Cover

Winfried Nerdinger

WALTER GROPIUS

Architekt der Moderne
1883–1969

Verlag C.H.Beck

Zum Buch

Walter Gropius (1883–1969) ist als Bauhausgründer und Architekt der modernen weltberühmt. Winfried Nerdinger zeichnet versiert und kenntnisreich ein lebendiges, aber auch kritisch reflektiertes Porträt dieses wichtigen Wegbereiters und Lehrers, der den Aufbruch in die Moderne entscheidend prägte.

Über den Autor

Winfried Nerdinger ist Professor em. für Architekturgeschichte. Der langjährige Direktor des Architekturmuseums der TU München und Gründungsdirektor des NS-Dokumentationszentrums ist einer der international besten Gropius-Kenner.

Inhalt

«Das Wort, der kritische Kampf ist die Fräse, mit der man den geistigen Boden vorerst beackert» – Einführung

«und arbeite dann mit meinem Zeichner bis halb vier Uhr» – Jugend- und Lehrjahre. Von Schinkel zu Behrens 1883–1910

Familientraditionen

Erste Kontakte zur Architektur

Bei den Husaren

Studienzeit in Berlin

Erste Aufträge

Karl Ernst Osthaus

Mitarbeit im Büro von Peter Behrens

«Ich selbst bin zwar nicht begabt, aber doch erfolgreich» – Vom Faguswerk zum Bauhaus-Manifest 1910–1919

«Atelier für Architektur»

Beziehung mit Alma Mahler

Die Fagus-Fassaden

Von der Technikform zur Kunstform

Industriebau und monumentaler Stil

Zusammenarbeit mit Adolf Meyer

Florierendes Architekturbüro

Erweiterung Faguswerk und Deutscher Werkbund

Kriegsjahre

«Staatliches Bauhaus in Weimar»

«Ich bin zum Packträger meiner Idee geworden» – Direktor am Bauhaus in Weimar und Dessau 1919–1928

Die Anfänge in Weimar

Umbruchszeit

Wohnmaschinen

Kunst und Technik eine neue Einheit

Begegnung mit Ilse Frank

Ausstellung «Internationale Architektur»

Politischer Wandel in Weimar

Umzug nach Dessau

Bauhausgebäude und Meisterhäuser in Dessau

«Häuser-Serienfabrikation»

Totaltheater und Siedlung Törten

«Wer seine Hand am Pfluge hat, der schaut nicht hinter sich» – Von Berlin über London nach Harvard 1928–1937

«Fabrikmäßiger Wohnungsbau» in Berlin

Zeilenbau und Wohnraumreduzierung

Hochhausstädte im Grünen

Schwierige Zeiten

Umzug nach London

Planungen für «wealthy people»

«Die Bresche erweitern und wirklich fundamentale Erklärungen für unsere Bewegung geben» – Der Lehrer in Harvard 1937–1952

Die Anfänge in Harvard

Das Gropius-Haus in Lincoln – neuer Regionalismus?

Bauhaus-Ausstellung in New York

Defense Housing Program – Packaged House System

The Architects Collaborative (TAC)

Adviser for Planning in Germany

Konflikte und Kritik

«Ich bin selbst erstaunt, wo ich schließlich gelandet bin» – Die Ernte des Redners und das Verschwinden des Architekten 1952–1969

Die Schwarz-Debatte

Ehrungen und Reisen

Universität Bagdad – Pan Am Building – Gropiusstadt

Letzte Jahre – Zwischen Apotheose und Polemik

Anhang

Anmerkungen

Einführung

Jugend- und Lehrjahre. Von Schinkel zu Behrens 1883–1910

Vom Faguswerk zum Bauhaus-Manifest 1910–1919

Direktor am Bauhaus in Weimar und Dessau 1919–1928

Von Berlin über London nach Harvard 1928–1937

Der Lehrer in Harvard 1937–1952

Die Ernte des Redners und das Verschwinden des Architekten 1952–1969

Abkürzungen

Bibliographie

Bildnachweis

Personenregister

«Das Wort, der kritische Kampf ist die Fräse, mit der man den geistigen Boden vorerst beackert»+

Einführung

Walter Gropius, um 1923

Walter Gropius schuf 1911 mit dem Faguswerk in Alfeld a. d. Leine und 1926 mit dem Bauhausgebäude in Dessau zwei der bedeutendsten Bauten des 20. Jahrhunderts, deren Rang heute als UNESCO-Welterbe gewürdigt wird. Mit dem Bauhaus gründete er in Weimar 1919 die einflussreichste Architektur- und Kunstschule des vergangenen Jahrhunderts, die er als Direktor bis 1928 durch alle politischen, wirtschaftlichen und personellen Probleme leitete. Dass der Name der Schule nahezu global zum Begriff für moderne Gestaltung und ornamentloses Design wurde und dass die Bauhaus-Pädagogik weltweit an Architekturfakultäten und Designschulen bis heute nachwirkt, basiert im Wesentlichen auf seiner Leistung und seinem Engagement. Die Rezeption des Bauhauses verknüpfte Gropius allerdings völlig mit seiner Person und Sichtweise und war damit selbst treibende Kraft einer Mythisierung wie auch einer teilweisen historischen Verfälschung der Reformschule. Der Schweizer Architekt und Kunsthistoriker Peter Meyer notierte dazu schon in den 1970er-Jahren: «Walter Gropius […] hat den Ruhm des Bauhauses mit Vorträgen in der ganzen Welt verkündet. Schon bevor es durch die Auflösung der Nazis eine Märtyrerpalme bekam, war es durch eine ungeheure Publizität zu epochaler Bedeutung aufmontiert worden.»[1] Nach der Emigration in die USA bildete er von 1937 bis 1952 als Lehrer an der renommierten Graduate School of Design der Eliteuniversität Harvard mehrere Generationen von Architekten aus, die das Bauen in vielen Ländern beeinflussten und die zum Teil selbst wieder als Lehrer seine Vorstellungen weitergaben. Obwohl er bis zu seinem Tod 1969 noch große Bauaufträge betreute, verblasste er nahezu gänzlich als Architekt, da er seit 1945 nur noch in einem Team arbeitete, in dem jeder individuelle Ausdruck verschwand. Durch den Bau des Pan Am Building in New York, das für viele zum Symbol des Scheiterns der modernen Architektur wurde, erlitt sein Name größten Schaden.

Von seiner Aufgabe als Architekt war Gropius zeitlebens mit geradezu missionarischem Sendungsbewusstsein überzeugt. Im Sinne der Leitmotive des Deutschen Werkbunds ging es ihm darum, den Kräften von Technik und Industrie neue Gestalt zu geben und als Erzieher zu wirken, um «die unartikulierte, sich treiben lassende Masse demokratischer Bürger»[2] zu neuen Lebensformen in einer industrialisierten Welt zu führen. Der Architekt war für ihn «Treuhänder» der Umwelt und hatte sich als Vorkämpfer für eine neue Welt über Traditionen und historische Bindungen hinwegzusetzen. Insbesondere der Historismus des 19. Jahrhunderts, der den Kräften des Industriezeitalters noch historische Gestalt gegeben hatte, war für Gropius eine unbedeutende eklektische Epoche ohne Wert. Rückblick oder Verwendung historischer Formen waren für ihn Verrat an der Gegenwart, der Architekt sollte als Gestalter und Erzieher nur vorwärts blicken und dem Neuen einen Weg bahnen. Für die Umsetzung dieser zwar immer wieder nuancierten, aber letztlich dogmatisch vertretenen Auffassungen entfaltete Gropius seit den 1920er-Jahren eine Aktivität fast wie ein Wanderprediger und kämpfte unermüdlich für eine nach seinen Vorstellungen definierte Moderne. Als wortgewandter Redner bei zahllosen Veranstaltungen und als Autor von mehreren hundert Beiträgen sowie einer Reihe von Büchern trug er über viele Jahrzehnte wie kein zweiter Architekt zur Verbreitung und Durchsetzung der modernen Architektur, aber auch zur Etablierung von Denkschablonen bei. Eine Äußerung aus dem Jahr 1926 könnte als seine Lebensmaxime bezeichnet werden: «die entscheidungen fallen immer in der handlung nicht im wort, aber das wort, der kritische kampf ist die fräse, mit der man den geistigen boden vorerst beackert.»[3] In genau diesem Sinne bezeichnete ihn Mies van der Rohe deshalb anlässlich des 70. Geburtstags als den «größten Erzieher unseres Faches» und den «tapferen Streiter in dem niemals endenden Kampf für die neue Idee».[4] Er kämpfte mit dem Wort und mit der Kraft der Sprache formulierte er auch seine architektonischen Ideen. Die zeichnerische Umsetzung übernahmen Mitarbeiter und Partner, darin sind Besonderheiten wie auch Probleme seiner Tätigkeit als Architekt begründet.

Aufgrund seiner Leistungen wurde er gefeiert und erhielt höchste Ehrungen. Nikolaus Pevsner, für einige Jahrzehnte der Doyen der Architekturgeschichtsschreibung, gab seiner Publikation Pioneers of the Modern Movement 1936 den Untertitel «From William Morris to Walter Gropius». Er setzte ihn damit an die Spitze eines fiktiven Stammbaums der Moderne und erklärte, mit dem Faguswerk und Gropius’ Bürohaus mit Maschinenhalle für die Kölner Werkbundausstellung 1914 sei «der Stil des 20. Jahrhunderts verwirklicht»[5] worden. Als Vorkämpfer für eine international gültige Gestaltung sowie einer Rationalisierung und Typisierung, die Bauten in Schablonen zwängte und Menschen nivellierte, war Gropius aber immer auch ein bevorzugtes Ziel von Polemiken und mit der seit den 1960er-Jahren aufkommenden Kritik an der Ort- und Geschichtslosigkeit der «klassischen Moderne» wurde er als deren Ideologe und Propagandist besonders angegriffen und geschmäht.

Eine Darstellung dieses wirkmächtigen Vertreters von moderner Architektur und Design ist somit konfrontiert mit den je nach Zeit und Blickwinkel stark divergierenden Einschätzungen von dessen Bedeutung und Leistung, aber auch mit den Erklärungen von Gropius selbst zu seinen Ideen und Werken. Über mehr als ein halbes Jahrhundert begleitete er seine Aktivitäten mit Stellungnahmen und Erläuterungen, die den Eindruck einer Konsistenz seines Denkens und seiner Ziele vermitteln, da er zum einen einige wenige Leitbegriffe und Leitgedanken über die Jahrzehnte hinweg wiederholte und zum anderen diese Beständigkeit im Rückblick durch harmonisierende Eigeninterpretationen verstärkte. Eine derartige Harmonisierung ist ein geläufiger biographischer Vorgang. Erinnerung wird im menschlichen Bewusstsein immer narrativ geformt, die eigene Biographie ist Teil einer historischen Erzählung, bei der Kausalitäten und Bedeutungen im Rückblick und im Zusammenhang der eigenen Entwicklung konstruiert werden. Bei Gropius ist aber zudem auch sein ausgeprägter Geltungsdrang einzubeziehen. Sein Freund Alexander Dorner, der über ihn und das Bauhaus Anfang der 1950er-Jahre ein Buch verfassen wollte, notierte dazu, Gropius habe «viel zu viel vom Goethe’schen Egokult. Er zirkuliert nur um sich selbst.»[6] Dies belegt auch die umfangreiche Korrespondenz, die häufig wie ein Selbstgespräch wirkt. Der ehemalige Stadtbaurat von Berlin, Martin Wagner, zwölf Jahre sein Kollege in Harvard und am Ende mit ihm völlig zerstritten, nannte Gropius 1953 den «Bühnenmeister von Cambridge», dem die «Bühnentechnik von jeher seiner Muse liebstes Kind war»[7].

Gropius’ Biographen sind vielfach dessen eigenen Vorgaben und Aussagen gefolgt und haben Person und Werk auch über Brüche hinweg vereinheitlichend interpretiert. Blickt man genauer auf seine vielen Äußerungen, dann zeigt sich jedoch, dass die über Jahrzehnte scheinbar gleichen Leitbegriffe vor einem wechselnden zeitlichen und lebensweltlichen Horizont verschiedene Bedeutungen annehmen können. So zielte Gropius mit dem für ihn zentralen Begriff «Einheit» zuerst im Sinne des Deutschen Werkbunds auf die Schaffung eines neuen Stils, eines einheitlichen Ausdrucks aller Produkte im Industriezeitalter. Eine Dekade später suchte er diese Einheit in einer «Zukunftskathedrale», die von Handwerkern und Künstlern geschaffen werden sollte; daraus wurde am Bauhaus unter dem Einfluss der De Stijl-Bewegung zuerst die Lehre von der Gestaltung nach einheitlichen, universal gültigen Grundformen, dann die Suche nach dem «Wesen» von Objekten und einem «Generalnenner». Als die von ihm vertretene Typisierung als Gleichförmigkeit kritisiert wurde, erklärte er 1926, es ginge um eine «gleiche Seelenlage», aber jeder könne «bunte Krawatten» tragen, Einheitlichkeit sei «ein Hymnus der Freiheit in der Gemeinsamkeit»[8]. Und nach der Übersiedlung in die USA propagierte er eine «Unity in Diversity», die er mit seinem neuen Konzept des Teamwork verknüpfte, aus dem eine kulturelle Einheit erwachsen sollte. Aber nicht nur die Leitideen passten sich an das jeweilige Umfeld an, sondern auch Gropius’ Interpretationen seiner eigenen Werke veränderten sich im zeitlichen Wandel. So erklärte er vor dem Ersten Weltkrieg seine Erfindung einer stützenlosen Eckausbildung am Faguswerk im Sinne seines Lehrers Peter Behrens als künstlerisch geistige Überhöhung technischer Formen und moderner Materialien zu einer Kunstform. In den späten 1920er-Jahren, im Umfeld rigider Vorstellungen von Rationalisierung, nannte er als Grund für diese Konzeption eine bewusst geplante, ökonomisch motivierte Materialeinsparung der Eckstützen,[9] und in den USA ging es ihm darum, aufzuzeigen, dass er am Faguswerk eine Frühform des «Curtain wall», einer vorgehängten Fassade, entwickelt habe, um damit in die Architekturgeschichte einzugehen.[10]

Aussagen von Gropius zu seinem Leben und Werk müssen deshalb im spezifischen historischen Umfeld auf die «Kontextgebundenheit des Gesagten»[11] untersucht werden und sind im Sinne einer Intertextualität auf ihre Begrifflichkeit und deren Entstehung zu betrachten. Spätere Aussagen zu seiner eigenen Zeitzeugenschaft sind historisch häufig nicht korrekt und diese Verzerrungen spiegeln sich auch in den Mitteilungen aus seinem Umfeld. Die vorliegende Darstellung zielt deshalb in der Form einer «Intellectual Biography» darauf, zu rekonstruieren, was von der Zeit aufgenommen wurde und wie es sich im Denken von Gropius und in dessen Architektur zu erkennen gibt. Es geht darum, die Metaebene von Begriffen und Zusammenhängen, von der seine Bauten und Konzepte erst ihren Inhalt und ihre Bedeutung erhalten, chronologisch strukturiert zu analysieren.

Gropius’ Leben und sein Werk wurden in mehreren Biographien, Katalogen und Detailstudien dargestellt. Die erste Arbeit, verfasst von seinem Freund und Verehrer, dem Schweizer Kunsthistoriker Sigfried Giedion, erschien bereits 1931 in der Reihe «Les Artistes Nouveaux» in Paris. 1951 publizierte der italienische Kunsthistoriker Giulio Carlo Argan Walter Gropius e la Bauhaus. In dem 1962 auch in der Reihe «rowohlts deutsche enzyklopädie»[12] erschienenen Band wurde Gropius in kunst- und sozialgeschichtliche Entwicklungen assoziativ eingeordnet. Er selbst verhielt sich zurückhaltend zu der Darstellung,[13] aber Giedion sah in den gesellschaftlichen Bezügen einen «kommunistisch frisierten Gropius» und warnte, «dass das Publikum nicht durch einen rot angestrichenen Gropius irregeführt»[14] werden dürfe. Zur Verleihung des «São-Paulo-Preises der Matarazzo-Stiftung» im Januar 1954 verfasste Giedion eine weitere Gropius-Biographie. Die in Jahresfrist in drei Sprachen produzierte Publikation Walter Gropius. Mensch und Werk[15] zeichnete ein Porträt, das aufgrund der distanzlosen Heldenverehrung massive Kritik von Historikern erntete. So schrieb Lewis Mumford in «The New Yorker»: «By now, the great leaders of the modern movement deserve more than just publicity and eulogy; they have reached a point in their historical development where they deserve a rigorous critical treatment – one that will not simply extoll their virtues but that will candidly discuss their shortcoming. This is all the more necessary because it is the weaknesses of a master that are usually imitated by his followers.»[16]

Nach einigen kleineren Publikationen (James Marston Fitch 1960, Alberto Busignani 1972, Gábor Preisich 1982), die weitgehend auf Giedion basierten, erschien anlässlich des 100. Geburtstags 1983 der erste Band der zweibändigen umfangreichen Arbeit Walter Gropius. Der Mensch und sein Werk[17] von Reginald R. Isaacs, einem Kollegen an der Harvard Universität, den Gropius noch zu Lebzeiten zu seinem Biographen bestimmt und ihm dafür das gesamte private Archiv zur Auswertung zur Verfügung gestellt hatte. Das in Zusammenarbeit mit Walter Gropius und später mit der Witwe Ise Gropius verfasste Werk lieferte mit subjektiver Einfühlung und überreichen Zitaten zum persönlichen Umfeld ein distanzlos verklärtes Porträt. 1985 publizierten Hartmut Probst und Christian Schädlich den ersten Band einer dreibändigen Übersicht Walter Gropius,[18] mit der die in der DDR seit den 1970er-Jahren betriebene Aneignung des Bauhauses als kulturelles Erbe weiter gefestigt werden sollte. Im gleichen Jahr veröffentlichte der Verfasser den ersten kritischen Werkkatalog Der Architekt Walter Gropius,[19] der auf der Auswertung der damals noch im Gropius-Haus in Lincoln befindlichen Dokumente, die Ise Gropius freundlicherweise zugänglich machte, des erstmals bearbeiteten Gropius-Bestands im Busch-Reisinger-Museum (BRM) sowie der Nachlässe in der Houghton Library in Harvard (HLH) und am Bauhaus-Archiv in Berlin (BHA) basierte. Der ausführlich kommentierte Werkkatalog, der 1996 in zweiter, leicht überarbeiteter Auflage erschien, bietet eine archivalisch gesicherte, quellenbasierte Darstellung und Analyse der Entwürfe für Architektur und Design sowie eine Einordnung in die planungsrelevanten Zusammenhänge. Ohne Bezug zum architektonischen Werk untersuchte Horst Claussen 1986 «Grundzüge seines Denkens»[20] und zwei weitere Publikationen (Paolo Berdini 1991, Gilbert Lupfer und Paul Sigel 2004) boten eine Auswahl von Bauten.

Die «intellektuelle Biographie» zu Gropius’ Leben und Werk basiert auf dem Werkkatalog von 1996, dem umfangreichen Archiv- und Quellenmaterial sowie den vielen Detailstudien zu einzelnen Werken, zum Bauhaus und zu den verschiedenen Lebensabschnitten in Deutschland, England und in den USA. Es geht um eine Untersuchung und «dichte Beschreibung» (Clifford Geertz) des historischen Umfelds und des Denkens und Arbeitens eines Architekten, Pädagogen und Ideologen, der den Aufbruch in die Moderne entscheidend mitgestaltete und der über das Bauhaus, seine Schüler und Nachfolger sowie über die von ihm verbreiteten und verfestigten architektonischen Denkmuster bis heute nachwirkt.

«und arbeite dann mit meinem Zeichner bis halb vier Uhr»+

Jugend- und Lehrjahre. Von Schinkel zu Behrens 1883–1910

Walter Gropius, um 1903

Familientraditionen

Walter Adolf Georg Gropius wurde am 18. Mai 1883 in Berlin als drittes Kind des Regierungsbaumeisters Walter Gropius (1847–1911) und dessen Ehefrau Manon, geb. Scharnweber (1855–1933) geboren. Die ersten vier Lebensjahre verbrachte er mit seinen älteren Schwestern Elise (1879–1892) und Manon (1880–1975) in der elterlichen Wohnung in der Genthinerstraße 23 im Stadtteil Tiergarten. Mit dem allmählichen Aufstieg des Vaters in der Berliner Baubeamtenhierarchie erfolgten mehrere Wohnungswechsel. Als 1887 der jüngere Bruder Georg (1887–1904) auf die Welt kam, zog die sechsköpfige Familie in die Magdeburgerstraße 26 und mit der Beförderung des Vaters vom Regierungsbaumeister zum kgl. Bauinspektor beim Polizeipräsidium 1893 in die Ritterstraße 90. Über den Kurfürstendamm 90 ging es 1900 mit der Beförderung zum kgl. Baurat beim Polizeipräsidium in die Bülowstraße 13, und als der Vater 1908 die relativ hohe Stufe eines geheimen Baurats erreichte, wohnten die Eltern in der Rankestraße 16. Walter Gropius besuchte nach der Grundschule von 1893 bis 1900 das humanistische Leibniz-Gymnasium in Charlottenburg, anschließend wechselte er an das Kaiserin-Augusta-Gymnasium in Steglitz und schloss dort am 28. Februar 1903 mit dem Abitur ab. Über die Schulzeit ist wenig bekannt, aber mehr als ein halbes Jahrhundert später schrieb er an einen Lehrer der Schule: «Es mag Sie amüsieren, daß ich noch regelmäßige Alpträume erlebe, in denen ich schwitzend vor dem Abitur stehe bis am Morgen die Erlösung der wachen Realität eintritt.»[1]

Walter Gropius (rechts) mit seinen Eltern und den Geschwistern Georg (links) und Manon (rechts oben), um 1892

Konfirmiert wurde der evangelisch erzogene Sohn am 29. März 1898. Die Ferien verbrachte Gropius entweder in Timmendorfer Strand an der Ostsee in der 1888 von Hans Grisebach für seine Großtante Auguste Wahlländer errichteten luxuriösen Villa oder auf den Gütern seines Onkels Felix in Hohenstein in der Provinz Posen beziehungsweise des Onkels Erich in Dramburg/Hinterpommern. Das Haus an der Ostsee galt als zweites Heim der Familie. Im Rückblick schrieb Gropius, es «war für mich die eigentliche Heimat, wo ich meine glücklichsten Jugendjahre verlebt habe»[2]. Später ging das Haus in den Besitz der Mutter und dann von Gropius und seiner älteren Schwester Manon über. In der benachbarten Villa wohnte die Familie Grisebach, mit deren gleichaltrigem Sohn Helmuth (1883–1970) Gropius eng befreundet war. Mit ihm begann er das Architekturstudium in München und reiste 1907/08 durch Spanien. Auf den Gütern der beiden Onkel ging Gropius zur Jagd und Erich Gropius war dann der erste Bauherr bereits während des Architekturstudiums.

Gropius erklärte später, der Wunsch, Architektur zu studieren, sei bei ihm ganz selbstverständlich aus der Familientradition bis hin zum Beruf des Vaters erwachsen. Da aus der großbürgerlichen Berliner Familie Gropius im 19. Jahrhundert mehrere Architekten, Künstler und Unternehmer hervorgingen, die mit Karl Friedrich Schinkel in Verbindung standen, wurde der Name Gropius vielfach mit dem größten preußischen Baumeister assoziiert und war in Berlin und Preußen gut bekannt. Dieser familiäre Bezug zur Architektur und zu Schinkel, der angeblich in der Familie wie ein «Hausheiliger»[3] verehrt wurde, verschaffte dem Namen Gropius Renommee und dies war auch hilfreich für die Berufslaufbahn von Walter Gropius. Auf die Familientradition und die preußische Herkunft legte er deshalb auch zeitlebens großen Wert.

Stammbaum der Familie Gropius

Der Urgroßvater des späteren Bauhausgründers, Johann Carl Christian (1781–1854), war mit dem gleich alten Karl Friedrich Schinkel befreundet, der mit ihm 1805–1809 zusammen in einem Zimmer des Hauses der Gabain’schen Seidenweberei wohnte und dort auch ein kleines Atelier hatte. Die florierende Seidenweberei in der Breiten Straße 22, gegründet von dem Hugenotten George Gabain, der den ersten mechanischen Webstuhl nach Berlin brachte und 1791 in die Familie Gropius einheiratete, bildete eines der Zentren der weitverzweigten Familie.[4] Ein Bruder des Urgroßvaters, Wilhelm Ernst Gropius (1765–1852), erwarb Anfang des 19. Jahrhunderts eine Manufaktur für Theaterfiguren sowie ein Theater für die Präsentation von Panoramen, das «Theater von Gropius», für das Schinkel bis 1815 etwa 40 «perspektivisch-optische Schaubilder» als Hintergrunddekorationen lieferte.[5] Bevor Schinkel an der Berliner Oberbaudeputation Fuß fasste, verdiente er einen Teil seines Lebensunterhalts über die Familie Gropius und später verwendete er die Gabain’schen Seidenstoffe öfters bei der Ausstattung seiner Interieurs. Den ältesten Sohn von Wilhelm Ernst, Carl Wilhelm (1793–1870), den späteren Theaterinspektor, Hoftheatermaler und Dekorateur der Kgl. Schauspiele, unterrichtete Schinkel im Zeichnen und Malen. Als Carl Wilhelm zusammen mit seinen Brüdern Ferdinand und Friedrich George ein eigenes Diorama-Theater gründete, das als Kopie des berühmten Pariser Dioramas von Daguerre gestaltet und 1827 eröffnet wurde, half Schinkel mit Skizzen beim Bau.[6] Dieses «Diorama der Gebr. Gropius» in der Georgenstraße 12, eine Vorform des Kinos, in dem mit Lichteffekten und Musik wechselnde szenische Gemälde präsentiert wurden, bestand bis 1850.

Eine weitere Verbindungslinie zu Schinkel ergab sich über den Großonkel Martin Gropius (1824–1880),[7] der an Schinkels Bauakademie Architektur studierte und dann dort bis 1867 bei dem Schinkel-Schüler Karl Bötticher, der die Architektur seines Meisters in eine strenge Theorie umformulierte, als Lehrer tätig war. 1869 wurde Martin Gropius Direktor der Kgl. Kunst- und Gewerbeschule sowie Mitglied der Kommission für das technische Unterrichtswesen in ganz Preußen. Seine umfangreiche Bautätigkeit steht ganz in der Tradition der berühmten preußischen Schinkel-Schule.[8] Bekannt wurde er durch das Kgl. Kunstgewerbemuseum, das er zusammen mit seinem Partner Heino Schmieden 1877–1881 in Berlin errichtete. Dieser aufwendig dekorierte Großbau im Berlin der Gründerzeit, heute benannt nach seinem Erbauer, etablierte den Namen Gropius in der Architektur Preußens.

Den Großonkel Martin nannte Walter Gropius öfters, wenn er die Architektentradition in seiner Familie und den Bezug zu Schinkel herausstellen wollte. Die Verweise auf Schinkel sowie auf den Großonkel sind allerdings anfangs von ganz allgemeiner Art.[9] Erst nach der Emigration, als sich Gropius gegen Angriffe auf seine geschichtslose «internationale» Architektur wehrte, zeigte er in seinen Vorträgen auch vermehrt historische Beispiele und nannte den in der Nachfolge von Schinkels Bauakademie stehenden Backsteinbau des Kunstgewerbemuseums als Vorbild für eine funktionale Planung, die auch ihn immer geleitet habe. Als der im Krieg stark zerstörte Bau Anfang der 1960er-Jahre abgerissen werden sollte, konnte er dies dank seines internationalen Renommees verhindern, das Kunstgewerbemuseum wurde 1966 unter Denkmalschutz gestellt und später aufwendig als «Martin-Gropius-Bau» wieder hergestellt.[10] Da Gropius im Gegensatz zu den meisten Architekten seiner Zeit nie Skizzenbücher verwendete, um architektonische Eindrücke, Baudetails oder Grundrisse festzuhalten, kann keine direkte Auseinandersetzung mit Bauten von Schinkel, aber auch mit keinem anderen Architekten konkret belegt werden.[11] Ein architektonischer Bezug zu Schinkel ist bei ihm nur indirekt über die Rezeption der an Schinkel angelehnten Entwürfe seines Lehrers Peter Behrens ablesbar.

Inwieweit familiäre Verpflichtung oder echte Neigung die Berufswahl von Gropius bestimmte, ist nicht bekannt. Über den Verlauf seines Studiums lieferte er später nur spärliche und zum Teil ungenaue Angaben, die dazu führten, dass seine minimale akademische Ausbildung in diversen Lebensläufen widersprüchlich und zumeist falsch wiedergegeben wurde, bis dahin, dass im Katalog der berühmten Ausstellung «Modern Architecture: International Exhibition» 1932 im New Yorker Museum of Modern Art eine Ausbildung in Berlin und ein angeblicher Studienabschluss in München vermerkt wurde.[12]

Erste Kontakte zur Architektur

Zum Studium ging Gropius nach dem Abitur an die Technische Hochschule nach München, wo er am 20. April 1903 als Studierender der Architekturabteilung für das Sommersemester immatrikuliert wurde.[13] Um 1900 gewann die Münchner Architekturschule durch deren bedeutendste Persönlichkeit, den viel beschäftigten, renommierten Professor für Höhere Baukunst und «Meister der Architekturzeichnung»[14] Friedrich von Thiersch, einen hervorragenden Ruf. 1909 überholte sie deshalb sogar die bis dahin zumindest hinsichtlich der Studentenzahl in Deutschland führende Architekturabteilung der Technischen Hochschule in Berlin-Charlottenburg, dies könnte ein Grund für die Wahl des Studienorts gewesen sein. Gropius bezog ein Zimmer zur Untermiete in der nahegelegenen Theresienstraße 29, aber er merkte wohl sehr schnell, dass er den Studienanforderungen nicht gewachsen war. Als Absolvent eines humanistischen Gymnasiums hätte er nach einer in diesem Semester noch geltenden Vorschrift ein dreijähriges Grundstudium – prall gefüllt von morgens bis abends an sechs Tagen in der Woche mit Vorlesungen und Übungen in Höherer Mathematik, Geometrie, Physik, Chemie und Technischer Mechanik – absolvieren müssen, um den Wissensabstand in den mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächern zu den Abiturienten der Realgymnasien, für die ein zweijähriges Grundstudium verpflichtend war, auszugleichen. Erst nach erfolgreichem Abschluss dieses Grundstudiums, zu dem noch Hochbaukonstruktion, diverse Zeichenkurse, Baustilkunde sowie Einführungen in die Architektur- und Kunstgeschichte gehörten, erfolgte eine Zulassung zu den Entwürfen und zur eigentlichen Fachausbildung mit mindestens zwei weiteren Studienjahren.[15] In einem Schreiben an seine Mutter, die in den folgenden Jahren in den Zeiten seiner Abwesenheit von Berlin seine wichtigste briefliche Ansprechperson war, teilte Gropius im Frühsommer 1903 mit, dass er an einem männlichen und einem weiblichen Torso modelliere, und vermerkte, das «macht mir viel Spaß und geht mir besser von der Hand, als das Zeichnen»[16]. Schon hier deutete er seine Probleme mit der zeichnerischen Darstellung an, von den Schwierigkeiten mit den naturwissenschaftlichen Fächern berichtete er erst später. Offensichtlich hatte er das von dem Bildhauerprofessor Anton Hess unterrichtete Fach «Modellieren» belegt, zu dem «Komponieren ornamentaler und figürlicher Vorbilder und Ausführung von Kompositionen mit Rücksicht auf ein bestimmtes Material» gehörten, das allerdings nach dem Lehrplan erst im dritten Studienjahr vorgesehen war. Von den Koryphäen der Abteilung, den Professoren August und Friedrich von Thiersch, Karl Hocheder und Emil Edler von Mecenseffy, mit denen Studierende zumeist erst in höheren Semestern in Kontakt kamen, dürfte er überhaupt nichts mitbekommen haben. Sein Kommilitone Helmuth Grisebach berichtete später, dass das Semester in München im Sinne eines Studium Generale auf Allgemeinbildung angelegt gewesen sei. Außerdem bereisten die beiden während des Semesters Oberitalien, von einem Architekturstudium kann somit nicht die Rede sein.[17]

Walter Gropius in Husarenuniform, um 1905

Schon im Verlauf des Semesters schrieb er an die Mutter, dass er überlege, sich im Herbst als Einjährig-Freiwilliger zum Militärdienst zu melden, und als er dann noch von der schweren Krankheit seines jüngeren Bruders Georg (1887–1894), der im Januar des folgenden Jahres starb, erfuhr, brach er am Ende des ersten Semesters das Studium ab und kehrte nach Berlin zurück. Ganz offensichtlich suchte er nach anderen Wegen der Ausbildung, denn im August 1903 trat er ein Volontariat im Architekturbüro Solf & Wichards in Berlin an. Das Büro der Architektensozietät von Hermann Solf und Franz Wichards, spezialisiert auf Bauten im Stil der Deutschen Renaissance, hatte für Gropius’ Onkel Erich auf dessen Gut in Janikow in Pommern 1895 ein Gutshaus errichtet, dies öffnete ihm die Türen zu einem Baupraktikum. Da er keinerlei Fähigkeiten der Darstellung, Berechnung oder Ausführung eines architektonischen Entwurfs hatte, konnte er in dem nun folgenden Volontariats- oder Praktikantenjahr wohl auch nur baupraktische Grundkenntnisse über Arbeitsabläufe und Baustellen erwerben. Erich Gropius organisierte für seinen Neffen allerdings eine Tätigkeit, indem er ihn mit einem Arbeiterwohnhaus auf seinem Gut Janikow beauftragte, das dann im Büro von Solf & Wichards gezeichnet und unter dessen Baubetreuung ausgeführt wurde.[18] Welchen Anteil Gropius an Entwurf und Bauausführung hatte, ist nicht bekannt, es dürfte sich eher um eine symbolische Mitwirkung des Zwanzigjährigen gehandelt haben. Das Praktikum, das Gropius durch eine weitere Reise nach Oberitalien im Frühjahr 1904 unterbrach, führte jedenfalls nicht dazu, dass er sich intensiver der Architektur zuwandte, im Gegenteil, bereits während der Zeit im Architekturbüro bemühte er sich um Zulassung zu dem in großbürgerlichen und adeligen Kreisen üblichen Dienst als Einjährig-Freiwilliger und wählte dafür das renommierte Husarenregiment Nr. 15 in Hamburg, die «Wandsbeker Husaren».

Bei den Husaren

Der Dienst bei den Husaren hatte in der Familie Gropius eine eigene Tradition, denn der Urgroßvater Johann Carl Christian hatte als Offizier des 8. Husarenregiments 1815 an der Schlacht bei Waterloo teilgenommen und ein Hemd aus dem Reisewagen Napoleons erbeutet, das in der Familie von den jungen Männern als Glücksbringer bei Examen getragen wurde.[19] In dem Eliteregiment zur Ausbildung des Offiziersnachwuchses dienten hauptsächlich Söhne aus adligen Familien, nicht zuletzt da die hohen Kosten für Pferdehaltung, Sattel- und Futtergelder sowie für die maßgeschneiderten aufwendig geschmückten Husarenuniformen selbst finanziert werden mussten. Auf Fotos für die Eltern präsentierte sich Gropius stolz mit der hohen Pelzmütze und der geschnürten Uniformjacke, der Attila der Husaren, aber die Familie musste dafür genauso aufkommen wie für das teure Leben in Casinos und in den besseren gesellschaftlichen Kreisen Hamburgs. In den Briefen an die Mutter geht es deshalb immer auch um Geld und Schulden. Die Mutter Manon, die aus der wohlhabenden Familie Scharnweber stammte (ihr Vater Georg besaß das Rittergut Schönhausen), half ihrem geliebten Sohn aus allen finanziellen Nöten. Die Ausbildung bestand im Wesentlichen im Reiten, bei dem sich Gropius offensichtlich so geschickt anstellte, dass er nach einem Jahr zum Unteroffizier befördert wurde. Um die Offizierslaufbahn fortzusetzen, musste er in den folgenden Jahren Reserveübungen absolvieren. 1906 stieg er zum Vizewachtmeister auf, aber im Sommer 1907 wurde ihm eine weitere Übung bei seinem Regiment verweigert und damit die Laufbahn unterbrochen. Gropius erklärte dies gegenüber der Familie als Intrige, da angeblich das Reservekorps «veradeligt»[20] werden sollte. Die Angelegenheit wurde später durch eine Intervention des Onkels Felix, Hauptmann der Garde-Artillerie a. D., bereinigt, und der nationalen Gesinnung tat dies jedenfalls keinen Abbruch, denn bei Beginn des Krieges meldete sich Gropius am 5. August 1914 freiwillig bei seinen Wandsbeker Husaren, bei denen er – schon im November zum Leutnant befördert – dann die meiste Zeit des Ersten Weltkriegs verbrachte.

Auf seine schmucke Uniform, die Reitkünste und seine Offizierslaufbahn bei den Husaren war er zumindest bis 1918 stolz, dann findet die Militärzeit in seinen Briefen fast keine Erwähnung mehr. Nur als 1923 die Reichswehr seine Wohnung in Weimar durchsuchte, da er angeblich kommunistisches Material besaß, wandte er sich empört an den zuständigen General, zählte seine Orden auf und betonte seine Verdienste als Offizier. In den USA erhielt er 1938 von einem Freund, Erich Schroeder, ein Reitpferd geschenkt und entdeckte seine «alte Pferdeleidenschaft wieder»[21]. Als er 1954 den Brief eines ehemaligen Husarenkameraden erhielt, schrieb er: «Wie Sie bin ich den Pferden treu geblieben. Bis weit in den Krieg hinein begann ich jeden Tag mit einem Ritt.»[22] Dieses luxuriöse Vergnügen musste er 1944 aufgeben, setzte es aber nach dem Krieg bei vielen Urlaubsaufenthalten auf einer Ranch in Colorado oder in Arizona noch lange fort. Eine gewisse Form von «Herrenreiter-Attitüde», von elitärer Distanziertheit umgab Gropius nach dem Eindruck von manchen Zeitgenossen zeitlebens. Dazu gehörten auch teure Maßanzüge und korrekte Kleidung, auf die er immer großen Wert legte.

Studienzeit in Berlin

Nach dem Abschluss des Militärdiensts im September 1905 war Gropius 22 Jahre alt und er beschloss, einen zweiten Anlauf zum Studium zu nehmen. Zum Wintersemester 1905/06 immatrikulierte er sich an der Königlich Technischen Hochschule zu Berlin in Charlottenburg für die Architekturabteilung wieder im ersten Semester, denn von der Münchner Studienzeit konnte er keinerlei Vorkenntnisse in Anrechnung bringen. Dort lernte er Dietrich Marcks[23] (1882–1969), den späteren Archäologen und Mitausgräber der Nofretete, kennen, mit dem ihn eine lebenslange Freundschaft verband und dessen Bruder, den Bildhauer Gerhard Marcks, er 1919 als Leiter der Keramikwerkstatt ans Bauhaus berief. Marcks erinnerte Gropius 40 Jahre später daran, wie sie nachts gemeinsam durch den Grunewald liefen «mit obligaten philosophischen Gesprächen über Kunst und Unsterblichkeit»[24]. Zusätzliche Anforderungen an Absolventen des humanistischen Gymnasiums bestanden in Berlin-Charlottenburg nicht, aber das zweijährige Grundstudium der Architektur war wie überall an deutschen Hochschulen noch bestimmt von Vorlesungen und Übungen zu Physik, Chemie, Geodäsie, Mineralogie, Geologie, darstellender Geometrie, Statik der Hochbaukonstruktion und Baukonstruktionslehre. Dazu kam das Erlernen der Darstellungsfähigkeit mit einer ganzen Reihe von Kursen vom Plan-, Ornament-, Figuren- und Landschaftszeichnen bis zum Aquarellieren und figürlichen sowie ornamentalen Modellieren. Und alles wurde gerahmt von Vorlesungen und Übungen zur Kunst- und Architekturgeschichte von der antiken Baukunst, dem Backsteinbau und der Baukeramik bis zu historischer «Hausausstattung und Möbel». Die Zeichenkurse und der historische Stilkundeunterricht setzten sich im dritten und vierten Studienjahr fort, und erst dann begannen die Übungen zum Entwerfen und die Einführungen zum Städtebau.[25] Da Gropius ähnlich wie bereits in München enorme Probleme mit den fachlichen Anforderungen hatte und dann das nur sporadisch betriebene Studium nach vier Semestern zum Sommer 1907 ohne Prüfung und ohne irgendeinen Abschluss abbrach, erhielt er keinerlei Entwurfsausbildung und kam mit den dafür zuständigen Professoren Otto Raschdorff und Fritz Wolff sowie den renommierten Städtebaulehrern Felix Genzmer und Theodor Goecke nie in Kontakt.

Mitarbeiter im Büro von Peter Behrens: Adolf Meyer (zweiter von links), ungesichert Mies van der Rohe (erster von links) und Walter Gropius (hinten rechts), um 1908

Erste Aufträge

Zum Scheitern des Studiums trug wohl auch bei, dass Gropius bereits im ersten Berliner Semester von seinem Onkel Erich weitere Aufträge erhielt. Ein Arbeiterhaus für eine Stärkefabrik wurde noch 1905 fertiggestellt, Anfang 1906 erfolgten Auftrag und Planung zum Bau eines Kornspeichers sowie eines Schmiede- und Waschhauses in Janikow.[26] Über den Onkel erhielt er außerdem den Auftrag zum Bau einer Villa und eines Wirtschaftsgebäudes für den benachbarten Leutnant a. D. Otto Metzler in Dramburg.[27] Da dieser das Haus bereits im September 1906 bezog, muss Gropius vom Anfang des Studiums an mit Planungen und Bauleitungen beschäftigt gewesen sein. Die notwendigen Zeichnungen führte ein Bauzeichner für ihn aus, den der Student Gropius bereits im ersten Semester bei sich angestellt hatte. Der um sein Studium besorgten Mutter schrieb er am 16. Juni 1906: «Ich stehe […] jeden Morgen pünktlich um 8 Uhr auf, frühstücke und arbeite dann mit meinem Zeichner bis ½ 4 Uhr durch. […] Auf der Hochschule habe ich mir auch Arbeiten geben lassen und gehe regelmäßig nachmittags hin.»[28] Wie er diesem Zeichner seine Vorstellungen übermittelte, ist nicht bekannt, das Studium blieb auf jeden Fall auf der Strecke, denn am Ende des Monats musste er der Mutter mitteilen: «In den Collegs kann ich nach der langen Pause nicht mehr folgen, sie sind überhaupt außer für Genies illusorisch; ich gehe nicht mehr hin und arbeite alles nach Collegheften durch. Vor Statik graut mir am meisten.» Einige der von Gropius verwendeten Colleghefte sind noch erhalten, sie zeigen letztlich nur, dass er diese unter den Studenten kursierenden Mitschriften, wie beispielsweise zu Viollet-le-Duc und zur Proportionslehre, kannte. Wie viele Übungen er selbst besuchte und was er von diesen Abschriften, die ganz allgemein den Studenten als Repetitorien dienten, übernahm, ist nicht rekonstruierbar.[29] Einen Monat später, am 17. Juli 1906, teilte er der Mutter mit: «Für die Bauten habe ich täglich zu tun und noch hat kein Bauherr über mich geklagt.» Da er die Bautätigkeit in Pommern überwachen und mit den beauftragten Baufirmen, den Bauherrn sowie den Bauämtern alles vor Ort abklären musste, blieb für den Besuch der Hochschule kaum Zeit. Die Bauten selbst sind zum einen reine Nutzgebäude, ohne jeden architektonischen Anspruch, zum anderen sind der Kornspeicher und die Villa Metzler direkt nach dem Vorbild des Gutshauses der Architekten Solf &Wichards konzipiert, eine persönliche Handschrift liegt nicht vor. Die eigene Entwurfsleistung beschränkte sich auf die konventionelle Anordnung der Räume und die «malerische» Gruppierung der Bauteile. Die Bauausführung und Werkplanung sowie die technische Durchführung wurden ohnehin üblicherweise von den beauftragten Baufirmen weitgehend selbständig nach Standardplänen mit Standarddetails abgewickelt.

Gropius war somit die ersten beiden Semester vollauf mit eigenen Arbeiten beschäftigt und im Wintersemester 1906/07 kamen weitere Aufträge hinzu. Erich Gropius vermittelte ihm mit dem befreundeten Gutsherrn Brockhausen einen weiteren Bauherrn, für den er im Frühjahr 1907 ein Wohnhaus für Landarbeiter sowie mehrere Wirtschaftsgebäude, darunter ein Sägewerk, auf dessen Gut in Mittelfelde plante und die Ausführung begleitete. Auch im dritten und vierten Semester kam Gropius kaum zum Studium, so dass er wohl selbst einsah, dass sich die akademische Ausbildung in unerreichbare Ferne verschob. Da er nach dem Tod der Großmutter Luise im November 1906 eine beträchtliche Erbschaft machte und er sich wohl ausrechnen konnte, dass er über den Onkel Erich sowie über die große wohlhabende Verwandtschaft und deren Freundeskreis weitere Aufträge erhalten konnte, beschloss er, das Studium ohne irgendeinen Abschluss, und ohne besondere Kenntnisse erworben zu haben, abzubrechen, und ging im Laufe des Sommersemesters 1907 von der Hochschule. Ende September trat er eine einjährige Reise nach Spanien an. Dieser Studienabbruch und das Fehlen eines Diploms erscheinen aus heutiger Sicht gravierend, waren aber zumindest in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg nicht so bedeutsam, sofern man nicht eine Position in einer Bauverwaltung anstrebte. Die Berufsbezeichnung Architekt war nicht geschützt, es gab keine Einschränkungen bei der Planvorlage und Plangenehmigung und insofern spielte der akademische Abschluss keine so große Rolle bei einer Tätigkeit als planender und bauender Architekt. Nicht nur Le Corbusier und Mies van der Rohe, sondern eine ganze Reihe weiterer bedeutender Architekten von Henry van de Velde bis Peter Behrens und von Frank Lloyd Wright bis Marcel Breuer profilierte sich im 20. Jahrhundert ohne Diplom. Theodor Fischer verzichtete sogar einfach auf einen Abschluss und ging mit einer Empfehlung seines Lehrers Friedrich von Thiersch lieber in das Büro von Paul Wallot, da ihm dies für seine weitere Entwicklung wichtiger erschien.[30] Bedeutsam ist also weniger das abgebrochene Studium als die Tatsache, dass Gropius zwar Baupraxis anderweitig erwerben konnte, dass er aber keinerlei Ausbildung im Entwerfen und für Hochbaukonstruktion erhalten sowie relativ wenig von der Architektur- und Baugeschichte gelernt hatte. Im Gegensatz zu anderen Autodidakten, die versuchten, dies nachzuholen, verhielt er sich zu historischer Architektur, mit wenigen Ausnahmen, zeitlebens indifferent bis ablehnend, seine baugeschichtlichen Kenntnisse waren dementsprechend dürftig. Im Studium hatte sich seine Schwäche in der zeichnerischen Darstellung, in der Materialisierung einer Idee gezeigt, aber auch dies ist weniger bedeutsam oder einschränkend, als es einem Laien, der Planungsabläufe in einem Architekturbüro nicht kennt, erscheint. Wie sein Lebenswerk belegt und wie noch ausgeführt wird, entwickelte Gropius seine eigene Form der zeichnerischen Konkretion seiner Ideen über Mitarbeiter und Kollegen.

Karl Ernst Osthaus

Warum die Reise nach Spanien ging und welches Interesse damit verbunden war, ist nicht bekannt, von der Sprache erlernte er erst etwas im Land. Die vielen Berichte an die Mutter vermitteln eher den Eindruck einer weitgehenden Vergnügungsfahrt, etwas garniert mit Kunst, Kultur und Interesse an der Damenwelt, also durchaus vergleichbar der traditionellen Grand Tour von Adeligen durch Frankreich und Italien. Zusammen mit Helmuth Grisebach ging die Fahrt mit dem Schiff von Le Havre nach Bilbao und von da zu Pferd, zu Fuß oder mit der Kutsche über San Sebastian, Burgos, Salamanca, Ávila nach Madrid. Wie einige Beschreibungen in den Briefen an die Mutter belegen, interessierte sich Gropius für die historische Architektur, aber eine intensivere Auseinandersetzung findet sich nur ein einziges Mal beim Besuch des Kastells von Coca bei Segovia. Über diese Anlage verfasste er nach der Rückkehr Ende 1908 einen längeren Text, und bei seinem ersten großen öffentlichen Vortrag über «Monumentale Kunst und Industriebau»[3132AEG