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Christoph Jahr

Blut und Eisen

Wie Preußen Deutschland erzwang
1864–1871

C.H.Beck

Zum Buch

«Nicht durch Reden oder Majoritätsbeschlüsse werden die großen Fragen der Zeit entschieden …, sondern durch Eisen und Blut.» So begründete Otto von Bismarck am 30. September 1862 im preußischen Abgeordnetenhaus die Notwendigkeit erhöhter Militärausgaben. Zehn Jahre später hatten die Waffen gesprochen – im Krieg gegen Dänemark 1864, im innerdeutschen Krieg zwischen Österreich und Preußen 1866 und schließlich im deutschfranzösischen Krieg von 1870/71. Christoph Jahr erzählt die dramatischen Ereignisse neu, durch die Preußen Deutschland erzwang, und zeigt, wie groß die Widerstände waren – von Außen, aber auch im Inneren. Dabei verbindet er die Ereignisgeschichte mit den großen Trends der Zeit und die Perspektive von oben mit den Erfahrungen von unten. Ob überzeugungstreue Liberale, entschiedene Konservative oder preußenkritische Süddeutsche: die zynische Machtpolitik Bismarcks fand viele Kritiker. Nichts war alternativlos und alles hätte anders kommen können. Doch die Art und Weise, wie Preußen Deutschland erzwang, hatte Konsequenzen, die bis heute spürbar sind.

Über den Autor

Christoph Jahr ist Historiker und Privatdozent an der Humboldt-Universität zu Berlin. Er publiziert regelmäßig zu historischen Themen in der Neuen Zürcher Zeitung und anderen überregionalen Medien.

Inhalt

«Ich erwachte aus meiner Vertiefung» – Zur Einleitung

I: «Der Experimentalfeldzug» – Dänemark 1864

«Deutschland, auf dem die Geschicke des Kontinents ruhen» – Europa nach Napoleon

«Die Stände sammeln, ein Heer organisieren» –
Die Bundesexekution

«In Gottes Namen drauf» – Der Krieg gegen Dänemark

«Nicht befreit, sondern erobert» – Was will das Volk?

«Der Frieden gebar den Krieg» – Alliierte werden Gegner

II: «Der traurigste aller Bürgerkriege» – Österreich 1866

«Einer muss weichen oder gewichen werden» –
Der deutsche Dualismus

«Eisen und Kohle statt Eisen und Blut» –
Wirtschaft, Rüstung, Politik

«Und wenn wir verloren hätten?» –
Der Krieg im Deutschen Bund

«Wer die Zerreißung Deutschlands beklagt, wird Gefühlspolitiker gescholten» – Reaktionen und Erwartungen

«Ein scheinbarer Ansatz zur deutschen Einheit» –
Der Norddeutsche Bund

«In der Sackgasse festgefahren» – Der Kampf um Süddeutschland

III: «Der glücklichste aller Kriege» – Frankreich 1870

«Napoleons unzüchtige Bündnisvorschläge» –
Preußen und Frankreich

«Das schreckliche Gemetzel hat nicht einmal einen Vorwand» –
Der Weg in den Krieg

«Uns brachte sogar der Fehler Glück» –
Die schnellen Siege

«Was zu lange dauert, ist nicht mehr schön» –
Der Abnutzungskrieg

«Nackte Venus, großer Mummenschanz» –
Die Kaiserproklamation in Versailles

«Keine Flagge, keine Bewegung in den Straßen» –
Der Frankfurter Frieden

IV: «Geist der Gewalt» – Ausblicke 1871 bis 2020

Trauer und Gedenken

Deuten

Vergessen

Danksagung

Anhang

Zeittafel

Bibliographie

Anmerkungen

«Ich erwachte aus meiner Vertiefung»

I
«Der Experimentalfeldzug»

II
«Der traurigste aller Bürgerkriege»

III
«Der glücklichste aller Kriege»

IV
«Geist der Gewalt»

Bildnachweis

Karten

Personenregister

Ortsregister

«Ich erwachte aus meiner Vertiefung»

Zur Einleitung

Am Vormittag des 18. Januar 1871 war der Maler so sehr von der äußeren Erscheinung des sich vor ihm entfaltenden Spektakels gebannt, dass er beinahe dessen Höhepunkt verpasste. Ich «sah, daß König Wilhelm etwas sprach und daß Graf Bismarck mit hölzerner Stimme etwas Längeres vorlas, hörte aber nicht, was es bedeutete, und erwachte aus meiner Vertiefung erst, als der Großherzog von Baden neben König Wilhelm trat».[1] Der Künstler, der König und Kanzler sprechen sah, sie aber nicht sprechen hörte, war Anton von Werner, dem wir das bis heute erinnerungsprägende Bildnis der Kaiserproklamation im Spiegelsaal des Schlosses zu Versailles verdanken. In Schulbüchern hundertfach reproduziert, ist es die Ikone der Reichsgründung. Bärtige, uniformgeschmückte Männer haben, so sagt dieses Bild, zu Wege gebracht, woran Generationen davor gescheitert waren. Wo jahrhundertelang eine lose verbundene Ansammlung von Staaten, Stätchen und Städten der Mitte Europas ihr Gesicht gegeben hatte, war beinahe über Nacht ein Nationalstaat entstanden, der durch seine Lage, Größe und wirtschaftliche Stärke den Kontinent nachhaltig veränderte. Doch es waren nicht nur eine Handvoll adliger Männer in Uniform, die die Reichsgründung vollbracht hatten. Jene, die auf dem Werner’schen Bild fehlen, die Frauen, die Zivilisten, die Politiker, die Dichter, die Friedfertigen, die Machtlosen und die Armen: Sie fehlten nicht in der Geschichte selbst. Dieses Buch bringt ihre Stimmen zu Gehör.

Abb. 1: Die «Kaiserproklamation» am 18. 1. 1871, gemalt von Anton von Werner: Ein Propagandabild prägt das Geschichtsbewusstsein. Was wird gezeigt, was nicht, wer fehlt?

Von Werners Gemälde lieferte die Bildikone der Reichsgründungszeit. Otto von Bismarcks donnernde Worte aus seiner ersten Rede als preußischer Ministerpräsident am 30. September 1862 vor der Budgetkommission des preußischen Abgeordnetenhauses sind so etwas wie die Sprachikone dieser Zeit. Nicht durch Reden würden «die großen Fragen der Zeit entschieden», hatte er den Abgeordneten entgegengeschleudert, «sondern durch Eisen und Blut». Schon die Zeitgenossen machten daraus häufig «Blut und Eisen», und heute ist diese sprachlich gefälligere Version bekannter als Bismarcks ursprüngliche Worte.[2] Doch die deutsche Nationalstaatsgründung, so gewalttätig sie verlief, war keineswegs nur aus «Blut und Eisen» modelliert. Ohne die großen Entwicklungen des 19. Jahrhunderts, die Industrialisierung, die neuen technischen Erfindungen, den Nationalismus als vorherrschende Gesellschaftsideologie und soziale Praxis, ist nicht zu verstehen, was vor 150 Jahren geschah.

Vordergründig entschieden die großen Männer; so wurde die Geschichte lange erzählt. Doch es ist eine alte Erkenntnis des Zeitgenossen der Reichsgründung, Karl Marx, dass Menschen ihre Geschichte machen, freilich nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter vorgefundenen Umständen. Die Reichsgründungszeit war ein Abschnitt der Geschichte, in dem sich diese vorgefundenen Umstände in hohem Tempo veränderten, sich jahrzehntelang abzeichnende Umwälzungen in oft dramatischen, gewaltsamen Ereignissen verdichteten.

Und die Öffentlichkeit war dabei, denn Kriegsberichterstatter, Korrespondenten, Maler, Zeichner und die ersten Photographen hielten ihre Eindrücke fest; in schnell geschriebenen Tagesberichten und eilig aufs Papier geworfenen Skizzen, in kunstvoll komponierten Reportagen und Historiengemälden und in grobkörnigen Photographien. Viele bekannte Chronisten werden uns durch diese Jahre begleiten. Das «einfache Volk» hatte es schwer, seine Meinung kundzutun; doch sooft es geht, soll es hier ebenfalls zu Wort kommen. Die Angehörigen der «gebildeten Stände» redeten sich sowieso die Köpfe heiß und schrieben sich die Finger blutig. Dichter, Publizisten und Intellektuelle werden hier sprechen. Sie gründeten Vereine und Parteien, organisierten Versammlungen und nationale Feste. Und in den Parlamenten versuchten sie, die Politik mitzugestalten. Doch die Macht lag noch fast ganz in den Händen der monarchischen Staaten, deren Verfassungen wenig Spielraum für das politische Handeln der Bürger ließen. Ohne die Herrschenden und ihre Soldaten kann die Geschichte der Reichseinigung daher nicht erzählt werden.

Die Gründung des deutschen Nationalstaats war auch keineswegs nur die Angelegenheit der Deutschen gewesen, allein schon deshalb nicht, weil lange unklar blieb, wer zu diesem Staat gehören würde. Auch Dänen, Böhmen und Franzosen, Polen und Italiener, Slowaken und Slowenen mussten den oft schmerzhaften Preis für die deutsche Nationalstaatsgründung zahlen – und selbst die neutrale Schweiz blieb nicht unbeteiligt.

Die Zeitgenossen hatte die Frage, ob und wie «Deutschland» von einem geografischen zu einem politischen Begriff werden sollte, schon lange umgetrieben. Wer diese Geschichte erzählen will, verliert sich daher leicht in den Weiten der Jahrhunderte. Der Dreißigjährige Krieg, die Rivalität Österreichs und Preußens im 18. Jahrhundert und die Französische Revolution sind bedeutsam. Die Revolution von 1848/49, in der um Freiheit und Einheit gekämpft wurde, ist ein zentraler Teil der Vorgeschichte, ebenso wie der 1856 beendete Krimkrieg. 1859 tat Italien einen großen Schritt in Richtung Nationalstaatsgründung, die zum Vorbild und Ermöglichungsfaktor der deutschen Einigung wurde. Da in dieser Zeit auch die Rivalität zwischen Österreich und Preußen immer schärfer wurde, verflochten sich nun jene schon lange vorher gesponnenen Fäden allmählich so miteinander, dass die nationalstaatliche Einigung Deutschlands zu einer konkreten Möglichkeit wurde.

Doch der eigentliche Startpunkt einer Erzählung, die sich auf die dramatischen Ereignisse konzentriert und der die ihnen zu Grunde liegenden Strukturen und Prozesse gewissermaßen als Bühnenbild dienen, ist der Konflikt um Holstein, Lauenburg und Schleswig. Mit ihm begann 1863/64 jene Reihe von Ereignissen, die 1871 ihren Abschluss fand. Die lange Vorgeschichte verdichtete sich und kam zur Explosion. Als «Experimentalfeldzug» hat der damalige preußische Oberstleutnant Kraft zu Hohenlohe-Ingelfingen den Krieg gegen Dänemark bezeichnet. Weit über den von ihm gemeinten, militärischen Sinn dieses Begriffs hinaus hat er damit dessen Bedeutung charakterisiert. Tatsächlich war dieser Konflikt mehr als nur ein Auftakt zu 1866 und 1870/71. «1864» zeigte schon alles, was die kommenden Jahre prägen sollte – politisch, gesellschaftlich, diplomatisch und militärisch.

Doch wer mit 1863/64 beginnt, läuft Gefahr, die Preußen-fixierte Geschichtsschreibung fortzuführen und die drei militärischen Machtproben mit Dänemark, Österreich und Frankreich zu zielbewusst geführten «Einigungskriegen» zu stilisieren. Doch das ist ein Trugschluss, denn nichts spaltete die Deutschen mehr als die Kriege von 1864 und vor allem 1866, zumal beide den bestehenden deutschen Staat zerstörten. Noch im Frühjahr 1870 war «Deutschland» in mancher Hinsicht zerrissener als in den Dezennien davor.

Die dramatischen Ereignisse des knappen Jahrzehnts von 1863 bis 1871 waren auch zu keinem Zeitpunkt alternativlos. Beständig wurden Ideen entwickelt und verworfen, Allianzen geschmiedet und gebrochen, Gewissheiten überlebten häufig nicht den nächsten Tag, klug geschmiedete Pläne wurden in Windeseile Makulatur. Oft spielte der Zufall eine Rolle, Glück und Pech und manchmal auch das Wetter, die Zahnschmerzen eines Königs und die Beredsamkeit eines Großherzogs. Es brauchte viel, um die alte Ordnung Europas hinwegzuspülen.

Die Reichsgründungszeit begann nicht an einem Tag und endete ebenso wenig an einem anderen. Eine ereignisorientierte Erzählung sollte nicht weiter reichen als bis zum Friedensschluss, doch ein Ausblick auf das Erbe dieser Zeit darf nicht fehlen. Die «Gründerzeit» war schnell zu Ende, auch wenn der Begriff heute oft als Entsprechung zur französischen «Belle Epoque» dient, als Chiffre für eine Zeit der Dynamik und des Aufbruchs, aber ebenso als Beschreibung der vermeintlich «guten alten Zeit» vor 1914.

Wir erleben gegenwärtig dauernde, sich beschleunigende Veränderungen. Den Menschen vor einhundertfünfzig Jahren erging es nicht anders. 1864 lag der Sturz Napoleons so lang zurück, wie es bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs noch dauern sollte. Das 1871 gegründete Reich wurde als Monarchie 47 Jahre alt, als Staat 74; 1945 lag es, wie Europa und große Teile der Welt, in Trümmern, physisch, aber, viel schlimmer noch, ethisch, moralisch und politisch. Sosehr diese Erzählung die damals Handelnden und ihren Erfahrungshorizont in den Mittelpunkt stellt, so wenig verleugnet sie ihre eigene Zeitgebundenheit. Auf 1864, 1866 und 1870/71 folgte das Jahr 1914, und darauf 1918, 1933, 1939, 1945, 1949 und 1989. Dieses Wissen prägt unseren Blick auf die Reichseinigungszeit.

Inzwischen sind einhundertfünfzig Jahre seit der Gründung des deutschen Nationalstaats vergangen, doch viele der damals aufgeworfenen Fragen treiben uns weiterhin um. Populisten aller Art preisen den Nationalstaat wieder als das letzte Wort der Geschichte und verdammen supranationale Bindungen als Irrweg. Mein Blick auf den Nationalstaat und vor allem auf den Nationalismus ist ein kritischer. Trotzdem geht die Perspektive, bei allem Bemühen um einen internationalen Blick, vom deutschen Nationalstaat aus. Die hier präsentierte Geschichte der deutschen Nationalstaatsgründung ist daher nicht die Geschichte, sondern eine Geschichte. Andere Perspektiven sind möglich, ja notwendig. Der Blick zurück kann keine Antworten auf die heutigen Fragen geben. Aber er hilft, diese Fragen besser zu verstehen.

I

«Der Experimentalfeldzug»

Dänemark 1864

«So konfus ist die Welt wohl selten gewesen», schrieb Theodor Storm am 18. Januar 1864 einem Freund und überlegte in seinem Exil im Eichsfeld hin und her, ob er die Rückkehr in seine noch von Kopenhagen aus regierte Heimat wagen sollte; die Vertreibung der von ihm als Fremdherrscher empfundenen Dänen stand unmittelbar bevor. Was Storm nicht ahnte: Auf den Tag genau sieben Jahre später sollte in Versailles vor den Toren von Paris das Deutsche Kaiserreich proklamiert werden. Exakt drei Monate nach Storms Konfusion, in der Nacht vom 17. auf den 18. April 1864, fand ein anderer, ähnlich empfindsamer und dem künstlerisch verdichteten Wort zugetaner Mann trotz der Hygge seines Hauses in Kopenhagen nicht in den Schlaf. Gepeinigt von «Selbstquälerei, fixen Ideen, halb im Wahnsinn» und «schweißgebadet» wälzte sich Hans Christian Andersen in seinem Bett. Seine dunklen Vorahnungen trogen ihn nicht, denn am Vormittag des 18. April «kam die Nachricht, dass der Sturm auf die Düppeler Schanzen begonnen hatte».[1] Wie wurde aus Storms Konfusion jener Krieg, der Andersen den Schlaf und dem dänischen König ein Drittel seines Reiches raubte? Und warum spielte Dänemark überhaupt so eine zentrale Rolle?

«Deutschland, auf dem die Geschicke des Kontinents ruhen» – Europa nach Napoleon

Als der ins englische Exil geflüchtete Clemens Fürst von Metternich, der wichtigste mitteleuropäische Politiker der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, 1849 Rechenschaft über sein Wirken als österreichischer Staatskanzler ablegte, nannte er Deutschland den «Punkt, auf dem am Ende die Geschicke des gesamten Kontinents ruhen. Gut oder schlecht wird es den Ausschlag geben».[2] Aus diesen Worten sprach kein Größenwahn, sondern die besondere Last und Verantwortung, die die Regierenden in dem, was geografisch, geschichtlich, künstlerisch und schließlich auch politisch «Deutschland» hieß, zu tragen hatten – und bis heute haben.

Ein deutscher Nationalstaat, wie ihn Franzosen oder Briten bereits kannten, existierte damals nicht; seit dem Juni 1815 bestand nicht mehr als ein nationalpolitischer Minimalkonsens, der Deutsche Bund.[3] 38 deutsche Staaten, darunter die vier Freien Städte Hamburg, Lübeck, Bremen und Frankfurt am Main, schlossen sich in einem «föderativen Band» zusammen, dem im Juli 1817 als 39. Gebiet die Landgrafschaft Hessen-Homburg beitrat; durch Erbfolgen und Verkäufe sank die Zahl der Mitgliedsstaaten später auf 35. Zu diesem lockeren Staatenbund gehörten drei nichtdeutsche Majestäten: der König der Niederlande als Herzog der Bundesmitglieder Luxemburg und Limburg; bis 1837 der König von England in seiner Eigenschaft als König von Hannover; und der König von Dänemark als Herzog von Holstein und Lauenburg. Rechtliche Zugehörigkeiten, dynastische Beziehungen, sprachliche, kulturelle, wirtschaftliche und politische Verbindungen überschnitten sich auf vielfache Weise. Die dem Nationalstaat zu Grunde liegende Identität von Staatsgebiet, Staatsvolk und Staatsgewalt bestand nicht.

Der Deutsche Bund konservierte dadurch, in vieler Hinsicht entgegen dem Zeitgeist, Merkmale des «alten Europa» vor der Französischen Revolution. Als im Herbst 1850 im Nachklang der Revolution von 1848/49 zwischen Preußen und Österreich um die Neuordnung des Deutschen Bundes gestritten wurde, erinnerte der damalige britische Außenminister, Lord Palmerston, daran, dass der Deutsche Bund keine Union sei, «die allein durch den freiwilligen Zusammenschluss der Staaten, aus denen sie besteht, entstanden ist». Sie kann daher nicht «nach dem Belieben dieser Staaten verändert und modifiziert werden». Der Deutsche Bund ist also «eine Union anderer Art. Er ist […] Teil der allgemeinen Ordnung für Europa».[4]

Tatsächlich war in Wien 1815 versucht worden, das vorrevolutionäre europäische Gleichgewicht wiederherzustellen. Doch die Bewegung, die 1789 in die Welt gekommen war, sollte auch innen- und gesellschaftspolitisch gestoppt werden. Jede Veränderung nicht nur der äußeren, sondern auch der inneren Grenzen sowie der politischen Ordnung der Einzelstaaten wie des gesamten Bundes rief tendenziell die anderen Vertragsparteien des Wiener Kongresses auf den Plan. Die Innenpolitik des Deutschen Bundes war in diesem Sinn immer auch Außenpolitik. Als Zweck des Bundes benannte Wilhelm von Humboldt, Preußens Gesandter in Wien, die «Sicherung der Ruhe», die «Erhaltung des Gleichgewichts» in Europa – und dem «würde nun durchaus entgegengearbeitet, wenn in den Reihen der europäischen Staaten, außer den größeren deutschen [Österreich und Preußen] einzeln genommen, noch ein neuer collektiver» hinzukäme. Dass ein solches «Deutschland als Deutschland auch ein erobernder Staat würde», könnte niemand verhindern, aber auch kein Deutscher wünschen, fasste Humboldt die Grundbedingung des Deutschen Bundes zusammen.[5]

Damit dieser, dezentralisiert und schwach, wie er war, nicht doch zur Großmacht würde, war er quer zu den heutigen Vorstellungen eines Nationalstaats konstruiert. Die beiden «deutschen» Großmächte lagen nämlich mit beträchtlichen Territorien außerhalb des Bundesgebiets, Preußen etwa zu einem Viertel: West- und Ostpreußen sowie Posen mit großen polnischen Bevölkerungsteilen. Vom Habsburgerreich gehörte nur etwa ein Drittel zum Deutschen Bund, darunter Böhmen, Mähren, Tirol bis zur Nordspitze des Gardasees und Triest sowie große Teile des heutigen Sloweniens und auch ein wenig heute kroatischen Gebiets, in denen große nicht-deutsche Bevölkerungsgruppen lebten. In diesem Vielvölkerreich bildeten die Deutsch-Österreicher eine privilegierte Minderheit, deren Vorrangstellung eng an die Führungsrolle Österreichs im Deutschen Bund gekoppelt war.

Preußen und Österreich hatten zwei Gesichter. Zum einen waren sie Gliedstaaten des Deutschen Bundes und als solche in dessen kollektive Leitungsstrukturen eingebunden, in denen sie freilich eine herausragende Rolle spielten. Trotzdem konnten sie von der geschlossenen Phalanx der Klein- und Mittelstaaten überstimmt werden. Andererseits beanspruchten sie das Recht für sich, als europäische Großmächte zu handeln, über Krieg und Frieden zu entscheiden. Der Deutsche Bund ermöglichte es ihnen einerseits, ihren Einfluss weit über ihr eigenes Staatsgebiet hinaus geltend zu machen, hinderte sie andererseits aber daran, ihre Interessen eigenmächtig durchzusetzen. Und noch etwas unterschied sie fundamental von den «rein deutschen» Klein- und Mittelstaaten. Sie waren jene Staaten, «durch die der Bund besteht», die übrigen aber jene, «die nur durch den Bund bestehen»[6], wie Bayerns Außenminister Ludwig von der Pfordten 1856 formulierte, wobei er seinen Staat kühn in dieselbe Kategorie einordnete wie Österreich und Preußen. Von einer Gleichgewichtigkeit mit diesen beiden konnte freilich keine Rede sein. Das bisweilen krachlederne Selbstbewusstsein Bayerns hat eine ebenso lange Tradition wie die Überschätzung der eigenen Kraft und Bedeutung.

Trotz ihrer selbst Bayern turmhoch überragenden Macht hatten Österreich und Preußen keine institutionalisierte Vormachtstellung durchsetzen können. Stattdessen waren alle Bundesmitglieder formal souveräne und gleichberechtigte Völkerrechtssubjekte, die nur wenige Befugnisse durch die in Frankfurt am Main unter dem Vorsitz der Präsidialmacht Österreich tagende Bundesversammlung gemeinsam ausübten. Indem sich Österreichs Staatskanzler Metternich die Forderung nach formeller Gleichberechtigung aller Staaten schließlich zu eigen machte, übernahm Österreich, ähnlich wie vor Napoleon die habsburgischen Kaiser im Alten Reich, im gewissen Sinn erneut eine Schutzfunktion für das «Dritte Deutschland». 1859, er war gerade preußischer Gesandter beim Bundestag in Frankfurt, fand Otto von Bismarck es «ganz natürlich», dass die Klein- und Mittelstaaten zu Österreich hielten, weil dieses «sie nicht aufsaugen könne, während sie Preußen gegenüber für ihre Existenz fürchten».[7] Faktisch ergab sich eine Zweiteilung des Bundesgebiets. Südlich des Mains dominierte Österreich, nördlich davon Preußen; doch auch Hannover und vor allem Sachsen waren treue Parteigänger Österreichs, während Baden im Süden seit dem mittels preußischer Bajonette niedergeschlagenen Aufstand von 1849 oft den Schulterschluss mit den Hohenzollern suchte.

Die protokollarische Vormachtstellung der Präsidialmacht Österreich im Deutschen Bund sicherte auch den Großmachtstatus des Hauses Habsburg in Mittel- und Westeuropa ab. Denn durch den Verzicht auf seine Territorien am Oberrhein war Österreich 1815 endgültig aus Westeuropa verdrängt worden, während Preußen durch den Erwerb der Rheinlande und Westfalens dort nunmehr als ernstzunehmender Akteur auftrat. Da es mit seinen Kernlanden östlich der Elbe zugleich von Schlesien bis zum Baltikum die Westgrenze des Zarenreichs definierte, wurde es zum Exponenten nicht mehr nur preußischer, sondern deutscher Außenpolitik.

Auch das, was den Zeitgenossen als Hemmnis der wirtschaftlichen, politischen und militärischen Kraftentfaltung galt, nämlich dass Preußens Territorium in zwei große, nicht miteinander verbundene Teile mit zahlreichen Ex- und Enklaven zerfiel, war auf längere Sicht ein Vorteil. Denn Preußen war sich dadurch viel weniger selbst genug als das territorial schärfer gefasste Österreich. Preußen musste geradezu Verflechtungen mit seinen vielen Nachbarn aufbauen und stellte dadurch einen nach Vereinheitlichung strebenden Wirtschafts- und Kommunikationsraum her, aus dem sich ein Nationalstaat entwickeln konnte. An nichts wurde das so deutlich wie an dem 1834 gegründeten Deutschen Zollverein.

Ungeachtet dieser langfristigen ökonomischen Vereinheitlichungstendenzen wirkte der Deutsche Bund, wie das seitens der revolutionsfürchtenden Fürsten gedacht war, als «Bollwerk gegen verfassungspolitischen Wandel» (Dieter Langewiesche). Das galt nicht nur national-, sondern auch innen- und gesellschaftspolitisch. Die gegen die nationalliberale Studentenschaft gerichteten Karlsbader Beschlüsse von 1819 unterdrückten nicht nur die Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit, sondern stellten mit der «Bundesexekutionsordnung» auch das Mittel bereit, widerspenstige Bundesstaaten notfalls mittels militärischer Gewalt zur Räson zu bringen. Die Wiener Schlussakte vom 8. Juli 1820 schloss die «konservativ-restaurative Rückentwicklung» (Ernst Rudolf Huber) der Bundesverfassung ab, indem sie alle Bundesstaaten – mit Ausnahme der Freien Städte Hamburg, Lübeck, Bremen und Frankfurt – auf das monarchische Prinzip verpflichtete.

Abb. 2: «Die deutsche Einheit. Trauerspiel in einem Aufzug». 1848/49 geht es um «Einheit», doch der Egoismus der Einzelstaaten obsiegt. Die Freiheit kommt zu kurz.

Auf dem Weg zum deutschen Nationalstaat gab es viele Hindernisse. Die Angst der Fürsten vor der nationalen, liberale Freiheitsrechte einfordernden Opposition des entstehenden Bürgertums war eines. Auch die Eigeninteressen der beiden Führungsmächte standen diesem Ziel entgegen, denn Preußen und Österreich waren keinesfalls gewillt, ihre außerhalb des Bundesgebiets liegenden Territorien zu Gunsten eines deutschen Nationalstaats aufzugeben. Ein Nationalstaat unter Einschluss der gesamten Habsburgermonarchie, ein Siebzigmillionenreich, wäre aber nicht nur kein «deutscher», sondern ein für die anderen europäischen Mächte unzumutbarer gewesen. Das hatte sich 1848/50 gezeigt, und zwar nicht zufälligerweise im Streit um ein kleines Gebiet am nördlichen Rand des Deutschen Bundes: Schleswig-Holstein.

Warum spielte dieses kleine und periphere Territorium eine so große Rolle? An der Beantwortung dieser Frage sind schon ganze Gelehrtengenerationen gescheitert. Die Schleswig-Holsteinische Frage ist so kompliziert, dass sie nach dem berühmten Wort des britischen Premierministers Lord Palmerston «überhaupt nur drei Menschen verstanden» haben: «Der Prinzgemahl Albert, aber der ist tot. Ein deutscher Professor, aber der ist darüber verrückt geworden. Und ich. Aber ich habe alles vergessen». Diese drei exzellenten Geister können also leider nicht mehr befragt werden.

Der Versuch, die Herzogtümer Schleswig, Holstein und Lauenburg in den deutschen Nationalstaat einzufügen, hatte 1848 bis 1850 an den Rand eines europäischen Krieges geführt. Wie sonst wohl nur die Auseinandersetzung um den «deutschen Rhein» war das meerumschlungene Land im Norden Kristallisationspunkt der Debatten um die schon Ernst Moritz Arndt umtreibende Frage, was «des Deutschen Vaterland» sei. In Schleswig-Holstein verschränkten und verdichteten sich Macht- und Identitätspolitik, Legalität und Legitimität, Freund- und Feindbilder.

Da das 19. Jahrhundert von der Historie besessen war, wurden Besitzansprüche bevorzugt mit dem Blick in die Vergangenheit begründet. Dadurch hoffte man in den durch die Französische Revolution verwirrten Zeiten wieder festen Boden unter die Füße zu bekommen. Je weiter man die eigene Spur glaubte zurückverfolgen zu können, umso besser; doch im Fall Schleswig-Holsteins ergab sich daraus keine Klarheit.

Die deutschen Nationalisten führten das Jahr 1460 ins Feld. Als damals die Ständevertreter Schleswigs und Holsteins Dänemarks König Christian I. zum Landesherrn wählten, ließen sie sich zusagen, «up ewich tosamende ungedeelt» zu bleiben. Diese «Ewigkeitsformel» ist wohl eher zufällig in diese Urkunde geraten, und die Zeitläufte waren schnell über sie hinweggegangen. Jahrhundertelang vergessen, begann die Karriere dieses Halbsatzes 1815, als der Kieler Historiker Friedrich Christoph Dahlmann aus ihm die zwingend aufrechtzuerhaltende rechtliche und historische Einheit der in Realunion verbundenen Herzogtümer herauslas, was praktisch bedeutete, dass auch Schleswig zum Deutschen Bund gehören sollte.[8]

Dieser Sichtweise entsprach die staatsrechtliche Stellung des betreffenden Gebiets freilich nicht. Während Schleswig im Mittelalter den König von Dänemark seinen Lehnsherrn nannte und seither eng an dieses Land angebunden war, gehörten Holstein als Reichslehen und Lauenburg als reichsunmittelbares Fürstentum bis 1806 zum Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation und ab 1815 zum Deutschen Bund. Da der dänische König in Personalunion nicht nur Herzog von Schleswig, sondern auch von Holstein und Lauenburg war, zählte er zu den Bundesfürsten.

Als während der «Rheinkrise» 1840 die nationalistische Stimmung gegen Frankreich hohe Wellen schlug, kräuselte sich auch das Wasser der Schlei. In Anlehnung an Nikolaus Beckers Gedicht «Sie sollen ihn nicht haben, den freien deutschen Rhein», übersetzte der im nordschleswigschen Apenrade lebende Freizeitdichter August Wilhelm Neuber 1841 Dahlmanns historische Prosa in vaterländische Lyrik: «Sie sollen es nicht haben/das heil’ge Land der Schlei!/Sie sollen es nicht haben/Das Land so stolz und frei./Der Herzog hat’s geschrieben, den sich das Volk erwählt/‹Se schölln tosammen blieben/Op ewig ungedeelt!›»[9] Der dänische Beamte Uwe Jens Lornsen schließlich formulierte die völlige Einheit «Schleswigholsteins» als deutsches Land, das er allerdings noch unter dem Dach der dänischen Krone gut aufgehoben sah.

Doch das nationalistische Fieber grassierte auch in Dänemark. Der deutschsprachig aufgewachsene, sich dann aber selbst dänisierende Orla Lehmann formulierte tastend, seit 1840 jedoch zunehmend klarer die Losung «Danmark til Eideren». Bis zur Eider, jenem Fluss, der weitgehend die Grenze zwischen Schleswig und Holstein markiert, sollte Dänemark reichen, ohne jene unterschiedlichen Rechtszustände, politischen Zugehörigkeiten und Loyalitäten zu berücksichtigen, die das Land zum Vielvölkerstaat machten. Begründet wurde diese Forderung mit der einstigen Lehnshoheit des dänischen Königs über Schleswig.

Lehmann kam, wie auf der anderen Seite Dahlmann, zu dem Schluss, dass die Historie das letzte Wort habe, nicht die dort lebenden Menschen. Dahlmann hatte die Urkunde von 1460 aufgeboten, Lehmann wusste dagegen von einer Absprache zwischen Karl dem Großen und dem Dänenkönig Hemming von 811, wonach die Eider «Romani Terminus Imperii»[10] sei, die Grenze des karolingischen Römischen Reichs.

Derart historisch gerüstet, gab es schon vor 1848 erste Versuche, zumindest Schleswig zu «dänisieren». Während des großen «Völkerfrühlings» 1848 betrieben die dänischen Nationalliberalen den vollständigen Anschluss Schleswigs an Dänemark, während die deutschsprachige Bevölkerung zunehmend die Loslösung davon forderte; eine provisorische Regierung trat ins Leben. Als die eilig gebildeten Freischarenverbände der dänischen Armee unterlagen, wurde die Schleswig-Holsteinfrage endgültig zu einem zentralen Thema der Revolution. Die Nationalversammlung in Frankfurt anerkannte die Regierung in Kiel, preußische Truppen drängten die Dänen zurück.

Doch Preußen wurde im August 1848 von den anderen Großmächten zurückgepfiffen. Sieben Monate später wiederholte sich das Ganze: Dänemark preschte vor, ein bunter Haufen unter preußischem Oberbefehl drängte sie zurück, dann stoppten die Großmächte das Schauspiel; im Juli 1849 kam es erneut zum Waffenstillstand. Ein Jahr später griffen die Schleswig-Holsteiner, nun auf sich allein gestellt, abermals zu den Waffen, wurden von den Dänen bei Idstedt aber vernichtend geschlagen.

Das erste Londoner Protokoll bestätigte im August 1850 die Zugehörigkeit der Herzogtümer zu Dänemark, das gegenüber Preußen und Österreich wiederum darauf verzichtete, Schleswig enger an sich zu binden als Holstein. Auch Autonomierechte der Herzogtümer wurden gewährt. Durch das zweite Londoner Protokoll vom 8. Mai 1852 wurde die dänische Erbfolge zu Gunsten des dänischen Königshauses, der Glücksburger Linie, geregelt. Die europäischen Großmächte interessierten sich dabei herzlich wenig für die deutsch-dänischen Identitätsdebatten. Für sie zählte die geostrategische Überlegung, dass keine Großmacht den Eingang zur Ostsee beherrschte. Äußerlich beruhigte sich die Lage nun; doch das Gegeneinander unvereinbarer Besitzansprüche blieb bestehen.[11]

Altona vor den Toren Hamburgs war nach der Hauptstadt Kopenhagen die zweitgrößte Stadt des Königreichs; von den gut 2,5 Millionen Einwohnern des dänischen Gesamtstaats lebte fast eine Million in den Herzogtümern Schleswig, Holstein und Lauenburg. Die beiden Letzteren waren durchweg deutschsprachig, Schleswig etwa zur Hälfte. Die Eiderdänen hielten jedoch an ihrer Dänisierungspolitik fest. Die Gesamtstaatsverfassung von 1855 wurde von der Holsteinischen Ständeversammlung deswegen abgelehnt, so dass sie nur in Dänemark und Schleswig galt. 1858 und erneut 1861 wurde eine Bundesexekution gegen Holstein und Lauenburg aufgrund der neuen dänischen Verfassung angedroht, jedoch nicht vollzogen, weil die dänische Seite nachgab.[12]

Es wäre wohl klug gewesen, wenn Dänemark die Maxime seines holsteinischen Bundestagsgesandten, Bernhard Ernst von Bülow, befolgt hätte: «Zur rechten Zeit aufzugeben, was nicht haltbar ist, hat mehr Staaten gerettet als zu Grunde gerichtet».[13] Stattdessen ging Dänemark in die Offensive. Im März 1863 setzte König Friedrich VII. die Gesamtstaatsverfassung für Holstein und Lauenburg außer Kraft; die nachfolgende sogenannte Novemberverfassung machte Schleswig zu einem Teil seines Königreichs.

Doch damit verstieß er gegen das Londoner Protokoll – genau genommen gegen die diplomatischen Noten Dänemarks an Preußen und Österreich 1851/52, weshalb die beiden Signatarmächte Protest einlegten.[14] Gegen diesen Schritt Dänemarks richtete sich auch die am 1. Oktober 1863 erwirkte Bundesexekution gegen Holstein und Lauenburg, mit deren Durchführung Österreich, Preußen, Sachsen und Hannover beauftragt wurden. Dieser Drohung ungeachtet wurde die Novemberverfassung am 13. Oktober 1863 vom dänischen Parlament beschlossen.

Es braute sich etwas zusammen im Staate Dänemark, als Friedrich VII. am 15. November 1863 starb. Die Überführung des Leichnams von Glücksburg über Flensburg, wo rund 20.000 Teilnehmer dem Trauerzug beiwohnten, demonstrierte dynastische Loyalität. War es Zufall, dass das Schiff, das den toten König nach Kopenhagen brachte, auf den Namen «Schleswig» hörte? Hans Christian Andersen ging der Tod des Königs jedenfalls nahe. In letzter Minute hatte er am 17. Dezember 1863 noch Abschied von ihm genommen.[15]

Mit Friedrichs VII. kinderlosem Tod war die Oldenburgische Linie des dänischen Königshauses erloschen, so dass, in Übereinstimmung mit dem Londoner Protokoll von 1852, Christian IX. aus dem Haus Glücksburg den Thron bestieg. Sein oder nicht sein, musste sich der neue König fragen. Unterschrieb er die Verfassung, drohten ein Aufstand der Deutschgesinnten und, schlimmer noch, der Einmarsch der Preußen und Österreicher. Unterschrieb er sie nicht, musste er gewärtigen, vom Parlament seines Thrones enthoben und durch den Schwedenkönig Karl XV. ersetzt zu werden, der die Idee des Skandinavismus, also des Zusammenschlusses aller skandinavischen Staaten, verfolgte. Vollmundig hatte er im Sommer 1863 ein Bündnis mit Dänemark und die Entsendung von 22.000 Soldaten versprochen. Das Parlament hielt ihn von diesem Abenteuer zurück, nicht zuletzt, weil Russland in Finnland demonstrativ Truppen zusammenzog. Am Ende halfen ganze 650 Freiwillige aus Norwegen und Schweden den Dänen. Ein schwedischer Leutnant hatte es so eilig, auf das Schlachtfeld zu kommen, dass er nicht einmal die Fertigstellung seiner dänischen Uniform abwartete. Nach fünf Tagen Frontdienst fand er bei der Erstürmung Düppels den Tod daher in seiner schwedischen Uniform.[16]

Christian IX. unterschrieb trotz düsterer Aussichten die neue Verfassung, auf internationale Unterstützung hoffend, so wie 1848/50. Dadurch sägte er jedoch den Ast ab, auf dem er saß, denn die Einführung der neuen Verfassung verstieß gerade gegen jene internationale Vereinbarung, die zugleich die ihn begünstigende Erbfolge und damit seine Herrschaftsberechtigung verbürgte. «Die Holsteinische Erbfolgefrage ritt rascher an den Bund heran als ich […] vermutete»[17], berichtete Ludwig von der Pfordten, zu diesem Zeitpunkt Bayerns Gesandter beim Bundestag, nach München und Theodor Fontane bemerkte später maliziös, dass dem dänischen König «kaum eine Wahl» blieb: «er zog es vor, lieber in Folge eines Krieges eine halbe Krone einzubüßen, als in Folge eines Aufstands die ganze».[18]

Doch Christian IX. war nicht der einzige Thronprätendent: Auch Friedrich August von Augustenburg, der einer Oldenburgischen Nebenlinie entstammte, machte seine Erbansprüche geltend. Dieser «Augustenburger» tauchte wie aus dem Nichts auf der politischen Bühne auf, weil sich auf seine dynastischen Ansprüche die Phantasien des national und liberal gesonnenen Bürgertums konzentrierten. Als die Waffen gesprochen hatten, verschwand er wieder in jener Versenkung, aus der er so lautstark emporgestiegen war.

Als Friedrich VIII. warf der Augustenburger mit der «Dolziger Proklamation» am 16. November 1863 seinen Hut in den Ring und beanspruchte die Herzogswürde für Schleswig, Holstein und Lauenburg. Dadurch hätte die Personalunion zwischen dänischer Krone und der Herzogswürde ein Ende gefunden. Das tat er, obwohl sein Vater, Christian August von Augustenburg, 1852 seines Erbanspruchs entsagt hatte. Deswegen sahen die katholisch-konservativen «Historisch-politischen Blätter» 1863 kein «unzweifelhaftes Recht» Deutschlands «zur Losreißung der drei Herzogtümer für eine deutsche Dynastie». Doch dessen ungeachtet plädierten sie dafür, «die wahrscheinlich nie wiederkehrende Gelegenheit» zu ergreifen und «den sonst unlösbaren Knoten der deutsch-dänischen Verwickelung zu durchhauen».[19] Man schrieb sich in Kriegsstimmung.

Dass die Kandidatur Friedrichs VIII. vor allem vom nationalen und liberalen Bürgertum begrüßt wurde, lag nicht an seiner noch dazu zweifelhaften dynastischen Legitimation, sondern daran, dass er sich mit der Nationalbewegung verbündete. Der Augustenburger bezog sich nämlich auf das liberale dänische «Staatsgrundgesetz» vom 15. September 1848. Anders als die Staaten des Deutschen Bundes in der Reaktionszeit hatte die dänische Herrschaft den Herzogtümern viele liberale Errungenschaften von 1848 bewahrt. Den innenpolitischen Liberalismus gab es allerdings nur zusammen mit dem Anspruch, Schleswig zu einem integralen Bestandteil Dänemarks zu machen und seine Autonomierechte zu übergehen. Einmal mehr war das Motto von der «Nation une et indivisible», der «einen und unteilbaren Nation», nicht nur integrierend, sondern ebenso ausschließend, weil es plurale Loyalitäten oder lokale Besonderheiten nicht duldete. An der antidänischen Stimmung vieler Deutschsprachiger war die Regierung in Kopenhagen daher nicht unschuldig.

Die Polarisierung anhand des Konflikts um die Novemberverfassung von 1863 erfasste vor allem die «gebildeten Stände» der Herzogtümer. Als Akt passiven Widerstands versagten fast alle Beamten in Rendsburg die Eidleistung auf den neuen König. Ähnliches geschah im traditionell stark mit Dänemark verwachsenen Nordfriesland, so in Eiderstedt, Husum, Bredstedt und auf Sylt. Diese Emotionalisierung und Nationalisierung erfasste nicht zuletzt die evangelische Kirche; in einem Gesangbuch wurde in dem Lied «Bau uns des Königs Thron» das Wort «König» durch «Herzog» ersetzt, um zu demonstrieren, dass die Loyalität gegen den König von Dänemark höchstens seiner Funktion als Herzog von Holstein galt; doch auch der Herzog von Augustenburg konnte gemeint sein.[20]

Die Eiferer beider Seiten stachelten sich gegenseitig an. Wo die einen «Op ewig ungedeelt!» schrien, kreischten die anderen «Danmark til Eideren». Der «Deutsche Nationalverein» rief auf einer von 4000 Menschen besuchten Versammlung am 23. November 1863 zum Volkskrieg gegen Dänemark auf; Hoffmann von Fallersleben dichtete «Noch einmal zum Gefechte/Für Schleswig-Holsteins Rechte!» Und Theodor Storm orakelte nach Friedrichs VII. Tod düster-erheitert: «Des Dänenkönigs Totenglocke gellt; Mir klinget es wie Osterglockenläuten!»[21] Ein «36er Ausschuß» koordinierte die Hilfs- und Spendenaktionen im Deutschen Bund für die Augustenburgische Bewegung, eine Art Schattenkabinett wurde gegründet und der Herzog ohne Land bereitete von Gotha aus seine Regentschaft politisch und militärisch vor, die am 18. November 1863 angetreten zu haben er verkündete.

Das war freilich wenig mehr als eine feierliche Behauptung, denn tatsächliche Macht übte er nicht aus, obwohl angesichts dieser enthusiastischen Unterstützung für seine Kandidatur durch das nationalliberale Bürgertum auch ein gekröntes Haupt nicht zurückstehen mochte. «Ein edler Bruderstamm im Norden, lange geprüft und bewährt in vielen Leiden ist durch das Recht eines zweifellosen Erbganges sich selbst und seinem großen Vaterlande zurückgegeben», verkündete Großherzog Friedrich I. am 4. Dezember 1863 bei der Eröffnung der neugewählten Zweiten Kammer des badischen Landtags und deutete dadurch die hervorgehobene Rolle an, die er und sein Außenminister Franz von Roggenbach bei dem Versuch spielten, die Politik der Fürstenhäuser mit den Zielen der Nationalbewegung zu verbinden. Die im Londoner Protokoll von 1852 festgehaltene Erbfolge zu Gunsten der Glücksburger Linie sei, so Friedrich, eine «einseitig festgestellte Erbfolgeordnung, welche weder das Recht der Stände noch die Ansprüche der Nationalität beachtet». Diese Position konnte Friedrich nur vertreten, weil der Deutsche Bund, anders als Preußen und Österreich, das Londoner Protokoll nicht unterzeichnet hatte und Baden daher nicht daran gebunden war. Friedrich sprach dem nationalen Bürgertum aus der Seele; seine Regierung stellte 40.000 Gulden zu Gunsten des Augustenburgers bereit.[22]

Unproblematisch war diese Parteinahme angesichts der radikalen Rhetorik allerdings nicht. Der «Deutsche Nationalverein» sah die Zeit für die Bildung eines revolutionären «Volksheeres», das gar Ausgangspunkt einer Nationsgründung «von unten» sein könnte, noch nicht gekommen. Ungeordnete «Freischaren in die Herzogtümer zu werfen und leichtfertig einem sicheren Untergang entgegen zu führen», würde unweigerlich «zum Ruin der Sache selbst» führen, «für welche sie kämpfen sollen». Trotz solcher Warnungen, die sich auf die leidvollen Erfahrungen der Jahre 1848 bis 1850 stützen konnten, wurde im ganzen Bundesgebiet gesammelt. Die Stadtvertretung Weimars etwa schoss einen Kredit über 10.000 Taler zu Gunsten Schleswig-Holsteins aus der Stadtkasse vor. Die Privatbank Gotha richtete eine schleswig-holsteinische Hauptkasse ein, die vor allem Gelder für militärische Zwecke sammeln sollte. Doch letztlich verpufften die 170.000 vom Nationalverein dem Augustenburger schließlich bereitgestellten Taler wirkungslos. Zwar erwarb seine Nebenregierung Waffen und Munition, doch ein einsatzfähiges Heer vermochte sie nicht aufzustellen. Der 36er-Ausschuss musste schließlich sogar noch Gelder aufwenden, um die Heimreise der «hülflos in der Fremde sich umhertreibenden» Freiwilligen zu finanzieren.[23]

Während die geografisch unmittelbar betroffenen und zudem durch ihre Abhängigkeit von ungestörtem Handel besonders verwundbaren Hansestädte danach trachteten, dass die Angelegenheit schnell über die Bühne ging, unterstützten die Mittelstaaten die Augustenburger Kandidatur vor allem deshalb, um ihr Gewicht gegenüber Österreich und Preußen zu vergrößern. Zu diesem Zeitpunkt wollte Österreich das nicht – und erst recht nicht Preußen. «Solche europäischen Kriegs- und Friedensfragen sollte Baden nicht entscheiden wollen», kanzelte Bismarck Anfang Dezember 1863 jeglichen Versuch der Einflussnahme des Großherzogtums auf die Schleswig-Holsteinfrage ab.[24]

Doch schon vor dem Scheitern der Augustenburgischen Bewegung hatten Preußen und Österreich nicht daran gedacht, sich dem Druck der Öffentlichkeit und einem allfälligen Votum des Deutschen Bundes für ein neues «Herzogtum Schleswig-Holstein» zu unterwerfen. Der Einsatz des nationalliberalen Bürgertums für den Augustenburger zielte daher auch «gegen die widerwilligen Regierungen, auslaufend in den Sturz Bismarcks». In Karlsruhe riefen im Dezember 1863 Plakate zur Volksbewaffnung auf, um die in ihrer Mehrheit nationalpolitisch zögerlichen Fürsten zu entmachten: «Die Fürsten verraten uns! Weg mit ihnen! Ergreift die Waffen und helfet Euch selbst!» Vorfälle wie dieser verstärkten insbesondere bei den Konservativen und den Regierungen der Vormächte Preußen und Österreich den alten Reflex gegen die liberale Nationalbewegung und schürten die Furcht vor einer erneuten Revolution wie 1848.[25]