Verlag C.H.Beck
Mit Max Plancks Entdeckung des nach ihm benannten Wirkungsquantums im Dezember 1900 beginnt das Zeitalter der modernen Physik. Es ist durch die Entwicklung neuer Theorien gekennzeichnet, die über die klassischen Gesetze hinausgehen: einerseits Einsteins Relativitätstheorien von 1905 und 1916, andererseits die Quantenmechanik (1925/26). Charakteristisch für die Geschichte der modernen Physik ist die enge Verzahnung experimenteller und theoretischer Entdeckungen. Ein Schwerpunkt der Darstellung ist die Kernphysik, die Aufklärung des Aufbaus des Atomkerns und seiner Bestandteile und der zwischen diesen wirkenden Kräfte. Auch die Geschichte wichtiger Anwendungen der modernen Physik vom Kernreaktor bis zum Laser wird geschildert.
Siegmund Brandt, geb. 1936, ist em. Professor für Physik an der Universität Siegen. Mit seiner Arbeitsgruppe war er Mitglied mehrerer internationaler Kollaborationen, die Experimente zur Elementarteilchenphysik an den Forschungszentren DESY in Hamburg und CERN in Genf ausführten. 2009 ist von ihm bei Oxford University Press erschienen: The Harvest of a Century –Discoveries of Modern Physics in 100 Episodes.
Vorwort
1 Die Realität der Atome
2 Radioaktivität und Atomkern
3 Atomhülle und frühe Quantentheorie
4 Spezielle Relativitätstheorie
5 Allgemeine Relativitätstheorie
6 Quantenmechanik
7 Kernphysik – neue Teilchen und neue Kräfte
8 Hadronen – eine Fülle von «elementaren» Teilchen
9 Leptonen und Quarks – die Bausteine der Materie
10 Eich-Bosonen – die Träger der Kräfte
11 Kondensierte Materie
12 Anwendungen der modernen Physik
Nachwort
Literatur
Bildnachweis
Namenverzeichnis
Sachverzeichnis
Als klassisch bezeichnet man die Teilgebiete der Physik, für die um 1900 befriedigende Theorien vorlagen. Dazu gehörte als Vorbild-Theorie die auf Newton zurückgehende Mechanik, aber auch die Wärmelehre (Thermodynamik) und die Lehre von Elektrizität und Magnetismus (Elektrodynamik) einschließlich der Optik als Lehre der Ätherwellen.
Diese Theorien sind allerdings nicht unbegrenzt gültig, wie insbesondere Planck (1900) und Einstein (1905) zeigten. Sie werden vielmehr durch die Existenz zweier Naturkonstanten, des Planckschen Wirkungsquantums und der Lichtgeschwindigkeit, eingeschränkt. Aus dieser Erkenntnis entstanden die Quantenmechanik und Einsteins Beschreibung von Raum und Zeit, die Relativitätstheorie. Beide bestimmen besonders die Physik der Atome und ihrer Bausteine, die in den klassischen Theorien nicht auftreten. Unter moderner Physik verstehen wir deshalb, knapp gesagt, unser Wissen über die mikroskopische Struktur der Materie und über die Struktur von Raum und Zeit. Hier versuchen wir, ihre geschichtliche Entwicklung zu umreißen und gleichzeitig, in zwölf Kapiteln, grobe Skizzen der wichtigsten Teilgebiete der modernen Physik zu entwerfen.
Die Realität der Atome (Kapitel 1) zeigte sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts; an seinem Ende stellte sich heraus, dass sie nicht, wie der Name andeuten soll, unteilbar sind, sondern noch kleinere Objekte enthalten: die Elektronen. In Kapitel 2 besprechen wir Entdeckung, Untersuchung und Anwendung der Radioaktivität, einer Eigenschaft der Atome des Urans und anderer schwerer Elemente, spontan verschiedene Arten von Strahlung auszusenden. Mit einer dieser Strahlungsarten gelang es erstmals, die räumliche Struktur der Atome zu untersuchen: Ein winziger Atomkern enthält fast die gesamte Masse des Atoms; er wird von Elektronen umgeben, die die sehr viel größere Atomhülle bilden.
Diese Atomhülle und die frühe Quantentheorie sind das Thema von Kapitel 3. Die Grundlagen dieser Theorie sind die Existenz des Planckschen Wirkungsquantums, der Begriff des Lichtquants (jetzt gewöhnlich Photon genannt) und das Postulat gewisser «Quantenregeln», deren Geltung im Atom zusätzlich zu den Regeln der klassischen Mechanik angenommen wurde. Auch die erste Beschreibung des «Spins», des sonderbaren Eigendrehimpulses des Elektrons und anderer Teilchen, gehört zur frühen Quantentheorie. Wir erzählen in Kapitel 4, wie Einstein 1905 innerhalb weniger Monate die spezielle Relativitätstheorie entwickelte einschließlich der berühmten Beziehung, die Energie und Masse verknüpft. In seiner allgemeinen Relativitätstheorie (Kapitel 5) fand er in den Jahren 1907–1915 einen engen Zusammenhang zwischen Masse, Gravitation und der Struktur des Raumes.
Die Quantenmechanik (Kapitel 6) entstand 1925/26. Sie wurde 1928 durch Einschluss des Spins erweitert und mit der speziellen Relativitätstheorie in Einklang gebracht; in dieser Form sagt sie die Existenz von Antiteilchen voraus, deren erstes 1932 entdeckt wurde. Eine langwierige Aufgabe war die korrekte quantenmechanische Beschreibung nicht nur der materiellen Teilchen, sondern auch der elektromagnetischen Strahlung. Sie wurde 1949 abgeschlossen. Die Theorie, in dieser Form Quanten-Elektrodynamik genannt, beschreibt in allen Einzelheiten die «elektromagnetische Wechselwirkung». Von zentraler Bedeutung ist darin, dass die Wechselwirkung zwischen zwei geladenen Teilchen über den Austausch eines Photons zwischen ihnen bewirkt wird.
Seit 1932 wusste man, dass der Atomkern aus positiv geladenen Protonen und ungeladenen Neutronen besteht und dass eine neue, die «starke» Kraft nötig war, den Kern zusammenzuhalten. Eine weitere, die «schwache» Kraft wurde zur Erklärung einer speziellen Form der Radioaktivität gebraucht. In der Kernphysik (Kapitel 7) gelangen aufsehenerregende Entdeckungen. So wurde die künstliche Erzeugung neuer Isotope und sogar neuer Elemente möglich. Ungeahnte Energiemengen wurden bei der Spaltung schwerer und bei der Verschmelzung leichter Atome freigesetzt. Längere Zeit nahm man an, die starke Wechselwirkung werde durch den Austausch eines mittelschweren «Mesons» zwischen den Nukleonen (Protonen und Neutronen) bewirkt. Alle stark wechselwirkenden Teilchen, einschließlich Nukleonen und Mesonen, heißen heute Hadronen.
Ab Ende der 1940er Jahre wurden immer mehr Hadronen (Kapitel 8) entdeckt. Aus deren Eigenschaften ließ sich später ablesen, dass sie aus fundamentalen Teilchen, den Quarks, zusammengesetzt sind. Quarks und Leptonen (Kapitel 9) sind die Bausteine der Materie. Es gibt offenbar drei Generationen von beiden; jede umfasst zwei Quarks und zwei Leptonen. Für gewöhnliche Materie (aus der wir bestehen) reicht die erste Generation aus. Deren Quarks tragen die Namen «up» und «down»; die zugehörigen Leptonen sind das Elektron und sein schwer zu fassender Partner, das Elektron-Neutrino. Die Kräfte zwischen den fundamentalen Teilchen werden durch Eich-Bosonen (Kapitel 10) vermittelt. Das Boson der elektromagnetischen Wechselwirkung ist natürlich das Photon. Nach dem Vorbild der Quanten-Elektrodynamik wurden Theorien der starken und der schwachen Wechselwirkung entwickelt, die sich durch die Eigenschaften ihrer Eich-Bosonen und deren Kopplung an Quarks und Leptonen unterscheiden. In den 70er und 80er Jahren des letzten Jahrhunderts wurden diese Bosonen tatsächlich entdeckt.
In den beiden letzten Kapiteln skizzieren wir die Geschichte einiger wichtiger Entdeckungen im Bereich der kondensierten Materie (Kapitel 11) und ausgewählter Anwendungen der modernen Physik (Kapitel 12).
Herrn Dr. Tilo Stroh danke ich herzlich für die sorgfältige Durchsicht des Textes. Meinem Sohn Prof. Dr. Martin S. Brandt verdanke ich die Anregung zu diesem Buch; es ist seinen Töchtern Viktoria, Carolin und Julia gewidmet.
Siegen, im März 2011 |
Siegmund Brandt |
Frühe Versuche einer rationalen Erklärung der Natur machten die Philosophen im antiken Griechenland. Zu Beginn des 6. Jahrhunderts v. Chr. betrachtete Thales von Milet alle Stoffe als aus einer einheitlichen «Primärmaterie» entstanden (er meinte, aus Wasser). Später wurden mehr und wechselnde solcher Urstoffe diskutiert, aus denen sich schließlich die vier Elemente entwickelten: Erde, Wasser, Feuer und Luft. In der ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts v. Chr. lehrte Leukipp, die Materie bestünde aus Atomen, winzigen harten, unteilbaren Objekten. Diese Lehre wurde von seinem Schüler Demokrit weiterentwickelt und verbreitet. Es entspann sich ein philosophischer Disput zwischen Atomisten und Antiatomisten, der erst um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert endgültig entschieden wurde. Ein wiederkehrendes Argument der Antiatomisten war, dass zwischen den Atomen notwendig nichts sei, dass aber das Nichts (die völlige Leere, das Vakuum) nicht sein könne. Die Atomisten verknüpften die Begriffe Atom und Element. Platon gab den Atomen die Formen der regelmäßigen geometrischen Körper: Tetraeder (Feuer), Würfel (Erde), Oktaeder (Luft), Ikosaeder (Wasser). Aristoteles, Platons Schüler, verneinte die Existenz von Atomen. Aus ihren Schriften können wir schließen, dass, zwei Jahrtausende später, Newtons Sichtweise atomistisch und die von Leibniz antiatomistisch war und dass Kant seine Einstellung von Ersterer zu Letzterer änderte. Die Frage wurde letztlich durch das Experiment entschieden, aber nicht ohne Einführung einer neuen Definition der Elemente und nicht ohne Veränderung des Atombegriffs. Wir betrachten jetzt kurz die Evidenz für die Realität der Atome, die im 19. und frühen 20. Jahrhundert zusammengetragen wurde.
Grundlegende chemische Methoden waren und sind Synthese (Erzeugung einer Verbindung aus einfacheren Stoffen) und Analyse (Zerlegung einer Verbindung). Stoffe, die nicht weiter zerlegt werden konnten, hießen elementare Körper oder einfach Elemente. Um 1800 kannte man als Elemente Sauerstoff, Wasserstoff, Stickstoff, Kohlenstoff, Schwefel, Phosphor und etliche Metalle. Zwischen 1802 und 1808 stellte Dalton in Manchester seine Gesetze der konstanten und multiplen Proportionen auf: Kann ein Stoff C aus zwei anderen, A und B, gebildet werden, so müssen diese in einem ganz bestimmten Massenverhältnis vorliegen. Anderenfalls bleibt etwas von einem der beiden Ausgangsstoffe übrig. Können verschiedene Stoffe aus A und B gebildet werden, so sind die entsprechenden Massenverhältnisse einfache Vielfache voneinander. Dieser Befund führte Dalton zu der Annahme, dass die Elemente aus unteilbaren, unzerstörbaren «letzten Teilchen» bestehen, den Atomen: «Atome des gleichen Elements sind einander ähnlich und haben das gleiche Gewicht.» Die letzten Teilchen von Verbindungen sind identische Kombinationen von elementaren Atomen. Dalton nannte sie unglücklicherweise auch Atome; heute heißen sie Moleküle. Aus Daten über Massenverhältnisse gewann Dalton eine Liste von Atomgewichten, indem er das Gewicht des Wasserstoffatoms zu 1 setzte. Wir sprechen heute lieber von einer Atommasse oder, besser noch, von einer atomaren Massenzahl, weil nur ein Zahlenverhältnis gemeint ist. Die heute gebräuchliche Art, die Elemente und ihre Atome durch ein oder zwei Buchstaben zu kennzeichnen, wurde 1814 von Berzelius eingeführt. Man schreibt beispielsweise H für Wasserstoff, N für Stickstoff, O für Sauerstoff, Fe für Eisen. In dieser Notation lautet die Bezeichnung für Wasser H2O; jedes Sauerstoffatom ist an 2 Wasserstoffatome gebunden.
In den Jahren 1815 und 1816 veröffentlichte Prout, ein in London praktizierender Arzt, zwei Arbeiten, in denen er die Atommassen etlicher Elemente untersuchte. Er betonte, dass sie ganzzahlige Vielfache der Atommasse des Wasserstoffs seien, und schloss: «… wir können beinahe die πρωτη υλη [prote hyle, d.h. Primärmaterie] der Alten als im Wasserstoff verwirklicht ansehen.» Prouts Befund ließ vermuten, dass die Atome schwererer Elemente aus Wasserstoffatomen zusammengesetzt seien. Seine Regel von der Ganzzahligkeit der Atommassen trifft für leichte Elemente recht gut zu. Man fand aber später, dass sie für viele schwere Elemente nicht gilt.
Daltons Gesetze wurden allgemein akzeptiert, nicht aber seine Atomhypothese. Viele nahmen die Gesetze nur als Regeln über die Bildung von Verbindungen aus makroskopischen Substanzmengen, nicht als Hinweis auf die Existenz von Atomen. Doch auch Daltons Anhänger hatten Schwierigkeiten: Verwirrung entstand durch Unkenntnis der Wertigkeit oder Valenz verschiedener Atome (2 H-Atome können sich mit 1 O-Atom zu einem H2O-Molekül verbinden; es gibt aber auch das Molekül H2O2, die Verbindung von 2 H-Atomen und 2 O-Atomen) sowie durch die zunächst unbekannte, dann nur langsam akzeptierte Tatsache, dass die verbreiteten Gase Wasserstoff, Stickstoff und Sauerstoff aus zweiatomigen Molekülen (H2, N2 und O2) bestehen. Die Werte der Atommassen und die Formeln von Verbindungen waren deshalb von Labor zu Labor verschieden. Auf dem ersten internationalen wissenschaftlichen Kongress, der 1860 in Karlsruhe von 140 Chemikern besucht wurde, erklärte Cannizzaro, die Schwierigkeiten mit den Atommassen verschwänden, würde nur einem Gesetz über Gase Beachtung geschenkt, das sein italienischer Landsmann Avogadro schon ein halbes Jahrhundert früher postuliert hatte.
Bereits 1662 publizierte Boyle sein Gesetz über Gase. Es besagt, dass für eine Gasmenge bei fester Temperatur das Produkt aus Gasvolumen V und Gasdruck p konstant bleibt; wird das Volumen des Gases verringert (etwa indem man einen Kolben in den das Gas enthaltenden Zylinder drückt), so steigt der Druck entsprechend. Gay-Lussac untersuchte 1802 die Ausdehnung von Gasen mit der Temperatur, wobei er den Druck konstant hielt. Er fand die gleiche relative Ausdehnung für alle von ihm untersuchten Gase. Nennt man t die Temperatur in Grad Celsius und definiert man als absolute Temperatur die (in Kelvin [K] gemessene) Größe T = t + 273, 15°C, dann ist nach Gay-Lussac bei festgehaltenem Druck das Volumen proportional zur absoluten Temperatur, V T. Zusammen mit dem Boyleschen Gesetz erhält man das heute so genannte Gay-Lussacsche Gesetz pV
T.
Gay-Lussac und von Humboldt machten 1805 in Paris ein Experiment zur Synthese von Wasser. Sie füllten Wasserstoff- und Sauerstoffgas in ein Gefäß und zündeten die Mischung durch einen elektrischen Funken. Bei einem Ausgangsvolumen 2V von Wasserstoff und V von Sauerstoff blieb nur Wasser übrig. Bei der gleichen Temperatur wie die der Ausgangsgase erfüllte es als Dampf das Volumen 2V.
Avogadro verband dieses einfache Ergebnis mit Daltons Atomhypothese und veröffentlichte 1811 eine kühne Vermutung. Wie er selbst schrieb, war sie «die Annahme, dass [bei gleichem Druck und gleicher Temperatur] die Gesamtzahl der Moleküle in allen Gasen bei gleichem Volumen dieselbe ist». Nennen wir N die Zahl der Moleküle in V, so hieß das für das Experiment von Gay-Lussac und von Humboldt, dass 2N Wasserstoffmoleküle zusammen mit N Sauerstoffmolekülen genau 2N Wassermoleküle ergeben. Avogadro schloss, dass die Moleküle von Wasserstoff und Sauerstoff jeweils 2 Atome haben; die Reaktion hat die Form 2 H2 + O2 → 2 H2O.
Nach Avogadro ist das Volumen proportional zur Zahl der darin enthaltenen Moleküle. Damit ist auch pV NT eine Form des Gesetzes von Gay-Lussac. Wir schreiben sie heute als Gleichung in der Form pV = NKBT. Die hier benutzte Proportionalitätskonstante kB wurde erst viel später von Planck eingeführt; er nannte sie die Boltzmann-Konstante. Die Gleichung pV = NkBT ist die Zustandsgleichung des idealen Gases. Sie beschreibt ein reales Gas gut im Bereich niedrigen Druckes und hoher Temperatur, in dem die Größe der Moleküle viel kleiner ist als der mittlere Abstand zwischen ihnen.
Eine andere gebräuchliche Form der idealen Gasgleichung lautet pV = nRT. Hier tritt die Zahl der Moleküle nicht auf. R ist die aus dem Experiment entnommene Gaskonstante, und n ist die Anzahl der Mole im Volumen. Der Begriff der Stoffmenge 1 Mol wurde von Ostwald eingeführt, der erst Anfang des 20. Jahrhunderts als einer der Letzten die Realität der Atome anerkannte. Die auf Dalton zurückgehenden Atom- und Molekülmassen sind, wie erwähnt, reine Zahlen. Multipliziert man eine solche molekulare Massenzahl mit der Masseneinheit 1 Gramm, so erhält man die Stoffmenge 1 Mol. So sind 2 Gramm Wasserstoffgas H2 ein Mol. Für Anhänger Avogadros enthält 1 Mol eine feste Anzahl an Molekülen, die heute Avogadrosche Zahl oder Avogadro-Konstante NA heißt. Für Antiatomisten war das Mol nur eine bequeme Art, von einer bestimmten Stoffmenge zu sprechen. Atomisten konnten die Zahl der Moleküle als N = nNA schreiben und die Gaskonstante als R = KBNA.
Die schon 1738 von Daniel Bernoulli begründete kinetische Gastheorie wurde im 19. Jahrhundert von Clausius und Maxwell sowie insbesondere von Boltzmann vorangetrieben und zur Theorie der statistischen Physik weiterentwickelt. Wir skizzieren Begriffe dieser Theorie am Beispiel der Impulsverteilung im idealen Gas. Zu einer festen Zeit hat jedes Molekül bestimmte Werte der 3 Orts- und 3 Impulskoordinaten. Im Phasenraum, den man sich aus diesen 6 Koordinaten aufgespannt denkt, ist es durch einen einzigen Punkt gekennzeichnet, der Zustand des Gases aus N Molekülen also durch N Punkte. Eine solche Beschreibung des Gases heißt Mikrozustand. Eine Grundannahme der Theorie ist, dass, bei festem N und fester Gesamtenergie, alle Mikrozustände gleich wahrscheinlich sind. Beobachtbar ist aber nur der Makrozustand des Gases. Er wird definiert, indem man den Phasenraum in Zellen aufteilt und sich nur für die Anzahl der Moleküle in jeder Zelle interessiert. Die zweite Grundannahme ist nun, dass sich im Gleichgewicht gerade der Makrozustand einstellt, der am wahrscheinlichsten ist, d.h. derjenige, der sich durch die größte Anzahl von Mikrozuständen realisieren lässt. Auf diese Weise lassen sich tatsächlich die Eigenschaften des idealen Gases berechnen, und zwar ohne Annahme über die Wechselwirkung der Moleküle. Zu diesen Eigenschaften gehört, dass Moleküle häufiger kleine Energie haben als große. Ist E eine Energieform, z.B. die potentielle Energie im Schwerefeld der Erde, so ist die Häufigkeit der Moleküle in einem kleinen Energiebereich um den Wert E proportional zum Boltzmann-Faktor e–E/kBT. Eine Konsequenz ist beispielsweise, dass Luft in der Höhe dünner ist als am Erdboden.
Loschmidt veröffentlichte 1866 in Wien eine Arbeit mit dem Titel «Zur Größe der Luftmolecüle». Sie fußte auf der gewachsenen Kenntnis über reale Gase. Er fand «in runder Zahl 1 Millionstel des Millimeters für den Durchmesser eines Luftmolecüles». Das Ergebnis war als ein Mittelwert über die Moleküle von Stickstoff und Sauerstoff zu verstehen, aus denen die Luft besteht. Mit weiteren Überlegungen ließ sich dann die Anzahl der Moleküle pro Volumeneinheit (bei Standardwerten von Druck und Temperatur) bestimmen; Boltzmann nannte sie die Loschmidtsche Zahl. Daraus kann direkt die Avogadro-Konstante berechnet werden, die erst später gebräuchlich wurde. Ihr moderner Wert ist NA = 6,022 × 1023 Moleküle pro Mol.
Kennzeichen der kinetischen Gastheorie ist der enge Zusammenhang zwischen absoluter Temperatur und der mittleren kinetischen Energie eines Gasmoleküls. Betrachten wir nur die Translation (Geradeausbewegung), nicht auch die mögliche Rotation (Drehung) oder Vibration (Schwingung) eines Moleküls, so ist seine mittlere kinetische Energie Van ’t Hoff vermutete 1886, dass diese einfache Beziehung auch in Flüssigkeiten und in Lösungen gilt. Dann haben in einer Zuckerlösung Wasser- und Zuckermoleküle die gleiche mittlere Energie. Die Aussage bleibt sogar dann gültig, wenn man die Zuckermoleküle durch viel größere, unter dem Mikroskop sichtbare Objekte ersetzt.
Schon 1827 hatte der Botaniker Brown berichtet, dass Pollen, aber auch kleine Staub- und Rußteilchen in Wasser sich andauernd unregelmäßig bewegen. Die kinetische Energie eines Körpers der Masse m und der Geschwindigkeit v ist Wenn van ’t Hoff recht hatte, dann war es einfach, die mittlere Geschwindigkeit dieser Teilchen aus ihrer Masse und der Wassertemperatur zu bestimmen – so schien es wenigstens. Doch die beobachteten Geschwindigkeiten waren viel zu klein. Bald wurde klar, dass die Geschwindigkeit eines Brownschen Teilchens zwischen zwei Stößen mit Wassermolekülen nicht beobachtbar ist. Zusammenstöße der winzigen Wassermoleküle mit den im Vergleich riesigen Staubkörnchen sind einfach zu häufig. Die Theorie des Problems wurde 1905 von Einstein angegeben. Für ein kugelförmiges Brownsches Teilchen berechnete er den mittleren geometrischen Abstand zwischen dem Ausgangspunkt und dem Ort, den es nach Ablauf einer bestimmten Zeit erreicht, und zwar unabhängig von der Form seines Weges. Das Experiment wurde von Perrin in Paris ausgeführt. Entscheidend für das Gelingen war seine Methode, winzige Kügelchen mit genau bekannten Werten von Masse und Durchmesser herzustellen. Die Überschrift dieses Kapitels nimmt den Titel seiner Arbeit von 1909 auf, «Brownsche Bewegung und die Realität der Moleküle». Diese wurde zwar nicht durch die Beobachtung der Moleküle selbst demonstriert, aber doch durch die Beobachtung größerer Objekte, die von ihnen herumgestoßen wurden, und durch das quantitative Verständnis dieses Vorgangs.
Es war schon länger bekannt, dass bestimmte Substanzen, in eine Flamme gebracht, diese auf besondere Art färben. Aber erst 1860 schrieben Kirchhoff und Bunsen in Heidelberg eine umfassende Arbeit darüber. Sie wurde durch die Erfindung des Bunsenbrenners erleichtert, dessen Flamme selbst nicht leuchtet. Die optischen Spektren enthielten Linien, d.h. Licht bestimmter diskreter Wellenlängen, die ganz charakteristisch für die Elemente in der in die Flamme gebrachten Probe waren. Kirchhoff und Bunsen begründeten so die Spektralanalyse, in der die Anwesenheit eines Elements nicht mit chemischen Methoden nachgewiesen wird, sondern durch das Lichtspektrum, das es aussendet. Bald entdeckten sie selbst zwei neue Elemente, nachdem sie bis dahin unbekannte Spektrallinien beobachtet hatten, und nannten sie Cäsium und Rubidium. Die Namen wählten sie nach den lateinischen Wörtern «caesius» und «rabidus» für himmelblau bzw. dunkelrot, den Farben der stärksten Spektrallinien dieser beiden Elemente. Für Atomisten war klar, dass ein Atom Licht aussenden kann, das kennzeichnend für sein Element ist.
Unter den Teilnehmern des Karlsruher Kongresses von 1860 waren Mendelejew und Lothar Meyer, die nacheinander unter Bunsen in Heidelberg gearbeitet hatten und die später unabhängig voneinander das Periodensystem der Elemente aufstellten. Beide wollten die empirische Information über die Elemente für ihre Lehrbücher ordnen. Meyer erstellte 1864 in Breslau eine nach aufsteigender Atommasse geordnete Liste von 28 Elementen und fand darin 6 Familien von Elementen mit sich ähnelnden Eigenschaften. Das System, das Mendelejew 1869 in St. Petersburg aufstellte, enthielt alle seinerzeit bekannten Elemente und ausdrücklich Lücken dort, wo die Entdeckung bis dahin unbekannter zu erwarten war. In Meyers erweiterter Arbeit aus dem Jahr 1870 findet sich eine Graphik, in der die Größe der Atome gegen ihre Masse aufgetragen wurde. Sie zeigt eine auffällige Periodizität mit scharfen Maxima für die Alkaliatome Lithium, Natrium, Kalium, Rubidium und Cäsium. Mit einem der Alkali-Elemente (einschließlich des Wasserstoffs) beginnt jeweils eine neue Periode im System der Elemente, deren Länge mit wachsender Atommasse zunimmt.
Taucht man zwei Metallplatten, die Elektroden, in eine Lösung, etwa von Silbernitrat (AgNO3KathodeAnodeFaraday-Konstante F