Marie Sand
Die Geschichte einer
heimlichen Heldin
Knaur eBooks
Marie Sand lebt in Berlin. Sie studierte Kunstgeschichte, arbeitete in Zeitungsverlagen und war 16 Jahre in einer politischen Institution im Medienbereich sowie im Referat für internationale Beziehungen tätig. Ein Kind namens Hoffnung ist ihr Romandebüt.
Originalausgabe Oktober 22
Droemer Taschenbuch
© 2022 Droemer Verlag
Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Ein Projekt der AVA International
Autoren- und Verlagsagentur
www.ava-international.de
Covergestaltung: Kristin Pang
Coverabbildung: Hayden Verry / Arcangel Images, Joanna Czogala / Arcangel Images
ISBN 978-3-426-46566-0
»Sei die Heldin deines Lebens, nicht das Opfer.«
Nora Ephron
München, August 1957
Reihenweise zählte sie Männer in Grau. Elly mochte die Farbe nicht, auch nicht in diesem Festsaal. Sie drückte sich in den Plastikstuhl und atmete schwer. Man sollte mal die Fenster öffnen und die Sonne reinlassen, dachte sie und vermisste ihre gemütliche Eckbank zu Hause. Normalerweise saß sie um diese Zeit in Kittel und Wollsocken in der Küche, einen dampfenden Hagebuttentee auf dem Tisch und dazu einen Keks. Aber heute wollte sie vornehm sein. Den kleinen Hut trug sie schräg auf dem Kopf, und für das blaue Kostüm hatte sie ein Vermögen ausgegeben. Nun schwitzte sie unter den Armen, und die Nylonstrümpfe rutschten. Elly beugte sich nach vorne, um die Falten wieder glatt zu ziehen, dabei stieß sie gegen die Schulter eines Mannes vor ihr. Missmutig drehte er sich um. Sie nickte verträglich und lehnte sich wieder zurück. Immerhin war sie Gast. Eine unter fünfhundert, um dem Redner zu lauschen.
Er sprach zu leise. Seit dem Luftangriff 1944 war Elly das Gehör zum Teil abhandengekommen. Geplatztes Trommelfell, schlecht verheilt, vermutlich vernarbt mit den Jahren. Dummerweise hatte sie das Hörgerät vergessen; es lag auf dem Nachttisch in diesem feinen Hotel rechts der Isar. Elly kniff die Augen zusammen, als könnte sie dadurch besser verstehen, was der Mann auf der Bühne erzählte. Irgendetwas von Erfolg, von Siemens’ Aufbruch in Argentinien, vom Zusammenrücken Deutschlands mit dem Ende der Welt. Er lachte über seine eigenen Worte, bevor er die Arme wie ein Sieger zur Decke hob und fortfuhr: »Nicht nur der Tango beschreibt das Lebensgefühl dort. Nein, es ist auch der Stolz auf eine ganze Epoche. Siemens hat sie mit seiner Nachrichtentechnik geprägt.« Der Redner klopfte sich gegen seine Brust und rief laut in den Saal: »Viva Argentina!«
Elly stupste ihre Tochter an. »Ich mag keine Jubelrufe.« Statt zu antworten, hob Mathilda den Zeigefinger an ihre gekräuselten Lippen.
»Ist doch wahr«, bekräftigte Elly, und da kam Beifall auf, erst zaghaft in der vorderen Reihe, dann wogte er durch den Saal. In ihn hinein verneigte sich der Redner wie ein UFA-Star.
Elly klatschte nicht, sondern fingerte nach ihrem umhäkelten Taschentuch. Sie schnäuzte kräftig. Mathilda drehte sich verlegen zur Seite, und Elly dachte, dass es gut sei, hier neben ihr zu sitzen. Zum Anbeißen schön sah sie in diesem gelben Seidenkleid aus. Ja, Helligkeit brauchte die Welt, bunte Muster – ohne Grau.
»Noch was im Programm?«, fragte Elly.
»Ein Klavierstück.«
»Welches?«
»Du kennst dich doch nicht aus. Hier steht: Klaviersonate in h-Moll von Franz Liszt.«
»Wer spielt es?«
»Keine Ahnung«, antwortete Mathilda und drehte das mit einer Kordel versehene Büttenpapier um. »Mehr schreiben die nicht. Da steht kein Name.«
»Das wurde vor hundert Jahren in Berlin uraufgeführt. Dafür baute der alte Bechstein einen unzerbrechbaren Flügel. Auf dem konnte Liszt stampfen, während er spielte. Ja, das hat er getan. Auf das Gehäuse ist er gestiegen, hat die Gefühle rausgelassen, als hätte er Fieber. Da fielen die Frauen sogar in Ohnmacht! Wie heute bei Elvis.«
»Mama, woher weißt du das denn?«
»Niemals kann das eine von Siemens spielen.«
Dann wurde es dunkel im Saal. Nur ein Spot auf der Bühne, der Bechstein-Flügel stand im Lichtkegel. Was für eine Eleganz unter dem Lack, fand Elly. Sie vernahm die hohl anmutenden Oktaven. Töne, die durch die Hitze im Saal aufstiegen und grollten wie ein Donnerschlag. Die aufbarsten, zu Wasserperlen wurden, spritzig, plätschernd, leiser wurden – und zur Stille mahnten. Halb war die Pianistin aufgesprungen, ein Tanz im Spiel, mitten hinein in die Fontäne aus Tönen, hatte mit dem ganzen Körper Akzente gesetzt, um im Ausklang die Tasten zärtlich zu streicheln. Und Elly atmete nicht, legte beide Hände auf ihr rasendes Herz. Solch eine Kunst in diesem Saal?
Da fiel ein Sonnenstrahl durch den Spalt der Vorhänge, hin zur Frau auf der Bühne, die mit durchgestrecktem Rücken auf dem Hocker saß. Das Kinn gehoben, die Haare im Nacken zusammengesteckt. Sie hielt die Hände in der Luft, berührte mit dem Daumen die Fingerspitzen, als wollte sie Staubkörner fühlen.
Elly schloss die Augen. Öffnete sie wieder. Die Frau auf der Bühne war keine Erscheinung. Die Frau auf der Bühne war aus Fleisch und Blut, war lebendig. Und Elly bildete sich ein, den schweren Duft von Maiglöckchen zu riechen.
Als die Sonate noch in der Luft hing, stand die Frau auf und schritt zum Bühnenrand. Dort verweilte sie, zwei Sekunden, drei Sekunden, mit selbstbewusstem Lächeln und gefalteten Händen.
Auch wenn Ellys Gehör Schaden erlitten hatte, so waren ihre Augen wie die eines Adlers: Fünfzehn Meter entfernt von ihrem Plastikstuhl stand sie. Auf der Bühne. In Schönheit gealtert. Neunzehn Jahre hatte das Schicksal gerafft.
Hatte Elly seit damals das Betteln um Glück vermieden, hatte sie sich nicht auf den Himmel verlassen, sondern auf ihre eigene Kraft – jetzt hob sie die Augen: Danke. Danke, Gott, für dieses Wunder.
Dann schlug sie hart auf den Boden. In der Ferne hörte sie das Raunen. Und ihr letzter Gedanke war: Nun habe ich ihr den Applaus geklaut.
Die einen übertrugen Noten auf die Tasten, erzeugten Musik. Die anderen öffneten mit ihrem Talent eine Tür, hinter der alles möglich war. Letzteres unterschied den gewöhnlichen Klavierspieler von einem Künstler. Und Sara war eine Künstlerin von Gottes Gnaden. Wenn Sara am Bechstein-Flügel saß, geriet Elly ins Träumen. Sie nahm die Melodie in sich auf, ihr gesamter Körper folgte Saras Spiel. Sie stellte sich vor, wie es wäre, gemeinsam davonzuschweben, irgendwohin, wo es mehr Licht als Schatten gäbe.
Wie jeden Morgen um neun stand Elly im Türrahmen des Musikzimmers und lauschte. Unser Rendezvous nannte sie diese Treffen insgeheim. Schon vor dem Aufstehen kribbelte die Freude darauf in der Magengegend. Nicht, dass sie keine anderen Aufgaben hätte! Nein, daran mangelte es nicht. Einkaufen, Kochen, Servieren und dann noch Spielen mit dem Kleinen im Park, auch der Dackel brauchte Pflege. Es wäre vernünftig, eine zusätzliche Hilfe einzustellen. Aber Elly wollte das nicht. Erstens wusste man nie, wen man sich ins Haus holte. Zweitens würde die Morgenroutine gestört. Sara würde nicht mehr nur für sie spielen wie jetzt an diesem tristen Dezembermorgen, wenige Tage vor Weihnachten. Hanns forschte in der Praxis, Leon war in der Schule, die schweren Vorhänge hingen noch zugezogen. Zwei Frauen allein im großen Haus. Die eine Köchin, die andere Pianistin. Die eine derb in der Bewegung, die andere wie eine Lichtgestalt.
Unentbehrlich hatte Sara gesagt. Elly sei für die Familie Sternberg unentbehrlich. Seither hielt sie das Wort mit den Fingerspitzen fest, obwohl die dick und schwielig geworden waren. Das kam vom Schälen und Schnippeln und vom Tunken der Hände in Seifenlauge. Doch sie tat das gern. Es gab kein Kochen ohne Vorbereitung. Besonderes entstand nie ohne Schmerz. Und manchmal, wenn ihr das Essen gut gelang, wenn der Geschmack eine Weile auf der Zunge lag, empfand auch sie sich als Künstlerin. Keine, die sich forttragen ließ. Solche Höhenflüge strebte sie nicht an. Sie hätte Angst, nicht mehr zurückzufinden in die Beständigkeit der Sternberg’schen Villa. Daran mochte sie gar nicht denken.
Die Standuhr im Flur schlug zehn Mal, Zeit, den Salon herzurichten. Besuch hatte sich angekündigt. Nur war der Tisch noch nicht gedeckt. Aber Elly rührte sich nicht, sie würde Saras Musizieren nicht unterbrechen. Auch wenn Sara nie vor Publikum spielte, sich nie vor fremden Menschen verbeugte, auch wenn sie sich um Auszeichnungen so wenig kümmerte wie um das Durcheinander in dem Kellerregal, so nahm sie ihr Üben am Flügel sehr ernst.
Die Klingel am Gartentor störte. Ein Dauerton.
»Schon so spät? Das ist unser Gast«, sagte Sara und verlangsamte das Spiel.
»Es ist nichts vorbereitet.«
»Sie bringt ihren eigenen Kuchen mit.«
»Warum? Schmeckt ihr nicht, was ich backe?«
»Nicht ärgern lassen.«
Elly drehte sich um, ging in den Garten, um der alten Bechstein zu öffnen, und dachte: Rattengift.
Ohne Gruß schob sich Helene Bechstein an Elly vorbei und marschierte ins Haus. Irritiert sah Elly ihr nach. Weder trat die Bechstein die Füße auf der Matte ab, noch hängte sie den Mantel an die Garderobe. Der wehte hinter ihr her wie ein zu schwer geratener Schleier. Unwillkürlich legte Elly die Arme um sich, die kalte Ausstrahlung der Bechstein war unangenehmer als der Dezemberwind. Die kroch durch die wollene Wäsche bis unter die Haut. Elly schüttelte sich, um die Kälte abzuwehren, und ging ins Haus zurück. Dort stand der Gast bereits im Salon, sah nach oben in den ersten Stock, drehte sich um sich selbst, ließ den Blick über die Salonwände gleiten und bewegte sich auf das Musikzimmer zu. Auf dem Boden zeigten sich Matschflecken. Elly eilte ihr nach und bat sie darum, die Schuhe auf dem feuchten Tuch im Eingangsbereich abzuputzen. Aber die Bechstein wedelte nur mit der Hand durch die Luft, ein Zeichen dafür, dass Elly schweigen und verschwinden solle. Elly blieb. Wiederholte ihre Bitte und wies vorwurfsvoll auf die Flecken auf dem hellen Holz. Die Augen der Bechstein rollten hin und her wie kleine Kieselsteine, die ihren Platz im Gesicht noch nicht gefunden hatten. Diese Augen, dachte Elly, sind kein Tor zur Seele.
»Das Personal wird immer frecher«, befand die Bechstein. Mit heruntergezogenen Mundwinkeln übergab sie Elly einen Karton und mahnte zur Vorsicht, darin sei eine Torte, eine ganz besonders feine Kreation aus Sahne und Schokoboden. Ob Elly das verstanden habe. Sie wandte sich wieder ab und rief mit ihrer kehligen Stimme: »Liebes, niemand da?«
Als sie Sara in der Tür des Musikzimmers entdeckte, breitete sie die Arme aus. »Lass dich einfach nur drücken.« Sie lachte, und ihr ansonsten grobes Gesicht leuchtete auf. »Gut siehst du aus. Wie immer, meine bezaubernde junge Freundin.«
Die beiden Frauen umarmten sich, die eine verschwand in der Fülle der anderen. Sie hätten Mutter und Tochter sein können, so groß war der Altersunterschied. Dabei wirkte Sara mit ihren sechsundzwanzig Jahren reifer als das Trampel, in dessen Arme sie sich schmiegte. Und Elly überlegte, was die beiden miteinander verband, während sie schlampig den Tisch deckte. Eigentlich verbindet die beiden nur Noten auf dem Papier. Eigentlich nur die wenigen gemeinsamen Schritte in der Welt der Musik. Mehr nicht. Ich könnte den Kaffee dünner aufgießen als üblich und kein Holz im Kamin nachlegen. Denn eine wie die Bechstein sollte hier nicht sein.
Das Porzellan nicht das beste und die Servietten schräg gefaltet, keine Blumen, nur fast abgebrannte Kerzen, auch kein Silberbesteck lag neben den Tellern. In der Mitte die Schwarzwälder Torte mit Dellen am Rand, vermutlich durch den Transport entstanden.
»Fertig gedeckt!«, rief Elly den beiden zu und unterbrach die für ihren Geschmack viel zu innige Begrüßung. Die Bechstein löste sich zuerst. Abrupt drehte sie sich um, dabei wischte sie sich über die Augen. Mechanisch griff Elly in ihre Schürze und hielt ihr ein Taschentuch entgegen.
»Sind Sie erkältet?«
»Na ja, ich habe schon schönere Tafeln gesehen«, bemerkte Helene Bechstein und fügte an: »Das Rezept ist von Wölfchen. Setz dich, Liebes, und probier mal.« Sie trat an den Tisch und lud mit Schwung ein Stück Torte auf Saras Teller, dabei zwinkerte sie verschwörerisch. »Er hat es mir am vorigen Wochenende auf dem Berghof verraten.« Dann nahm sie die Kaffeekanne und schenkte ein, als wäre sie die Gastgeberin. An Elly gerichtet entschied sie, das Personal könne sich endlich in die Küche zurückziehen. Sie habe ein Geheimnis mitgebracht. Ein strenger Zug um den Mund verriet, dass sie es nicht gewohnt war zu diskutieren. »Was ich zu sagen habe, ist höchst delikat. Das geht Fremde gar nichts an.« Damit nahm Helene Bechstein ihren Platz am Tisch ein und betonte, dass sie sich schon seit Stunden auf das Plaudern mit Sara freue.
Nicht mit mir, dachte Elly. Sie trat selbstsicher an den langen hölzernen Tisch, zündete die Kerzenstümpfe an. Sie durchquerte den Salon und zog dabei ein Staubtuch aus der Schürzentasche, um über das Vertiko an der Wand zu wedeln. Sehr leise summte sie die Melodie nach, die Sara zuvor gespielt hatte. Dann schob sie die beigen Samtvorhänge der bodentiefen Fenster zurück. Es schneite seit Tagen. Ein Wintermärchen.
»Zum letzten Mal: Ich muss mit dir allein sprechen. Es ist wichtig. Schick deine Köchin in die Küche!«
Unsicher wandte Sara den Kopf vom Tisch zum Fenster und zurück. »Aber Elly gehört zur Familie.«
»Pass auf, Liebes, entweder das funktioniert jetzt, oder du erfährst es zu spät. Es wäre dein Schaden, dein wirklich großer, unabänderlicher Schaden.« Helene deutete mit dem Kinn auf Elly.
Einzig um Sara nicht in Verlegenheit zu bringen, zog Elly sich in das angrenzende Musikzimmer zurück. Es war durch eine doppelte Flügeltür aus Glas vom Salon getrennt. In anderen Zeiten, als Gäste noch unkontrolliert in der Villa ein und aus gehen durften, hatten sich hier Freunde zum gemeinsamen Konzert getroffen. Vorbei, vorerst, dachte sie und begann, den Lack des Klaviers zu wienern. Immer rundherum, nur auf einer Stelle, das Ohr zum Salon gerichtet. Hin und wieder drangen Wortfetzen durch den Türspalt.
»Wer ist Wölfchen?«, fragte Sara.
»Na, unser Führer.« Helene gluckste. »Ich habe ihm den Kosenamen gegeben. Hast du das nicht gewusst?«
»Man hält Hanns und seine Kollegen von der Arbeit ab. Sogar mein Musikkreis wird kontrolliert.«
»Ja, ja, da entwickelt sich was. Aus dir hätte was werden können. Ich hätte dich zum Star gemacht. Jetzt ist es zu spät.«
Mit Druck wischte Elly den Kreis auf dem Klavier. Rund und rund und ohne Anfang und ohne Ende. Schlieren entstehen, Schlieren vergehen. Helene, die Förderin. Helene, die Grande Dame der Berliner Gesellschaft. Helene, die Mäzenatin für junge Musiktalente. Elly stoppte. Durchkreuzte mit dem Staubtuch den Kreis. Helene, die Ziehmutter von Hitler. Wie konnte sie es wagen, ihre Füße in dieses Haus zu setzen und Sara Liebes zu nennen!
Die Wortfetzen wurden eindringlicher. Elly faltete das Staubtuch, steckte es in die Schürzentasche. Sie öffnete die Tür mit Schwung, sah in den Salon. Beide Frauen saßen sich gegenüber, weit über den Tisch zueinander gebeugt.
»Wie gesagt, das Rezept ist von ihm. Aber das wollte ich gar nicht erzählen. Warum ich hier bin …«
»Was hat Hitler sich ausgedacht? Noch mehr Schikanen?«, unterbrach Sara ihren Gast zu laut, als wollte sie endlich ausspucken, was ihr schon lange bitter aufgestoßen war.
Da klatschte Helene in ihre großen Hände. »Schweig. Sprich nicht so über den Führer!«
»Für mich ist er einer, der sogar Kinder drangsalieren lässt. Leon hat Angst, in die Schule zu gehen. Mit dem Rohrstock wird ihm auf die Finger geschlagen. Mein Kleiner hält das nicht aus. Wenn du so einen guten Draht zur Partei hast, dann tu was. Er ist doch dein Patenjunge!«
»Und Wölfchen ist mir wie ein Sohn.«
Wie ein Donnerschlag grollte der Satz durch die Villa. Helene, die Heuchlerin. Auf der Stelle sollte sie das Sternberg’sche Haus verlassen. Wenn Sara nicht die Courage hatte, den Gast in den Vorgarten zu setzen, dann würde Elly selbst nicht länger zögern.
Sara fasste sich an die Schläfe, rieb mit dem Zeigefinger darüber. Sie kniff die Augen zusammen, als wäre das matte Winterlicht im Raum ihr eine Pein. Ihre Stimme wirkte ruhig, und doch hörte Elly ein leises Flattern darin, als sie weitersprach. Ihr liege die deutsche Kultur in den Genen. Sie gehe vor deutschen Komponisten wie Schumann oder Bach in die Knie. Sie verehre Carl Bechstein, der mit seinem Pianoforte solche Klangfülle geschaffen habe. Ein Genie. Sie selbst sei eine deutsche Künstlerin und vor allem eine deutsche Mutter. Sie spreche, fühle, singe, lese, schreibe Deutsch. Wie Helene. Und sie hoffe auf Frieden. Hitler hingegen sei ein Aufwiegler, in seinem Wahnsinn gebe es keinen Platz für die schönen Worte, überhaupt für die Kunst! Ein armseliger Emporkömmling aus Österreich sei er, und ein Schmarotzer der ältlichen Damen der Gesellschaft. Und mit ihrer tiefen Stimme fügte sie hinzu: »Dein Schwiegervater würde sich im Grabe umdrehen, wenn er wüsste, wie du seinen Namen beschmutzt! Bist doch nur eingeheiratet.«
Elly hielt inne. Das waren deutliche Worte, das hätte sie Sara gar nicht zugetraut. War sie ansonsten eher zurückhaltend, fast eine Träumerin in einer unheilvollen Zeit, so zeigte sie sich plötzlich entschlossen, Helene die Meinung zu sagen und damit dieser verblendeten Frau die Freundschaft zu kündigen. Elly erwartete nun ein Desaster. Sie tat einen Schritt vor die Glastür, bereit, Sara zur Hilfe zu kommen. Und als sie bemerkte, dass Sara sich wieder und wieder die Stirn massierte, dass ihre Hände dabei zitterten, da fand Elly es an der Zeit, die dicke Helene vor die Tür zu bitten.
Entschieden ging sie auf den Esstisch zu, stoppte an der Treppe, die in weit ausladendem Schwung ins obere Stockwerk führte und den Salon in zwei Teile trennte. Sie würde ihre Kompetenz nun überschreiten. Sara zuliebe. An der schmalen Seite des nachlässig gedeckten Tisches blieb sie stehen, stemmte die Hände in die Hüften, das tat sie immer, wenn sie nicht wusste, wohin damit.
»Frau Bechstein. Das Kaffeetrinken ist beendet«, erklärte Elly und ärgerte sich, dass ihre Stimme dünn klang.
Helene lachte auf. »Redet die schon wieder mit? Was ist das denn für eine verkehrte Welt?«
Aber Elly ließ sich nicht beirren. Zur Salzsäule erstarrt, stand sie da. Sie würde keine weitere Aufregung dulden! Seit Hanns ihr erklärt hatte, wie gefährlich Saras Migräne für das Gehirn war, passte sie auf. Denn Hanns musste es wissen, immerhin zählte er zu den bekannten Neurologen der Stadt. »Jeder heftige Schmerz hinterlässt weiße Flecken hinter der Stirn«, hatte er in seinem Studierzimmer gesagt und mit dem Stab gegen das Röntgenbild getippt. »Das ist gefährlich, denn an dieser Stelle wohnt die Seele.«
Elly hatte sich zur Leuchttafel an der Wand gebeugt. Sehr lange hatte sie das Röntgenbild betrachtet, um darauf den Eigensinn dieser Sara-Seele zu sehen. »Wie Schneeflocken«, hatte sie dann gesagt, und Hanns hatte hinzugefügt: »Nur schmelzen die nicht mehr.«
Das fiel ihr wieder ein, und deshalb dachte sie, sie müsse handeln, und zwar sofort: Sie begann, den Tisch abzuräumen, obwohl der Gast noch daran saß. Sie tat es, um Schneeflocken im Gehirn zu verhindern, um die Sara-Seele zu schützen. Zuerst nahm sie die Hitler-Torte. Mit einem lauten Klappern des Mülleimers in der Küche landete die im Sack. Sie leckte einen Rest vom Finger ab, stellte fest: Der Teig schmeckte vorzüglich, keine Frage. Vermutlich hatte Hitler die besten Nazi-Konditoren Deutschlands ans Rezept befohlen. Elly lutschte noch einmal am Zeigefinger, kostete nach: Rosen und Schokolade, einen Schuss Kirschwasser. Die Eier getrennt geschlagen. Sie schmierte den Rest an ihrer Schürze ab. Der Schlächter ein Feinschmecker? Das passt nicht zusammen, dachte sie und ging schleunigst in den Salon zurück, pustete die Kerzen aus. Und während sie sich über den Tisch beugte, während sie auf Höhe von Helenes üppigem Busen einen Moment verweilte, um Unruhe und Unbequemlichkeit zu erzeugen, da erblickte sie die Brosche: das goldene Abzeichen der NSDAP.
Diese Dreistigkeit verschlug Elly die Sprache. Da kam die Bechstein hier zu Besuch in die Sternberg’sche Villa und trug das Zeichen der Nazis in Gold an der Brust? In einem jüdischen Haushalt solch eine Beleidigung? Laut fragte Elly: »Haben Sie noch alle Tassen im Schrank?«
Helene sprang vom Stuhl auf. Mit der rechten Hand fummelte sie an der Brosche herum. Mit der linken fuhr sie sich durch die Haare, einige Strähnen stachen aus dem Dutt, dann lösten sich die Haare gänzlich und fielen in Wellen bis zur Schulter. Weich umspielten sie das Gesicht, schmiegten sich über den breiten weißen Kragen. Helene sah aus wie eine Madonna mit verrutschtem Lachen. »Das Goldene habe ich mir verdient. Und es ist mir eine Verpflichtung. Trotzdem bin ich hier, falle dem Wölfchen in den Rücken. Aber Gutmütigkeit wird ja selten honoriert. Schon gar nicht von euch Juden.«
»Was meinst du?«, fragte Sara, deren Lippen mittlerweile jegliche Farbe verloren hatten.
»Pah, es war nur ein Spiel, ein weinseliges Spiel auf der Berghof-Terrasse. Du weißt, wie das ist, man trinkt ein, zwei Gläschen zu viel, kommt in Laune, wird albern. Haben wir Spaß gehabt!« Helene ließ die Brosche los und trat dicht hinter Sara. »Und weil ich ein guter Mensch bin, verrate ich dir jetzt das Geheimnis. Aber ohne das Gesindel im Nacken«, sagte sie und warf den Kopf zurück. »Ich weiß, wo ich herkomme; ich weiß, wer ich bin.«
Helene neigte sich vor, hin zur sitzenden Sara.
Küsste sie auf den Scheitel.
Die Madonna und die Büßerin.
Ein Flüstern ins Ohr.
Schweigen.
Noch ein Kuss. Noch ein Flüstern.
Saras Schrei.
Für eine Sekunde überlegte Elly, ob sie die rechte Hand zur Faust pressen sollte, zum Haken ausholen sollte, wie es ihre Schwester Luise in solchen Situationen tat. Arm zurück und alle Kraft nach vorn. Zielschlag. Unterkiefer.
Aber da drehte sich die dicke Madonna weg. Sie hob den rechten Arm, stand stramm. »Heil Hitler!«
Sie rauschte durch die Diele, hinaus in den Garten. Am Tor drehte sie sich noch einmal um. »Ich habe nichts gesagt. Es war einer von den anderen.«
»Wann genau ist sie gegangen?«, fragte Hanns über seine gefalteten Hände hinweg. Wie jeden Abend saß er am Tisch, um zu beten, bevor das Essen aufgetragen wurde. Solange Elly sich erinnern konnte, pflegte er diese Geste der gefalteten Hände, auch wenn sie außerhalb der jüdischen Rituale stattfand. In den eigenen vier Wänden, so sagte er, dürften Konventionen bröckeln. Für ihn war das Falten der Hände wie die Einkehr bei Gott und damit das Schöpfen aus einer unendlichen Kraft. Um Punkt sechs hängte er abends seinen weißen Kittel im Studierzimmer an den Nagel, wie er es nannte, und zog seine grüne Strickjacke über das Hemd. Ein edles Stück, Kaschmir mit Seide. Auch wenn die mittlerweile in die Jahre gekommen war, so mochte er die Jacke. Überhaupt erklärte er gerne, dass Gewohnheiten die Stützpfeiler im Alltag seien. »Routine beruhigt das Gemüt«, so lautete sein Rat. Elly glaubte ihm das im Allgemeinen, immerhin erforschte er die Gedanken und vor allem das Verhalten von Menschen in herausfordernden Situationen. Nur hatte Elly für seine Gelassenheit jetzt kein Verständnis.
»Sie ist gerannt, nicht gegangen. Gegen halb zwölf ist Sara aus dem Haus gestürmt«, sagte sie patzig.
»Wahrscheinlich klärt sich alles in logischer Weise auf. Warten wir ab.«
Sie fühlte sich nicht ernst genommen. Und seine betenden Hände passten ganz und gar nicht in diesen Abend. Waren seine Finger ansonsten zielgerichtet, sogar fähig, die grauen Zellen unter einem Schädel auseinanderzuschieben, wenn dazwischen ein Geschwür wucherte, so blieben sie jetzt tatenlos. Er schloss die Augen, und damit gab er das Zeichen, dass für ihn das Gespräch beendet war.
»Sie hat sich nur den Mantel übergeworfen, keinen Schal, keinen Hut. Hat sich noch nicht mal verabschiedet.«
Hanns seufzte zum wiederholten Mal, löste die Fingerspitzen voneinander.
»Rufen wir Leon. Essen wir. Zum Gebet brauche ich Konzentration, das scheint nicht zu klappen.«
»Es gibt Bohnensuppe, die kann man warm halten.«
»Wir suchen jetzt nicht. Sara wird wissen, was sie tut.«
Hanns rief nach seinem Sohn, aber der antwortete von oben, dass er ohne seine Mama nicht komme.
Wieder seufzte Hanns.
Ungestüm rückte Elly den Stuhl zurecht, auf dem Sara gewöhnlich saß. Darauf ließ sie sich fallen und merkte an, sie werde nicht so tun, als wäre nichts geschehen. Etwas laufe schief, ganz und gar schief. Sie könne nicht verstehen, warum er hier sitze und bete und vielleicht ein Drama ignoriere. Auf den lieben Gott könne man sich nicht blind verlassen. Manchmal nämlich vergesse der einige seiner Schafe. Oder sei Hanns etwa ein Hiob? Die Hütte brenne, und man lösche nicht? Sie sagte das zu laut, zu schnell, sie schleuderte die Worte hinaus und wusste, dass ihr solch ein Ton nicht zustand. Sara war verschwunden! Womöglich in Not geraten. Ein Verbrechen. Das geschah. Täglich. Unerwartet und in einer brutalen Weise. Sie mussten etwas unternehmen. Sara suchen, irgendjemanden alarmieren. Sofort.
Aber seine hochgezogenen Augenbrauen zeigten anderes. Er würde sitzen bleiben und sie nicht ernst nehmen. Er würde denken, Elly habe sich vom Tratsch im Park anstecken lassen. Dabei hatte sie ihm in den letzten sieben Jahren wie eine Fee gedient; wenngleich sie auch die grazile Figur längst verloren hatte, so war sie doch immer darauf bedacht gewesen, leise, umsichtig zu sein, sich in einer unaufgeregten Art nahezu schwebend mit den Umständen der Familie zu verflechten. Und sie wollte, dass er nun ihre Sorge teilte. Er sollte nicht still dasitzen und beten! Deshalb fuhr sie mit dem Zeigefinger über den Tisch, suchte nach Worten, um ihm die Ohnmacht klarzumachen, in der sie seit Stunden steckte. Sie malte mit dem Finger einen Kreis auf das Holz des Tisches, wie sie es am Vormittag auf dem Flügeldeckel getan hatte. Ohne Ende und Anfang, immer rundherum. An dieser Stelle hatte die Schwarzwälder Kirschtorte gestanden – und hatte Unglück ins Haus gebracht. Aber wie sollte sie Hanns das erklären? Sie kratzte jetzt mit dem Fingernagel über das Holz, ein unangenehmes Geräusch.
Und endlich fragte Hanns: »Was willst du mir wirklich sagen?«
»Ich habe Schuld«, stieß sie aus.
»Dass Sara nicht da ist?« Er lachte laut auf. »Warum meinst du das?«
»Ich habe die Bechstein heute rausgeworfen.«
»Warum hast du das getan?«
»Sara hatte einen Migräneanfall.«
»Und daran war Helene schuld?«
»Sie hat sich herrisch verhalten. Sie nennt ihn Wölfchen.« Ellys Stimme klang aufgeregt.
Hanns umfasste ihren Oberarm. »Du hast alles richtig gemacht. Frau Bechstein wird sich beruhigen. Überall geraten Menschen wie sie mit Menschen wie uns aneinander.«
»Das macht es nicht besser!«, wandte Elly ein und fühlte sich unverstanden. »Ich hätte mit der Pfanne auf den Kaffeetisch knallen sollen«, ereiferte sie sich.
»Na, na, so aufbrausend habe ich dich noch nie erlebt.«
Elly zögerte, dann verriet sie ihm: »Da ist noch was: Ich habe diese Kälte gespürt, als ich ihr die Tür geöffnet habe.«
»Nun ja, bei minus vierzehn Grad ist das nicht verwunderlich«, witzelte Hanns, und er legte seine weiche, nahezu linienfreie Hand auf ihre. »Mach dir keine Vorwürfe. Und hör mit dem Gekratze auf dem Tisch auf, bitte.«
Vielleicht konnte er als analytischer Geist nicht um drei Ecken denken. Nur das Messbare hatte für ihn einen Wert. Aber die Welt war nicht schwarz oder weiß. Es gab diese diffusen, unberechenbaren Zwischenräume, und die entschieden, in welche Richtung das Schicksal fiel. Himmel oder Hölle, mittendrin tausend Möglichkeiten. So wagte sie noch einen Vorstoß.
»Die Kälte hatte nichts mit dem Wetter zu tun. Wie sie hier hereingeschneit ist. Rücksichtslos. Ja, so kennen wir Helene. Ich weiß. Aber da war noch was. Das klingt jetzt vielleicht komisch: Aber ich bin mir sicher, die hatte Angst. Und die Angst hat sie hinter ihrem schlechten Benehmen versteckt. Das habe ich gerochen.«
Hanns lächelte milde wie immer, wenn er anhob, um zu dozieren. »In der Wissenschaft gibt es drei Merkmale für Angst: Schweiß. Erhöhter Herzschlag. Erweiterte Pupillen. Fakten zum veränderten Geruch bei Menschen gibt es nicht. Wir sollten versuchen, keinen Hokuspokus in die Sache hineinzuinterpretieren.«
Elly öffnete den Mund, schloss ihn wieder, missbilligend sah Hanns sie an. Deshalb teilte sie ihm nicht mit, was sie im Park erfahren hatte. Er würde es sowieso in seine Kategorie Unbestätigtes einsortieren, nur, weil ihm Zahlen und Daten fehlten. Für Elly jedoch waren es furchtbare Wahrheiten, verhängnisvolle Entwicklungen. Die würden weitergehen und weiter, die würden wie Brandbeschleuniger des Hasses sein. Im Park erzählte man sich hinter vorgehaltener Hand, dass private Häuser nahe der Großen Hamburger Straße aufgebrochen, geplündert und ganze Familien hinausgetrieben worden waren. Einfach rausgeworfen aus ihrem Zuhause. In Berlins Mitte, wo Künstler und Denker, Wohlhabende und Ärmliche sich einrichteten, wo Berlin bunt war, dort hatte das Unheil seinen Lauf genommen.
Für Berlin war sie vor vielen Jahren aus dem Rheinland aufgebrochen. Wie eine laszive Dame hatte die Stadt Elly angelächelt, mit Arroganz hatte sie gelockt und Lebenslust all denen versprochen, die ihr zugetan waren, bereit, ihren Launen zu folgen. Fürsorge lag der Stadt nicht. Wer schwächelte, der fiel aus ihrer Gunst. Der landete in den schmutzigen Hinterhäusern mit undichtem Gemäuer und Ratten im Hof. Wer aber den Mumm hatte, über Dreck hinwegzusteigen und sich gleichsam nach dem Licht zu strecken, der wurde belohnt. Der fand den Weg zu seinem Traum, alles war möglich in Berlin. Sie hatte reingepackt ins Vergnügen, hatte sich mitreißen lassen von Party und Glitzer und den Attitüden der Reichen, die abstiegen, wo sie einst gekocht hatte, im Adlon. Und auch später, als sie längst die Köchin bei Sternbergs war, hatte sie die Nächte durchtanzt. Hatte Charleston gelernt in Kreuzberg und fand Gefallen am Flirten. Auch Tango mochte sie. Fühlte sich ein wenig verwegen. War auf der Suche nach einem, der ihr Herz erobern würde. Dann kam tatsächlich einer, Marçeau, der Maler. Ungestüm hatten sie sich in seinem Atelier ineinandergeschlungen, sich mit Farbe an den geheimsten Stellen bemalt, als wären sie ein Kunstwerk. All diese Erinnerungen würde sie immer in sich tragen, die würden ihr Bild von Berlin und von einem aufregenden Leben prägen.
Dann wurde Leon geboren, da war Elly ruhiger geworden, verantwortungsvoll wie eine Mutter mit kleinem Kind, auch wenn es das Kind von Hanns und Sara Sternberg war. Die Stadt veränderte sich, sie lockte Elly nicht mehr mit ihren Launen, nicht mehr mit ihrem Glanz. Ihre Stadt umspielte sie nun mit Geduld und Sanftheit, wurde auf gutmütige Weise zu Ellys Heimat.
Und dieses Berlin, ihr Berlin, merzte man aus! Von Mitte bis nach Charlottenburg, bis in ihre Nachbarschaft. Vorgestern war die Familie von gegenüber verschwunden. Verhaftet. Ganz unauffällig. Von der Gestapo. Man vermutete im Park, die Herrschaften samt Haushälterin säßen seither in einem Wartesaal in der Großen Hamburger Straße am Rande der Spree nahe der beschädigten Synagoge, eingeschlossen und bewacht.
Ging das alles an Hanns vorbei? Kannte er wirklich keine Angst? Hanns musste doch sehen, dass ein teuflischer Plan vollstreckt wurde, der Plan der Nazis.
»Warum handelst du nicht, Hanns? Vielleicht übertrete ich eine Grenze als deine Köchin, aber ich finde, du bist absolut ignorant. Du klammerst dich an eine heile Welt. Die gibt es nicht mehr. Du verschließt die Augen, und damit läufst du denen ins offene Messer. Soll ich dir Fakten nennen? Du erinnerst dich: Die haben dir vor wenigen Monaten die Approbation genommen. Darfst dich nicht mehr Arzt nennen. Krankenbehandler sollst du nur noch sein, und zwar im Studierzimmer. Was kommt als Nächstes?«
Hanns antwortete, dass sie nun in der Tat eine Grenze überschreite. Man solle kein Menetekel an die Wand werfen und damit ein Verhängnis betreiben. Hoffnung heiße das Pfand für eine Zukunft. Nur wer jetzt zu seinen Aufgaben stehe, nur wer seinen Alltag im Äußeren und seine Liebe im Inneren bewahre, der werde sich nicht verlieren.
Mit Schwung schob Elly den Stuhl zurück und sprang auf. »Sie hat mich Gesindel genannt – und dann etwas in Saras Ohr geflüstert.«
»Ein unverschämtes Benehmen«, fand auch Hanns.
»Darum geht es nicht. Da komme ich drüber. Fest steht nur: Das Flüstern ist der Grund für Saras Verschwinden. Ich suche sie jetzt.«
Hanns blieb stoisch am Tisch, leicht bewegte er die Lippen. Gepriesen seist du, Ewiger, unser Gott; du regierst die Welt. Du hast die Früchte des Erdbodens geschaffen …
Elly bemerkte, dass seine kluge Stirn glänzte. Er war fähig, Sorgen zurückzuhalten, auch wenn ihn das enorme Kraft kostete. Ein Mann, der die Fassung nie verlor, stattdessen an einen Ausweg aus jedem Dilemma mit Gottes Hilfe glaubte. Fürsorglich strich sie über seine Schulter. Sie hätte sich auch gern in so eine weiche alte Wolle gekuschelt. Ein Kokon, um die innere Ruhe zu schützen. Sie würde ihm später einen Brennnesselsud bereiten.
»Ich bin jetzt weg!«
Er nickte, ohne sein Gebet zu unterbrechen. Und da öffnete sich die Haustür. Im Rahmen stand Sara. Die Arme um den dünnen Leib geschlungen. Sie atmete langsam ein und noch langsamer aus. Ihr Gesicht war nicht blass wie sonst, sondern grau, verlaufene Wimperntusche bis zum Kinn. Hinter ihr, im Freien, fiel das Mondlicht auf die dünne Schneedecke, der Wind stob hoch und bildete Linien darauf.
»Wir werden weiße Weihnachten haben«, bemerkte Elly und wusste nicht, warum ihr das wichtig war.