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Erik Orsenna

Cristóbal

oder
Die Reise nach Indien

Aus dem Französischen
von
Holger Fock
und
Sabine Müller

 

 

 

Verlag C.H.Beck

 

 

 

 

 

Für Judith, für Sébastien,

meine
«étonnants voyageurs»

 

Der Seemannsberuf treibt alle, die ihm nachgehen, dazu an, hinter die Geheimnisse dieser Welt kommen zu wollen.

 

Christoph Columbus

(Cristóbal Colón),
Buch der Prophezeiungen

Zum Buch

Bartolomeo Columbus, der Bruder des großen Entdeckers, ist der grandiose Erzähler dieses Romans: In prächtigen Farben schildert er das Leben in Lissabon am Ende des 15.  Jahrhunderts. Es ist die Stadt der Seefahrer und Kartographen, der Gelehrten und Hafenhuren, in der täglich wundersame Tiere, Menschen und Dinge aus unbekannten Gegenden eintreffen. Hier ergreift auch die beiden ungleichen Brüder das Fieber der Entdecker. Über Jahre hinweg planen und erforschen sie besessen die neue Route nach Indien, bevor sie in See stechen können… Ein phantastischer, atmosphärisch dichter Roman, eine Hymne auf die Seefahrt, die Bruderliebe und die Neugier der Entdecker.

Über den Autor

Erik Orsenna, geb. 1947, ist Schriftsteller, Mitglied der Académie Française, leidenschaftlicher Seefahrer, Präsident des Centre International de la Mer und Mitglied des französischen Staatsrates. Für L’Exposition coloniale wurde er mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet, für Weiße Plantagen erhielt er den Lettre Ulysses Award. Bei C.H.Beck sind von ihm u.a. erschienen: Portrait eines glücklichen Menschen. Der Gärtner von Versailles (52009), Lob des Golfstroms (22007) und Weiße Plantagen. Eine Reise durch unsere globalisierte Welt (22007).

Über die Übersetzer

Sabine Müller, geb. 1959, und Holger Fock, geb. 1958, übersetzen seit vielen Jahren französische Literatur, darunter Werke von Andreï Makine, Cécile Wajsbrot, Philippe Grimbert, Nelly Arcan und Erik Orsenna. 2011 wurden sie mit dem Eugen-Helmlé-Übersetzerpreis ausgezeichnet.

Santo Domingo,
La Isla Española,
Weihnachten 1511,
im Palast des Vizekönigs
von Westindien

 

Dass ich erzähle, war nicht vorgesehen.

Träumen ist in unserer Familie Sache des ältesten Bruders. Und dieser Traum wurde unantastbar. Ob wir wollten oder nicht, Cristóbal hat uns alle an Bord genommen.

Er wies jedem von uns eine Rolle zu.

Meine war es, ihm Tag und Nacht beizustehen.

Und zu schweigen.

Es wäre mir nie eingefallen zu protestieren. Wozu sich gegen ein Gesetz wenden, wenn das Gesetz das eigene Herz ist?

Ich habe gut daran getan einzuwilligen: So hat sich der Traum erfüllt.

Das Alcazar in der neu errichteten Stadt Santo Domingo soll an Sevilla erinnern. Der Palast ist aber lediglich ein großer Block aus grauem Stein am Ufer des kleinen Flusses Ozama. Kommen Sie ruhig näher, Sie haben nichts zu befürchten, und treten Sie ein. Die Wachen werden Sie kaum belästigen: Sie schlafen die meiste Zeit, und ihr Schnarchen beweist, dass sie sich der edlen Tätigkeit des Schlummerns rückhaltlos hingeben. Wenden Sie sich nach links und durchqueren Sie die beiden Kapellen, die große und die kleine. Dann stoßen Sie, abermals zu Ihrer Linken, die Tür auf. Sie werden glauben, ein Grabmal zu betreten, so leer und dunkel ist das Zimmer. Das ist die herrliche und düstere Wohnstatt, die der Vizekönig mir zugedacht hat. Der Vizekönig ist Diego, mein Neffe: Cristóbals einziger ehelicher Sohn.

Oft werde ich gefragt, welche unbegreifliche Kraft mich, Bartolomeo, eigentlich zwingt, noch länger auf dieser Insel zu bleiben. Warum muss mein letzter Wohnort Hispaniola sein und nicht einer jener Orte auf der Erde, an denen es zuverlässigere Lustbarkeiten, offensichtlichere Annehmlichkeiten und ganz gewiss bessere Ärzte gibt? Warum nicht Lissabon, Euer geliebtes Lissabon, oder das französische Loiretal mit seiner unvergleichlichen Sanftheit?

Je nachdem, wie die Tage sind, nehme ich einen der zahllosen Gründe, die mir diese Insel so lieb machen: die Vielfalt der Vögel, die neun Farben des Meeres, die Nähe der Berge, die Gewalt der Stürme, der umwerfende Duft der Frauen, die ebenso umwerfende Kühnheit der kleinen Mädchen und der Blumen, die sich überall hindurchschlängeln und die unzüchtigsten Posen einnehmen…

Die Hauptsache verschweige ich.

Entgegen unserem jugendlichen Ehrgeiz haben Cristóbal und ich mit dieser Insel nicht das wahre Paradies entdeckt, das Paradies der Heiligen Schrift. Aber wir sind ihm denkbar nahe gekommen. Ich besitze noch genug klaren Verstand, um zu erkennen, dass die Wahl von Hispaniola zum Wohnsitz mich nicht vor dem Tod bewahrt, den ich mit großen Schritten nahen sehe. Ich weiß allerdings, dass ich mich hier wie nirgendwo sonst der anderen Flüche des Alters erwehren kann: des ständigen Fröstelns trotz Hitze; der grausamen Schmerzen in den Gelenken; der quälenden Fragen der Erinnerung.

Auf Hispaniola scheint jede Nacht die Erinnerung an den verflossenen Tag auszulöschen: Jede Morgenröte, die über dem noch ruhigen Meer heraufzieht, ist neu, rein, leicht. Keine Vergangenheit lastet auf ihr, ich meine, keine Verfehlung.

Wie die Erde ihre Abgründe hat, in denen das Leben nicht denselben Gesetzen folgt wie an der Oberfläche, so hat die Zeit ihre Löcher.

Mir fehlen die Gelehrten. Sie könnten mir dieses Phänomen erklären. Gewiss liegt es daran, dass die Stunden durch die Entfernung, unsere Lage am Rande des Abendhimmels, langsamer vergehen.

Soll ich das Geständnis wagen, dass ich in dieser Art von ständiger Gegenwart so friedlich lebe wie nie zuvor? Befreit von den Strapazen des Träumens, seit Cristóbal von dieser Welt geschieden ist, aber auch frei von Reuegefühlen, die das Heer meiner Sünden nach sich ziehen müsste.

An jenem Sonntag, dem ersten Advent 1511, wurden wir, die Stadt und ich, gemeinsam wachgerüttelt. Ich liebe diesen Palast für seine Mauern aus Korallenkalk, die für Geräusche durchlässig sind. Zuerst höre ich immer die Vögel, die die Rückkehr des Tages begrüßen, dann die hustenden und spuckenden Männer; die schnaubenden Pferde, das Knarren der Wagen; das erste Knirschen der Sägen. Eine Karavelle kommt an. Ich kann hören, welches Segel man einbindet, an welchem Ankerplatz im Hafen sie festmachen wird. Die Hunde bellen. Sie bellen weiter, immer lauter, solange sie nicht gefüttert werden. Ein neuer Tag setzt sich in Bewegung, schwer wie ein Schiff, das sich vom Kai entfernt. Jedem dieser neuen Tage danke ich dafür, dass er mich mit an Bord nimmt.

Ohne etwas von den Angriffen zu ahnen, die kurz darauf meine Seele verwüsten und meine Heiterkeit zerrütten sollten, machte ich mich auf den Weg in die Kirche.

Die Messe begann.

In meiner Lage war es schwer zu beten: Ich saß in der ersten Reihe zwischen dem Vizekönig Diego und seiner Frau María de Toledo, und alle Blicke richteten sich auf mich. Möge Gott mir verzeihen. Statt mich Ihm und nur Ihm zuzuwenden, war ich ständig damit beschäftigt, Grüße zu erwidern. Plötzlich schreckte ich auf. Ein Dominikaner war auf die Kanzel gestiegen und begann seine Predigt:

Ich bin die Stimme Jesu Christi, der in der Wüste dieser Insel ruft…

Ich bin die Stimme Jesu Christi, der in der Wüste dieser Insel ruft (…), diese Stimme sagt, dass ihr alle im Zustand der Todsünde lebt wegen der Grausamkeit und der Tyrannei, die ihr gegen dieses unschuldige Volk walten lasst.

Satz für Satz gewann die Stimme an Kraft, und die einzelnen Worte wurden deutlicher. Es war, als ob sie sich in ebenso viele Steine verwandelten, die man uns ins Gesicht schleuderte.

Sagt mir, im Namen welchen Rechts und welcher Gerechtigkeit haltet ihr diese Indianer in so grausamer und so schrecklicher Knechtschaft? Wer hat euch erlaubt, gegen diese Völker, die in ihrem Land friedlich lebten, solch verabscheuungswürdige Kriege zu führen, in denen zahllose von ihnen gestorben sind? (…) Warum haltet ihr sie in einem solchen Zustand der Unterdrückung und Auszehrung, ohne ihnen zu essen zu geben, ohne die Krankheiten zu behandeln, an denen sie leiden und sterben aufgrund der maßlosen Arbeit, die ihr ihnen abverlangt, während ihr sie für den Abbau von Gold Tag für Tag einfach umbringt?… Sind diese Indianer denn keine Menschen? Haben sie denn keinen Verstand und keine Seele? Hat man euch nicht geboten, sie zu lieben wie euch selbst? (…) Warum schlaft ihr in so tiefer Erstarrung? Seid gewiss, dass ihr in dem Zustand, in dem ihr euch befindet, eure Seelen ebenso wenig retten könnt wie die Mauren und die Türken, die den Glauben an Jesus Christus ablehnen.

So lautete an jenem Tag die Predigt von Bruder Antonio de Montesinos. Vor allen Herren von Hispaniola, vor allen Encomenderos, den Spaniern also, denen man das Land der Indianer gegeben hatte und dazu noch die Indianer selbst, um es zu bebauen.

Die Verblüffung der Anwesenden schlug schnell in Wut um.

Blicke wanderten hin und her zwischen dem Prediger, der diese schrecklichen Worte aneinanderreihte, und dem Vizekönig, der sich bemühte, die Fassung zu bewahren.

Es bedurfte der ganzen Autorität des Priesters, der die Messe las, damit diese ohne Aufstand der Gläubigen beendet werden konnte.

Nach der Rückkehr in unseren Palast befahl der Vizekönig unverzüglich den Dominikaner zu sich, von dem bis dahin niemand etwas gehört hatte, und er las ihm väterlich die Leviten: Jeder von uns könne sich, wenn er schlecht informiert sei, dazu hinreißen lassen, Unwahrheiten zu verkünden. Wer wollte es ihm verübeln, dass er einem Irrtum aufgesessen sei, weil es ihm an Informationen gemangelt habe? Im vorliegenden Fall fehle es an Wissen darum, dass die Arbeit der Indianer für die Erschließung der Insel, also zu Spaniens Ruhm, unverzichtbar sei. Da er nun vollständig in Kenntnis gesetzt worden sei, müsse der Prediger, dem übrigens jedermann Bewunderung für sein Talent und Verständnis für seine Erregung entgegenbringe, am kommenden Sonntag eine Predigt von gänzlich anderer Natur halten als die vorausgegangene, geeignet, der Bevölkerung einen Frieden wiederzugeben, der Seiner Majestät dem König besonders am Herzen liege…

Ohne ihm Zeit für eine Erwiderung zu geben, stellte Diego mich vor: Bartolomeo, mein Onkel, der Bruder des Admirals und erster Gouverneur dieser Insel in den Jahren 1496 bis 1500.

Montesinos fuhr hoch.

Er sah mir direkt in die Augen und sagte nur ein Wort:

«Warum?»

Schon drängte ihn der Vizekönig hinaus.

«Ich zähle auf euch, Bruder Antonio. Das Gleichgewicht hierzulande ist empfindlich. Jeder muss wissen, wo er hingehört.»

Als Montesinos den Mund zur Antwort öffnete, wurde er hinausbefördert. Und in der spanischen Oberschicht wartete jeder vertrauensvoll auf die nächste Sonntagsmesse, überzeugt, dass der Vorfall damit abgeschlossen sei.

 

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Die ganze Woche über verfolgte mich dieses «Warum». Jedes Mal drängte ich es zurück. Jedes Mal kam es mir wieder in den Kopf, wie eine hartnäckige Wespe, jedes Mal bereitete dasselbe innere Bild ihm den Weg: der tiefe Blick des Predigers.

Und in der Nacht hörte ich hinter den vertrauten Geräuschen vom Hafen einen Klang, den ich nicht kannte, wie das Reiben eines Rads auf der Straße oder eines Mühlsteins, der sich dreht.

Ich kam zu der Überzeugung, dass dieser Montesinos, verdammt sei er!, die Zeit wieder in Gang gesetzt hatte. Ich würde meinen Zufluchtsort verlieren. Die quälenden Fragen der Erinnerung, die ich so sehr fürchtete, waren im Anmarsch.

Am folgenden Sonntag, lange vor der Messe, gab sich die ganze Insel, ich meine, alles, was auf der Insel spanisch war, ein Stelldichein vor dem Eingang des Konvents. Viele waren von weit her gekommen, aus den entlegensten Winkeln, aus der Provinz von La Vega, den Bergen und sogar von der Nordküste, von der Halbinsel Samaná. Das Gerücht hatte sich in Windeseile verbreitet. Niemand wollte die Predigt verpassen.

Einige stiegen direkt aus dem Sattel. Sie bespritzten sich mit Brunnenwasser, um nicht allzu viel Staub in das Gotteshaus zu tragen. Seit Jahren hatte man sich nicht mehr gesehen. Man hatte sich schon für tot gehalten. Überraschte Ausrufe waren zu hören, man fiel sich in die Arme, es war wie ein Familienfest. Man besprach die neuesten schlechten Nachrichten, die Todesfälle, die Geburten, das harte Klima, die enttäuschenden Ernten, die geringe Minenausbeute.

Nachdem man zwei, drei Worte gewechselt hatte, kam man auf die Indianer zu sprechen. Auf die Faulheit, das tierische Wesen, die Sittenlosigkeit, die Grausamkeit der Indianer. Dann machte man sich über den verrückten Priester her, der in wenigen Tagen die berühmteste Person auf der Insel geworden war. Kennst du ihn, diesen… Montesinos? Was hat denn den geritten? Angeblich hat der Vizekönig ihn empfangen. Und ihm den Kopf gewaschen. Sonst erlebt er sein blaues Wunder. Die Gesichter blickten wild. Man war bewaffnet erschienen.

Die Dominikaner wussten nicht, wo ihnen der Kopf stand. Da man nicht in der Lage war, die Wände zu versetzen, konnte die Kirche keinen mehr aufnehmen. Gut drei Hundertschaften von Gläubigen waren, zu ihrer Entrüstung, schon zurückgedrängt worden. Und noch immer kamen welche hinzu. Schon bevor Antonio de Montesinos auch nur das Wort ergriffen hatte, herrschte der reinste Aufruhr.

Schließlich fing inmitten des Grollens die Messe an. Wie es schien – doch ich verfügte über kein Instrument, um das Verstreichen der Zeit zu messen –, wurde der erste Teil beschleunigt.

Und plötzlich ertönte eine laute Stimme über den Köpfen. Montesinos war da, war, keiner weiß wie, auf die Kanzel gekommen. Vielleicht hatten seine Indianerfreunde ihm ihre Fähigkeit übertragen, sich zu bewegen, ohne gesehen zu werden? Die Kanzel ruhte auf einer dicken, aus Holz geschnitzten Schlange. Einige unter den Zuhörern murmelten, dass dieser verfluchte Prediger einen Pakt mit dem Teufel geschlossen habe, um vor der Menge sicher zu sein.

Warum haltet ihr diese Indianer in einer solch grausamen Knechtschaft? Warum führt ihr solch verabscheuungswürdige Kriege gegen diese friedlichen Völker? Warum tötet ihr sie, indem ihr ihnen eine Arbeit abverlangt, die keiner von euch überleben würde? Warum betrachtet ihr sie nicht als Menschen, sie, denen Gott ebenso eine Seele gegeben hat wie euch?…

Weit davon entfernt ihn einzuschüchtern, hatten die Forderungen des Vizekönigs Montesinos sogar bestärkt. Seine Rede hatte an Autorität und Festigkeit gewonnen. Am vorausgegangenen Sonntag hatten seine Worte gezittert, nicht aus Angst, sondern vor Empörung. Dieses Mal durchschnitten sie die Luft so hart und zielsicher wie Geschosse.

Das Publikum reagierte prompt. Stimmen erhoben sich, wurden laut und lauter. Zwanzig, dreißig Encomenderos waren aufgestanden, richteten, den Ort vergessend, an dem sie sich befanden, drohend den Finger auf den Prediger und befahlen ihm zu schweigen.

Montesinos scherte sich überhaupt nicht um diese Missfallensbekundungen. Nicht nur, dass er seine Predigt mit unvermindert starker, klarer und entschlossener Stimme fortsetzte, er suchte zudem den Blickkontakt zu denjenigen, die am heftigsten auftraten.

Diese Provokation hätte beinahe das Pulverfass entzündet. Es fehlte nicht viel, und eine Gruppe etwas Entschlossenerer hätte die Kanzel gestürmt. Ein Dutzend Dominikaner hinderten sie daran. Sie hatten wohl den Angriff kommen sehen und sich am Fuß der kleinen Holztreppe versammelt.

 

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Noch am Nachmittag kam ein Mann in den Palast und ließ sich als Sohn eines ehemaligen Gefährten von Cristóbal melden, der an der zweiten Fahrt (im Jahre 1493) teilgenommen hatte. Ich war zwar müde, doch wie hätte ich ihn fortschicken können? Seine Erscheinung war stattlich, und er konnte kaum älter als dreißig sein. Sein Name sei Las Casas, meinte er, er trage denselben Vornamen wie ich, Bartolomé, und wolle wissen, was ich wirklich über die Predigt denke.

Er war 1502 mit dem neuen Gouverneur Nicolás de Ovando auf die Insel gekommen. Damals war er noch keine achtzehn Jahre alt und gehörte zu jenem Heer spanischer Ankömmlinge, die vom schnellen Glück träumten. Wie anderen war ihm ein Stück Land gegeben worden samt den Indianern, die darauf lebten. Dort hatte er es zu Wohlstand gebracht. Doch ein Leben, das nur darin bestand, Besitz anzuhäufen, war ihm schnell unerträglich geworden. Nach ein paar Jahren ließ er alles hinter sich, wurde Priester und trat, auch er, in den Dominikanerorden ein.

Wir verbrachten das Ende des Tages damit zu diskutieren. Waren die Entdecker nicht vom rechten Weg abgekommen? Was würde Gott sagen über unsere Grausamkeiten? Wir versprachen uns, dass jeder in der Heiligen Schrift nach Antworten suchen würde.

Ich kehrte zu meinen alten Gewohnheiten zurück.

In Lissabon hatten mein Bruder und ich uns jeden Sonntag abwechselnd ein Kapitel aus der Bibel vorgelesen. Wer das Buch der Bücher nicht kennt, versteht nichts von der Welt, pflegte Cristóbal zu sagen.

Als Las Casas am übernächsten Tag zurückkehrte, ließ ich ihn die Stellen lesen, die ich im Buch Jesus Sirach gefunden hatte: die Antwort, eine unerbittliche Antwort, auf unsere Fragen.

«Schreit der Betrübte im Schmerz seiner Seele, so wird Gott, sein Fels, auf sein Wehgeschrei hören.» (4,6)

«Man schlachtet den Sohn vor den Augen des Vaters, wenn man ein Opfer darbringt vom Gut der Armen.» (34,20)

Las Casas verzog keine Miene. Aber ich sah seine Hände: Sie zitterten. Die Predigt von Montesinos hatte ihn ebenso berührt wie mich. Doch weil er jünger war und mutiger, begnügte er sich nicht damit, bedrückt zu sein. Er wollte sich in die offene Bresche stürzen. Was war sein Leben wert, wenn er es nicht von nun an der Wahrheit weihte?

Er war nicht allein gekommen. Ein Kind begleitete ihn, ein hochgeschossenes Jüngelchen mit runden Wangen, auf denen sich noch kein Bartwuchs zeigte. Und doch wies ihn seine weiße Kutte unzweifelhaft als Dominikaner aus. War die plötzliche Vergrößerung der Welt daran schuld, dass der Orden gezwungen war, so junge Leute zu rekrutieren?

«Ich möchte Ihnen Bruder Hieronymus vorstellen. Er ist gerade in unseren Orden eingetreten. Er hilft mir bei dem Unternehmen, das mir vorschwebt.»

Bei diesen Worten schreckte ich auf. Das Unternehmen, das Indien-Unternehmen. So hatte Cristóbal seine Fahrt getauft.

Las Casas hatte ein anderes Ziel: Er wollte nicht entdecken wie Cristóbal, sondern erzählen. Von der Entdeckung erzählen, damit jeder davon wusste und seine Lehren daraus ziehen konnte.

Er senkte seine Augen in meine. Sein Blick war beinahe so nachdrücklich wie der Montesinos’.

«Eure Erfahrungen an der Seite Eures Bruders sind unvergleichlich. So alt wie Ihr seid, werdet Ihr nicht mehr lange auf dieser Erde weilen. Ihr könnt mir Eure Unterstützung nicht verweigern.»

Ohne weiter zu zögern, kniete ich nieder.

«Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes…»

«Was tut Ihr denn?»

Bruder Hieronymus, der Dominikanerjüngling, sah mich verständnislos an.

«Ihr beginnt zu… aber… so spät noch?»

Ihm fielen die Augen zu. Ich kenne die jungen Leute. Es gelingt ihnen nicht, gegen den Schlaf anzukämpfen. Ich hatte kein Erbarmen. Ohne es zu wissen, hatte ich schon so lange Zeit auf den Augenblick zu erzählen gewartet.

Las Casas lächelte.

«Spitze deine Ohren, Hieronymus, spitze deine Ohren. Die vier Seefahrten von Cristóbal gehören fortan in die Chronik der Curiositas, der menschlichen Neugier. Er verstand es, einen Weg über das Meer zu bahnen, der allen anderen überlegen ist. Durch ihn hat sich die Erdoberfläche verdoppelt, er hat den Horizont bevölkert.»

Normalerweise erinnert man sich bei Reisen lediglich an ihr Ziel, während sie doch zunächst einmal einen Ursprung haben.

Von den Ursprüngen möchte ich erzählen. Meine Finger schmerzen zu sehr, und sie sind gekrümmt vom Alter, so dass ich die Feder nicht mehr führen könnte. Deshalb werde ich dir meine Wahrheit diktieren, lieber kleiner Schreiber Hieronymus, damit du redlich berichten mögest, mit der größten Treue und in allen Einzelheiten. An manchen Tagen wirst du dich beim Hören gewisser Heimlichkeiten bekreuzigen, und dir wird, da bin ich sicher, eine reizende Röte ins Gesicht steigen. Ich bedauere dich nicht. Du wirst dieses Leiden dem Herrn darbringen. Der Himmel ist dir dadurch umso gewisser.

Von Häfen aus stechen die Schiffe nur in See, Hieronymus, in Fahrt bringt sie ein Traum. Viele Historiker haben bereits über die Entdeckung von Cristóbal berichtet oder werden darüber berichten, und sie werden über die Folgen diskutieren.

Als sein Bruder, der ihn als Einziger seit seiner frühesten Kindheit kannte, sah ich, wie seine Idee geboren wurde und sein Fieber stieg.

Von dieser Geburt, von dieser Verrücktheit werde ich dir erzählen. Vielleicht findet sich der Keim für unsere spätere Grausamkeit in diesem Wissensdurst?

Auf deinen Platz, Hieronymus! Wir stechen in See!

Bald sind wir in Lissabon, wo alles begann.

I

Die Neugier

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Ich bin in Genua geboren, das ein natürliches Gefängnis ist. An drei Seiten hat man das Gebirge vor sich. Bleibt die vierte: das Meer. Über das Meer entkommen die Bewohner, jeder auf seine Weise. Die einen treiben Handel, die anderen fahren zur See. Ich glaube, die ersten Schritte meines Bruders führten ihn zum Hafen.

Ich selbst brauchte längere Zeit, bis ich mich davonmachte.

 

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«Weshalb sollte ich dich einstellen?»

Mit dieser ebenso verächtlichen wie berechtigten Frage empfing mich in jenem Frühjahr 1469 das Königreich Portugal. Ich war noch keine sechzehn Jahre alt. Ich war einfach dem Strom gefolgt: Aus ganz Europa kamen die Leute nach Lissabon. Sei es, weil sie von zu Hause vertrieben wurden wie die gelehrten Juden von Mallorca, die der König von Katalonien plötzlich als unerwünscht erachtete. Sei es, weil sie etwas konnten, was die portugiesischen Monarchen interessierte, die über die entsprechenden Mittel (in klingender Münze) verfügten, um unsereins anzuziehen. Ich gehörte eindeutig zu einer untergeordneten Kategorie. Ich hatte einen Kunden meines Vaters, der zwar ein großer Trinker, aber gut unterrichtet war, erzählen hören, dass sich eine große Kolonie von Genuesen an den Ufern des Tejo niedergelassen hatte, um dort das Handwerk des Kartographen auszuüben.

Diese Nachricht eröffnete mir neue Aussichten. Ich würde mich endlich aus den Fängen der Familie befreien können. Ich wusste noch nicht, dass niemand dem Schicksal entgeht, das Gott ihm zugedacht hat, und dass eine noch üblere Sklaverei auf mich wartete.

 

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So kam es, dass ich die Tür von Meister Andrea aufstieß, der in seiner Zunft den besten Ruf hatte.

«Weshalb sollte ich dich einstellen?»

«Weil ich es gerne möchte.»

«Gute Antwort. Aber das genügt nicht. So blass wie du aussiehst, so schwächlich, kann ich wohl davon ausgehen, dass du noch nie zur See gefahren bist. Täusche ich mich?»

«Ihr täuscht Euch nicht.»

«Und du bist viel zu jung, als dass du schon viele Seemannsgeschichten gehört haben könntest.»

«Da habt Ihr recht.»

«Was weißt du dann vom Meer?»

«Nichts.»

«Was, meinst du, ist ein Kartograph?»

«Ein Mann, der… die Grenzen des Festlands aufzeichnet.»

«Und folglich die Gestalt des Meeres. Bist du dieser Mann?»

«Nein.»

«Was nützt du mir, wenn du nichts kannst? Mast- und Schotbruch!»

Mit geballten Fäusten, mit Tränen der Wut und der Scham in den Augen ging ich hinaus. Da fiel mir gerade noch rechtzeitig ein, woher ich stammte. Ich war immerhin Genuese! Und ein Genuese verliert einen Krieg nicht kampflos.

Ich kehrte also in die Werkstatt zurück. Und rief laut:

«Ich kann… ich kann…»

In den Momenten, in denen die gute Fee Einbildung Mitleid mit mir hat und mir mit sanfter Stimme zuflüstert: Na los, Bartolomeo, dein Leben war keine so große Katastrophe, wie du meinst, in diesen seltenen Momenten gelingt es mir, mein Haupt zu heben. Wenn ich zurückdenke, mit welchem Stolz ich an jenem Tag des Jahres 1469 reagiert habe, dann weiß ich, dass diese Reaktion ihren Teil zur Weltgeschichte beigetragen hat. Ohne das Aufbäumen meines Charakters wäre ich meines Weges gegangen und hätte nie von Meister Andreas großartigem Wissen profitiert. Und folglich hätte mein Bruder Cristóbal später darauf verzichten müssen. Aber hätte er sich ohne dieses Wissen in das unerhörte Abenteuer seiner Reise gestürzt?

Kehren wir zu dem beinahe kindlichen Genuesen zurück, der da steht, die Finger in seine kleine Wollmütze krallt und vor dem größten Kartographen Lissabons sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen verlagert. Ich kann… ich kann… Wie sollte ich meinen Satz beenden, da ich nichts konnte?

«Ich kann… ich kann… klein schreiben.»

Dieser Einfall kam mir schlagartig. So wie einem zwischen zwei Wellen, kurz bevor man das Bewusstsein verliert, der rettende Fels erscheint. Plötzlich hatte ich mich an mein einziges Talent erinnert: Seit ich die Feder halten konnte, verstand ich mich darauf, ebenso akkurate wie winzige Buchstaben zu malen.

«Beweise es mir!»

Meister Andrea befahl, mir Tinte und eine Feder zu bringen. Er hob ein Stück Landkarte vom Boden auf, das man weggeworfen hatte, hielt es mir hin und kreuzte die Arme.

Ich hatte Ceuta und Algier noch nicht zu Ende geschrieben, da erhielt ich einen Klaps auf meine Schulter: Ich war eingestellt. Und sofort bekam ich eine Aufgabe übertragen: in Schönschrift die Namen einer winzigen Inselkette vor der Küste des Teils von Afrika zu schreiben, der Senegal heißt.

In den nächsten Tagen wuchs die Eifersucht meiner Kollegen. Sie füllte die Werkstatt, spürbar wie ein Sturm, kurz bevor er losbricht. Immerhin waren sie älter und tausendmal erfahrener als ich. Deshalb ertrugen sie es nicht, dass Meister Andrea, ihr Meister, immer wieder zu mir kam, um das Spiel meiner Finger zu verfolgen. Und vor allem nicht, dass er das Wort an mich richtete. So lange es her ist, ich erinnere mich Wort für Wort an unsere Gespräche:

«Wie kommt es, dass du so geschickt im Kleinen bist?»

«Weil ich schon immer so klein schreibe.»

«Genau das meine ich, warum hast du immer klein geschrieben?»

«Ich habe Angst.»

«Wovor hast du Angst?»

«Davor, dass die Dinge zu groß sind. Dass ich ihnen nicht gewachsen bin.»

«Warum wolltest du Karten zeichnen?»

«Weil Karten von der Kleinheit leben.»

«Was meinst du damit?»

«Karten sind klein, verglichen mit der Welt, die sie beschreiben. Eine Karte, die so groß wäre wie die Welt, würde nichts nützen.»

«Unbestreitbar. Weißt du, was Schnepfen sind?»

Auch bei diesem Thema gestand ich meine Unwissenheit. Meister Andrea schüttelte den Kopf.

«Bald werden sie deine treuesten Verbündeten sein.»

 

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Ich sollte noch viele andere Merkwürdigkeiten der Welt entdecken. Diese zum Beispiel: Die Tätigkeit unseres Nachbarn machte großen Lärm. Um seinen Schläfen Ruhe zu gönnen, kam er oft in unsere Werkstatt und wunderte sich über die Stille. Während bei ihm halbnackte Männer tagaus, tagein damit zubrachten, den Blasebalg der Schmiede zu treten und auf Eisen- oder Bronzestücke zu hämmern, hörte man bei uns nur das leichte Kratzen der Federn auf dem Pergament.

Bei diesem leutseligen Mann, im ohrenbetäubenden Lärm seiner Schmiede, statteten sich die Kapitäne jedes Mal aus, bevor sie in See stachen. Sie kauften immer dasselbe: Kessel, Töpfe, Kannen und, in unglaublichen Mengen, Rasierbecken.

Ich wunderte mich: Welchen Nutzen hatten diese Becken? Wuchsen die Bärte auf See schneller und störrischer als an Land?

Er gab mir gerne Auskunft, nicht ohne über meine Ahnungslosigkeit zu spotten. Das weiß doch jeder, Bartolomeo: Die afrikanischen Häuptlinge, mit denen wir handeln, sind versessen auf solche Gefäße, vor allem auf Rasierbecken. Sie versuchen, sich in ihnen zu spiegeln, und glucksen dabei vor Vergnügen, sie stellen aus ihnen Hauben zum Schutz vor Fliegen her, sie legen sie auf die Gräber, um ihre Toten zu ehren. Weiß der Teufel, was in den Köpfen dieser Stämme vorgeht. Jedenfalls besitzen diese Gegenstände, die hier alltäglich sind, dort einen großen Wert, einen sehr viel beachtlicheren als andere Tauschgüter, wie Stoffe, Glasperlen oder Messingringe. Mit einem einzigen Rasierbecken kann man bis zu drei Sklaven oder fünfzig Gramm Gold erwerben!

Noch heute wundere ich mich über das seltsame Räderwerk des Handels, das Güter von einem Ende des Planeten zum anderen auf die Reise schickt. Warum liegt uns hier mehr an Gold und Sklaven? Und warum reißt man sich dort um Rasierbecken?

 

 

 

 

Was war damals mein prägender Charakterzug?

Schüchternheit war es nicht. Und dennoch war meine Schüchternheit krankhaft. Es brauchte mich nur jemand anzusprechen, sofort glänzte Schweiß auf meinen Schläfen und Handflächen. Zehnmal wäre ich während der ersten Wochen in Portugal beinahe nach Genua zurückgekehrt. Ich war zu der Überzeugung gelangt, dass der Atlantik ein zu großes, zu offenes Meer für mich war. Warum, warum bloß, fragte ich mich Nacht für Nacht, wenn ich, die Arme um die Knie geschlungen, auf meinem Strohlager saß, warum hatte ich mein Mittelmeer verlassen, dessen Natur einem See glich und mir doch so viel besser lag?

Das Hervorstechende bei mir waren auch nicht die ewigen unzüchtigen Gedanken, die mich mein Leben lang beschäftigen sollten, selbst heute, da das Ende naht und der kleinste Anflug einer geilen Träumerei des schrecklichen Klimas wegen an meinen Kräften zehrt. Für einen jungen Mann von sechzehn Jahren, denn so alt war ich damals, ist die obsessive Beschäftigung mit dem Beischlaf nichts Besonderes.

Als ich nach Lissabon kam, lag meine Haupteigenschaft woanders, sie lag in der Unwissenheit, einer Unwissenheit, die nichts mit dem Mangel an Kenntnissen zu tun hatte, der zu Beginn des Lebens natürlich ist. Es war eine gewollte Unwissenheit. Eine beigebrachte Unwissenheit, auch wenn die Verbindung dieser beiden Wörter völlig unangemessen erscheint.

Logisch betrachtet, bringt man jemandem Wissen bei. Wie kann man Nichtwissen lehren?

Susanna, unsere Mutter, hatte dieses Paradox auf den Weg gebracht. Tiefgläubig hatte sie für ihre Kinder nur ein Ziel: sie fest in der Liebe zu Gott zu verankern.

Wozu die Zeit mit menschlichen Grübeleien verschwenden, wenn es einzig vom göttlichen Willen abhängt, ob man in den Himmel kommt?, pflegte sie zu sagen. Und folglich hatte sie dafür gesorgt – Weiberschlichen, Erpressung im Bett –, dass wir die schlechteste von allen Schulen Genuas besuchten, eine Schule, die sich vor allem um Unwissenheit kümmerte. Und so sah die Erziehung aus, die wir, Bartolomeo (ich), mein älterer Bruder Cristóbal und mein jüngerer Bruder Giacomo bekamen.

Einmal entrollte unser Lehrer, ein alter Priester, ein Pergament und heftete es an die Wand.

«Das ist unsere Erde, gelobt sei Gott, der Herr!»

Wir lobten ihn im Chor.

«Der Kreis stellt die bewohnte Welt dar. Sie wird von einem Ozean in Form eines Ts in drei Teile geteilt.»

 

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«Warum steht Asien über den anderen Kontinenten?», wollte einer von uns wissen.

«Das ist eine bewusste Entscheidung, meine Kinder, eine Entscheidung, wie die Logik sie fordert. So werden Karten von allen vernünftigen Geographen <ausgerichtet>. Asien befindet sich im Osten, stimmt’s? Und Jerusalem? Wer kann mir sagen, wohin Gott Jerusalem gelegt hat? Dorthin, wo der Osten beginnt. Sehr gut. Aber ihr würdet es trotzdem nicht gerne sehen, wenn ein anderer Teil der Erde über der Heiligen Stadt stünde?»

Beifall klatschend folgten wir seiner Beweisführung. Wie war es möglich gewesen, dass wir so lange nicht geahnt hatten, dass «ausrichten» bedeutete, den Osten über alles zu stellen? Ich hob den Finger:

«Und warum gibt es nur drei Kontinente?»

«Du hast die Bibel nicht gründlich gelesen, Bartolomeo. Höre aufmerksam zu, was der hochgelehrte Isidor von Sevilla im Jahre 600 dazu schreibt: Unser Planet wurde zwischen den drei Söhnen Noahs aufgeteilt. Sem erhielt Asien, das seinen Namen von Prinzessin Asia bekam, die von ihm abstammte, Asien wird von siebenundzwanzig Völkern bewohnt. Cham erhielt Afrika: Dort gibt es dreißig Rassen und dreihundertsechzig Städte. Japhet bekam Europa mit seinen fünfzehn Stämmen und einhundertzwanzig Städten.»

«Bloß einhundertzwanzig? Mein Vater hat gesagt, allein auf seiner Reise nach Rom sei er durch siebzehn große und zudem sehr schöne Städte gekommen.»

Die lebhafte Erinnerung an diese Schulstunde verdanke ich nicht meinem Gedächtnis, sondern meinem Hinterteil: Es erhielt eine ordentliche Tracht Prügel mit der Rute. Wie hatte ich es wagen können, die heiligen Wahrheiten dieses Isidor anzuzweifeln!

Das saß, und so hielt ich, noch immer mit schmerzendem Hinterteil, in der folgenden Unterrichtsstunde meinen Mund.

«Wisst ihr, meine Kinder, was die Heiden glauben?»

Wir schüttelten energisch den Kopf und bekreuzigten uns. Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes, Amen!

«Sie glauben, zumindest wenn es ihnen an Intelligenz mangelt, es gäbe Lebewesen, die unsere Antipoden sind.»

Wir brachen in schallendes Gelächter aus: Oh, diese Verrückten! Diese Dummköpfe! Diese Unwissenden!

Der Priester betrachtete seine Klasse voller Zufriedenheit.

«Ihr seid gute Kinder. Aber wisst ihr auch, was <Antipoden> sind?»

Unser Schweigen war ihm Antwort genug.

«Wahr ist es, dass ihr kaum Griechisch könnt! Antipoden sind Menschen, die auf der anderen Seite der Erde herumspazieren, also mit den Füßen (podos) gegen (anti) uns stehen.»

Dieses Mal muss die Stadt von unserem Gelächter gebebt haben.

«Was sind diese Heiden dumm! Haben sie überhaupt ein Gehirn?»

Dabei wachte unser Faulpelz auf, der kleine, verschlafene Giovanni. Er litt an irgendeiner Krankheit des Bauchs oder der Augen und verbrachte seine Tage zusammengesunken auf seiner Schulbank. Jetzt richtete er sich auf und rief:

«Aber dann ist die Erde ja flach!»

Die ganze Klasse antwortete ihm wie aus einem Mund:

«Na klar!»

 

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Noch eine Erinnerung. Eine weitere Lektion in Unwissenheit durch unseren alten Lehrer:

«Wenn er mit einer schwierigen Frage konfrontiert war, erhob sich der heilige Augustinus für gewöhnlich und ging spazieren.

An jenem Tag grübelte er ohne Ergebnis über das Geheimnis der Heiligen Dreifaltigkeit. Wie sollte man es verstehen, dass dieser eindeutig einzige Gott dennoch geteilt ist in einen Vater, einen Sohn und einen Heiligen Geist?

Er beschloss, am Strand spazieren zu gehen. Das gewaltige, wogende Meer brachte ihn oft auf gute Ideen.

Unterwegs am Strand begegnete er einem Kind, das einer seltsamen Beschäftigung nachging: Es hatte ein Loch in den Sand gegraben und lief, eine Muschel in der Hand, zwischen dem Ufer und dem Loch hin und her.

<Was machst du denn?>, fragte der heilige Augustinus.

<Ich schöpfe das Meer aus.>

<Mit deiner Muschel? Aber das schaffst du nie!>

Das Kind sah den heiligen Augustinus nur an und lachte. Dann verschwand es.

Da dachte der heilige Augustinus noch einmal über die Dreifaltigkeit nach und verstand die Botschaft: So wenig man das Meer mit einer Muschel ausschöpfen kann, so wenig kann man die Geheimnisse des Glaubens mit dem Verstand begreifen. Zu den grundlegenden Wahrheiten gelangen wir nicht durch die Vernunft, sondern durch die Liebe und den Glauben.

Möge dies das Schlimmste sein, was euch widerfährt.»

Der alte Priester war am Ende seiner Stunde.

Er fügte nur noch einen Satz, eine letzte Empfehlung hinzu:

«Haltet euch immer an diese heilige Unwissenheit, Kinder, hört ihr!»

Wie anders als um meine Seele zitternd hätte ich unter solchen Umständen in diesen Tempel des Wissens eintreten können, den die Werkstatt eines Kartographen und Kosmographen darstellt?

 

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Ich habe oft an jene heilige Unwissenheit gedacht, die auch die Muslime in ihren Schulen lehren.

Bestimmt ist sie der Grund, weshalb sich unter den wenigen Büchern, die ich auf die Insel Hispaniola mitgenommen habe, die Bekenntnisse des heiligen Augustinus befinden.

Gestern habe ich Kapitel XXXV aus dem zehnten Buch wieder gelesen, das von der Neugier als der zweiten Versuchung handelt:

(Es gibt) in der Seele noch eine andere eitle und neugierige Sucht. Sie bezieht sich auf dieselben Sinne, will aber nicht fleischlich genießen, sondern will mit dem Fleisch Erfahrungen machen und versteckt sich unter dem Namen «Erkenntnis» und «Wissenschaft». Sie heißt in der göttlichen Offenbarung «Augenlust», weil sie auf dem Erkenntnisdrang beruht und weil die Augen beim Erkennen von allen Sinnen die Hauptrolle spielen. (…)

(Diese kranke Gier) bewegt die Menschen, das Verborgene der außermenschlichen Natur zu erforschen, deren Kenntnis vollkommen unnütz ist; aber die Menschen wollen nichts anderes als bloßes Wissen.

 

 

 

 

Wenn es eine Sünde ist, mehr als alles andere das Unbekannte zu lieben, dann verurteilen Sie mich, aber verurteilen Sie nicht mich allein, schicken Sie ganz Lissabon in die Hölle.

Ich bin in einer Hafenstadt geboren. Ich weiß, wie die Neugier abstumpft, wenn die Schiffe immer mit derselben Fracht zurückkehren. In Genua machte man kein Fest daraus, wenn Schiffe einliefen, denn niemand rechnete mehr mit etwas Neuem.

Ich war erst eine Woche in Portugal und blickte gerade von meinen Miniaturbuchstaben auf, als ich meine Kameraden am hellen Vormittag aus der Werkstatt stürmen sah. Ich eilte ihnen hinterher. Bestimmt war ein Feuer ausgebrochen, und trotz meiner beginnenden Leidenschaft für Landkarten wollte ich nicht unbedingt mit ihnen zusammen geröstet werden.

Auf der Straße war alles auf den Beinen. Ich reihte mich in den Menschenstrom ein, ohne zu verstehen, was vor sich ging, denn niemand geruhte, auf meine Fragen zu antworten.

Die Häuser leerten sich. Selbst Menschen, die sich sonst nie blicken ließen, kamen heraus: die zerzausten Köchinnen, noch mit ihrem Schöpflöffel in der Hand, Mütter in halbaufgeknöpften Blusen, denen ein Kind an der Brust hing; sabbernde Greise im Hemd, die schon beinahe tot schienen; Liebespaare, die bei ihrem Liebesspiel überrascht worden waren und, so gut es ging, Kleider und Haar im Laufen ordneten; nicht zu vergessen die Katzen, Hunde, Hühner, Puten… Unaufhörlich schwoll die Menge an und kreischte.

Bald landeten wir am Kai, und in einer einzigen Bewegung hoben wir unsere Arme und deuteten auf den Horizont, als wollten wir einander zeigen, was wir alle sahen.

Hundert Mal habe ich, begleitet von derselben Menschenmenge, diesem Schauspiel beigewohnt.

Und bei jedem dieser hundert Male pochte mein Herz unvermindert stark. Jedes Mal fühlte ich mich größer, gewachsen durch die Seereise, deren Ende ich miterlebte und die sogleich ihre Erträge preisgeben würde. Jedes Mal musste ich gegen mich ankämpfen, um nicht ins Wasser zu springen und dem ankommenden Schiff entgegenzuschwimmen.

Dieses unwandelbare Ritual ist der Atem Portugals.

Von der ansteigenden Flut getragen, kommt eine Karavelle langsam herein. Ihre Segel sind nur noch zusammengeflickte Lumpen, ein Wunder, dass ihre Masten noch stehen. Was für einen Krieg hat sie geführt, wer waren ihre Feinde? Etliche Planken sind eingedrückt, ihr Achterkastell gleicht einer Ruine.

Eine Schaluppe läuft aus, sie hat die Flagge des Königs gehisst. Dann steigt eine dunkle Silhouette aus der Karavelle in die Schaluppe. Diese dunkle Silhouette ist die des Notars.

Seit Heinrich dem Seefahrer segelt auf jeder Karavelle ein Notar mit. Seine Aufgabe ist es, über die geringsten Vorkommnisse im Verlauf einer Forschungsreise Buch zu führen. Er beschreibt die Entdeckungen bis in die kleinste Einzelheit. Und er verwahrt in einer Börse das aus Afrika mitgebrachte Gold.

Und nun beobachtet die ganze auf dem Kai versammelte Stadt, wie diese Schaluppe mit ihren acht Ruderern über den Fluss gleitet. Der Notar steht. Nie erfahren die anderen Notare, die bodenständigen, die niemals zur See fahren, einen ähnlich glorreichen Empfang. Jeder weiß, dass der König ihn erwartet.

Sobald die schwarze Gestalt an Land gegangen ist, richten sich die Augen wieder auf die Karavelle. Nachdem sie jetzt nahe genug herangekommen ist, kann man die Mannschaft erkennen. Sie scheint aus Greisen zu bestehen, die Haut von der Sonne gegerbt, das Haar weiß geworden vom Salz oder der Angst. Bestimmt vergeht die Zeit schneller am anderen Ende der Welt. Man wirft die Fangleinen. Endlich hat die Karavelle festgemacht. Die Seemänner schauen in die Menge: Welche unter all den Frauen auf dem Kai ist meine? Und die Frauen mustern die Seemänner: Welcher ist der meine? Wie sollen sie sich auch wiedererkennen, wenn die Männer sechs Jahre lang fort waren?

Meister Andrea wurde ungeduldig:

«Himmel, sperrt die Augen auf!»

Zweien von uns, die flinker waren als die anderen, war es gelungen, auf ein Mauerstück zu klettern, und sie beschrieben die Brücke der Karavelle. Zu ihren Füßen stampfte die versammelte Mannschaft der Werkstatt mit den Füßen.

«Rote und weiße Stoffe…»

«Nicht von Interesse für uns. Weiter!»

«Moment, ich zähle noch, zehn, elf… fünfzehn Schwarze, davon sechs Frauen, keine hübsche darunter, und fünf Kinder.»

«Was juckt mich das?»

«Fremde Pflanzen, groß und grün. Sie tragen zwei Arten von riesigen Tannenzapfen, so groß wie ein Männerkopf.»

«Und weiter?»

«Ah, noch etwas! Die Seemänner holen jetzt Käfige an Deck. Sieht aus wie Vögel.»

«Welche Farbe?»

«Die einen leuchtend grün mit rotem Kopf, die anderen grau mit weißem Kopf.»

«Und die Schnäbel?»

«Bei den ersten sind sie grau; bei den zweiten schwarz glänzend und sehr krumm.»

«Schon besser, schon viel besser! Papageien…»

Meister Andrea befahl uns, die Papageien nicht aus den Augen zu lassen, bis sie auf dem Markt ankamen, wo sie verkauft werden sollten.

«Und spitzt die Ohren! Manchmal lassen diese Vögel in einer einfach zu übersetzenden Sprache neben Hinweisen auf das Leben der Wilden auch nützliche Informationen fallen, etwa zur Häufigkeit von Stürmen an diesem oder jenem Kap oder zum Vorkommen von glänzenden Metallen in der Gegend ihres Heimatwaldes.»

Leider hatten andere Meister der Kartographie denselben Einfall gehabt. Und so mussten wir, um zu den Papageien zu gelangen, bis zum Abend die Fäuste schwingen.

Ich erwarb mir dort einen gewissen Ruf und einen Frieden, den keiner je wieder in Frage stellte. Eine kleine Handschrift und eine starke Faust haben sich noch nie ausgeschlossen.

 

 

 

 

Ich muss gestehen: Dieser Bericht meiner Jugend erfüllt mich mit einem ungekannten Glück. Man kann nicht behaupten, dass mir im Verlaufe meines Lebens viel Beachtung geschenkt wurde. Cristóbal interessierte sich nur für sein Unternehmen, und alle interessierten sich nur für Cristóbal.

Und jetzt kommen plötzlich zwei achtbare Männer jeden Tag zu mir zu Besuch und begeistern sich für meine Worte. Las Casas ist ganz Auge und Ohr für mich. Und Bruder Hieronymus schreibt alles auf, was ich erzähle, als ob sein ewiges Leben von der Zuverlässigkeit seiner Mitschrift abhinge.

So viele Greise enden in der Gleichgültigkeit! Wie sollte ich da nicht die unerhoffte Neugier genießen, die ich hervorrufe?

Mir scheint, mein Verstand regt sich wieder.

Ich komme auf Gedanken, die mir sonst nie eingefallen wären. Zum Beispiel dieser: Es gibt zwei Arten von Handel. Genua und Venedig transportieren zum besten Preis und mit der größten Geschwindigkeit Waren oder Materialien, die schon bekannt sind. Im damaligen Lissabon hingegen liefen die Schiffe blindlings aus, dem noch Unbekannten entgegen, und brachten seltene Güter mit.

Lieber Las Casas, lieber Hieronymus, bevor Ihr zu hart über mich urteilt, fragt Euer Oberhaupt nach seiner Lehre. Warum sollte Gott die erste Art des Handels, den Handel mit dem Bekannten, mit größerem Wohlwollen betrachten als den mit dem Unbekannten? Mir scheint vielmehr, doch mein theologisches Wissen ist sehr gering, dass Letzterer dem Ewigen und dem Geheimnis Seiner Schöpfung, gelobt sei sie, zu größerem Ruhme gereicht!

 

 

 

 

An einem Abend im Januar, ich erinnere mich noch, fröstelte Lissabon unter dem Ansturm eines schrecklichen Nordwinds. Wir waren dick eingemummt bei der Arbeit. Um meine Finger aufzuwärmen, meine wohlbekannten Finger, die für gewöhnlich doch so geschickt im Zeichnen der winzigen, fast unsichtbaren Buchstaben waren, hauchte ich sie ständig an. Meister Andrea klopfte mir auf die Schulter:

«Lass es sein, heute bringst nicht einmal du etwas zustande. Nutzen wir die Zeit und unterhalten uns. Was weißt du eigentlich über unseren Planeten?»

Vollkommen sicher erklärte ich ihm, er sei flach, bestehe aus drei Kontinenten und einem Ozean in der Form eines Ts.

Verdutzt hörte er mich zu Ende an. Meine Kameraden um uns herum begannen zu glucksen.

«Wer hat dir das beigebracht?»

«Meine Lehrer.»

«Und du hast nie versucht, mehr zu erfahren?»

«Das brauche ich nicht: Ich zeichne nur die Einzelheiten, die Küstenabschnitte. Und außerdem sind die drei Kontinente und der T-Ozean in der Heiligen Schrift verbürgt. Glaubt Ihr denn nicht daran? Seid Ihr Heide?»

In der Werkstatt regte sich immer größere Heiterkeit. Ich begriff nicht, was der Grund für diese übermäßige Ausgelassenheit war, vor allem nicht bei der Kälte, die herrschte. Meister Andrea jagte alle davon. Und ich machte in der verlassenen Werkstatt Bekanntschaft mit einem neuen Land, mit dem Land des Verstandes.

«Ich will dir eine Geschichte erzählen, Bartolomeo. Es war einmal, zweihundertfünfzig Jahre vor Christi Geburt, ein Mann namens Eratosthenes. Er wohnte in der ägyptischen Stadt Alexandria. Diese Stadt war ein Anziehungspunkt für alle Freunde der Wissenschaften, denn sie besaß die größte Bibliothek. Deren Leiter war Eratosthenes. Er war Mathematiker und Geograph, das heißt ein Mathematiker, der gerne durch die Straßen und Felder spazierte. Für ihn waren Algebra und Geometrie keine abstrakten Wissensgebiete, nicht nur Quellen geistigen Vergnügens: Vielmehr sollten beide Disziplinen Lösungen für Fragen des täglichen Lebens bieten.

Eines Tages hörte er, wie ein Reisender erzählte, dass im Süden Ägyptens, in der Stadt Syene, am 21. Juni zur Mittagsstunde die Sonnenstrahlen genau senkrecht in die Brunnen fielen.

Eratosthenes überlegte: Hier in Alexandria hat jedes Ding einen Schatten, selbst zur Mittagsstunde. Wenn ich genau zu der Stunde, wo Syene ohne Schatten ist, den Winkel dieses Schattens errechnen könnte, wüsste ich, wie groß die Erde ist.

Er wartete auf den 21. Juni. Mit drei jungen Bibliotheksgehilfen, umringt von einer Menschenmenge und ganz bestimmt einigen neugierig gewordenen Hunden, zog Eratosthenes Linien in den Sand. Dann übertrug er sie auf Papyrus und gelangte zu folgendem Ergebnis: In der Stadt Alexandria stand die Sonne in einem Winkel von 7° 12’ zur Senkrechten.»

Während er sprach, zeichnete Meister Andrea, um mir die Dinge besser erklären zu können. In der eisigen Kälte verströmte diese Junigeschichte, diese Sommer-, Sonne- und Schattengeschichte eine merkwürdige Wärme.

«Der Winkel des Kreises beträgt 360°. 7° 12’ stellen ein Fünfzigstel davon dar. Zu Errechnung des Erdumfangs genügt es also, die Entfernung zwischen Syene und Alexandria mit fünfzig zu multiplizieren. Verstehst du?»

Ich war ziemlich weit entfernt von jener plötzlichen Ruhe, jener Flut von Licht, die jedes wahre Verständnis begleiten. Nur von Weitem, meinte ich, dämmerte mir etwas. Ich fasste den Entschluss, alles zu tun, um diesen Lichtschimmer nicht zu verlieren. Dann würde ich vielleicht eines Tages zu diesem Licht gelangen.

Unbeirrt fuhr Andrea fort. Ich hörte ihn mehr, als ich ihn sah, so dicht war der Nebel, der aus seinem Mund kam.