Eigenschaft schlechthin gelten mochte), doch ein Pferd war tapfer und stolz. In allen Epochen hatte es Männer gegeben, die ihr Pferd mehr liebten als ihre Frau. Der letzte Wunsch eines römischen Feldherrn? Noch einmal sein Pferd sehen. Und Kaiser Caligula, ein Zeitgenosse von Jesus von Nazareth, hüllte seinen Hengst Incitatus in Purpur und erwog, ihn zum Konsul zu ernennen.

Die Vermenschlichung des Pferdes klang in der Sprache durch. Sogar die am gröbsten gebauten Ackergäule hatten keine Pfoten, sondern Beine. In Zeitungsanzeigen war zu lesen: «Zu verkaufen: Wallach mit hellbraunem Haarkleid.» Seit das Pferd in ferner Vergangenheit zu den Kreisen der Aristokratie zugelassen worden war, begegnete man ihm immer weniger wie einem Tier.

Conversano Primula stand in der Kartei einer Castingfirma. Er trat jahrelang in den Werbespots für die Kekse und Schokoladenriegel von Verkade auf. Manchmal bekam er auch größere Rollen. Bei der Vorbereitung für den Kinofilm Iris hatte ich selbst noch geholfen. Zwei oder drei Wochen lang waren wir damit beschäftigt, Primula beizubringen, im Dunkeln vor einem näherkommenden Auto stehenzubleiben. Abends stellten wir ihn hinter die Tür der Reitbahn, Piet kam dann mit Fernlicht angefahren, wir öffneten die Tür und sagten «Ho!» und «Ruhig!» Sein Instinkt als Fluchttier schrie ihm zu, wegzurennen, doch wir kriegten ihn soweit, dass er stehenblieb, bis die Stoßstange ihn fast berührte. Wachsam, doch regungslos. Außerdem lehrten wir ihn, sich aufzubäumen, sobald Schauspielerin Monique van de Ven, die die Tierärztin Iris spielte, ihn am Halfter fassen wollte.

Nur die Praktikantin von De Tarpan durfte bei den Aufnahmen dabei sein. Anschließend erzählte sie, dass sie in einem Surfanzug unter einen Strauch gesessen hatte, um in dem Kunstregen nicht auszukühlen. Primula hatte es glorreich hinter sich gebracht. Im Film sah er eigensinnig aus – eine schneeweiße Erscheinung in bläulichem, hartem Scheinwerferlicht, die mit ihrer Unerschütterlichkeit vor dem Unheil warnen musste, auf das Iris zusteuerte.

Der Lipizzaner war die Steigerungsform des Pferdes. Von allen Rassen hatte er sich den Bastionen der menschlichen Macht am dichtesten genähert. Man sah ihn bei Thronbesteigungen von Schahs, Parvenue-Fürsten und Dritte-Welt-Diktatoren antraben – wie auch in Washington bei der Vereidigung Präsident Reagans im Jahre 1980. Was sprach sie an diesem Tier an? Seine im Zaum gehaltene Kraft? Seine Dressur? Oder vielleicht sein weißes Fell und die darin liegende Vorstellung von Reinheit? Der Mensch ließ sich nicht so kneten und formen, er hatte sich – trotz seines Wissens und Könnens – vorerst als unfähig erwiesen, sich selbst wesentlich zu verbessern. Und das, obwohl er phantastische Resultate bei seinen Haustieren zu erzielen wusste. Er hatte dem Haflinger Form gegeben, dem Orlow-Traber, dem Belgischen Zugpferd, dem Friesen, dem Connemarapony. Der Gestalt des Lipizzaners als der ältesten «Kulturpferderasse» lagen mehr als vier Jahrhunderte Veredelung zugrunde. Generation auf Generation war nach innerer und äußerer Schönheit selektiert worden – beziehungsweise, was man nach der Mode am Habsburger Hof dafür hielt. Jeden Sommer wurden einige der besten männlichen Exemplare im Alter von vier Jahren nach Wien gebracht. Sie stiegen bis an die Spitze der Zivilisationspyramide hinauf und erhielten eine Bleibe im Palast, wo sie aus roten Marmortrögen speisten. Zehn bis zwölf Jahre Dressur brauchte es anschließend, um jeden einzelnen Hengst in allen Disziplinen der Hohen Reitkunst zu schulen. In der kaiserlichen Reitschule führte der ausgelernte Lipizzaner seine Bewegungskunst zur Musik von Händel, Chopin und Strauss auf. Er tanzte.

Beim Abspann wartete ich so lange, bis der besondere Dank an «Piet Bakker/Reitschule De Tarpan» erschien, und auch danach blieb ich noch sitzen. Das Saallicht ging an, langsam, doch ich saß dort immer noch in meinem Gedankenfluss. Der Mensch hatte ein Pferd nach seinem Wunschbild geschaffen, daran war nichts Religiöses. Aus dem rohen Equus ferus der Steppe hatte er Equus caballus modelliert, ein Tier mit 64 Chromosomen: zwei weniger als seine wilden Vorfahren. Weder Gott noch Darwins träge Evolution waren daran beteiligt gewesen. Das Ergebnis war eine neue Art, die auf leichte Regieanweisungen hin in einem Stück von Shakespeare mitspielen konnte.

Blutauffrischung

Ein gewisser Hans Brabenetz, Pferdekenner aus Wien, stand wie ein Circusdresseur in der Manege der Lipizzanerwelt. Er kannte ihre Kreise, ihre Art. Einen Computer besaß er nicht – die Abstammungslinien von fünftausend Pferden hatte er im Kopf. Herr Brabenetz war das lebende Archiv des Dokumentationszentrums für altösterreichische Pferderassen. Zusammen mit seiner Frau Susi stand er im Wiener Telefonbuch: VEREIDIGTER FACHMANN FÜR DIE PFERDEZUCHT.

Ich ging vor den Fenstern meines Arbeitszimmers auf und ab und studierte drei deutsche Sätze ein. Dann wählte ich die Nummer und erklärte «Brabenetz!» (ein dunkles, rollendes «r»), wer ich war und weshalb ich ihn gern sprechen würde. Ich erzählte auch, dass ich am nächsten Wochenende in Wien sei – um die Spanische Reitschule zu besuchen.

«Hofreitschule», sagte er.

«Hofreitschule», nahm ich den Faden wieder auf.

«Herr Hartmann, bevor Sie fortfahren… Darf ich Sie zunächst einmal fragen – wie alt sind Sie?»

Ich zögerte, ob ich erst meinen Namen wiederholen oder mein Alter nennen sollte. «42», sagte ich.

«Ha, ha, dann bin ich doppelt so alt wie Sie. Ich bin 84.»

Ich gratulierte ihm zu seinem Alter und brachte die Lipizzaner zur Sprache. Was mich am meisten faszinierte, war die Idee ihres Adels – ein von Menschen gezüchtetes Tier auf der höchsten Sprosse der Rassenveredelung. Wenn es jemanden gab, der mir alles über die Hintergründe dieses «Kaiserpferdes» erzählen konnte, dann war er es.

Herr Brabenetz legte dar, dass die Welt um ihn herum, in seinem Alter, nicht mehr so tobte und brauste wie früher. Wenn ich ihm einen Brief schriebe, würde er innerhalb von zwei Wochen antworten. «Aber darf ich Sie einstweilen fragen, was Sie genau von mir wollen?»

Ich fing mit Conversano Primula und dessen Vorfahren an, von denen Piet mir einmal erzählt hatte, dass unter ihnen berühmte Hengste gewesen waren, die in Wien aufgetreten seien. Er hörte kurz zu und fragte dann: «Sind Sie Soldat gewesen?»

Nein, musste ich zugeben.

«Dann wird es schwierig. Wie sollte ich Ihnen die Sachen erklären können, wenn Sie nie in der Armee gewesen sind?»

«Ich bin aber im Krieg gewesen», sagte ich. «Auf dem Balkan und im Kaukasus.»

«Ah, ich auch», hörte ich ihn sagen. «Auch auf dem Balkan und fast im Kaukasus. Wir waren auf der Krim gelandet, 1942, aber wir sind nicht weiter als Kertsch…» Er unterbrach sich und fragte dann: «Govorite porusski?»

Ich antwortete ihm auf Russisch.

Brabenetz knurrte. «Ich habe es gesprochen. Sehen Sie, ich war zweieinhalb Jahre in sowjetischer Kriegsgefangenschaft. Da hat man Armee-Russisch gelernt… Aber wissen Sie was? Rufen Sie mich am Sonntag an, wenn Sie in Wien sind. Dann lasse ich Sie wissen, ob ich Sie am Montag treffen kann.»