Eine philosophische Einführung
Verlag C.H.Beck
Diese kulturen- und epochenübergreifende Einführung in Begriff und Geschichte der Gerechtigkeit reicht von der Frühzeit des Menschen bis in das heutige Zeitalter der Globalisierung. Höffes historisch und systematisch kompetente Darlegung behandelt einen zentralen Grundsatz des menschlichen Zusammenlebens.
Otfried Höffe lehrte u.a. an den Universitäten Fribourg, Zürich, Sankt Gallen und Tübingen, wo er die Forschungsstelle Politische Philosophie leitet. Er ist Herausgeber der Reihen „Denker“ und „Klassiker auslegen“. Bei C.H.Beck erschienen zuletzt: Die Macht der Moral im 21. Jahhundert. Annäherungen an eine zeitgemäße Ethik (2014) und Kritik der Freiheit. Das Grundproblem der Moderne (2015). Höffe ist Träger des Bayerischen Literaturpreises (Karl-Vossler-Preis) für wissenschaftliche Werke von literarischem Rang.
I. Ein Erbe der Menschheit
1. Interkulturelle Gemeinsamkeiten
2. Göttlicher Ursprung (Frühzeit)
Ägypten und Mesopotamien
Alt-Israel
Griechenland
3. Ordnung stiften (Platon)
4. Maßgebliche Unterscheidungen (Aristoteles)
II. Zum Begriff der Gerechtigkeit
1. Die Herausforderung
Knappheit oder Konflikt?
Handlungsfähigkeit
2. Geschuldete Sozialmoral
3. Gerechtigkeit als Tugend
4. Intermezzo: Gerechtigkeit Gottes
III. Skepsisgegen die Gerechtigkeit
1. Rechtspositivismus
2. Systemtheoretische Skepsis
3. Utilitarismus als Alternative?
IV. Politische Gerechtigkeit oder Naturrecht?
1. Der Gedanke eines Naturrechts
2. Einwände
3. Ein kritisches Naturrecht
V. Verfahrensgerechtigkeit
VI. Drei Grundsätze
1. „Lebe ehrenhaft“
2. „Tue niemandem Unrecht“
3. „Gewährleiste jedem das Seine“
VII. Justiz
1. Gerechtigkeitsprinzipien der Justiz
2. Zur Ergänzung: Billigkeit
3. Gefahr: Richterstaat
VIII. Zur Begründung politischer Gerechtigkeit
1. Kooperationsmodell (Aristoteles)
2. Konfliktmodell (Vertragstheorien)
3. Gerechtigkeit als Fairneß (Rawls)
4. Gerechtigkeit als Tausch
IX. Mittlere Prinzipien: Menschenrechte
1. Menschenrechte und Grundrechte
2. Ein Blick in die Ideengeschichte
3. Freiheitsrechte, Sozial- und Kulturrechte, Mitwirkungsrechte
X. Strafgerechtigkeit
1. Strafe definieren
2. Strafe normieren
3. Strafe legitimieren
4. Die Strafe aufheben?
XI. Soziale Gerechtigkeit
1. Tauschgerechtigkeit
2. Ausgleichende Gerechtigkeit
3. Gerechtigkeit zwischen den Generationen
4. Gerechtigkeit und Solidarität
5. Gerechtigkeit gegen Tiere?
XII. Gerechtigkeit im Pluralismus: Toleranz
XIII. Globale Gerechtigkeit
1. Eine föderale Weltrepublik
2. Recht auf Differenz
3. Globale Rechtsaufgaben
Weltjustiz
Weltbürgerschutz
Globaler Sozial- und Umweltstaat
4. Anamnetische Gerechtigkeit
5. Ein Weltrechts- und Weltgerechtigkeitssinn
6. Eine realistische Vision
XIV. Sonderstrategien
1. Bürgerlicher Ungehorsam
2. Humanitäre Intervention
XV. Mehr als Gerechtigkeit: Gemeinsinn und Freundschaft
Literatur
Personenregister
Sachregister
Für mannigfache Hilfe danke ich
meinem Mitarbeiter Tim Wagner.
Ursprünglich bedeutet Gerechtigkeit lediglich die Übereinstimmung mit dem geltenden Recht. Bis heute heißt die dem Recht dienende Behörde, das Gerichtswesen, Justiz. Ohne die enge Beziehung zum Recht aufzugeben, hat die Gerechtigkeit aber seit langem eine umfassendere und stärker moralische Bedeutung. Sie meint in erster Annäherung sowohl objektiv die inhaltliche Richtigkeit des Rechts als auch subjektiv die Rechtschaffenheit einer Person. Insbesondere als objektive Gerechtigkeit ist sie ein Grundbegriff menschlichen Verlangens: ein Gegenstand menschlicher Sehnsucht und menschlicher Forderung zugleich. Keine Kultur und keine Epoche will auf Gerechtigkeit verzichten. Daß in der Welt Gerechtigkeit herrsche, gehört zu den Leitzielen der Menschheit seit ihrer Frühzeit.
Relativ früh taucht allerdings auch ein (rechts-)ethischer Relativismus auf. Weil man in anderen Ländern andere Gerechtigkeitsvorstellungen sieht, bezweifelt man die Möglichkeit einer kultur- und epochenunabhängigen Gerechtigkeit. In diesem Sinn hält schon der antike Skeptiker Karneades (214–129 v. Chr.) zwei in ihrer Stoßrichtung bewußt widersprüchliche Reden, sowohl eine für als auch eine gegen die Gerechtigkeit. Und Blaise Pascal (1623–1662) stellt spöttisch fest, die Gerechtigkeit werde durch einen Fluß begrenzt, da diesseits und jenseits des Rheines unterschiedliche Gerechtigkeiten herrschten (Gedanken, Nr. 294). Häufig erliegt man aber einer perspektivischen Täuschung. Auch Pascal unterscheidet nicht zwischen weniger elementaren Gerechtigkeitsvorstellungen – etwa daß die Erstgeborenen alles erben (Gedanken, Nr. 291) – und einem unstrittigen Kern. Auf diese Weise entgeht den Zweiflern, was so gut wie alle Kulturen miteinander teilen: eine schon im empirischen Sinn nicht bloß regional und epochal gültige Gerechtigkeit. Ihretwegen ist Goethe zu widersprechen, wenn er behauptet: „Gerechtigkeit: Eigenschaft und Phantom der Deutschen“ (Maximen und Reflexionen, Nr. 167: Werke, Bd. XII, S. 386).
Abb. 1: Berner Gerechtigkeitsbrunnen, Ausschnitt
Wegen der kulturen- und epochenübergreifenden, interkulturell anerkannten Gerechtigkeit läßt sich die gesamte Menschheit als eine Gerechtigkeitsgemeinschaft ansprechen. Das den Menschen Gemeinsame setzt beim Gleichheitsgebot an: „Gleiche Fälle sind gleich zu behandeln“. Sowohl in seiner negativen Gestalt, als Willkürverbot, als auch in seiner positiven Gestalt, als Gebot der Unparteilichkeit, fordert es, Streitfälle ohne Ansehen der Person zu schlichten. In diesem Sinn stellt die bildende Kunst die elementare Gerechtigkeit, die Göttin Justitia, mit einer Augenbinde dar. Ob Frau oder Mann, reich oder arm, mächtig oder schwach – nach der Unparteilichkeit erster Stufe, der der Regelanwendung, wird jeder nach der entsprechenden Regel gleich behandelt: Alle sind vor dem Gesetze gleich. Für die weitere Aufgabe, jedem das ihm Gebührende genau zuzumessen, hält die Justitia häufig eine Waage in der Hand. Und das Schwert symbolisiert ihre doppelte Aufgabe, sowohl zu schützen als auch zu strafen.
Diese Unparteilichkeit erster Stufe, die der Regelanwendung, genügt allerdings nicht. Sie ist vielmehr um eine Unparteilichkeit zweiter Stufe zu ergänzen, um die der Regelfestsetzung. Dabei ist nicht für alle Lebensbereiche eine einzige Regel zu erwarten. Bei den Grund- und Menschenrechten zählt die Gleichheit: „Jedem nach seinem Wert als Mensch überhaupt“. Für die elementare Existenzsicherung drängt sich der Bedürfnisaspekt auf: „Jedem nach seinen Bedürfnissen“. In der Arbeits- und Berufswelt kommt es auf das Leistungsprinzip an und in Strafverfahren auf die Schwere der Rechtsverletzung, verbunden mit dem Maß an subjektiver Schuld.
Interkulturell anerkannt sind auch Grundsätze der Verfahrensgerechtigkeit, ferner der Gedanke der Wechselseitigkeit oder Reziprozität, verbunden mit der Goldenen Regel („Was du nicht willst, daß man dir tu’, das füg’ auch keinem andern zu“) und mit jener Gleichwertigkeit im Nehmen und Geben („Tauschgerechtigkeit“), die keineswegs nur für Wirtschaftsbeziehungen gilt. Ebenfalls zum gemeinsamen Gerechtigkeitserbe gehört der Gedanke einer ausgleichenden („korrektiven“) Gerechtigkeit. Im Zivilrecht verlangt er den Ausgleich für erlittene Schäden und im Strafrecht den für ein verschuldetes Unrecht. Ferner werden so gut wie allerorten dieselben Grundrechtsgüter geschützt. Überall werden Mord, Diebstahl und Raub sowie Beleidigungen, ferner Maß-, Gewichts- und Urkundenfälschungen, nicht zuletzt elementare Umweltverstöße, früher beispielsweise Brunnenvergiftungen, geahndet. Einigkeit herrscht schließlich über das Gebot, nur Schuldige zu bestrafen, und das Anschlußgebot, leichtere Verstöße gegen das Strafrecht leichter, schwerere Verstöße schwerer zu bestrafen. Die Gemeinsamkeiten sind also eindrucksvoll groß, so daß die globale Zivilisation, die sich heute entwickelt, ihre interkulturellen Rechtsdiskurse am Begriff der Gerechtigkeit ausrichten kann.
Abb. 2: Kodex Hammurapi, 17. Jh. v. Chr.
Andere Leitziele hat die Menschheit im Zuge der Aufklärung oder wegen ernüchternder Erfahrungen aufgegeben. Der Gerechtigkeit beläßt sie dagegen das überragende Gewicht bis heute. Selbst einer der schärfsten Kritiker der abendländischen Moral, Friedrich Nietzsche (1844–1900), spendet ihr ein Lob, das kaum größer ausfallen könnte: „wenn sich selbst unter dem Ansturm persönlicher Verletzung, Verhöhnung, Verdächtigung die hohe, klare, ebenso tief als mild blickende Objektivität des gerechten, des richtenden Auges nicht trübt, nun, so ist das ein Stück Vollendung und höchster Meisterschaft auf Erden“ (Zur Genealogie der Moral, 2. Abhandlung, Nr. 11).
Ein interkultureller Gerechtigkeitsdiskurs gibt sich nicht mit dem gemeinsamen Erbe zufrieden. Er wirft auch einen Blick in andere Kulturen, insbesondere auch in frühe Epochen, für deren Gerechtigkeitsverständnis zweierlei charakteristisch ist: ein weit größerer Bedeutungsumfang und die Idee des göttlichen Ursprungs. In den altorientalischen Hochkulturen beispielsweise bilden Gesichtspunkte sozialer Verbindlichkeit, die später gegeneinander abgesetzt werden, noch eine relativ ungeschiedene Einheit. Sie verbinden nicht bloß die personale Gerechtigkeit, die Rechtschaffenheit, mit der politischen Gerechtigkeit.
Nicht erst in Alt-Israel, sondern schon in den älteren Kulturen Ägyptens und – abgeschwächt – Mesopotamiens wird die Gerechtigkeit ebenso wie im archaischen Griechenland religiös begründet. Die Vergöttlichung, die „Divinisierung“ bzw. Theologisierung, der Gerechtigkeit ist eine interkulturelle Gemeinsamkeit archaischer Kulturen. Ebenfalls Gemeingut sind die Einheit von Recht und Gerechtigkeit und deren Verbindung mit einer Loyalität zur eigenen Gemeinschaft, mit Solidarität, sowie die Einbindung von Recht und Gerechtigkeit in eine umfassende gesellschaftliche, sogar den gesamten Kosmos einschließende Ordnung.
Ägypten und Mesopotamien. Die ägyptische Gesellschaft ist eine Hierarchie im ursprünglichen Sinn: eine heilige Herrschaft. Denn an der Spitze steht der „Pharao“ (Großes Haus) als Inkarnation des Falkengottes Horus („Großer Gott“); und im Rahmen der Sonnenreligion gibt es Ansätze zu einem Monotheismus.
Der Grundbegriff der Sozialmoral, Ma’at, ist nicht nur für die drei Dimensionen der Menschenwelt: Individuum, Gesellschaft und Staat, sondern auch für die vierte Dimension, die Götterwelt, zuständig. Der Begriff läßt sich nicht mit einem einzigen Wort wiedergeben, er ist vielmehr mit „Wahrheit, Gerechtigkeit, Recht, Ordnung, Weisheit, Echtheit, Aufrichtigkeit“ zu umschreiben. Ma’at bezieht sich auf Moral und Manieren im menschlichen Zusammenleben, auf die göttliche Gerechtigkeit des Totengerichts, auf die tägliche Überwindung des Chaos durch den kosmosschaffenden Sonnengott und die kosmosschaffende Gesetzgebung seines irdischen Abbilds, des Königs“ (Assmann, Ma’at, 22006, S. 9f.).
Die ägyptische „Gerechtigkeit“ verbindet die Gerechtigkeit im strengen Sinn: das, was die Menschen einander schulden, mit dem, was sie der göttlichen Ordnung schulden und mit einer wechselseitigen Verantwortung füreinander, mit Solidarität. Zusätzlich ist das Gelingen des eigenen Lebens im Blick. Wer in Übereinstimmung mit Ma’at lebt, ist nicht bloß in einem umfassenden Sinn rechtschaffen bzw. gerecht. Nach dem archaischen Gedanken der Vergeltung: daß das Gute sich lohnt und das Schlechte oder Böse sich rächt, hat der Rechtschaffene in drei Dimensionen Erfolg: im gegenwärtigen Diesseits, sichtbar in einer Beamtenkarriere und der Achtung der Mitmenschen, im Gedächtnis der Nachwelt, sichtbar in einem Monumentalgrab, und schließlich im Jenseits, in das man über das Totengericht, ein Göttertribunal, gelangt.
Nicht zuletzt gehört zu Ma’at ein Moment des angeblich erst jüdisch-christlichen Erbarmens: die Möglichkeit, auf Vergeltung zu verzichten, und die einer umfassenden Befreiung von Not und Bedrängnis: Ma’at verbindet Ordnung, Herrschaft und Rechtschaffenheit mit einer unüberbietbaren Glückseligkeit, mit Heil.
Aus dieser ebenso umfassenden wie noch wenig ausdifferenzierten Bedeutung von Ma’at darf man nicht auf eine im selben Maß undifferenzierte Vorstellungs- und Lebenswelt schließen. Zumindest gibt es zwei verschiedene Gerichtsinstanzen. Das gewöhnliche Gericht ist für einzelne Rechtsverletzungen während des Lebens zuständig, und der „Justizminister“ trägt den Titel eines Priesters der Ma’at: Ma’at ist auch die Göttin der Rechtsprechung, das Totengericht dagegen für das gesamte abgelaufene Leben. Dabei wird zwar im Totengericht, aber kaum im gewöhnlichen Gericht alles bestraft, was Ma’at verletzt. Denn in den zwei langen Listen von Unschuldsbeteuerungen, die nach dem ägyptischen Totenbuch (Kapitel 125) den Toten beigelegt werden (s. Assmann, Ma’at, S. 138f.), erscheinen nicht nur gerichtsfeste Delikte wie Töten, Stehlen und Betrügen, sondern auch kaum justiziable Vergehen, daß man gestritten und überflüssige Worte gemacht hat oder daß man jemanden belauscht und sich aufgeblasen hat. Da vor dem Totengericht nicht nur justitiable Vergehen zählen, fallen positives Recht und außerrechtliche Moral nicht schlicht ineins. Deren Trennung beginnt also menschheitsgeschichtlich recht früh.
Die aus Mesopotamien stammenden teilweise schon lange vor dem Kodex Hammurapi verfaßten „Rechtsbücher“ sind für das diesseitige Leben ohne den Ausblick auf ein Totengericht zuständig. Aus neuzeitlicher Sicht erscheinen sie daher als in einem hohen Maß säkularisiert. Die Rechts- und Gerechtigkeitsordnung behält freilich einen göttlichen Ursprung, und der König ist den Göttern verantwortlich. Dabei taucht eine Befugnis auf, die dem klassischen Korrektiv der Gerechtigkeit, der Billigkeit, vorgreift: Die Könige dürfen nicht bloß geltendes Recht erlassen, sondern es auch dort fallweise aufheben, wo seine Anwendung die Armen und wehrlosen, insbesondere die sprichwörtlichen „Witwen und Waisen“, vernichten würde.
Alt-Israel: Auch im altisraelischen Verständnis hat „Gerechtigkeit“ die zwei noch näher zu bestimmenden Grundbedeutungen. Im objektiven oder politischen Sinn bezeichnet sie normative Leit- und Ordnungsvorstellungen einer guten Gesellschaft und im subjektiven Sinn eine Handlung oder eine Person, die diesen Leitvorstellungen und in Israel zusätzlich einer Fülle von konkreten Verbindlichkeiten folgt.
Ähnlich wie die ägyptische Ma’at-Lehre und wahrscheinlich von ihr beeinflußt, bezeichnen die hebräischen Ausdrücke, die mit „Gerechtigkeit“ (dikaiosynê, iustitia) übersetzt werden: und
Sädäq bzw. Sädaqah (SDQH), eine ebenso umfassende wie unabänderliche Lebensordnung.
In dem von Gott, JHWH, an Israel gewährten Bund gegründet besteht Sädäq in der sowohl rechtlichen als auch sittlichen und vor allem religiösen Beziehung zwischen Gott und seinem auserwählten Volk. Als Inbegriff der in der Thora, den fünf Büchern Mose, enthaltenen Gebote gilt die objektive „Gerechtigkeit“ als der geoffenbarte Wille Gottes. Und wer diese Ordnung willentlich annimmt, ihre Forderungen tätig erfüllt und auf diese Weise die rechtlich-sittlich-religiöse Gemeinschaft zu bewahren hilft, ist im personalen Sinn gerecht.
Sädäq bedeutet eher „Gemeinschaftstreue“, ein Dabeibleiben in der betreffenden Institution unter möglicherweise schwierigen Umständen. Entsprechend erweist sich hier die Gerechtigkeit nicht in einer gesetzestreuen richterlichen Tätigkeit Gottes, die dann allenfalls durch Gnade gemildert wird, sondern wiederum in Treue, also darin, auch in der Not zur Stelle zu sein. Der Begriff steht damit dem der Solidarität, verstanden als Loyalität zur eigenen Gemeinschaft, näher als dem, was Menschen einander schulden.
Im biblischen Denken kommt zur politischen und zur personalen „Gerechtigkeit“ ein dritter Begriff: die Gerechtigkeit Gottes, hinzu. Sie meint nicht etwas, das Gott den Menschen schuldet, sondern Gottes Bundestreue: seine Zuverlässigkeit in der teils strafenden, teils rettenden Zuwendung zum Volk Israel, so das Alte Testament, oder zu allen Menschen guten Willens, so das Neue Testament.
Weil die mit „Gerechtigkeit“ übersetzten biblischen Ausdrücke all das umfassen, was eine heile Existenz des Gläubigen ausmacht: Frieden, Befreiung, Erlösung, Gnade und Heil, gehen sie über den engen und strengen Begriff von Gerechtigkeit weit hinaus. Die mit eingeschlossenen Elemente sind seit den Griechen durchaus bekannt: der Friede (eirênê, pax), das Glück im Sinne eines rundum gelungenen Lebens (eudaimonia, felicitas bzw. beatitudo) sowie dessen Steigerung zum Heil (makariotês). Ähnlich wie der ägyptische bringt deshalb auch der hebräische Begriff nicht eine grundverschiedene Auffassung zum Ausdruck. In säkularer Hinsicht muß er vielmehr als recht archaisch gelten, da er die Gerechtigkeit im strengen Verständnis noch relativ undifferenziert mit anderen Begriffen verbindet. Dabei spielt eine dem strengen Begriff fremde Intention hinein: daß die Menschen allein den Zustand der „Gerechtigkeit“ nicht herbeizuführen vermögen, sondern ihn als ein Geschenk Gottes, als seine Gnade, empfangen.
Wie der ägyptische Sonnengott Re Recht und Gerechtigkeit spendet, so ist auch der biblische Gott die Quelle von Recht und Gerechtigkeit, für die er aber im Unterschied zu den älteren orientalischen Vorstellungen unmittelbar zuständig ist. Wer unter Nachstellungen und Anfeindungen leidet, wendet sich ohne die Vermittlung eines Königs direkt an Gott (Psalm 7).
Anders als im ägyptischen Totengericht kann JHWH die Menschen trotz übergroßer Schuld verschonen (z.B. Hosea 11, 8f.): Der Strafverzicht kommt hier aber nicht einem einzelnen, sondern einem Kollektiv zugute, dem auserwählten Volk Israel. Generell ist Gott nicht bloß der richtende, strafende, sondern auch der rettende, Güte und Erbarmen spendende Gott. Wie der König in Mesopotamien, so schlägt er sich auf die Seite der Armen und Wehrlosen, indem er ihnen zu Recht und Gerechtigkeit verhilft und aus der Gewalt der Frevler, das heißt der das Recht Verletzenden befreit (Psalm 82, 3–4). Darunter ist aber weniger soziale Gerechtigkeit oder Sozialstaatlichkeit als vielmehr eine Rechtshilfe im Sinne des Zum-Recht-Verhelfens zu verstehen.
Griechenland. In den ältesten vorphilosophischen Zeugnissen, in den beiden Epen Homers, der Ilias und der Odyssee, und in Hesiods Theogonie („Götterentstehung“), hat die Gerechtigkeit noch eine göttliche Herkunft. Ebenso bilden Recht und Gerechtigkeit eine ununterschiedene Einheit, denn eine einzige Göttin, Themis, ist für sie zuständig. Als Tochter der Allmutter Erde, Gaia, und des Himmelsgottes, Uranos, ist sie noch älter als der spätere Götterkönig Zeus.
Darin zeigt sich, daß für Menschen und Götter eine gemeinsame, überdies ewige und unwandelbare Ordnung herrscht. Themis bringt die Ordnung allerdings nicht selbst, sondern mit Hilfe von drei Töchtern auf die Welt, die sie von Zeus empfängt. Die Ordnung wird also vom neuen Götterkönig bestätigt und mit der ihm eigenen Macht versehen. Zugleich tritt in der Mehrzahl der Töchter eine erste Ausdifferenzierung zutage, wodurch das griechische Denken als „moderner“, nämlich weniger archaisch erscheint: Die erste Tochter, Dike, ist für Sitte, Recht und (gerechte) Rechtsprechung zuständig, die zweite, Eirene, für einen Frieden, der das wirtschaftliche und kulturelle Wohlergehen einschließt, die dritte, Eunomia, für eine gute Rechtsordnung, auch deren Wertschätzung, den Rechtssinn. Noch ein weiterer Unterschied darf als „moderner“ gelten: Die Vergeltung, von Dike vorgenommen, bezieht sich klarerweise auf die Leistung der Rechtsprechung, die wiederum nur negativer Natur ist. Rechtsverletzungen werden bestraft, nicht aber Rechtschaffenheit belohnt.
Andererseits ist die griechische Adelskultur insofern archaischer, als im Gegensatz zu Ägypten und Israel nicht nur Gerechtigkeit, sondern ihr sogar vorgeordnete agonale Werte herrschen. Schlüsseltexte von Homer, Hesiod und Aischylos zeigen, daß die Gerechtigkeit sich als zentraler Wert der Sozialmoral erst nach und nach durchsetzt: Wenn im Schlußgesang der Odyssee der zurückgekehrte Held die 108 Freier tötet, die seit Jahren sein Vermögen aufzehren, so verstößt er in drei Hinsichten gegen die Gerechtigkeit: Odysseus übt Privatjustiz, statt den Fall einem Gericht zu übergeben. Die Privatjustiz fällt extrem unverhältnismäßig aus: Das Eigentumsdelikt wird mit einen Tötungsdelikt, sogar einer Massentötung beantwortet. Schließlich wird auf der sich ausschließenden Volksversammlung weder an die Götter als Hüter der Gerechtigkeit appelliert noch ist von einer Güterabwägung (Eigentum gegen Leben), einem entschuldbaren Affekt oder einem Notrecht die Rede. Statt dessen verlangt Zeus von den Bewohnern Ithakas, den Massenmord zu „vergessen“ und Odysseus als König wieder anzuerkennen, ohne daß ihm irgendeine Strafe oder Sühne aufgebürdet würde.
Gegen das homerische Adelsethos begehrt der Dichter Hesiod auf. Wahrscheinlich unter Rückgriff auf orientalische Weisheitslehren erhebt er die Gerechtigkeit zum zentralen Wert der Sozialmoral, läßt die Götter dafür sorgen, daß es dem Ungerechten schlecht ergeht, (Erga, Verse 214–218) und überträgt dem Adel die Aufgabe, sich als Richter für die Gerechtigkeit einzusetzen (Verse 220 ff.).
Mehr als zwei Jahrhunderte später stellt der Tragödiendichter Aischylos die Entstehung einer elementaren Gerechtigkeitsinstitution, des Strafgerichts, dar. In der Orestie führt er zunächst den Flächenbrand der Gewalt vor, der sich unter dem archaischen Prinzip der Blutrache ausbreitet: Statt die Blutrache wie etwa in der isländischen Wölsungen-Saga oder im Nibelungenlied erst in einer finalen Katastrophe enden zu lassen, schließt er aber konstruktiv, mit der Einrichtung eines Strafgerichtshofes. Dieser sorgt nicht bloß für den inneren Frieden. Er läßt auch das Gemeinwesen wirtschaftlich und kulturell aufblühen. Darüber hinaus folgt er dem bis heute wichtigsten Prinzip strafprozessualer Gerechtigkeit: der Unschuldsvermutung bzw. der ihr entsprechenden Beweislastregel „im Zweifel für den Angeklagten“. Während es gewöhnlich um einen Einzelfall, um Fall-Gerechtigkeit geht, handelt es sich bei Aischylos allerdings um die Unschuld bei der Deliktart, um eine Delikt-Gerechtigkeit. Ob Orest schuldig ist, da er den Mord am Vater mit der Tötung der Mutter rächt, läßt sich nämlich nicht eindeutig entscheiden. Nach dem älteren, matriarchalischen Gesetz darf es keinen Muttermord geben, nach dem neueren Gesetz der Gleichheit verdient auch die Mutter für ihre Anstiftung zum Gattenmord eine hohe Strafe, die mangels öffentlicher Justiz Orest zu vollziehen hat. In dieser Situation einer deliktmäßigen Uneindeutigkeit urteilen genauso viele Richter für und wider Orest, weshalb die Göttin Athene eingreift und sich in Übereinstimmung mit dem Grundsatz „im Zweifel für den Angeklagten“ zugunsten Orests ausspricht.