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Thomas Kaufmann

DIE TÄUFER

Von den radikalen Reformatoren zu den Baptisten

C.H.Beck


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Seit der Antike wurden Kinder getauft, um sie vor der ewigen Verdammnis zu bewahren. Im Zuge der Reformation brachen einige radikale Theologen auch mit dieser Tradition, um die Taufe der Entscheidung des mündigen Christen zu überlassen. Thomas Kaufmann schildert konzise die Geschichte der Täufer von den Anfängen über das Täuferreich zu Münster und friedliche Gemeinschaften wie die Hutterer oder die Mennoniten bis hin zu den Baptisten, die sich bald vor allem in Nordamerika verbreiteten und heute weltweit zu den größten christlichen Konfessionen gehören. Sein anschaulicher Überblick macht deutlich, dass der radikale Einspruch der Täufer gegen kirchliche Traditionen bis heute virulent ist.

Über den Autor

Thomas Kaufmann ist Professor für Kirchengeschichte an der Universität Göttingen, Vorsitzender des Vereins für Reformationsgeschichte und Mitglied der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Bei C.H.Beck erschienen von ihm außerdem «Erlöste und Verdammte. Eine Geschichte der Reformation» (4. Aufl. 2017) sowie in C.H.Beck Wissen «Martin Luther» (5. Aufl. 2017).

Inhalt

Einleitung: Wer waren die Täufer?

Die Säuglingstaufe und ihre Verweigerung

Der kritische Blick der Zeitgenossen

Umwertungen seit 1700

Neuere Forschungen

1. Anfänge in der Frühreformation (ab 1521)

Zwickau: Nikolaus Storch

Karlstadt in Wittenberg und Orlamünde

Zürich: Konrad Grebel und Felix Manz

2. Dramatische Aufbrüche und innere Widersprüche (ab 1525)

Zurück zur «wahren Kirche» des Anfangs: Massentaufen, Liebesmähler und Bußprozessionen

Balthasar Hubmaier in Waldshut und Nikolsburg

Das Schleitheimer Bekenntnis

Erben der sächsischen Radikalen

3. Facetten des Täufertums bis zur Täuferherrschaft von Münster

Verfolgung bis zum Tod

Die Uttenreuther Träumer

Kürschner und Prophet: Melchior Hoffman

Die Melchioriten und das Münsteraner Täuferreich (1534–​1536)

Militante Reste einer entgleisten Ideologie: Die Batenburger

4. Freie Gemeinschaften jenseits der Gewalt (ab etwa 1530)

Die Austerlitzer Gemeinde in Mähren

Die Sabbatarier in Böhmen

Die Hutterer zwischen Tirol und Mähren

Die Schweizer Brüder

Die kurzlebigen Davidjoristen

In Nord- und Mitteleuropa: Die Mennoniten

5. Täuferische Dissenter: Theologische Schnittmengen und kulturelle Eigenarten

6. Von der Alten in die Neue Welt (17. und 18. Jahrhundert)

Pietisten, Neutäufer und andere «Wiedertäufer»

Zwischen Verfolgung, Duldung und Integration

Nordamerika: Freiraum für Amische, siebenbürgische Hutterer, Puritaner, Quäker

7. Ein neuer Spross: Die Baptisten (ab 1608)

Puritanische Wurzeln in England

Die Erweckungsbewegung in Nordamerika

Baptistische Gemeinden in Deutschland

Baptisten weltweit

Epilog: Die Täufer in der Geschichte des Christentums

Unbehagen gegenüber Obrigkeiten

Wandel und Dynamik

Freiwilligkeit und Toleranz

Autonomie ohne faule Kompromisse

Karte: Verbreitung der Täuferbewegung in Mitteleuropa bis 1550

Quellen und Literatur

Bibliographien und Hilfsmittel

Quellen

Literatur

Bildnachweis

Register

Einleitung: Wer waren die Täufer?

Die Säuglingstaufe und ihre Verweigerung

Seit dem 5. Jahrhundert wurde die Säuglingstaufe die rituelle Regelpraxis des Christentums; ihre Verweigerung gilt mit einigem Recht als das wichtigste Kennzeichen des Täufertums. Gegenüber der im 16. Jahrhundert üblichen Bezeichnung «Wiedertäufer» hat sich seit der Mitte des 20. Jahrhunderts im Deutschen der Begriff «Täufer» weitgehend durchgesetzt. Man begann die Auffassung der betroffenen Gruppen zu akzeptieren, dass eine Säuglingstaufe keine Taufe sei und daher die Bekenntnistaufe keine zweite. In anderen europäischen Sprachen lebt der ältere Sprachgebrauch (lat. anabaptistae; frz. anabaptistes; engl. anabaptists; ital. anabattisti) bis heute fort.

Die historischen Ursprünge der Täufer liegen im frühen 16. Jahrhundert, also in den «Reformation» genannten Auseinandersetzungen. Unter den damals entstandenen devianten Gruppen waren die Täufer die einflussreichste. In der Geschichte der antiken oder mittelalterlichen «Ketzereien» hatten gruppenbildende Verweigerungen der Kindertaufe keine nennenswerte Rolle gespielt, auch wenn dies von Täufergegnern gelegentlich behauptet wurde. Der Zürcher Kirchenführer Heinrich Bullinger etwa, einer der einflussreichsten Historiographen des frühen Täufertums, identifizierte die altkirchlichen «Ketzer» Novatian, Auxentius und Pelagius und den mittelalterlichen Laienprediger Valdes als Vorläufer der Täufer. Darin, dass Nicht-Geweihte – nach dem Rechtsverständnis der römischen Kirche also Laien – in einigen hoch- und spätmittelalterlichen «Ketzergruppen», etwa bei den Waldensern, heilige Kult- und Sprachhandlungen versahen, sind jedoch Analogien zu täuferischen Lebensformen und Praktiken zu sehen.

Die in Frömmigkeit, Theologie und Kirchenrecht seit der Spätantike fest verwurzelte Taufe Neugeborener war in der Ost- wie der Westkirche weithin unumstritten; ihre Plausibilität, ja Notwendigkeit ergab sich insbesondere daraus, dass seit dem wichtigsten Kirchenvater des lateinischen Okzidents, Aurelius Augustinus (354–​430), jedes Menschenkind als mit dem Makel der Ur- oder Erbsünde behaftet galt. In sündiger Lust gezeugt, aktualisiere jeder Mensch gleich welchen Alters immer neu schuldhaft, was doch bereits als Verhängnis auf ihm liege: die böse Begehrlichkeit (concupiscentia), den Hochmut (superbia), die Eigenliebe (amor sui), die die Mitwelt als Medium des Selbstgenusses instrumentalisiert und Gott die ihm gebührende liebende Verehrung (amor Dei) verweigert. Mit der Taufe habe Christus seiner Kirche als göttlich legitimierter Heilsanstalt das entscheidende Mittel übertragen, um die Menschen vor der ewigen Verdammnis zu bewahren, die aus der Erb- oder Ursünde folge. Die Taufe galt mithin als Sakrament, als Heilsmittel, das durch einen sichtbaren rituellen Vollzug – im Kern: die dreimalige Berührung des Täuflings mit Wasser, die Handauflegung durch den Täufer, das Sprechen einer Segensformel auf den dreieinigen Gott und eine als Exorzisierungsakt wirksame Kennzeichnung mit dem Kreuzessymbol – eine unsichtbare Gnade vermittle. In der römisch-katholischen Tradition war sie das lebensgeschichtlich erste der insgesamt sieben Sakramente (Taufe, Firmung, Beichte, Abendmahl, Ehe, Priesterweihe, letzte Ölung), die das Leben eines Gläubigen von der Wiege bis zur Bahre heilsam begleiteten, es sinnhaft disziplinierten, aufs ewige Leben ausrichteten und dauerhaft an die Kirche als alternativlose Heilsvermittlerin banden.

Die Verweigerung der Kindertaufe war ein dramatischer Sachverhalt. Sie bedeutete, die Erbsündenlehre bzw. das ihr zugrundeliegende Menschenbild und das mit ihr verbundene Erlösungskonzept infrage zu stellen, dazu die Rolle der Amtsgeistlichkeit und nicht zuletzt die Notwendigkeit der Heilsanstalt Kirche. Der Angriff auf die Kindertaufe, den viele Täufer im Namen der Bibel führten, galt mithin einer christlich imprägnierten Kultur und ihrer anstaltlich verfassten, auch von den Reformatoren – ob in Wittenberg oder Zürich, Straßburg, Stockholm, Edinburgh oder Genf – bejahten Sozialform: der Kirche. Insofern bildeten die Täufer in der überwiegenden Mehrheit ihrer Erscheinungen alternative Sozialgestalten des Christlichen – früher pejorativ als «Sekten» bezeichnet – aus, die von den politischen Obrigkeiten und den Vertretern der Kirchen aller drei Konfessionen bekämpft wurden, von Luthertum, Reformiertentum und römischem Katholizismus.

Anders als die Konfessionskirchen war das Christentum der Täufer stärker durch freiwillige Entscheidungen religionsmündiger Einzelner geprägt, die die christliche Religion in ihre eigenen Hände zu nehmen versuchten. Die Täufer erkannten durch Amtsträgerschaft repräsentierte rechtlich-institutionelle Autoritätsformen in der Regel nicht an. Sie kultivierten ein Bewusstsein der Abgrenzung von der großen Masse der «Anderen» und der Zugehörigkeit zu einer spezifisch qualifizierten, meist strengen Sittlichkeitsstandards unterliegenden Gruppe Erwählter. Das Täufertum stellte ein besonders dynamisches Moment der mit der Reformation aufbrechenden und bis heute anhaltenden Pluralisierungsepoche des lateinischen Christentums dar.

Der kritische Blick der Zeitgenossen

Freilich wird man dem in sich außerordentlich vielfältigen religionskulturellen Phänomen der «Täufer» nicht gerecht, wenn man es allein von der Taufe her versteht bzw. auf die Ablehnung der Kindertaufe reduziert. Schon an den in der Reformationszeit einsetzenden ersten Versuchen, die Täufer historiographisch zu fassen, wird dies deutlich. Der spiritualistische Freigeist Sebastian Franck, der allen religiösen Gruppenbildungen der Zeit einschließlich der Großkirchen, die er samt und sonders «Sekten» nannte, wegen deren Tendenz zur Selbstgerechtigkeit und Intoleranz mit größter Skepsis begegnete, sich selbst zur «geystlichen unparteischen zerströwten kirchen Christi under allen Heyden» bekennend, betonte in seiner Chronica oder Geschichtsbibel, dass die Täufer «undereinander uneynig und zerrissen» seien; deshalb könne nichts «gwiss und endtlichs» über sie gesagt werden.

Dass sich Franck dann doch seitenlang über sie ausließ, lag vor allem daran, dass es sehr viel Interessantes, Disparates, ja Widersprüchliches über sie zu berichten gab: Einigen war etwa die Kindertaufe ein Gräuel, andere nahmen sie hin, auch wenn sie sie für keine rechtmäßige Taufe hielten und deshalb auf einer «echten» im Erwachsenenalter bestanden. Einige hielten allein ihre «Sekte» für rein und heilig, andere übten immerzu, auch gegen die eigenen Mitglieder, schärfste Kirchenzucht und schleuderten unablässig Bannstrahlen der Exkommunikation in alle möglichen Richtungen. Einige reglementierten Kleidung und Speise ähnlich streng, wie manche Mönchsregeln es taten; wieder andere überließen alles Äußerliche, selbst Partnerwahl und Geschlechtsverkehr, dem freien Belieben ihrer Gemeinde.

Auch in Bezug auf den Umgang mit der Bibel vermerkte Franck gegensätzliche Positionen: Während einige Täufer in biblizistischer Manier nach dem Buchstaben der Schrift lebten und auch ihre Mit- und Umwelt allein daran maßen, betonten andere das Wirken des Geistes und nahmen unmittelbare göttliche Weisungen für sich in Anspruch. Einige täuferische Gemeinschaften praktizierten das apostolische Modell der Gütergemeinschaft (Apg 4), andere nicht. Ähnlich disparat war der Umgang der Täufer mit Leiden und Gewalt. Während einige «durchs leiden und nicht durch Christum» zum Heil zu gelangen meinten und nach Franck «einen Abgott auß dem leiden machten», sähen andere in Unbill und Verfolgung allenfalls ein ihnen aufgenötigtes Schicksal.

Auch wenn Franck der in Martyrien führenden Leidensbereitschaft vieler Täufer den Respekt nicht versagte, sah er darin doch eine bedenkliche Form des Fanatismus. In der Frage, ob die Anwendung physischer Gewalt durch weltliche Obrigkeiten mit dem Bekenntnis zum wahren, täuferischen Christentum vereinbar sei, standen sich ebenfalls radikal gegensätzliche täuferische Auffassungen und Gruppen gegenüber. Francks Geschichtsdarstellung, die in ihrer ersten Fassung (1531) weniger als ein Jahrzehnt nach dem frühesten Auftreten des Täufertums erschienen war, dokumentiert, dass schon ein Zeitgenosse die Einheit und die Vielfalt, den inneren Zusammenhang und die massive doktrinale und kulturelle Disparität der Täufer intensiv wahrnahm. Dass die Täufer ein besonders sperriger Gegenstand jeder historischen Darstellung sind, dürfte das Unstrittigste an ihnen geblieben sein.

Antistes Heinrich Bullinger, der wirkungsreichste Schriftsteller über die Täufer aus dem Kreis der Reformatoren, blickte als rechtgläubiger reformierter Kirchenmann auf sie. Ihre Ursprünge sah er, ähnlich übrigens wie der Wittenberger Gelehrte Philipp Melanchthon, fernab von Zürich, seinem Wirkungsort – und dem seines verehrten Vorgängers Ulrich Zwingli –, und zwar im fernen «lutherischen» Sachsen: bei dem Tuchmacher Nikolaus Storch. Dieser war das Haupt der sogenannten Zwickauer Propheten, einer Laiengruppe, die «troumend/ unnd als durch gesichten und offenbarungen/ von Gott … uß dem himmel» inspiriert zu sein beanspruchte. Aus «der selben schul und rott» seien dann Thomas Müntzer, Heinrich Pfeiffer, Melchior Rinck und andere radikale Geister hervorgegangen (siehe dazu Kapitel 1 und 3). Der Zürcher Täuferkreis, der sich vornehmlich aus ehemaligen Zwingli-Anhängern rekrutiert hatte, erschien bei Bullinger hingegen als ein sekundäres Phänomen. Durch diese historiographische Sicht trat er Katholiken und Lutheranern, die die Reformierten mit Vorliebe in eine besondere Nähe zu den «Schwärmern» und Täufern rückten, entgegen.

Anders als Franck betonte Bullinger, der ein überzeugter Repräsentant des reformierten Staatskirchentums war, dass die Täufer die kirchlichen Amtsautoritäten missachteten, die öffentliche Ordnung unterminierten und gefährliche Aufrührer seien. Ihnen müsse mit allen Mitteln staatlicher Gewalt, einschließlich der Todesstrafe, begegnet werden. Die enorme Vielfalt täuferischer Lebens- und Aktionsformen, Gruppenbildungen und Irrlehren, die Bullinger akribisch notierte, exemplifizierte und «bewies» seines Erachtens, dass es sich beim Täufertum um eine veritable «Ketzerei» handelte. Denn zum «Unwesen» einer solchen gehörte schließlich – das wusste man seit der Antike –, dass sie sich immerzu weiter verändert, spaltet und in mäandrierenden Degenerationen fortzeugt.

Bullingers Sicht auf die Täufer kann als repräsentativ für die Historiographien der konfessionellen Kirchentümer gelten. War für die Katholiken klar, dass die Ursprünge des Täufertums vor allem bei Luther selbst lagen, jenem «Ketzer», der die Pforten der Hölle geöffnet hatte, so bestanden die Lutheraner darauf, dass es sich bei den Täufern um «falsche Brüder» handelte, vor denen schon der Apostel Paulus (Gal 2,4; 2 Kor 11,26) gewarnt hatte. Überdies stellte man heraus, dass sie aus traditionellen Quellen wie der Mystik oder dem Mönchtum schöpften, der Rechtfertigung aus Glauben und Gnade allein (sola fide, sola gratia) Hohn sprachen, Christus zum neuen Gesetzgeber pervertierten, Aufruhr entfachten und für einen anständigen Nachfolger des Wittenberger Reformators nur als Feinde Christi und der wahren Kirche betrachtet werden konnten.

Im Anschluss an Bullinger blieb es in den konfessionellen Geschichtswerken noch lange üblich, unter der wenig trennscharfen Kategorie der «Täufer» auch Spiritualisten, also auf unmittelbare, nicht durch Wort und Sakrament vermittelte Wirkungen des Heiligen Geistes setzende Gestalten wie Kaspar von Schwenckfeld, zu behandeln oder auch Antitrinitarier, Kritiker des altkirchlichen Dogmas von der Dreieinigkeit Gottes wie Michel Servet. Jede Form innerprotestantischer Devianz und Freigeisterei, mithin das «Andere» der konfessionell gefügten, disziplinierten und als Teil der öffentlichen Ordnung etablierten, alle Untertanen eines protestantischen Gemeinwesens umfassenden Staatskirche, konnte als «täuferisch» attackiert und in entsprechenden kirchlichen Visitations- und Verwaltungsakten archiviert werden. Die Selbstverständnisse der «Täufer» und das Bild, das sich ihre konfessionellen Feinde von ihnen machten, divergieren stark.

Umwertungen seit 1700

An der Schwelle vom 17. zum 18. Jahrhundert lieferte der radikalpietistische Historiker Gottfried Arnold eine wegweisende Neubewertung der Täufer. Er stand der engen Verbindung der Kirche mit dem römischen Staat, die seit den Tagen Kaiser Konstantins bestand, kritisch gegenüber. Unversöhnlich begegnete er auch der Perpetuierung des Konstantinismus unter den Bedingungen der obrigkeitsgeleiteten Reformation und des konfessionellen Zeitalters. Entsprechend wertete er die innerkirchlichen Gegner, die «Ketzer» und Außenseiter, die Marginalisierten, die Verlierer der Kirchengeschichte, in der Regel auf. Denn die eigentlichen «Ketzer» waren für ihn die auf orthodoxe Lehren fokussierten Ketzerverfolger. Dadurch brach Arnold einer fundamentalen Umwertung der Täufer Bahn. Dem entsprach, dass manche Obrigkeiten die Täufer seit dem späteren 17. Jahrhundert in ihren Territorien zu dulden begannen und als fleißige Handwerker und loyale Untertanen schätzen lernten.

Arnolds verändertes Bild der Täufer drang über die Aufklärung in die Historiographie der klassischen Moderne vor, zu Ernst Troeltsch, Max Weber und Georg Jellinek. Für diese Richtung wurde kennzeichnend, dass sie den Randsiedlern der europäischen Religionsgeschichte, also den Täufern, «protestantischen Sekten» und individualistischen Freigeistern, eine besondere Bedeutung bei der neuzeitlichen Transformation von Kultur, Staat, Gesellschaft und Christentum zuschrieben. In dieser Perspektive wurden die Verfolgten und Ausgegrenzten zu den frühesten und hartnäckigsten Advokaten der Toleranz und der Gewissensfreiheit; die Frucht ihrer Bemühungen sei in die Menschenrechtskodifikation der Neuen Welt eingegangen, wohin sie sich seit dem 17. Jahrhundert in großen Scharen flüchteten. Ihre auf Freiwilligkeit basierende Gemeinschaftsbildung habe den im Kern mittelalterlichen, im konfessionellen Zeitalter prolongierten Institutionalisierungstyp des Christentums, die kirchliche Anstalt, durchbrochen. Die Täufer haben demnach essentielle Merkmale der westlichen Moderne entwickelt oder entscheidend geprägt. In der Tradition des liberalen Protestantismus erfreuten sich das Täufertum und seine spezifischen Traditionen in der Regel positiver Resonanz, die sich nicht zuletzt in wichtigen Einzelstudien und Editionen niederschlug.

Immer dann, wenn es ihre soziokulturellen Lebensbedingungen zuließen, versuchten auch die täuferischen Gemeinschaften, zur Identitätspflege Traditionsgut ihrer eigenen Geschichte zu sichern, an die Nachgeborenen zu überliefern und im kulturellen Gedächtnis ihrer jeweiligen Gruppe zu verankern. Als erstes Werk täuferischer Geschichtsschreibung gilt eine Chronik des zu den Hutterischen Brüdern in Mähren (siehe Kapitel 4) gehörenden Schlesiers Kaspar Braitmichel (gest. 1573). Sie ordnete die Geschichte der Täufer in die Universalgeschichte der Kirche Jesu Christi ein und ließ bereits einige Perspektiven erkennen, die für das historische Selbstverständnis vieler täuferischer Gemeinschaften wichtig blieben: Trotz der Verdienste der Reformatoren – allen voran Luthers und Zwinglis – um die Wiederentdeckung des Evangeliums seien diese im Ganzen in die Irre gegangen. Denn in den unter ihrem Einfluss entstandenen Kirchentümern sei ein schriftgelehrter Doktrinarismus, eine Dominanz der «Lehre» bestimmend geworden, während es an einer sichtbaren Reform des «Lebens», an sittlicher Läuterung der Gemeinde, an wahrhaftiger Buße und Nachfolge Christi gefehlt habe. Die Kindertaufe leiste dem mangelnden Bußernst der reformatorischen Kirchen Vorschub. Ihre enge Verbindung mit den weltlichen Obrigkeiten habe diese negativen Entwicklungen zusätzlich befördert. Als Anfangspunkt der eigenen, täuferischen Geschichte sah Braitmichel den Kreis um die Zürcher Zwingli-Anhänger (Konrad Grebel, Felix Manz, Jörg Blaurock u.a.; siehe Kapitel 1), die «eifriger… als Zwingli» gewesen seien, sich konsequent von der Welt abgesondert und in Kreuz und Martyrium ihren Glauben bezeugt hätten. Im Blutzeugnis der Bekenner Christi kehre die wahre Gemeinde nun, am Ende der Zeiten, zur Heiligkeit der apostolischen Kirche zurück. Im späteren 16. und 17. Jahrhundert dienten täuferische Märtyrerspiegel insbesondere holländischen Mennoniten als maßgebliche Bezugsquelle ihrer memorialkulturellen Identitätspflege.

Neuere Forschungen

Das zunächst und auf längere Zeit wohl einflussreichste, wissenschaftlich fundierte Bild der Geschichte des Täufertums stammte von Harold S. Bender, einem Mitte des 20. Jahrhunderts führenden nordamerikanischen Kirchenhistoriker mennonitischer Prägung. Es knüpfte an ältere täuferische, aber auch liberalprotestantische Perspektiven an und erklärte das Täufertum aus einem einheitlichen Ursprung: dem Zürcher Kreis um Konrad Grebel, dem Bender eine prägende Schlüsselrolle für das gesamte frühe schweizerische Täufertum zuschrieb. Er sah in der von Grebel gespendeten Taufe Blaurocks, der ersten Glaubenstaufe überhaupt (siehe Kapitel 1), den entscheidenden Schritt zur Begründung einer Freikirche. In ihrer Frühzeit habe die Zürcher Täufergemeinde die wesentlichen Züge einer «Anabaptist Vision» ausgebildet: die Heiligung des Lebens in der konsequenten Nachfolge, die Idee der freiwilligen Mitgliedschaft und die Friedfertigkeit bzw. Wehrlosigkeit – Aspekte, denen Bender eine bleibende Bedeutung für die täuferische Identität zuschrieb. Obwohl Bender den Brief des Grebelkreises an Thomas Müntzer – ein Schlüsseldokument des frühen Täufertums (5. September 1524) – kannte, lehnte er jeden substantiellen Einfluss der mitteldeutschen Dissidenten auf die Zürcher Täufergruppe ab. Dies galt auch für den im Herbst 1524 nach Zürich gereisten Andreas Bodenstein, genannt Karlstadt – Luthers ehemaligen Kollegen und bald schärfsten innerreformatorischen Gegner.

Dieser «monogenetischen» Erklärung des Täufertums bei Bender traten seit den 1960er-Jahren konkurrierende Modelle an die Seite. James M. Stayer, Werner O. Packull und Klaus Deppermann stellten heraus, dass keineswegs alle Erscheinungsweisen des Täufertums in Zürich ihren Ausgang genommen hätten. Daneben habe es von Akteuren wie Hans Denck, Hans Hut oder Melchior Hoffman (siehe Kapitel 2) je spezifische Impulse zur Bildung täuferischer Gemeinschaften und zur Formierung einer täuferisch-spiritualistischen Theologie gegeben. Auch die Einwirkungen der sächsischen «Radikalen» Karlstadt und Müntzer auf die Ausbildung täuferischen Gedankenguts stellen ein nicht unwichtiges Thema der neueren Forschung dar. Intensiv diskutiert wurde auch, ob die Entwicklung der Zürcher Täufer geradlinig auf eine sich dann im Schleitheimer Bekenntnis (1527; siehe Kapitel 2) verdichtende freikirchliche Separation zulief und inwiefern die Erfahrungen des Bauernkriegs und erster Verfolgungen diese Tendenz beeinflussten oder gar forcierten.

Das von dem US-amerikanischen Theologiehistoriker Georg Hunston Williams vertretene Konzept einer «Radical Reformation» schließlich ordnete die Täufer in eine umfassende Sichtung des Nonkonformismus des 16. Jahrhunderts ein. Williams schrieb diesem eine mit den drei Konfessionen Luthertum, Reformiertentum und römischem Katholizismus sowie dem Renaissancehumanismus vergleichbare geistes- und kulturgeschichtliche Bedeutung zu. Sein Bemühen, das Phänomen des Nonkonformismus geographisch und chronologisch umfassend, gleichsam enzyklopädisch zu erfassen, trug entscheidend dazu bei, dass Arbeiten zum Täufertum zu einem integralen Bestandteil der allgemeinen Reformationsgeschichtsforschung wurden. Einen ähnlichen Ansatz verfolgte der deutsche Täuferforscher Heinold Fast mit seinem an der politischen Semantik der Neuzeit orientierten, Täufer, Spiritualisten und Antitrinitarier umfassenden Begriff des «linken Flügels der Reformation».

Dass spiritualistische und täuferische Tendenzen, Positionen und Theologien genealogisch und sachlich engstens zusammenhingen, stellt inzwischen eine Art Konsens der neueren Forschung dar. Apokalyptische Vorstellungen und die Erwartung eines baldigen Endes der Geschichte sind für zahlreiche Erscheinungen des frühen Täufertums von zentraler Bedeutung. Aufgrund sozialgeschichtlicher Befunde (Claus P. Clasen) wurde sodann deutlich, dass das Täufertum über lange Strecken und in vielen Regionen ein marginales Phänomen war, aber auch, dass in katholischen Ländern weitaus mehr täuferische Martyrien provoziert wurden als in protestantischen. In neuester Zeit wurde versucht, eine antiklerikale Mentalität als organisierendes Kernmotiv gerade täuferischer Devianz geltend zu machen (Hans-Jürgen Goertz). Und schließlich wurden neben dem 16. verstärkt die Ausformungen und Entfaltungen des Täufertums im 17. und 18. Jahrhundert in den Blick genommen.