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Adam Zamoyski

1812

Napoleons Feldzug in Russland

Aus dem Englischen
von Ruth Keen
und Erhard Stölting

 

 

 

C.H.Beck

Zum Buch

Napoleons Feldzug in Rußland war das vielleicht größte militärische Desaster aller Zeiten und eine menschliche Tragödie von beispiellosen Ausmaßen – das erste historische Beispiel eines totalen Krieges. Adam Zamoyski hat mit 1812 das meisterhafte Epos über die Hybris eines Eroberers, den Wahnsinn des Krieges und einen der dramatischsten Wendepunkte der Weltgeschichte geschrieben. Das Ergebnis ist ein unvergeßliches Buch, das Geschichte so hautnah erzählt, wie es nur wenigen Autoren gelingt.

„Ich konnte nicht schlafen, nachdem ich 1812 gelesen hatte. Eine der überwältigendsten Geschichten, die je erzählt wurden.“

Christopher Woodward

„So brillant geschrieben, dass es unmöglich ist, das Buch aus der Hand zu legen… Ein Meistererzähler am Werk.“

Michael Burleigh

„Mitreißend… Zamoyskis Darstellung des Feldzugs von 1812 ist ein Musterbeispiel an Eleganz und Klarheit.“

T. J. Binyon

„Ein absolut bewundernswertes Buch.“

Antony Beevor

Über den Autor

Adam Zamoyski, geboren 1949 in New York, wuchs in England auf und studierte Geschichte und Sprachen in Oxford. Seine adlige Familie floh 1939 nach der deutschen und sowjetischen Invasion aus Polen. Er lebt als freier Autor und Historiker in London. Sein Buch „1812“ und seine Biographie von Frédéric Chopin wurden in acht Sprachen übersetzt. Adam Zamoyski ist Fellow der Society of Antiquaries, der Royal Society of Arts und der Royal Society of Literature. Er ist mit der Malerin Emma Sergeant verheiratet.

Inhalt

Vorbemerkung

1.   Caesar

2.   Alexander

3.   Die Seele Europas

4.   Wider Willen auf dem Weg zum Krieg

5.   La Grande Armée

6.   Die Konfrontation

7.   Der Rubikon

8.   Wilna

9.   Der zögerliche Krieg

10.   Das Herz Rußlands

11.   Totaler Krieg

12.   Kutusow

13.   Die Schlacht um Moskau

14.   Schaler Sieg

15.   Patt

16.   Zerstreuungen in Moskau

17.   Der Marsch nach Nirgendwo

18.   Der Rückzug

19.   Trügerisches Smolensk

20.   Das Ende der Moskauer Armee

21.   Die Beresina

22.   Im Gebiet des Todes

23.   Am Ende des Weges

24.   Die Gesundheit Seiner Majestät

25.   Die Legende

Anhang

Nachbemerkung der Übersetzer

Liste der wichtigen Toponyme im Kriegsgebiet

Anmerkungen

Literatur

Bildnachweis

Personenregister

Vorbemerkung

Napoleons russischer Feldzug im Jahre 1812 war eine der eindrucksvollsten Episoden in der Geschichte Europas, ein Ereignis mit epischen Dimensionen, das sich tief in die Vorstellungswelt der Völker eingegraben hat. Wo immer ich das Thema meines Buchs erwähnte, reagierten meine Gesprächspartner lebhaft: Manchen entlockte es plötzliche Erinnerungen an Tolstojs Krieg und Frieden und Bemerkungen über das schiere Ausmaß der Tragödie, anderen eine im Gedächtnis haftengebliebene Anekdote oder auch nur die bildliche Vorstellung einer schneeverwehten napoleonischen Tragödie. Aber diesem ersten intensiven Auftauchen von Motiven folgte fast jedesmal das Eingeständnis einer vollständigen Ignoranz dessen, was tatsächlich stattgefunden hatte, und warum. Schon die Gründe für diese seltsame Diskrepanz sind faszinierend.

Kein anderer Heerzug in der Geschichte wurde so unverhohlen für politische Zwecke vereinnahmt. Von Anbeginn waren die Untersuchungen zum Thema in einer Weise von dem Wunsch zu deuten und zu rechtfertigen gelenkt, der jede Objektivität ausschließt, während ihre bloße Menge – über fünftausend Bücher und doppelt so viele Artikel erschienen allein in Rußland in den hundert Jahren nach 1812 – nur noch weiter dazu beitrug, die Tatsachen zu verschleiern.[1]

Das ist nicht verwunderlich, bedenkt man, worum es ging. Große Reputationen standen auf dem Spiel: die eines Napoleon, eines Zar Alexander und eines Feldmarschall Kutusow, um nur die wichtigsten zu nennen. Es bestand auch das Bedürfnis, einen Sinn in diesem Krieg zu entdecken, denn obwohl er in seiner Größenordnung und in seinen Schrecknissen in Europa bislang beispiellos war, ließ er sich nach militärischen Kriterien nicht leicht rekonstruieren. Die Kampfhandlungen waren selbst für die Beteiligten oft Szenen der Verwirrung, und ohnehin beanspruchten nach jedem Gefecht beide Seiten den Sieg für sich. Und wenn auch die Franzosen den Feldzug insgesamt verloren, konnte man kaum behaupten, daß die Russen ihn gewannen. Hinzu kam, daß die Beteiligten auf beiden Seiten ein derart barbarisches Verhalten gezeigt hatten, das näher zu untersuchen weder im Interesse der einen noch der anderen Nation lag.

In Frankreich erschwerten zunächst politische Faktoren alle Ansätze zu einer ausgewogenen Betrachtung: Das Regime, welches unmittelbar auf dasjenige Napoleons folgte, verlangte, daß alles, was mit ihm zu hatte, in den schwärzesten Farben zu schildern sei. Aus etwas vielschichtigeren Gründen spielte die Zensur auch bei den russischen Beurteilungen eine Rolle. Die Ereignisse von 1812 und ihre Nachwirkungen warfen grundsätzliche Fragen über den russischen Staat und das russische Volk auf: «Die Suche nach einer russischen nationalen Identität im neunzehnten Jahrhundert begann in der Armee von 1812», wie der Historiker Orlando Figes es so treffend formuliert.[2]

Eine solche Suche mußte gegenüber dem autokratischen System subversiv wirken. Sie führte zunächst zum Dekabristenaufstand von 1825 und setzte sich in auseinanderstrebenden Richtungen fort. Gegenüber standen sich einerseits jene, die ein moderneres, in die westliche Zivilisation organisch integriertes Rußland wünschten, und andererseits die Slawophilen, die den Westen und alles, wofür er stand, ablehnten und statt dessen einen wahrhaft «russischen» Weg verfolgten. Beide Seiten untermauerten ihre jeweilige Position mit den Ereignissen von 1812, die zu einem Mythos und entsprechend zunehmend verzerrt wurden. Dieser Gegensatz wurde durch die Heraufkunft des Marxismus noch weiter kompliziert.

Die ersten französischen Historiker, die über 1812 schrieben, waren entweder Napoleon feindlich gesonnen, oder sie wollten sich bei dem nachfolgenden Regime einschmeicheln; folglich schoben sie alle Schuld dem Ungeheuer Bonaparte in die Schuhe. Die meisten französischen Autoren, die über den Feldzug schrieben, ob nun als Teilnehmer oder spätere Historiker, waren zwar besonnener und stimmten im großen und ganzen miteinander überein. Aber obgleich ihnen eine gewisse Verlegenheit angesichts des offenkundig imperialistischen Abenteuers und des Elends anzumerken ist, das Frankreich dem russischen Volk zufügte, aber auch seinen eigenen Soldaten und denen seiner Verbündeten, so bemühten sie sich doch, Napoleons Ruf und die Ehre des französischen Heeres wiederherzustellen, indem sie die Zähigkeit des russischen Soldaten und das erbarmungslose russische Klima betonten. Sie griffen auch nach dem tröstlichen Strohhalm, den ihnen die romantische Einbildungskraft der zwanziger und dreißiger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts anbot, die das Bild einer schmutzigen Katastrophe in eine Apotheose der erhabenen Größe unter widrigen Umständen verwandelten.

Zeitliche Distanz und eine politische Annäherung der beiden Staaten ermöglichten in den letzten Jahrzehnten des neunzehnten Jahrhunderts französischen Historikern eine objektivere Herangehensweise an das Thema. Zum hundertsten Jahrestag, der kurz vor den Ersten Weltkrieg und in eine Zeit fiel, als beide Nationen Verbündete waren, kam es zu einer Kooperation zwischen französischen und russischen militärgeschichtlichen Kommissionen, was wiederum die Publikation von umfangreichem Material aus Primärquellen ermöglichte. Dennoch scheinen französische Historiker noch immer eine gewisse Scheu davor zu haben, sich mit diesem Krieg auseinanderzusetzen; bis heute haben sie kaum zufriedenstellende allgemeine Studien dazu vorgelegt

Der erste russische Bericht war von einem Oberst im Generalstab verfaßt worden und mit so flotter Feder geschrieben, daß er innerhalb eines Jahres im weit entfernten Boston auf Englisch veröffentlicht wurde. Es handelte sich zweifellos um ein Propagandawerk mit dem Ziel, Rußlands zukünftiger Rolle als Mitwirkendem auf der europäischen Bühne den Weg zu ebnen; trotzdem enthielt es auch die Vorstellungen weiter Teile der russischen Gesellschaft. Das Buch beschrieb Alexander als Katalysator, der eine patriotische und hochgemute Aristokratie mit einer loyalen Bauernschaft vereint hatte, die darauf brannte, ihren Glauben, ihren Zaren und ihr Vaterland zu verteidigen. Dmitrij Petrowitsch Buturlin, der am Krieg teilgenommen hatte und als erster den Krieg ausführlich schilderte, steuerte einige neue Aspekte bei. Einer davon war die Darstellung Rußlands als eines unschuldigen Opfers von Aggression. Ein anderer war das Bild Kutusows als Inbegriff eines russischen Helden, schlicht aber weise. A. I. Michajlowskij-Danilewskij, dessen vierbändige Geschichte 1839 erschien, beschrieb Alexander als eine moralische Lichtgestalt, die die geistigen und physischen Kräfte des russischen Volkes zur Verteidigung des Vaterlands geweckt hatte. Er war der erste, der ihn den «Otetschestwennaja Wojna» nannte, den «Vaterländischen Krieg». Vielen russischen Darstellungen lag der Gedanke zugrunde, es sei der Allmächtige gewesen, der durch den Zaren und das russische Volk gehandelt und den Teufel überwunden habe. Mit diesem Argument wurden auch die französischen Behauptungen, man sei vom russischen Winter und nicht von den Russen selbst geschlagen worden, als unerheblich abgetan.

Vor dem Hintergrund dieser grundsätzlich religiösen Sichtweise begann Tolstoj im Sommer des Jahres 1863 mit der Arbeit an seinem Roman Krieg und Frieden, in dem er den Ereignissen seine eigene, äußerst persönliche Färbung verlieh.

Tolstoj hatte zunächst das Programm liberaler Reformen, das Zar Alexander II. verkündete, als er 1855 den Thron bestieg, begeistert unterstützt. Er hatte die Reformen sogar vorwegnehmen wollen, als er den Leibeigenen seines Landguts eine Regelung anbot, die sie von ihrer Fronarbeit entbunden und ihnen das Land, das sie bewirtschafteten, übereignet hätte. Aber sie reagierten mißtrauisch und nahmen sein Angebot nicht an. Tolstoj kreidete diese Ablehnung nicht seinen Bauern an, sondern wandte sich vom Freiheitsgedanken grundsätzlich ab. Er übernahm die slawophile Auffassung, die Liberalen würden Rußland zerstören, indem sie ihm ausländische Ideen und Institutionen aufzwangen, die dem russischen Wesen fremd seien. Ihm mißfiel auch die Welle von Selbsterniedrigung unter den Intellektuellen, die in der kürzlich erlittenen Niederlage im Krimkrieg einen Beweis russischer Rückständigkeit sahen. Seine Darstellung der Ereignisse von 1812 wurde zum Exempel des Vordringens ausländischer Einflüsse nach Rußland: Napoleon ist Vorbote einer «fremdartigen» Ordnung, mit der einige Angehörige aus Alexanders «infiziertem» Hofstaat sympathisieren. Von der russischen Nation wird sie jedoch abgelehnt. Dennoch wird daraus keine Glorifizierung des einfachen russischen Volks – der Held in Tolstojs Roman ist eine getreue Bauernschaft, die von einem Kleinadel geführt wird, der, anders als die französisierten Aristokraten, den russischen Werten treu geblieben ist. Aber in Tolstojs Werk ist nicht alles Fiktion; er kannte die Geschichte genau.

Der erste Satz von Krieg und Frieden drückt seine Empörung da rüber aus, was die Franzosen 1799 in Genua und Lucca taten, während auf der folgenden Seite eine der handelnden Personen des Romans beteuert, Rußland werde «der Retter Europas» sein. Mit diesem Anfang verwarf Tolstoj die Behauptung, die französische Invasion von 1812 sei ein Akt willkürlicher Aggression gewesen: Er war davon überzeugt, daß sie lediglich Teil eines anhaltenden Kampfes zwischen Frankreich und Rußland um die Hegemonie in Europa war. Es sollte allerdings noch einige Zeit vergehen, bis ein russischer Historiker dies aufgriff.

In der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts gab es zahllose Veröffentlichungen von Teilnehmern des Feldzugs – Tagebücher, Memoiren und Briefe, Dokumente der Stäbe, in denen Truppenzahlen und Aufstellungen aufgeführt wurden, amtliche Unterlagen, Tagesbefehle und Depeschen. Außerdem erschienen einige sehr nützliche Untersuchungen über spezifische Aspekte, über einzelne Schlachten und darüber, wie in der beteiligten Gesellschaft auf die Ereignisse reagiert wurde.

Die nächste Generation russischer Historiker, die sich eingehender mit dem Thema befaßte, war durch die Werke von Marx und Engels beeinflußt und behandelte es sachlicher. Zwar idealisierte Aleksandr Nikolajewitsch Popow noch 1912 Kutusow und die «russische Gesellschaft», aber sein realistischerer Zeitgenosse Wladimir Iwanowitsch Charkewitsch räumte ein, daß Kutusow nicht fehlerfrei gewesen sei, und verwarf das Bild Rußlands als eines unschuldigen Opfers. Konstantin Adamowitsch Wojenskij vertrat einen ähnlichen Ansatz und führte die militärischen Mißerfolge Rußlands von 1812 auf konstitutionelle und strukturelle Schwächen der russischen Gesellschaft zurück. Eine Reihe weiterer Historiker verfaßte Studien über spezifische Aspekte, in denen sie Beweise für eine weniger ruhmreiche Reaktion der russischen Gesellschaft erbrachten, als es bisher dargestellt wurde, und in denen sie bestätigten, daß vor allem die Logistik und das Wetter den Ausgang des Geschehens bestimmt hatten.

Vielleicht der radikalste in dieser Generation von Historikern, der zudem am heftigsten gegen die bis dahin gültigen Wahrheiten rebellierte, war Michail Nikolajewitsch Pokrowskij. Seiner Meinung nach war es dem Zarenregime darum gegangen, die russische Hegemonie über seine Grenzen hinaus auszudehnen, mit dem Ziel, das Überleben eines im Kern noch feudalen Systems zu sichern. Er ging so weit zu behaupten, daß Napoleons Invasion Rußlands «ein notwendiger Akt der Selbstverteidigung» seitens Frankreichs gewesen sei. Gegenüber Kutusow und anderen russischen Generälen war er zutiefst kritisch. Er betonte die Rolle, die das Wetter beim Sieg über die Franzosen gespielt hatte und minderte die Rolle der «russischen Gesellschaft» herunter, wobei er auch den Mythos von den patriotischen Bauern in Frage stellte. Wer sich Pokrowskij zufolge den Invasoren entgegensetzte, tat dies, um seine Hühner und Gänse zu verteidigen, nicht das Vaterland.[3]

Diese Sichtweise übernahm auch Lenin; sie war während der ersten zwei Jahrzehnte der sowjetischen Herrschaft offiziell gültig. Während dieser Periode wurde der Begriff «Vaterländischer Krieg» fallengelassen, da es in ihm nur um die jeweiligen Wirtschaftsinteressen der russischen Imperialisten und der französischen Bourgeoisie ging. Die russische Armee hatte bei der Landesverteidigung versagt, eben weil sie von Adligen befehligt wurde, und die Angst der Regierung vor einer Bewaffnung der Bauern hatte die Entstehung eines Guerillakriegs gegen die Franzosen verhindert.

Auf Veranlassung Stalins empfahl ein Beschluß des Zentralkomitees am 16. Mai 1934 eine neue Herangehensweise an das Geschichtsstudium, in der nun die Massen einbezogen werden sollten. Welche Wirkung dies auf die Darstellung der Ereignisse von 1812 haben sollte, war nicht sofort klar. 1936 behauptete der Historiker Jewgenij Wiktorowitsch Tarle noch, das russische Volk habe im Krieg keine Rolle gespielt, und tat nachgewiesene Guerillaktionen von Bauern als opportunistische Morde an französischen Nachzüglern ab. Im Jahr darauf hingegen veröffentlichte er einen Bericht über den Krieg, in dem er fast genau das Gegenteil behauptete und ihn als einen Triumph des patriotischen russischen Volkes beschrieb. Nach einigem haarspalterischen, in der Argumentationsweise marxistischer Dialektik geführten Hin und Her galt nun wieder die Bezeichnung «Vaterländischer Krieg», wenn auch nur in Gänsefüßchen. Tarle konzedierte auch, daß das Wetter etwas mit dem französischen Debakel zu tun gehabt haben konnte, was ihm später den Vorwurf einbrachte, er habe «Ideen trotzkistisch-bucharinistischer konterrevolutionärer Volksfeinde» und «Lügengespinste ausländischer Autoren» verbreitet, wie ein Autor sie nannte. Sogar der Bericht des großen Militärtheoretikers Carl von Clausewitz, der auf russischer Seite Teilnehmer des Feldzugs gewesen war, wurde als «Lügen» verworfen.

Tarle übernahm nun die traditionelle verklärende Sicht. Er stellte den Sieg der Franzosen bei Borodino als «moralischen Sieg» der Russen und den Krieg selbst als prägenden Ausgang für das Beste dar, was die russische Geschichte der folgenden Jahrzehnte kennzeichnen sollte. Er schuf auch das Bild Kutusows als einer gleichsam metaphysischen Inkarnation des russischen Volkes, der damit in jeder Hinsicht zu seinem wahren Führer wurde.[4] Aber erst sein Kollege P. A. Schilin stellte den offensichtlichen Zusammenhang zwischen Kutusow und Stalin her: als Retter des Vaterlands.

Hitlers Überfall auf Rußland 1941 und der Titanenkampf, der ihm folgte, machte diesen Zusammenhang noch plausibler; die Ereignisse von 1812 ließen sich propagandistisch hervorragend nutzen. Der «Vaterländische Krieg von 1812», wie er fortan genannt werden sollte, konnte nun als eine Generalprobe für den «Großen Vaterländischen Krieg» gelten. Tarles Buch wurde übersetzt und in vielen westlichen Ländern veröffentlicht; es sollte der Botschaft Nachdruck verleihen, daß ein friedliebendes Rußland aus keinem erkennbaren Grund angegriffen worden war, daß aber das russische Volk und die großen Führer, die ihm entstammten, unbesiegbar seien. Nebenbei ließ sich die peinliche Tatsache geschickt verdecken, daß Rußland wie schon 1812 bis zum Ausbruch der Kampfhandlungen Verbündeter der anderen Seite gewesen war.

Nach Stalins Tod im Jahr 1953 kehrte für eine kurze Phase so etwas wie Objektivität in die russische Geschichtsschreibung zurück. Es entstand eine Reihe von seriösen Studien über die ökonomischen, politischen und diplomatischen Hintergründe, die militärischen Vorbereitungen und über andere wichtige Aspekte des Krieges. Mit der Machtübernahme Breschnews wurde alldem jedoch ein Ende bereitet. Historiker wie L. G. Beskrownyj bedienten sich der alten patriotischen Formeln und wiederholten schamlos eindeutige Unwahrheiten. Französische Truppenzahlen wurden stets aufgebläht und die russischen kleingerechnet. Die historische Gestalt Kutusows verselbständigte sich. Der den Luxus liebende Fürst verwandelte sich in eine Art Bauernführer, der auf unklare Weise mit dem Zaren und dem System «in Konflikt» stehen sollte. Jeder seiner groben Fehler wurde als Kriegslist hingestellt, deren Ziel unbestimmt blieb, und jede hilflose Untätigkeit als genialer strategischer Schachzug.

Diese Art von Geschichtsschreibung hielt sich unangefochten bis in die späten achtziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts, als eine neue Generation von Historikern wie B. S. Abalichin, W. G. Sirotkin, S. W. Schwedow, O. W. Sokolow und N. A. Troitskij sich dem Thema mit einer vorher nie dagewesenen Unvoreingenommenheit und Wahrhaftigkeit zuwandten. Aber es wird vermutlich noch einige Zeit dauern, bis daraus eine überzeugende Synthese hervorgeht.

Die Handvoll jener westlichen Historiker, die über das Thema schrieben, bedienten sich nur sparsam zugänglicher russischen Primärquellen und stützten sich statt dessen auf die Arbeiten ihrer russischen Kollegen. Da überrascht es nicht, daß sie auch die Fakten und Zahlen, die sie dort vorfanden, verwendeten. Erstaunlicher ist allerdings, daß die meisten auch einige Interpretationen übernahmen und dabei, wenn auch unbewußt, etwas von der emotionalen und politischen Grundstimmung auf sich abfärben ließen.

Nahezu alles vorhandene dokumetarische Material zu den politischen und militärischen Ereignissen, die dieses Buch behandelt, ist seit Jahrzehnten veröffentlicht und verfügbar. Es wäre interessant und vermutlich ergiebig, weitere Zusammenhänge zu erforschen, wie sich zum Beispiel dieses historische Ereignis auf die Strukturen des russischen Staates, seine Wirtschaft und die in der Gesellschaft verbreiteten Formen von Dominanz und Unterordnung auswirkten. Lohnenswert wäre es vielleicht außerdem, sich die Originalmanuskripte einiger veröffentlichter Quellen anzusehen, besonders, wenn diese aus dem Französischen ins Russische übersetzt wurden. Aber es ist höchst unwahrscheinlich, daß neue bedeutende Dokumente ans Licht kommen oder weitere detaillierte Untersuchungen in einem Spezialgebiet neue Beweise für die Ursachen, den Verlauf, die Zahlenverhältnisse, das Ausmaß der Verluste oder irgendwelche anderen wesentlichen Aspekte des Krieges liefern werden.

So gesehen ist bereits eine gründliche Vorarbeit geleistet worden, und nachdem nunmehr nationalistische Leidenschaften und politische Vorgaben weitgehend verschwunden sind, sollte das Vorhaben, die Ereignisse von 1812 zu beschreiben, weniger beängstigend sein. Aber gewaltig bleibt die Aufgabe gleichwohl. Denn es war nicht irgendein Krieg. Es war der Höhepunkt eines langen Konflikts zwischen Napoleon und Alexander, zwischen Frankreich und Rußland, zwischen dem ideologischen Erbe der europäischen Aufklärung und der französischen Revolution auf der einen und einem reaktionären Konglomerat aus Christentum, Monarchismus und Traditionalismus auf der anderen Seite. Ganz Europa wurde in diesen Konflikt hineingezogen, mit weitreichenden und nachhaltigen Konsequenzen. Sein Ausmaß war ohne Beispiel und schuf Probleme, die in der Militärgeschichte bis dahin unbekannt waren. Überdies handelte es sich insofern um den ersten modernen Krieg, als das ganze russische Volk von seiner Regierung gezwungen wurde, sich aktiv zu beteiligen, und die Gefühle der Bevölkerung in der militärischen Strategie berücksichtigt wurden. Keiner dieser Aspekte ließe sich losgelöst und nur für sich behandeln, da man diesen Konflikt nicht verstehen kann, solange nicht zumindest eine Ahnung von der Tiefe und Reichweite aller mitwirkenden Faktoren vorhanden ist.

Einem solchen Thema gerecht zu werden, würde viele Jahre benötigen und zudem ein Werk von mindestens doppeltem Umfang des vorliegenden Buchs erforderlich machen, das auch nicht den Anspruch erhebt, alle Fragen erschöpfend und endgültig zu beantworten. Weder enthält es eine vollständige Aufzeichnung sämtlicher militärischen Operationen, die Dutzende von Gefechten beinhalteten und in einem riesigen Gebiet stattfanden, noch möchte es mehr als eine bloße Übersicht über die diplomatischen Beziehungen zwischen Frankreich und Rußland sein. Mein Hauptziel beim Verfassen diesen Buches bestand darin, eine außergewöhnliche Geschichte zu erzählen, von der jeder gehört hat, aber von der nur wenige genaue Kenntnisse besitzen. Ich habe versucht, sie in ihren größeren Kontext einzubetten und auf ihre tiefere Bedeutung zu verweisen. Vor allem habe ich mich bemüht, aufzuzeigen, was diese Ereignisse auf allen Ebenen für die Betroffenen bedeutet haben – denn es ist eine menschliche Geschichte schlechthin, von Hybris und Nemesis, von Triumph und Katastrophe, von Ruhm und Elend, von Freude und Leid.

Ich habe daher in hohem Maß auf die Berichte von Beteiligten zurückgegriffen, von denen es bemerkenswert viele gibt. Was ihre Genauigkeit und ihre literarische Qualität angeht, sind sie sehr unterschiedlich. Bei manchen handelt es sich um vor Ort geschriebene Briefe oder Tagebücher, bei anderen um später verfaßte Memoiren auf der Grundlage eigener Aufzeichnungen oder der Erinnerung; einige von ihnen entstanden innerhalb eines oder zweier Jahre, andere erst Jahrzehnte darauf; einige Schilderungen basieren auf persönlichen Erfahrungen und Dokumenten, andere sind historische Abrisse, die von Kriegsteilnehmern verfaßt wurden, von denen einige Schlüsselpositionen innnehatten und andere nur Zeugen waren. Als ich mich dieser Quellen bediente, habe ich diese Besonderheiten berücksichtigt und es vermieden, mich etwa allzusehr auf den vielzitierten Ségur zu verlassen, der keine zentrale Funktion einnahm, aber so schrieb, als sei dies der Fall gewesen, und der besonders hohe literarische Ansprüche an seine Werke stellte; ebenso vermied ich seinen wichtigsten Kritiker Gourgaud, der selber nicht ganz so gut plaziert war, wie er behauptet, um die Ereignisse beurteilen zu können, und dessen Bericht im Zeichen einer unkritischen Verehrung Napoleons steht.

In der Auswahl der Illustrationen habe ich mich ebenfalls von dem Wunsch leiten lassen, die Erfahrung der Menschen darzustellen, worin mir ein einzigartiger Aspekt dieses Krieges zur Hilfe kam. Es war der einzige Feldzug vor dem Aufkommen der Photographie, der von einer Reihe Beteiligter zeichnerisch festgehalten wurde, und einige von ihnen waren hervorragende Künstler. Es sollte ein halbes Jahrhundert, bis zum amerikanischen Bürgerkrieg, dauern, bis die Wirklichkeit des Krieges wieder durch derart lebendige Einblicke vermittelt werden konnte. In Anbetracht dessen habe ich mich entschieden, auf die zahlreichen pompösen und weitgehend nichtssagenden Schlachtengemälde, die diese Art von Büchern üblicherweise zieren, zu verzichten, und mich darauf konzentriert, Illustrationen zu zeigen, die einer photographischen Dokumentation des Lebens auf dem Feldzug näherkommen. Abgesehen von einer kleinen Zahl an Porträts der tragenden Figuren wurde fast jedes Bild von einem Kriegsteilnehmer entweder vor Ort oder aus dem Gedächtnis gemalt oder gezeichnet; und die wenigen Ausnahmen wurden unter der Anleitung von Beteiligten ausgeführt.

Wo immer ich der Meinung war, daß ein Zitat oder eine Angabe es verlange, habe ich andere Berichte aus erster Hand zur Unterstützung hinzugezogen. Um jedoch die Zahl der Anmerkungen niedrig zu halten, habe ich oft mehrere Zitate oder eine Reihe von zusammenhängenden Fakten aus einem Absatz unter derselben Endnote gebündelt. Die Übersetzungen ins Englische stammen alle von mir, bis auf solche, bei denen eine andere Übersetzung zugänglich war, und bei Übersetzungen aus dem Deutschen waren mir andere behilflich.*

Es existieren mehrere Transkriptionsweisen für russische Wörter und Namen, von denen meiner Meinung nach keine ganz zufriedenstellend ist. Das liegt hauptsächlich daran, daß sie eine Einheitlichkeit anstreben, wo keine möglich ist, aber auch daran, daß jede neue Transkription Schreibweisen abschafft, die uns in alter Form bereits vertraut sind. Ich bin daher meinem Instinkt und, wie ich meine, gesundem Menschenverstand gefolgt. Mir ist bewußt, daß Spezialisten das möglicherweise irritierend finden. In der Bibliographie habe ich mich jedoch an die allgemein übliche neue slawistische Schreibweise gehalten, da die Namen in den (meisten) Bibliothekskatalogen inzwischen so aufgeführt werden.

Vielleicht stellen die Ortsnamen das größte Problem dar. Die Handlung des Feldzugs erstreckt sich über Gebiete, die nicht lange vor 1812 von einer Hoheitsgewalt in die nächste übergegangen waren, und in manchen Fällen wieder zurück. Manche liegen nun in ganz neuen oder anderen Ländern. Ich habe deutsche Namen für das Gebiet verwendet, das damals Ostpreußen war. Die russischen Formen der Namen unterscheiden sich kaum von den polnischen, während die heutigen litauischen oder weißrussischen verwirrend wären (ein kleines Glossar dieser Namen mit ihren heutigen Formen ist zum Zweck der Identifikation an gefügt).

Alle Zeitangaben werden im neuen Stil, dem gregorianischen Kalender folgend, wiedergegeben.

Ich möchte den Professoren Isabel de Madariaga, Janet Hartley, Lindsey Hughes, Dominic Lieven und Alexander Martin für Rat und Unterstützung danken. Mein Dank geht auch an Mirja Kraemer und Andrea Ostermeier, die eine Reihe von deutschen Texten für mich gelesen haben, und an Galina Babkova für die Schnelligkeit und Effizienz, in der sie alles Material, das ich aus Bibliotheken in Rußland benötigte, ausfindig machte, kopierte und mir übersandte. Dankbar bin ich Dr. Dobrosława Platt, Laurence Kelly, Artemis Beevor und Jean de Fouquières für ihre Hilfe beim Auffinden von Illustrationen. Shervie Price war wieder einmal leidgeprüfte Leserin und unschätzbare Kritikerin meines Manuskripts, und Robert Lacey ein außerordentlich akribischer und sensibler Lektor. Trevor Mason hat für seine Geduld mir gegenüber bei den Landkarten und der statistischen Grafik einen Orden verdient.

Ich möchte außerdem Botschafter Stefan Meller für seine Unterstützung während meiner Reise zu den Kriegsschauplätzen danken, und Mikołaj Radziwiłł dafür, daß er ein so guter Fahrer auf den Straßen Rußlands, Litauens und Weißrußlands und mein Begleiter in Vilnius, Orša und Smolensk, auf dem Schlachtfeld von Borodino und an den Ufern der Beresina war.

Allen voran möchte ich meiner Frau Emma danken, für alles.

* Zu den Übersetzungen und Schreibweisen dieser deutschen Ausgabe s. die Nachbemerkung der Übersetzer bzw. die Liste der Toponyme.

1

Caesar

Mit dem ersten Schuß aus den Kanonen, die am Morgen des 20. März 1811 vor dem Invalidendom aufgestellt worden waren, senkte sich eine ungewöhnliche Stille über Paris. Karren und Kutschen blieben stehen, Passanten hielten inne, an den Fernstern erschienen Gesichter, Schuljungen schauten von ihren Büchern auf. Jeder zählte mit, als in regelmäßigen Abständen eine Salve auf die nächste folgte. In den Ställen der École Militaire striegelten Kavalleristen der Kaiserlichen Garde ihre Pferde. «Plötzlich ließ ein Böller vom Invalidendom her jede Bewegung erstarren; Bürsten und Striegel verharrten in der Luft», berichtete ein junger Chasseur. «Inmitten dieses Durcheinanders von Männern und Pferden hätte man eine Stecknadel fallen hören können.»[1]

Nachdem sich am Abend zuvor die Nachricht verbreitet hatte, daß bei der Kaiserin die Wehen eingesetzt hatten, gaben viele patrons ihren Arbeitern für den nächsten Tag frei, und diese strömten jetzt erwartungsvoll in die Straßen rund um den Tuilerien-Palast. Die Pariser Börse hatte den Handel am Morgen eingestellt, und die einzigen Finanzgeschäfte, die noch stattfanden, waren Wetten auf das Geschlecht des Kindes. Aber auch bei denen, die nichts gesetzt hatten, war die Aufregung groß. «Man kann sich kaum vorstellen, mit welch ängstlicher Spannung die ersten Kanonenschüsse gezählt wurden», entsann sich ein Zeuge: Jeder wußte, daß einundzwanzig die Geburt eines Mädchens, hundert die eines Jungen verkündeten. «Tiefes Schweigen herrschte bis zum einundzwanzigsten, aber als der zweiundzwanzigste ertönte, brachen die Menschen überall in Paris in Jubelrufe aus.»[2] Die Leute waren außer sich; Wildfremde fielen einander in die Arme und riefen «Vive L’empereur!» Andere tanzten zum donnernden Widerhall der restlichen achtundsiebzig Böllerschüsse auf den Straßen.

«Paris hat nie in seinen großen Festen ein allgemeineres Bild des Frohlockens dargeboten», beschrieb es ein anderer Zeuge, «obschon es ein Werkeltag war, feierte alles.»[3] Ein Ballon stieg auf und trug die berühmte Aeronautin Madame Blanchard in den Himmel, von wo aus sie Tausende gedruckter Anzeigen des glücklichen Ereignisses über das Land verstreute. Reitende Boten stoben in alle Richtungen davon, um die Nachricht zu verbreiten. Am Abend wurden Feuerwerke gezündet und die Hauptstadt leuchtete vom Schein der Kerzen, die selbst in den Fenstern der bescheidensten Mansarde brannten. Theater gaben Sondervorstellungen, Drucker machten sich daran, in großer Menge kitschige Bildchen des kaiserlichen Knaben zu produzieren, die den von himmlischen Wolken getragenen Säugling zeigten, über dessen Haupt Kronen und Lorbeerkränze schwebten, und die Dichter feilten an Oden zum Gedenken an das glückliche Ereignis. «Aber niemals wird man diese Ekstase und den allgemeinen Freudentaumel annähernd schildern können», schrieb der junge Comte de Ségur, «als der zweiundzwanzigste Kanonenschuß der Nation verkündete, daß Napoleon und dem Kaiserreich ein leiblicher Nachfolger geboren worden war!»[4]

Die ersten Wehen der siebenundzwanzigjährigen Kaiserin Marie-Louise hatten am Vortag gegen sieben Uhr abends eingesetzt. Dr. Antoine Dubois, Premier Accoucheur des Kaiserreichs, stand bereit. Bald gesellten sich Dr. Corvisart, Erster Leibarzt, Dr. Bourdier, Leibarzt der Kaiserin, und Napoleons Wundarzt Dr. Yvan, dazu. Der Kaiser, seine Mutter, seine Schwestern und verschiedene Damen des Hofstaats der Kaiserin brachten die Zahl derer, die sich in ihrem Schlafzimmer oder im angrenzenden Gemach um sie kümmerten, auf zweiundzwanzig.

In einiger Entfernung hatten sich die Salons des Tuilerien-Palastes mit ungefähr zweihundert Amtspersonen und Würdenträgern gefüllt, die bei den ersten Anzeichen der kaiserlichen Wehen herbeizitiert worden waren und nun in ihrer festlichen Hofkleidung unbehaglich umherstanden. Von Zeit zu Zeit erschien eine der diensthabenden Kammerfrauen und überbrachte ihnen einen Lagebericht. Als der Abend sich hinzog, wurden kleine Tische herbeigeschafft; man servierte ein leichtes Nachtmahl, Huhn mit Reis zu einem Chambertin. Aber die Stimmung war gedämpft: Im Schlafgemach der Kaiserin ging es offensichtlich nicht reibungslos voran. Gegen fünf Uhr morgens erschien der Kaiserliche Großmarschall und informierte sie, daß die Wehen ausgesetzt hätten und die Kaiserin eingeschlafen sei; die Anwesenden dürften nach Hause gehen, sollten sich aber auf Abruf bereithalten. Einige gingen, aber viele der Höflinge streckten sich erschöpft auf Bänken aus oder rollten Teppiche zu behelfsmäßigen Matratzen zusammen; dann legten sie sich in vollem Hofstaat nieder, um ein wenig Schlaf nachzuholen.

Napoleon war die ganze Zeit bei Marie-Louise gewesen, hatte ihr gut zugeredet und ihr mit aller nervösen Fürsorglichkeit eines werdenden Vaters zu Seite gestanden. Als sie einschlief, sagte Dubois, er könne gehen und sich ein wenig ausruhen. Napoleon brauchte keinen Schlaf. Seine bevorzugte Entspannung bestand in einem heißen Bad, das er als Heilmittel für fast alle Krankheiten ansah, sei es Erkältung oder Verstopfung, unter denen er regelmäßig litt. So nahm er auch jetzt ein Bad.

Er lag noch nicht lange im heißen Wasser, als Dubois über die Stufen einer verborgenen Treppe, die von seinen Gemächern zum Schlafzimmer der Kaiserin führte, zu ihm hinaufeilte. Die Wehen hatten wieder eingesetzt, und der Doktor war besorgt, weil sich das Baby in einer ungünstigen Lage befand. Napoleon fragte ihn, ob Gefahr bestehe. Dubois nickte und zeigte Verzweiflung darüber, daß es bei der Kaiserin zu einer solchen Komplikation gekommen war. «Vergessen Sie, daß sie die Kaiserin ist und behandeln Sie sie wie die Frau irgendeines Krämers in der rue Saint Denis», unterbrach ihn Napoleon und fügte hinzu: «Und was immer geschieht, retten Sie die Mutter!» Er entstieg dem Bad, kleidete sich hastig an und ging nach unten zu den Ärzten am Bett seiner Frau.

Die Kaiserin schrie, als sie Dubois zur Zange greifen sah, aber Napoleon beruhigte sie, hielt ihr die Hand und streichelte sie, während die Comtesse de Montesquiou und Dr. Corvisart sie festhielten. Das Baby kam mit den Füßen voran und Dubois hatte seine liebe Not, den Kopf freizubekommen. Nach reichlichem Ziehen und Manövrieren brachte er es gegen sechs Uhr früh zur Welt. Das Baby wirkte leblos, und Dubois legte es ab, um sich mit seinen Kollegen um die Mutter zu kümmern, die in Gefahr zu schweben schien. Aber Corvisart nahm das Kind auf und begann es kräftig zu reiben. Nach etwa sieben Minuten erwachte es zum Leben, und der Doktor überreichte es der Comtesse de Montesquiou mit dem Bemerken, es sei ein Junge. Napoleon, der nun sah, daß Marie-Louise außer Gefahr war, nahm das Neugeborene in den Arm, stürzte in den angrenzenden Saal, wo sich alle hohen Beamten der Kaiserreichs versammelt und auf das schlimmste gefaßt gemacht hatten, und rief: «Seht auf den König von Rom! Zweihundert Kanonenschüsse!»

Als aber seine Schwägerin, Königin Hortense, kurz darauf zu ihm trat, um ihm zu gratulieren, erwiderte er: «Ich kann kein Glück empfinden – die arme Frau hat so gelitten!»[5] Es war ihm ernst damit. Die erst vor einem Jahr als politische Verbindung geschlossene Ehe hatte bald Züge einer geradezu schwärmerischen Liebesbeziehung angenommen. Marie-Louise, eines von dreizehn Kindern des österreichischen Kaisers Franz II., war der Liebling ihres Vaters gewesen, seine «adorable poupée». Man hatte sie erzogen, Napoleon zu hassen und ihn «den Korsen», «Usurpator», «Attila» oder «den Antichrist» zu nennen. Aber als die Diplomatie es verlangte, beugte sie sich dem väterlichen Willen. Und nachdem sie erst einmal die Freuden des Ehebettes genossen hatte, war ihre Begeisterung für den Kaiser rückhaltlos. Napoleon, den die Vorstellung erregte, eine «Tochter der Caesaren», wie er sie nannte – noch dazu eine, die beträchtlich jünger war als er –, in seinem Bett zu haben, war bald in sie vernarrt, und ihre Ehe war von trauter Zweisamkeit bestimmt.

Während am Abend die Hauptstadt feierte, wurde das Kind nach den uralten Riten des französischen Königshauses getauft. Am nächsten Tag hielt Napoleon eine große Audienz; auf seinem Kaiserthron sitzend nahm er die offiziellen Gratulationen entgegen. Anschließend begleitete ihn der ganze Hof, den Thronfolger anzuschauen, der in einer prächtigen versilberten Wiege lag, einem Geschenk der Stadt Paris. Sie war vom Künstler Pierre Prudhon entworfen worden und zeigte die eine Siegeskrone haltende Gloria und einen jungen Adler, der einem leuchtenden, Napoleon symbolisierenden Stern zustrebte. Die Großkanzler der Ehrenlegion und der Eisernen Krone legten die Insignien ihrer Orden auf zwei Kissen neben das schlafende Kind. Der Maler François Gérard machte sich an die Arbeit für ein Porträt.

Während der nächsten Tage trafen Huldigungen aller Art ein, und Städte im ganzen Land schlossen sich dem feiernden Paris an, sobald sie die Nachricht erreichte. Alle entsandten ihrerseits Delegationen, um Glückwünsche zu übermitteln. Das gleiche wiederholte sich, als die Neuigkeit nach und nach die entlegenen Teile des Kaiserreichs und andere Länder erreichte. Derartige Bekundungen wären zwar zu erwarten gewesen. Aber in diesem Fall waren die Festlichkeiten und Gratulationen mehr als oberflächliche Rituale – für die meisten Franzosen kündete die Geburt eines Knaben von einer bevorstehenden Zeit des Friedens und der Stabilität und vielem mehr.

Frankreich hatte sich seit neunzehn Jahren praktisch ununterbrochen im Krieg befunden. 1792 war es von einer preußisch-österreichischen Allianz angegriffen worden, der sich über die nächsten Jahre Großbritannien, Spanien, Rußland und andere, kleinere Mächte angeschlossen hatten. Sie alle trachteten danach, das revolutionäre Frankreich zu bezwingen und die Dynastie der Bourbonen wiedereinzusetzen. Es ging nicht um Territorien. Es war ein ideologischer Kampf um die zukünftige Ordnung Europas. Sieht man von den Greueltaten ab, so hatte das revolutionäre Frankreich alle Ideale der Aufklärung öffentlich verwirklicht, deren bloße Existenz von den Monarchien bereits als Bedrohung wahrgenommen wurde. Frankreich hatte diese Waffe zu seiner Verteidigung in großem Umfang eingesetzt, indem es die Revolution exportierte und Provinzen unterwanderte, die seinen Feinden gehörten. So war es allmählich vom Opfer zum Aggressor geworden und kämpfte dennoch um sein Überleben. Das revolutionäre Frankreich war außerstande, zu einem dauerhaften Frieden zu kommen, da es keine andere Macht in Europa gab, die sich mit dem Überleben eines republikanischen Regimes abfinden wollte, und jede es für unerläßlich hielt, es zu zerstören.

Als General Napoleon Bonaparte im November 1799 in Paris die Macht ergriff, hätte der Teufelskreis aus Angst und Aggression durchbrochen werden können. Er zähmte die Demagogen, schloß die Büchse der Pandora, die die Revolution geöffnet hatte, und brachte Ordnung ins Chaos. Als Kind der Aufklärung und zugleich Despot, weckte er die Energien Frankreichs und band sie in den Aufbau eines gut geordneten, prosperierenden und mächtigen Staates ein, jenes «état policé», von dem die philosophes der Aufklärung geträumt hatten. Damit trat er in die Fußstapfen von Herrschern wie Friedrich dem Großen von Preußen, Katharina der Großen von Rußland und Joseph II. von Österreich, die soziale und wirtschaftliche Reformen eingeführt und doch zugleich den Staat institutionell gefestigt hatten; dafür waren sie allgemein bewundert worden. Aber für ihre Nachfolger war Bonaparte nichts als ein grotesker Emporkömmling, ein schädlicher Auswuchs der bösen Revolution.

Nach einer Serie glänzender Siege gelang es Bonaparte, bis zum Jahr 1801 alle Mächte auf dem europäischen Kontinent zum Frieden zu zwingen. Frankreichs Sicherheit wurde durch Erweiterung seiner Grenzen und durch die Gründung theoretisch autonomer Republiken in Norditalien, der Schweiz und Holland gewährleistet, die de facto französische Provinzen waren. Im März 1802 schloß Bonaparte sogar mit Großbritannien den Frieden von Amiens. Der aber sollte nicht von Dauer sein.

Für Großbritannien war Frankreichs Hegemonie in Europa nicht hinnehmbar, während die britische Überlegenheit auf See für Frankreich eine anhaltende Bedrohung darstellte. Die französischen Begehrlichkeiten hinsichtlich Maltas, Ägyptens und Indiens bereiteten Großbritannien vage, aber nichtsdestotrotz beklemmende Alpträume. Daß die Briten über ihre Verbündeten auf dem europäischen Kontinent Stellvertreterkriege führen könnten, blieb für Frankreich wiederum ein Quell ständiger Besorgnis. Die Feindseligkeiten zwischen den beiden Großmächten flammten im Mai 1803 wieder auf.

Es war Bonaparte, der im folgenden Jahr überall in Europa den Widerstand gegen seine Herrschaft erneut anfachte. Im März 1804 befahl er, den jungen Bourbonen-Herzog von Enghien gleich jenseits der französischen Grenze im badischen Ettenheim zu verhaften und nach Paris zu bringen, in der Überzeugung, daß der Herzog in eine Verschwörung verwickelt sei, ihn zu stürzen und die Monarchie wiederherzustellen; er ließ ihn in einem Schnellverfahren schuldig sprechen und kurz darauf erschießen. Diese Mißachtung aller Formen und Prinzipien des Rechts stieß in ganz Europa auf Abscheu. Sie bestätigte die Meinung derer, die Bonaparte für den Leibhaftigen hielten, und verstärkte die Auffassung von einem Kampf auf Leben und Tod zwischen der legitimen geheiligten Ordnung, wie sie das ancien régime verkörperte, und den Mächten des Bösen, sprich des revolutionären Frankreichs.

Dabei hatte Frankreich aufgehört, seine Revolution zu exportieren. Das Land war kaum noch mehr als ein Vehikel für Bonapartes Ehrgeiz, der sich einige Monate später unter dem Namen Napoleon I. zum Kaiser der Franzosen ausrufen ließ. Worauf sich dieser Ehrgeiz eigentlich richtete, hat die Geschichtswissenschaft über zwei Jahrhunderte hin verwirrt und gespalten, denn Napoleon verhielt sich niemals folgerichtig. Seine Äußerungen lassen sich bestenfalls als Illustrationen einiger seiner Gedanken und Gefühle verstehen, während sein Handeln häufig erratisch und widersprüchlich war. Er war intelligent und pragmatisch, dennoch schwelgte er in abenteuerlichsten Fantasien; er war durch und durch opportunistisch, dennoch konnte er sich starr an eigene Dogmen klammern; er war ein großer Zyniker und gab sich trotzdem romantischen Träumen hin. Eine Leitidee oder ein Gesamtkonzept hatte er nicht.

Napoleon war weitgehend schlicht von Machtgier und dem Drang getrieben, andere zu beherrschen. Damit verbanden sich seine oft kindischen Reaktionen, sobald man ihm in die Quere kam. Da er weder über Gerechtigkeitsempfinden noch über Respekt für die Wünsche anderer verfügte, sah er jeden Einwand als eine grundlose Rebellion an und reagierte mit unverhältnismäßiger Heftigkeit. Anstatt über eine kleine Schlappe hinwegzusehen oder ein Hindernis zu umgehen, neigte er zu Wutanfällen und Gewalt, wodurch er häufig in allzu kostspielige Auseinandersetzungen geriet.

Er war außerdem von einem seltsamen Schicksalsglauben getrieben, einer selbstgesponnenen Vision, wie sie für junge Männer, die mit der Literatur der Romantik aufwuchsen, typisch ist (seine Lieblingslektüre waren die Gesänge des Ossian und Die Leiden des jungen Werther); in diesem Sinne glaubte er an seine Bestimmung: «Wer kann so blind sein, nicht zu erkennen», hatte er während des Ägyptenfeldzugs 1798 verkündet, «daß das Schicksal alle meine Handlungen lenkt?»[6] Napoleon war auch ein großer Bewunderer der Stücke Corneilles, und man darf vermuten, daß er sich selbst als Akteur in einer großen Tragödie dieser Art sah.

In der Überzeugung, daß ein Schicksal sein Leben lenke, handelte er bei der Verfolgung seiner nebulösen Träume mehrfach gegen sein besseres Wissen. Seine Triumphe in Italien und dann die glanzvollen Siege bei Austerlitz und Jena bestätigten ihn nur in dieser Illusion, die sich auch seinen Soldaten miteilte. «Der Rausch unserer freudigen und stolzen Begeisterung erreichte ihren Höhepunkt», schrieb ein junger Offizier nach Napoleons Sieg über Preußen. «Eines unserer Armeekorps ernannte sich zur ‹Zehnten Legion des neuen Caesar›, ein anderes verlangte, Napoleon solle fortan den Beinamen ‹Kaiser des Westens› tragen!»[7]

Aber Napoleon war außerdem Herrscher Frankreichs. Als solcher war er unweigerlich von denselben politischen, kulturellen und psychologischen Impulsen getrieben, welche die Politik früherer französischer Herrscher wie Franz I. und Ludwig XIV. bestimmt hatten. Sie erstrebten eine französische Hegemonie über Europa, um ihr Land dauerhaft zu sichern.

Frankreich hatte sich immer bemüht, ein Gleichgewicht in Mitteleuropa zu schaffen, das einen mobilisierenden Zusammenschluß ihm feindlicher deutscher Kräfte verhindern sollte. Erreicht hatte es dies 1648 mit dem Westfälischen Frieden, als es gemeinsam mit Österreich und mehreren anderen Mächten ein ganzes Gleichgewichtssystem einander kontrollierender und in Schach haltender Staaten geschaffen hatte. Dieses System hatte sich in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts mit dem Aufstieg Preußens und dem Auftauchen Rußlands als Mitakteur auf der europäischen Bühne wieder aufgelöst. Besonders bedrohlich waren die gewaltigen Machtverschiebungen in Deutschland, die Aufteilung und damit das Verschwinden Polens und das konfliktreiche Streben nach der Beherrschung des Balkans. So gesehen war es ganz natürlich, daß Napoleon sich bemühte, den Interessen Frankreichs wieder Geltung zu verschaffen, wobei er die traditionelle Vision eines «französischen» Europa ebenso verfolgte wie seine persönlichen Ambitionen. Wie es schien, hatte diese Vision die Geschichte auf ihrer Seite.

Frankreich war im achtzehnten Jahrhundert zum unbestrittenen Zentrum der Kultur und des politischen Denkens Europas geworden. Seine Vorherrschaft auf diesen Gebieten wurde durch die Revolution verstärkt, deren Ideen von Eliten auf dem ganzen Kontinent bewundert und anerkannt wurden. Die politischen und militärischen Führungsschichten Frankreichs sahen sich selbst als «la Grande Nation» an, als die erste Nation Europas, die sich emanzipiert hatte, und sie fühlten sich von der Geschichte berufen, das, was sie errungen hatten, anderen Völkern zu bringen. Es war das Zeitalter des Neoklassizismus; sie begannen, Frankreich als das neue Rom anzusehen, als das Zentrum, von dem aus ihre neue geistige Form in alle Richtungen ausstrahlte, als Hauptstadt der modernen Welt.

Napoleon war gegenüber den leidenschaftlichen Träumen seines Zeitalters nicht immun. Wie es dem mächtigsten Mann seit den Zeiten der Caesaren zukam, erließ er Dekrete zur Reinigung des Tibers und des Forum Romanum und zur Bewahrung seiner Monumente. Kurz nach der Geburt des Königs von Rom regte er Planungen für den Bau eines Kaiserpalasts auf dem Kapitol an. Er beabsichtigte aber genauso, einen Palast in Paris für den Papst zu errichten; dorthin sollte der umziehen, so wie einst Petrus aus dem Heiligen Land nach Rom gegangen war.[8]

Schon Mitte der neunziger Jahre des achtzehnten Jahrhunderts begannen die französischen revolutionären Armeen nicht nur Kostbarkeiten und Kunstwerke nach Paris zu schaffen, sondern auch Bibliotheken, wissenschaftliche Geräte und ganze Archive. Diese gigantische Plünderung geschah nicht nur aus nackter Gier. Dahinter stand auch der Gedanke, daß alles, was für die Entwicklung der Zivilisation von größtem Nutzen war, sich im Herzen des Kaiserreichs konzentrieren und nicht nur einigen wenigen peripheren Provinzen zugute kommen durfte. «Das französische Kaiserreich soll zur Metropole aller anderen souveränen Mächte werden», sagte Napoleon einmal. «Ich will jeden König in Europa zwingen, sich in Paris einen großen Palast zu seiner eigenen Verfügung zu bauen. Wenn ein französischer Kaiser gekrönt wird, sollen diese Könige nach Paris kommen und die glanzvolle Zeremonie durch ihre Gegenwart und Huldigung schmücken und ehren.» Gemeint war damit nicht so sehr ein Frankreich «über alles»]