1356 wurde die Goldene Bulle von Karl IV. besiegelt. Im selben Jahr vernichtete ein verheerendes Erdbeben weite Teile von Basel und nahm der ›Schwarze Prinz‹ den französischen König gefangen.
Von 1077 bis 1914 stellt Eva-Maria Landwehr den großen Geschehnissen berühmter Jahre unbekanntere Ereignisse gegenüber, die Geschichte erst farbig machen.
Eva-Maria Landwehr lebt in Düsseldorf und ist Kunsthistorikerin und freie Autorin.
oder was noch geschah
als Heinrich nach Canossa ging und
Kolumbus Amerika entdeckte
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ISBN 978-3-86312-082-5
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Vorwort
1077
Ein König muss büßen: Heinrich IV. geht nach Canossa
Ein Herzog muss bauen: Die Weihe der Abteikirche St. Étienne in Caen
Wiederhergestellte Freiheit: Das Privileg des Nonnenklosters im Chiemsee
1122
Die Krone ordnet sich unter: Das Wormser Konkordat
Die Frau an ‚seiner‘ Seite: Königin Mathilde stellt in Utrecht eine Urkunde aus
Karrierist, Erneuerer – Fälscher?: Suger wird Abt von Saint-Denis
1268
Das Ende einer Dynastie: Konradin von Hohenstaufen wird in Neapel hingerichtet
Eine Legende der Gelehrsamkeit: Die Sorbonne in Paris wird vom Papst bestätigt
Der Untergang eines Kreuzfahrerstaates: Das Fürstentum Antiochia wird zurückerobert
1356
Wie man einen König wählt: Die Goldene Bulle
Leben mit den Naturgewalten: Ein Erdbeben zerstört Basel
Eine Frage der Ehre: Die Gefangennahme König Johanns II. von Frankreich in der Schlacht bei Maupertuis
1492
Eine völlig neue Welt: Kolumbus landet in Amerika
Schneller, weiter … höher!: Die Erstbesteigung des Mont Aiguille
Himmlischer Niederschlag: Der Meteorit von Ensisheim
1517
Reformator wider Willen: Martin Luther und seine 95 Thesen
Heilen als Lebenswerk: Hans von Gersdorff veröffentlicht sein „Wundartzneybuch“
Eine Reise nach Jerusalem: Die Wallfahrt des Bernhard von Hirschfeld
1648
Die Welt blickt auf Westfalen: Das Ende des Dreißigjährigen Krieges
Englischer Alltag: Aus dem Tagebuch des Vikars Ralph Josselin
Ein Jahr in Ostindien: Die Erinnerungen des Johann Jakob Merklein
1789
Kein Stein auf dem anderen: Das Volk stürmt die Bastille
Von weiblicher Hand: Dora Stock zeichnet Mozarts letztes Porträt
(Fast) alle Wege führen nach New York: Ein Ire kartografiert Amerikas Straßen
1871
Mit Pauken und Trompeten: Das deutsche Kaiserreich wird ausgerufen
Stunde null: Ein Großbrand zerstört Chicago
Weihnachten in Ägypten: Verdis „Aida“ wird uraufgeführt
1914
Die Katastrophe nimmt ihren Lauf: Der Erste Weltkrieg beginnt
Durchbruch geschafft: Das erste Schiff passiert den Panamakanal
Klassisch? Modern!: In Köln findet die erste Werkbundausstellung statt
Anmerkungen
Literatur
Jedes Jahrhundert hat seine ‚Klassiker‘, Ereignisse, die ganz oben auf dem historischen Siegertreppchen stehen und deshalb der Öffentlichkeit spätestens ab dem Zeitpunkt ihrer 100. Wiederkehr gerne und ausgiebig in Gestalt von Ausstellungen und Publikationen ins Gedächtnis gerufen werden. Es genügt bereits die Nennung einer Jahreszahl und schon werden Assoziationsmechanismen in Gang gesetzt, die meist beim mageren Erkenntnisgewinn zäh verstreichender Schulstunden oder bei sogenannten Eselsbrücken ihren Anfang nehmen. Hinter diesen Jahreszahlen stehen Kräfte, die Entwicklungen ausgelöst, Veränderungen bewirkt, Reformen eingeleitet oder auch Herrschaftsverhältnisse beendet haben, im Einzelfall mit Auswirkungen bis in unsere Gegenwart. Noch heute schreiten diese Jahreszahlen einschüchternd auf ihrem roten Teppich daher, und die Wissenschaft streut ihnen – zu Recht – nach wie vor Rosenblätter. Ein bisschen streberhaft und penetrant wirkt es allerdings schon, wie sich die Großereignisse in ‚ihrem‘ Jahr in die vorderste Reihe drängeln und den großen Rest der immerhin 365 Tage auf die Plätze verweisen. Aber auf dem Podest gibt es immer Platz für einen zweiten und dritten Sieger – hinter dem (eine) vielleicht nicht immer spektakuläre, mit Sicherheit aber genauso beeindruckende Geschichte wartet. Während 1492 also zum Beispiel das Jahr war, in dem Columbus sich weiter als alle anderen auf den Atlantik hinausgewagt hat, haben andere die Herausforderung in der Vertikalen gesucht. Es war das Jahr 1077, in dem Heinrich IV. in Canossa mit Sicherheit kalte Füße bekommen hat – und ein Herzog feststellen musste, dass die Kirche beim Sakrament der Ehe keinen Spaß versteht. 1517, als Luther seiner Empörung über die Ablasspraxis Luft gemacht hat, ist ein Medizinbuch erschienen, das erklärte, was den Menschen im Innersten zusammenhält. Und 1871 waren nicht alle Beteiligten von den Vorteilen eines preußischen Kaiserhauses überzeugt – während eine Stadt in Amerika den Preis für rasantes und unkontrolliertes Wachstum zahlen musste. Alle diese Dinge geschahen nicht ein Jahr früher und auch kein Jahr später.
Die Auswahl der Geschichten um den ‚zweiten‘ und ‚dritten Platz‘ ist in diesem Buch zweifelsohne subjektiv erfolgt und erhebt keinerlei Anspruch auf Repräsentativität. Ein wenig dichterische Freiheit war auch nötig, um die reinen Fakten mit erzählerischem Leben zu füllen – gerade dann, wenn die Grundlage aus wenig mehr als einer datierten Urkunde bestand. Herrschaftsgeschichte und Einzelschicksale, Naturkatastrophen und Schlachten, Wissenschaft und Aberglauben stehen sich in diesen Episoden gegenüber. Es geht um innere Einkehr, Abenteuer fern der Heimat, Bußleistungen, Begegnungen mit dem Fremden, Höchstleistungen, Wallfahrten und nicht zuletzt ums Gelingen und Scheitern – genug Gründe also, den roten Teppich etwas breiter auszurollen.
Bedanken möchte ich mich ganz herzlich bei Achim Landwehr, Angelika Avenel von Lieben und Insa Wenke – meinem Mann und meinen Literaturfreundinnen, die das Manuskript mit großer Sorgfalt gelesen und so manches ‚Vergehen‘ gegen die Grammatik, die Logik oder den Stil aufgespürt und ausgebügelt haben.
Annus glatialis – zwei magere lateinische Worte: ein eisiges Jahr. Das ist die Bilanz des Chronisten der Benediktinerabtei Notre-Dame in Mouzon für die zwölf Monate des Jahres 1077. Aber wenn man die Quellen befragt, braucht es kaum mehr als diese sparsame Formulierung, um eine Vorstellung von der unbarmherzigen Kälte zu bekommen, die vom Spätherbst 1076 bis zum Frühling 1077 das Leben und die Natur zum Stillstand zwang – manches Mal für immer. Ein außergewöhnlich kalter Winter hatte weite Teile Europas fünf Monate lang in seinem Klammergriff und konnte nahezu ungehindert seinem zerstörerischen Werk nachgehen. Die armseligen Hütten der Bauern boten dem Frost keinerlei Widerstand, und selbst die meterdicken Steinmauern von Klöstern und Burgen, die hölzernen Fensterläden, die wollenen Wandbehänge und das dick auf dem Boden eingestreute Stroh konnten die durch alle Ritzen kriechende Kälte nicht abwehren. Armut und Entbehrungen, ein Leben von der Hand in den Mund, das war für die meisten Menschen des Mittelalters die tägliche Realität. Aber diese bedrohlichen, lebensfeindlichen Temperaturen brachten Krankheiten, Hunger und Tod nicht nur, solange sie andauerten, sondern auch in den Monaten danach, wenn zur bitteren Gewissheit geworden war, dass die erfrorene Saat niemanden satt machen würde.
Die Not und das Elend dieser endlosen Wochen hatten den Schreiber des Klosters bei Reims also förmlich sprachlos gemacht. Die Ältesten unter seinen Mitbrüdern konnten sich vielleicht noch an vergleichbare Wetterextreme erinnern: Vierzig Jahre zuvor, im Jahr 1036, soll der Winter so hart gewesen sein, dass die Bäume vertrockneten und die Aussaat abstarb. Nur sechs Jahre später hatte sich der Frost fast drei Monate in die Erde und das Wasser eingenistet, hatte das Eis mannsdick anwachsen lassen, sodass man in den Nürnberger Mühlen kein Getreide mehr mahlen konnte. Nur kurz hatte das Klima den Menschen eine Atempause gegönnt, bevor 1044 wieder ein harter Winter folgte, der die Reben erfrieren ließ, die Aussaat zerstörte und in der Folge eine bittere Hungersnot brachte. Im Jahr 1047 war es erneut sehr kalt, der Schnee soll in Nordengland Häuser und Hütten bis zu den Dächern bedeckt haben, wie die Annalen des Klosters in Durham berichteten. Fast dreißig Jahre lang waren schließlich moderate Jahreszeiten aufeinandergefolgt, bis die zum Jahreswechsel 1074/75 einsetzenden Minusgrade die Flüsse bis auf den Grund frieren ließen und eine Ahnung von dem vermittelten, was noch folgen sollte.
Während sonst also das Leben und Sterben von Äbten und Erzbischöfen, Päpsten und Königen die Pergamentseiten der Klosterannalen füllte, beherrschte im Jahr 1077 ein außergewöhnlicher, ja, ein Jahrhundertwinter die Aufzeichnungen: Für Würzburg zum Beispiel werden ungeheure Schneemengen überliefert, Aufzeichnungen aus dem Umkreis des Augsburger Domkapitels erzählen davon, dass sogar Bäume abstarben. In den Niederschriften des Klosters Laubach bei Lüttich wird der andauernde Frost von November bis Mitte März beklagt, und in den Jahresberichten des Klosters Iburg bei Osnabrück weiß man zu berichten, dass bis Mitte April alle Flüsse zugefroren waren.
Heinrich der Salier hätte also kaum einen ungünstigeren Zeitpunkt wählen können, um Ende des Jahres 1076 von Speyer nach Italien aufzubrechen. Wenn er denn eine Wahl gehabt hätte. Für den deutschen König aber ging es um Alles oder Nichts: um seinen Führungsanspruch, sein Königtum und um das Heil seiner Seele. Schon vier Jahre lang schwelte ein Streit zwischen ihm und dem Papst. Heinrich betrachtete die Einsetzung von Bischöfen als ein seit den ottonischen Herrschern geltendes Vorrecht der weltlichen Macht, der Könige – als sein ureigenes Privileg also. Die Weigerung des Papstes, dieses Gewohnheitsrecht widerspruchslos zu akzeptieren, ignorierte Heinrich mit der Selbstgewissheit des gesalbten Monarchen, der niemanden außer Gott zu fürchten hatte. Das aber sollte sich als dramatischer Irrtum erweisen. Dass Papst Gregor VII. im Jahr 1075 ganz offiziell von ihm Gehorsam und Demut in dieser Sache verlangt hatte, schien den König nach seinem unmittelbar vorangegangenen Sieg über die Sachsen weniger beeindruckt als verärgert zu haben. Seine Antwort nach Rom machte deutlich, wie unerhört er diese Forderung fand. Er ging sogar noch einen Schritt weiter und verlangte seinerseits von Gregor, den er respektlos als falso monacho bezeichnete, den sofortigen Rücktritt von seinem hohen Amt. Es braucht keine fundierten Lateinkenntnisse, um an dieser Stelle die Titulierung ‚falscher Mönch‘ heraushören zu können. Diese ehrverletzende Beleidigung gelangte mit Sicherheit auch nicht ohne Heinrichs Wissen in das Schreiben nach Rom, denn der König konnte Latein lesen und verstehen.
Nun aber geschah etwas ganz und gar Unglaubliches, etwas, das niemand jemals für möglich oder auch nur vorstellbar gehalten hätte: Der Papst verhängte über Heinrich den Kirchenbann – das heißt, er verstieß ihn aus der Gemeinschaft der Christen! Laut Bischof Bonizo von Sutri, einem Anhänger Gregors VII., der das nun folgende politische Erdbeben kommentieren sollte, erzitterte unser ganzer römischer Erdkreis!1 Nicht genug damit, setzte der Papst Heinrich auch als König ab und löste seine Untertanen von ihrem Treueid. Heinrich, erschüttert und ungläubig zugleich, erklärte seinerseits den Papst für gebannt, doch diese mechanische Reaktion verpuffte ohne Konsequenzen. Die deutschen Bischöfe dagegen zeigten sich zutiefst beeindruckt von der neuen päpstlichen Autorität und zogen sich nach und nach vom König zurück. Man ahnte, dass ein so stark und unerbittlich auftretender Papst der Sache des hohen Klerus durchaus dienlich sein konnte.
In jedem Fall hatte der Adel des Reiches auf eine solche Gelegenheit nur gewartet: Im Sommer 1076 verbündeten sich die drei mächtigsten Herzöge im Süden des Reiches, die von Schwaben, Bayern und Kärnten, zu einer Phalanx gegen den ungeliebten, zunehmend isolierten König. Mit der Verhängung des Banns war endgültig ein unsichtbarer Damm gebrochen, und nun wurden schwere Geschütze aufgefahren. Zu lange schon schwelte der Groll gegen Heinrichs selbstherrlichen Regierungsstil und seine zuweilen brutale Art der Kriegführung. Man prangerte – ohne sie detailliert aufzuführen – von Heinrich verursachte Missstände an und stellte ihm auf der Basis dieser schwammigen Vorwürfe ein Ultimatum: Bis zum Jahrestag des Banns, also im Januar 1077, musste er dessen Aufhebung erwirken, sonst drohte ihm die Absetzung. Keiner der Fürsten glaubte ernsthaft an eine erfolgreiche Rehabilitierung des Königs, denn zur selben Zeit luden sie den Papst für den Februar 1077 nach Augsburg ein, um dort mit ihm einen neuen Kandidaten für die Königswahl zu bestimmen. Der päpstliche Bann diente ihnen offenkundig als Vehikel für ihren Plan, sich ihres Königs zu entledigen.
Heinrich IV. blieb Ende des Jahres 1076 also nur noch wenig Zeit: Der diplomatische Weg war versperrt, schließlich hatten gerade seine unbeherrscht formulierten Briefe zum Zerwürfnis mit dem Papst geführt. Es galt nun, mit kühlem Kopf vorzugehen – und Heinrich entschied sich für die direkte, aber auch gefährlichste Strategie. Kurz vor dem Weihnachtsfest des Jahres 1076 brach der König mit Frau, Kind und kleiner Gefolgschaft nach Italien auf, um den Papst, der bereits auf dem Weg nach Augsburg war, abzupassen und persönlich um Gnade zu bitten. Für das, was er vorhatte, brauchte er seine Familie an seiner Seite, allen voran seinen kleinen Sohn und Mit-König Konrad. Die Begleitung seiner Frau und seines Erben würde ein wichtiges Signal an alle sein, die ihn als König infrage stellten. Er würde dem Papst nicht nur sich selbst als reuigen Sünder, sondern auch den nächsten deutschen König präsentieren und damit alle Lügen strafen, die das Geschlecht der Salier am Ende sahen. Nicht ohne Grund hatte er seine Reise über die Alpen in Speyer beginnen lassen, wo die sterblichen Überreste seines königlichen Vaters und Großvaters in der Krypta des Doms begraben ruhten. Seine Nachfolge, sein Testament, das musste er in der Person seines Sohnes mit sich führen – und damit alles riskieren. Wenn er den Papst nicht zur Aufhebung des Kirchenbanns bewegen konnte, dann war das Königtum für seine Nachkommen verloren. Sein Weg der Buße begann mit seinen Ahnen und endete mit der Präsentation seines designierten Nachfolgers.
Der König wusste, dass jeder Reisende den Wintereinbruch fürchtete, war er doch selbst ein Nomade, der übers Jahr rastlos von Pfalz zu Pfalz zog, um ein unsichtbares Netz zu weben, das den Zusammenhalt im Reich wahrte und seine Macht festigte. Aber im Winter nahm jeder, der es konnte, ein festes Quartier und wartete auf die Schneeschmelze im Frühling, auf länger werdende Tage, auf das erste sprießende Gras für die Last- und Reittiere. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass sich sogar Räuber und Wegelagerer in ihre Schlupfwinkel zurückzogen, und eine Reise zu dieser Jahreszeit wenigstens relative Sicherheit vor Überfällen versprach. Morastige Ebenen und sumpfige Flusstäler waren nun so durchfroren, dass man für Pferde und Wagen überall festen Untergrund zum Reisen vorfand. Das Land war dünn, aber flächendeckend besiedelt, und so konnte man darauf vertrauen, in regelmäßigen Abständen auf menschliche Behausungen zu stoßen. Außerdem wiesen alle Flüsse, einschließlich des Rheins, eine tragende Eisschicht auf, die es den Reisenden ersparte, Furten mit eiskaltem Wasser passieren zu müssen. Man bewegte sich im Jahr 1077, das bedeutete: ohne Karten und auf kaum markierten Wegen mit einem ungewissen Verlauf. Die alten römischen, gepflasterten Heerstraßen hatte man verfallen lassen – aus gutem Grund, denn über die Jahrhunderte war immer wieder der Feind auf solchen Wegen komfortabel ins Land eingefallen. 1077, das bedeutete auch eine Reise durch große zusammenhängende Waldgebiete, in denen hungrige Wölfe und vielleicht auch ausgehungerte Menschen streunten.
Irgendwann Mitte Dezember des Jahres 1076 verließ eine kleine Reisegesellschaft, bestehend aus einer überschaubaren Anzahl an Edelleuten zu Pferd, Wagen für die Frauen sowie einigem Fußvolk, die Stadt Speyer. Man hielt sich linksrheinisch – eine Überquerung des Flusses war also nicht notwendig – und schlug den Weg nach Straßburg ein. Geht man von einer damals durchschnittlichen Reisegeschwindigkeit von etwa dreißig Kilometern pro Tag aus, dann sollte dieses Ziel, an dem ein Aufenthalt des königlichen Trosses bezeugt ist, nach ungefähr drei bis vier Tagen erreicht worden sein. Eine weitere Woche war nötig, um in das etwa zweihundert Kilometer entfernte Besançon zu gelangen, wo bei Graf Wilhelm, einem Vetter der Königinmutter, Kaiserin Agnes, das Weihnachtsfest gefeiert wurde. Doch König Heinrich war rastlos und zeigte wenig Neigung, mehr Zeit für Besinnung, innere Einkehr und körperliche Erholung aufzubringen, als unbedingt nötig war: Bereits nach nur einem Tag Aufenthalt musste die Reise fortgesetzt werden. Mit Besançon verließ der König aber auch Ländereien, die sich im Besitz seiner Blutsverwandten befanden, und damit vertrautes Terrain. Ab jetzt betrat er Einfluss- und Herrschaftsgebiete der Familie seiner Frau Bertha. Die mindestens sechs Tagesreisen nach Gex bei Genf führten gegen Ende durch die Täler des Hoch-Jura und gaben damit schon einen Vorgeschmack auf die strengen klimatischen Bedingungen, die man im Hochgebirge auf dem Weg zum Pass am Mont Cenis zu erwarten hatte. In Gex hatten sich bereits Mutter und Bruder seiner Frau, Adelheid und Amadeus von Turin, erwartungsvoll eingefunden. Nicht unbedingt aus verwandtschaftlicher Liebe und Hilfsbereitschaft, sondern vielmehr, weil sie handfeste Eigeninteressen verfolgten. Heinrich war gut unterrichtet über die strategische und wirtschaftliche Bedeutung des Passes am Mont Cenis, dessen Zugang ihm die Familie seiner Frau ermöglichen konnte. Denn der bequeme und relativ sichere Weg über den Brenner, der das ganze Jahr über passierbar war, war ihm im Gegensatz zu Papst Gregor versperrt – dafür hatten Berthold von Kärnten, Welf von Bayern und Rudolf von Schwaben gesorgt. Diese Blockade brachte den König in eine Abhängigkeit, die sich die Turiner teuer bezahlen lassen wollten. Die nächsten Verwandten seiner eigenen Frau erpressten ihn mit der Unverfrorenheit und Selbstverständlichkeit von Menschen, die sich im Vorteil wussten, Familie hin oder her. Doch auch unter Zeitdruck bewies Heinrich die Nervenstärke, hart und auf Augenhöhe zu verhandeln: Statt der geforderten fünf italienischen Bistümer trat er letztendlich nur eine, allerdings ertragreiche Provinz in Burgund ab.
Der Pass am Mont Cenis war einer von zehn Zöllen, über die große Mengen englischer Wolle, Flachs, Hanf und Zinn von Burgund nach Italien gebracht wurden. Auch wenn es im Winter unvorstellbar schien, herrschte hier in den Sommermonaten ein reges Kommen und Gehen: trotz der Sümpfe in den Tälern, trotz der Gerölllawinen und des launenhaften Wetters, trotz der wilden Tiere und wilden Menschen, vor denen man sich stets in Acht nehmen musste. Die unbefestigten Wege an den Hängen boten nur Platz für Träger und Saumtiere, an einen Transport mit Wagen war nicht zu denken. Wegweiser gab es keine, und wenn, dann gaben sie sich nur den Führern aus den ansässigen Bergvölkern zu erkennen. Ohne diese ortskundigen Spurenleser war man in dieser so ganz anderen, feindseligen Natur verloren – man konnte sich aber auch nie wirklich sicher sein, ob diese Helfer Freund oder Feind waren. Immerhin gab es überall reines Wasser aus Quellen, an denen man seinen Durst löschen konnte, zum Essen das eine oder andere Wild oder auch Fische aus einem der zahlreichen Alpenseen. Klöster und Hospize boten vor und hinter den Pässen Schutz, Unterkunft und Verpflegung.
Bertha von Savoyen, Tochter Graf Ottos von Savoyen und Adelheids von Turin, Gemahlin König Heinrichs, kauerte auf einer eiskalten Rinderhaut und klammerte sich an deren Ränder, als sie vorsichtig einen vereisten Abhang hinabgelassen wurde.2 Keiner von denen, die sich unter größten Anstrengungen zum Pass des Mont Cenis durchgeschlagen hatten, sprach auch nur ein Wort. Man hörte nur das keuchende Atmen aus vielen Kehlen und das Knirschen der sich mühsam durch den verharschten Schnee quälenden Füße. Der in Eis und Schnee erstarrte Berg hatte alle Mitglieder der königlichen Reisegruppe für kurze Zeit zu gleichgestellten Leidensgenossen gemacht. Die Füße in den ledernen Schuhen waren kaum zu spüren, und die wollene Kleidung hatte sich vollgesogen mit der eiskalten Nässe, die der eigene, noch warme Körper aus dem Schnee geschmolzen hatte. Ihre Heirat mit Heinrich war – natürlich – arrangiert worden. Bereits im Jahr 1055, als Kinder von vier und fünf Jahren, waren sie verlobt worden, und sie, das kleine Mädchen, war unter der Obhut von Heinrichs Mutter Agnes aufgewachsen. Neun Jahre später hatte dann die Heirat stattgefunden. Aber aus dem scheuen, vaterlosen Jungen von zwölf Jahren, den Erzbischof Anno von Köln 1062 mittels eines perfiden Plans aus der Pfalz in Kaiserswerth entführt und seiner Mutter entfremdet hatte, war ein verschlossener und undurchschaubarer junger König geworden, dessen Verhalten Anlass zu einigen Sorgen gab. Heinrich hatte ihr gegenüber von Anfang an eine unerklärliche Abneigung, ja, fast Abscheu an den Tag gelegt. Er konnte ihre Gegenwart kaum ertragen, ging ihr so gut als möglich aus dem Weg. Dabei war es ihre wichtigste Aufgabe, einen legitimen Nachfolger zur Welt zu bringen. Viele Jahre und noch viel mehr Tage vergingen, in denen ihr der König kalt und abweisend begegnete. Schließlich ließ man sie wissen, dass Heinrich die Scheidung wollte und dies damit begründete, dass er die Menschen in seiner Nähe nicht länger über seine wahren Gefühle täuschen wolle, dass er die Ehe mit ihr nicht ertrage und sie beide glücklicher ohne einander sein würden. Immerhin, dachte sie mit Bitterkeit, hatte der König öffentlich festgestellt, dass er ihr, seiner Frau, keine Verfehlung vorwerfen könne. Die deutschen Bischöfe hatten jedoch gezögert, das Sakrament einer rechtmäßig geschlossenen Ehe zu verletzen. Deshalb war ihre Erleichterung unendlich groß gewesen, als Papst Alexander II. seine Einwilligung zu dieser Demütigung verweigert hatte. Nun war sie fünfundzwanzig Jahre alt und hatte vier Kinder geboren, von denen drei noch lebten. Sie wurde gezwungen, mitten in einem der strengsten Winter seit Menschengedenken das Hochgebirge zu überqueren. Der Einsatz für Heinrichs Kampf um das Königtum war das Leben seines zweijährigen Sohnes Konrad – und das ihre. Bertha wünschte, das Schreien der Pferde, denen man die Beine an den Fesseln zusammengebunden hatte, um sie auf diese brachiale Weise über die vereisten Hänge nach unten zu ziehen, nicht mehr hören zu müssen.
Doch alles ging gut. Einmal in Oberitalien angekommen, gab Heinrich die Zügel nicht mehr aus der Hand. Er erhielt regen Zulauf von Gegnern des Papstes, was diesen, der bereits auf dem Weg nach Augsburg war, eingeschüchtert auf die Burg Canossa trieb. Wie ein Adlerhorst lauerte diese uneinnehmbare Festung auf dem Plateau eines steilen Felsmassivs, erreichbar nur durch einen einzigen schmalen Zugang. Gregor VII. war nicht sehr erfreut von Heinrichs Überrumpelungstaktik, viel lieber hätte er eine Begegnung mit diesem umgangen und das Gespräch mit den deutschen Fürsten gesucht. Aber nun war ein Patt entstanden und so nahmen zahlreiche Vermittler und Fürsprecher ihre schwierige diplomatische Tätigkeit auf, um eine Einigung zwischen Papst und König zu erzielen. Doch Heinrich, der pragmatisch dachte und unter enormem Zeitdruck stand, ging das alles nicht schnell genug. Er ergriff kurzerhand die Initiative und erschien am 25. Januar 1077 bei klirrender Kälte barfuß im härenen Büßergewand vor den Toren der Burg. Ein klug gewähltes Datum, denn an diesem symbolträchtigen Tag soll einst auch der Apostel Paulus bekehrt worden sein. Der Papst fühlte sich erpresst, musste aber schließlich einlenken, wollte er nicht als unversöhnlich und unnötig grausam erscheinen. Heinrich versprach als Gegenleistung für die Aufhebung des Banns die Aussöhnung mit der deutschen Geistlichkeit und den Fürsten des Reichs. Doch es war ein trügerischer Frieden, der in Canossa geschlossen wurde. Nur drei Jahre später fiel der König erneut in Ungnade – und der darauf verhängte Bann wurde zu seinen Lebzeiten nicht mehr aufgehoben. Die Fronten blieben so verhärtet und das Verhältnis so unversöhnlich, dass der Leichnam Heinrichs IV. erst im Jahr 1111, also fünf Jahre nach seinem Tod, in der geweihten Erde des Speyrer Doms beigesetzt werden durfte.
Das Zerwürfnis zwischen Papsttum und Königtum konnte nicht mehr gekittet werden. Weil sich der Bannspruch zu einer gern und häufig eingesetzten Disziplinierungsmaßnahme entwickelte, verlor er genau aus diesem Grund seine anfänglich welterschütternde Wirkungskraft. Heinrich V., Friedrich Barbarossa oder auch Friedrich II., sie alle lernten mit dem Stigma des Banns zu leben, zu herrschen – und auch zu sterben. Und sie mussten dafür nicht barfuß durch den Schnee stapfen.
Was könnten der berüchtigte Londoner Tower, die ehrwürdige Westminster Abbey, die geschichtsträchtige Kathedrale von Canterbury und die Klosterkirche St. Étienne in Caen gemeinsam haben? Den Bauherrn, den Baumeister oder möglicherweise das Erbauungsjahr? Nein, alle diese Bauwerke wurden aus demselben Werkstoff errichtet, dem Pierre de Caen, einem hellockerfarbenen und leicht zu bearbeitenden Kalkstein aus der Region Caen in der Normandie. Für eine Klosterkirche an der französischen Kanalküste mag die Wahl eines solchen Materials ja einleuchten – warum aber Tonnen über Tonnen handbehauener Bausteine mühsam nach Südengland verschiffen, und das im 11. und 12. Jahrhundert? Die Antwort ist recht einfach: Weil es das Jahr 1066 gab. Das Jahr, in dem Herzog Wilhelm der Normandie den Thron von England eroberte und damit die Insel der Angelsachsen und den europäischen Kontinent mit einer unsichtbaren Brücke verband.
Die Normannen prägten das 11. Jahrhundert wie keine andere Völkergemeinschaft Europas – nicht nur in Frankreich und England, sondern ebenso in Unteritalien, Sizilien und im östlichen Mittelmeer. Gerade einmal einhundert Jahre lag es zurück, dass der norwegische Wikinger Rollo plündernd und brandschatzend durch Europa gezogen war, um schließlich im heutigen Frankreich mehr oder weniger friedlich und sesshaft zu werden. Ursächlich für den Beginn seiner ‚Sozialisierung‘ war paradoxerweise eine Niederlage: Im Zuge einer seiner zahlreichen Raubfahrten unterlag Rollo bei einer Schlacht in der Nähe von Chartres dem französischen König. Dieser war der ewigen Überfälle überdrüssig geworden und versuchte es nun mit der Taktik, die Wikinger durch die Schenkung von Land zu umwerben, anzusiedeln und damit als Widersacher auszuschalten. Rollo gefiel sich anfangs in seiner seriösen neuen Rolle als Lehnsmann und akzeptierte sogar die Taufe – doch die nordische Götterwelt und schlechte Gewohnheiten überhaupt ließen sich schwer ablegen. Wenige Jahrzehnte später zeigte die dünne Schicht von Zivilisation und Christentum bereits deutliche Risse und die verschiedenen Wikingerhorden fanden in Ermangelung ernst zu nehmender Gegner kein anderes Ventil, als sich mit großem Eifer gegenseitig umzubringen. Als Wikinger blieb man seiner ehemaligen Heimat weiterhin treu verbunden und pflegte alte Loyalitäten: Nach Raubzügen in England konnten sich die skandinavischen Verwandten stets darauf verlassen, jenseits des Kanals – in Frankreich also – mit offenen Armen aufgenommen zu werden. Dies war eindeutig ein diplomatischer Affront, gegen den die Engländer vehement, aber erfolglos protestierten.
In frühen Quellen werden die vom französischen König belehnten Nordmänner noch als Grafen, im 11. Jahrhundert dann schon als Herzöge bezeichnet. ‚Alten‘ Adel gab es ja keinen, die bestehenden Geschlechter und Häuser waren samt und sonders neu geschaffen worden, und nicht zuletzt waren eigentlich alle mit allen verwandt. Die neuen Herren machten ihre Sache gut, sodass sich die Normandie zu Beginn der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts ökonomisch und politisch in hervorragender Verfassung präsentierte. Doch der Tatendurst des normannischen Adels, der ständig nach Eroberungen und noch mehr Landbesitz gierte, musste von einer starken Hand verwaltet werden. Dafür hatte der Herzog zu sorgen, und weil das benachbarte Eigentum der französischen Krone besser nicht angetastet wurde, richtete sich der begehrliche Blick auf die Insel jenseits des Kanals.
Zuerst jedoch war es dafür nötig, dass ein wahrer Eroberer das Licht der Welt erblickte. Wilhelms Zukunft schien zu Beginn wenig verheißungsvoll, denn seine Geburt im Jahr 1028 war mit einem entscheidenden Makel behaftet: Das Kind war ein Bastard. Sein Vater, Robert I., sechster Herzog der Normandie, bekannte sich zwar zu dem Sohn, den er mit Herlève, der Tochter eines Gerbers gezeugt hatte, doch ein aussichtsreicher Rang in der Thronfolge schien in höchstem Maße unwahrscheinlich. Noch im besten Mannesalter zog Robert dann aber eine Pilgerfahrt nach Jerusalem einer standesgemäßen Ehe und damit einem legitimen Erben vor. Er ließ nicht nur ein wenig stabiles Herzogtum, sondern auch seinen siebenjährigen Sohn schutzlos zurück – allerdings nicht ohne ihn vorher als seinen designierten Nachfolger präsentiert zu haben. Es kam, wie es kommen musste: Robert starb 1035 in Nicaea, als Pilger immerhin erfolgreich, da er sich bereits auf der Rückreise befand. Es grenzt an ein Wunder, dass das Kind Wilhelm angesichts der nun einsetzenden Machtkämpfe und der vielfach auf ihn verübten Attentate überhaupt das Erwachsenenalter erreichte. Die Vormundschaft des französischen Königs Heinrich I. bot einen gewissen Schutz für Leib und Leben, aber es musste schon bedenklich stimmen, dass die beiden nachfolgenden Beschützer des unmündigen Herzogs jeweils eines gewaltsamen Todes starben. Aus dem Kind wurde ein junger Mann, für den Aufruhr, kriegsähnliche Zustände und blutige Adelsfehden wie selbstverständlich zum täglichen Leben gehörten. Als sein Großcousin Guy de Brionne Anspruch auf den Herzogsthron erhob, kam es 1047 zur Schlacht von Val-ès-Dunes, die der gerade einmal neunzehnjährige Wilhelm nur denkbar knapp für sich entscheiden konnte. Frieden für das Land bedeutete dieser Sieg aber noch lange nicht, dafür sorgte das wilde und ruhelose Wikingererbe, quasi das Alter Ego des normannischen Adels. Zu Beginn der 1060er-Jahre hatte Wilhelm seine Herrschaft aber dennoch so weit gefestigt, dass er der Unternehmungslust der jungen und ihm loyal ergebenen Fürsten seiner Gefolgschaft ein neues militärisches Betätigungsfeld bieten konnte: England. Denn Adelige auf Beutezug waren sinnvoll beschäftigt und dadurch innenpolitisch weniger gefährlich.
Wilhelms Stunde kam, als Englands Thron im Januar 1066 vakant wurde. König Eduard der Bekenner, der als Cousin von Wilhelms Vater traditionell enge Verbindungen zur Normandie pflegte, starb ohne Erben. Der junge Herzog erhob Anspruch auf die Nachfolge, auch Norwegen meldete lebhaftes Interesse an, der aussichtsreichste Konkurrent aber war der Angelsachse Harold von Wessex. Diplomatisch optimal abgesichert – der französische König war unmündig, mit dem deutschen König Heinrich IV. wurde eine Art ‚Nichtangriffspakt‘ ausgehandelt, und der Papst liebäugelte mit einer Kirchenreform in England – begann Wilhelm mit den Vorbereitungen für die Invasion. Innerhalb weniger Monate vollbrachte er mit der Rekrutierung von siebentausend Soldaten und Söldnern und dem Bau von zahlreichen Schiffen für Mann und Pferd eine logistische Meisterleistung. Aber er war auch ein kühl agierender Taktiker, der auf den richtigen Moment zum Angriff warten konnte. Sofort nachdem gemeldet worden war, dass der norwegische Versuch der Machtübernahme gescheitert war, setzte Wilhelm die Segel und landete Ende September in England. Harold musste überstürzt nach Süden marschieren, um dort mit seinen erschöpften Truppen auf bestens vorbereitete Normannen zu treffen, die sich in schnell errichteten Befestigungsanlagen verschanzt hatten. Am 14. Oktober 1066 trafen die beiden Heere bei Hastings aufeinander, und obwohl sich Harolds Männer tapfer geschlagen haben sollen, mussten sie sich am Ende des Tages der normannischen Überlegenheit beugen. Der englische Adel und die Stadt London unterwarfen sich wenig später, sodass Wilhelm bereits an Weihnachten 1066 in der alten Westminster Abbey zum König gekrönt werden konnte.
Elf Jahre später, am 13. September 1077, wurde, begleitet von feierlichen Gesängen und verfolgt von den Augen zahlreicher illustrer Gäste, ein Behältnis durch das von vielen Kerzen erleuchtete und von Weihrauchschwaden vernebelte Langhaus der Klosterkirche St. Étienne in Caen zum Altar getragen. Herzog Wilhelm hatte für die Weihe der neu erbauten, von ihm gestifteten Klosterkirche den größtmöglichen Prunk angeordnet: Der Erzbischof von Rouen, Jean d’Avranches, der die Zeremonie leitete, war mit seinem ganzen Kapitel angereist, dazu gesellten sich eine große Zahl von Äbten aus allen Regionen des Landes und natürlich die wichtigsten Vertreter des normannischen Hochadels. Vor dem Einzug in den über hundert Meter langen Bau hatte die Festgemeinde bereits ehrfürchtig vor der hoch aufragenden Fassade gestanden und die mächtigen Doppeltürme bewundert, für die man unerhört tiefe Fundamentgruben hatte ausheben müssen. Die breite, fast quadratische Fassade ist noch heute von einer wehrhaften, ornamentlosen Schlichtheit, die diese neue Kirche im Jahr 1077 zu einer wahren Burg Gottes machte. Die Menge hatte sich nur langsam durch das Hauptportal in den dämmrigen Innenraum geschoben. Man hatte die von einem Rundbogen überwölbte Pforte bewusst klein gehalten, weil Laien die Klosterkirche ohnehin nur an besonderen Festtagen betreten durften. Die einschüchternde Strenge des Äußeren war bloß ein Vorgeschmack auf die sachliche Eleganz des Kirchenschiffs, in dem kühn gewölbte Rundbogenarkaden zwei Stockwerke hoch übereinander aufragten, zusammengefasst von schmalen Halbsäulen, deren Abschlüsse sich im Dunkel der flachen Holzdecke fast verloren. Die nüchterne, aber intensiv empfundene normannische Religiosität kam mit wenig Bauschmuck aus, am prächtigsten waren noch die Kapitelle mit ihren einfachen Blattmotiven.
Das geheimnisvolle Behältnis, von dem die Rede war, barg das wohl Wertvollste, das man einer Kirche, die den Namen eines Erzmärtyrers trug, zum Geschenk machen konnte: dessen Reliquien. Reliquienkult und Reliquienhandel im Mittelalter, das bedeutete nicht mehr und nicht weniger als die geschäftsmäßige Ausbeutung von angeblichen Heiligenkörpern. Galt vor der Jahrtausendwende die Bewahrung des unversehrten Leichnams als höchstes Ziel, wurden später jeder Blutstropfen und jeder Knochen, jedes Haar und jeder Fingernagel, ja selbst Gegenstände aus dem Dunstkreis des Heiligen, einer neuen Bestimmung zugeführt: der religiösen Verehrung. Problematisch war aber auch damals schon die Frage nach der Echtheit der verehrten Objekte. Zwar gab es Ganzkörperreliquien, die in ihrer Einmaligkeit über jeden Zweifel erhaben waren, doch würde man heute versuchen, die verstreuten Relikte eines einzelnen Heiligen zusammenzusetzen, so sähe man sich am Ende wohl mehr als einem Doppelgänger gegenüber. Bereits im 12. Jahrhundert sollte man einen Widerspruch darin erkennen, dass gleich zwei Kirchen überzeugt davon waren, das echte Haupt Johannes des Täufers zu beherbergen. Was also tun, wenn man vielleicht einer Fälschung aufgesessen war? Ausschlaggebend, so die Kirche, war die ehrliche und reine Absicht, die hinter der Verehrung stand – um den Rest würde sich Gott kümmern. Bei aller Ehrfurcht wusste man durchaus eine nüchterne Unterscheidung zwischen Reliquien erster, zweiter und dritter Klasse zu treffen. Während Objekte der ersten Kategorie dem biologischen Körper des Heiligen entstammten, waren die Reliquien zweiter Klasse zumindest von diesem berührt worden. Die drittbesten Stücke schließlich waren wenigstens mit Reliquien der zweiten Wahl in Kontakt gekommen. So staffelten sich auch die Preise, die für den Erwerb dieser Kostbarkeiten angesetzt wurden. Je nach Geldbeutel konnte also jedes Gotteshaus, von der Kathedrale bis zur Dorfkirche, mit Reliquien ausgestattet werden, die Heilung oder Wundertaten verhießen.
Der heilige Stephanus, französisch Étienne, dessen Fest am 26. Dezember gefeiert wird, gilt als der erste Märtyrer überhaupt. Er wurde noch von den Aposteln durch Handauflegen zum Diakon geweiht und erwies sich in der Folgezeit als begnadeter Redner und Prediger. Der Zulauf, der aus dieser Eloquenz resultierte, wurde ihm wohl zum Verhängnis, denn man klagte ihn letztendlich der Gotteslästerung an und steinigte ihn zu Tode. Aber sein Leichnam sollte nicht so bald zur Ruhe kommen: Verscharrt auf einem Acker in Palästina, wurden seine sterblichen Überreste dort auf wundersame Weise aufgespürt und in die Jerusalemer Zionskirche verbracht. Aufgrund einer Verwechslung trat der heilige Stephanus in seinem Sarkophag eine wahre Odyssee über Konstantinopel nach Rom an. Doch der Sarg gab keine Ruhe, wie es hieß, bis der energische Heilige in San Paolo fuori le mura neben dem heiligen Laurentius zu liegen kam, der – ganz der höfliche Spanier – in seinem Sarkophag ein Stückchen zur Seite gerückt sein soll. 3
Ein Herzog und König ließ sich, was die Güte von Reliquien betraf, selbstverständlich nicht lumpen: Wilhelm der Bastard, dessen unrühmlicher Beiname spätestens im Jahr 1066 durch den weit klangvolleren Zusatz „der Eroberer“ verdrängt worden war, konnte nicht nur mit einem Teil des Oberarmknochens, Haaren und Blut des ersten Märtyrers aufwarten. Er hatte von der Stadt Besançon darüber hinaus auch noch einen der Steine erwerben können, die den bedauernswerten Stephanus seinerzeit in den Märtyrerhimmel befördert hatten.
In der Nacht vor der Weihe hatte man in einem eigens vor der Kirche errichteten Zelt bei den Reliquien gewacht und gebetet. Vor dem Einzug in die Kirche am folgenden Tag hatte der Bischof die Kirche mit Weihwasser gesegnet, den Bau dreimal umrundet und dabei am Portal um Einlass gebeten – eine rituelle Bitte, die ihm beim letzten Versuch programmgemäß auch gewährt wurde. Die nun folgende komplizierte Zeremonie spielte sich der Überlieferung nach folgendermaßen ab: Bischof Jean d’Avranches legte sich vor dem Altar zum demütigen Gebet auf den Boden, um dann mit dem Bischofsstab das lateinische und griechische Alphabet quer, das heißt X-förmig, durch die Kirche zu schreiben. Mit einem Gemisch aus Salz, Asche und Wein besprengte er den Altar und die Innenwände der Kirche. Der Altar, auf dem Weihrauch verbrannt wurde, und die Kirchenwände wurden von ihm mit verschiedenen heiligen Ölen gesalbt. Erst dann holte man die Reliquien aus dem Zelt, um sie in die Kirche zu überführen. In die Reliquienmulde, die man in den Altartisch eingelassen hatte, wurden drei geweihte Hostien und drei Weihrauchkörner gelegt. Nach der Absenkung der Reliquien wurde das Weihegebet gesprochen und das Reliquiengrab für immer verschlossen.
Doch nicht nur die Kirche wurde beschenkt, auch das Kloster selbst wurde mit üppigen Stiftungen bedacht und dadurch in kürzester Zeit an die Spitze der wohlhabendsten Kirchengüter der Normandie, wenn nicht ganz Frankreichs katapultiert. Diese Wohltaten, für deren Anhäufung andere Klöster Jahrhunderte brauchten, stammten zu einem Gutteil aus den Händen derjenigen normannischen Barone, die nach der Eroberung Englands dort mit großen Ländereien belehnt worden waren. St. Étienne wurde mit Wäldern, Mühlen und Ackerland überhäuft, es wurde aber auch von Wegezöllen und Steuern befreit und konnte darüber hinaus einen Teil der Londoner Innenstadt sein Eigen nennen.
Für die Stadt Caen hatte in diesen Jahren ein ganz neues Zeitalter begonnen. Im 10. Jahrhundert noch inmitten einer Art kulturellem Niemandsland gelegen, sind dort für die Dreißigerjahre des 11. Jahrhunderts bereits Kirchen, Weinberge, Mühlen, Markt- und Mautrecht sowie ein Hafen bezeugt. Zwanzig Jahre später weckte Wilhelm der Eroberer dann die Ansiedlung am Ufer des Flusses Orne aus ihrem Dornröschenschlaf und baute sie nach und nach zur zweiten, durch eine Festung geschützten Hauptstadt neben Rouen aus. 1063 begann man dann auch an der Straße, die nach Bayeux führte, mit dem Bau von St. Étienne – vier Jahre nachdem man den Grundstein für ein Nonnenkloster gelegt hatte, das der Sainte-Trinité, der Heiligen Dreifaltigkeit, geweiht und das ebenfalls mit Geldern aus der herzoglichen Schatulle erbaut worden war! Zwei Klöster also in einer kleinen Stadt mit kaum mehr als zwei- bis fünftausend Einwohnern? Warum diese fast schon übertriebene Großzügigkeit? Nun, bereits im 10. Jahrhundert hatten sich die Herzöge der Normandie für die Wiederbelebung der nach den Wikingereinfällen zerstörten Klosterlandschaft eingesetzt. Es war zu zahlreichen Restaurierungen und Neugründungen gekommen und die normannischen Bistümer konnten zur Jahrtausendwende als vollständig funktionstüchtig gelten. Die ehemaligen Wikinger waren von Zerstörern zu Bauherren geworden – dies war die Situation, die Wilhelm bei seinem Amtsantritt vorfand. Und auch er blieb nicht untätig: Unter seiner Herrschaft wurden nicht nur zahlreiche Klöster gegründet, sondern auch die Kathedralen von Bayeux und Coutances erneuert. Wilhelm setzte sich vor allem für das Kloster Le Bec ein, in das sich der brillante lombardische Theologe Lanfranc nach einer Glaubenskrise zurückgezogen hatte und das sich unter dessen Leitung zu einem bildungspolitischen Zentrum entwickelte. Doch warum entfaltete der Herzog nun mit einem Mal diese beeindruckende Bautätigkeit an einem spirituell unbedeutenden Ort wie Caen, das weder Pilgerstätte noch Bischofssitz war, sondern wenig mehr als ein überschaubarer regionaler Handelsplatz?
Die Antwort ist in der Heirat Wilhelms mit Mathilde, der Tochter Graf Balduins V. von Flandern, zu suchen. Geplant war diese Verbindung zwischen der Normandie und dem konkurrierenden Anrainer an der Nordsee bereits im Jahr 1049, doch Papst Leo IX. verweigerte im selben Jahr auf dem Konzil in Reims seine Zustimmung. Ob es am zu nahen Verwandtschaftsgrad lag – was sehr unwahrscheinlich klingt, da die Brautleute gerade mal Cousin und Cousine fünften Grades waren – oder sich das politische Gleichgewicht in Westeuropa ungünstig zu verschieben drohte, darüber lässt sich nur spekulieren. Denn ungeachtet des päpstlichen Verbots fand die Hochzeit um das Jahr 1052 statt – worauf das junge herzogliche Paar umgehend mit dem Kirchenbann belegt wurde. Von dieser belastenden Hypothek scheinbar wenig beeindruckt, sollen Wilhelm und Mathilde eine, wie man es heute bezeichnen würde, durchaus glückliche Ehe ‚ohne Skandale‘ geführt haben, aus der immerhin neun Kinder hervorgingen. Die Überlieferung, dass Mathildes anfängliche Sprödigkeit durch eine furchtlos-autoritäre Geste Wilhelms gebrochen worden wäre, kann getrost ins Reich der Legende von ‚Der Widerspenstigen Zähmung‘ verbannt werden. In jedem Fall waren beide bereit, das Stigma der nicht sanktionierten Ehe auf sich zu nehmen, bis nach etwa sechs oder sieben Jahren, im Jahr 1059, die Heirat durch Papst Nikolaus II. anerkannt wurde. Für diesen Dispens verlangte der Papst vom herzoglichen Paar aber eine finanziell durchaus schmerzhafte Gegenleistung, nämlich die Errichtung von gleich zwei Klosterkirchen für den Benediktinerorden: Wilhelm hatte für die Mönche zu bauen, Mathilde für die Nonnen.
Wenn hochgestellte Persönlichkeiten vor tausend Jahren etwas zu büßen hatten, taten sie das nicht selten durch großzügige Stiftungen oder Bauten zur Ehre Gottes. Man investierte damit nicht nur in die eigene künftige himmlische Bequemlichkeit, sondern bemühte sich oft auch um die Erlösung von ausgesprochen irdischen Nöten – so zum Beispiel Exkommunizierungen –, deren Aufhebung eine hohe Dringlichkeit im Diesseits hatte. Die Planung und Errichtung einer Kirche wurde im Mittelalter mit der Erschaffung der Welt und des Kosmos gleichgesetzt und galt deshalb als Bußleistung erster Güte. Dieser ‚Genesis‘-Idee lag auch die Vorstellung zugrunde, dass die Kirche als Institution bis zum Jüngsten Tag eine permanente Baustelle sein würde. Nichtsdestoweniger wurden viele große Kirchen erstaunlich zügig errichtet – St. Étienne in Caen gehört mit einer Bauzeit von etwa siebzehn Jahren dazu. Knapp zwanzig Jahre zuvor war zum Beispiel auch die Klosterkirche Saint-Rémi in Reims nach einer Bauzeit von achtzehn Jahren geweiht worden, wie ein Mönch namens Anselm als Augenzeuge berichtete.4 Für St. Étienne fehlen leider aussagefähige Quellen zum Baubetrieb, als magister operis oder auch architectus, also als oberste Bauaufsicht, ist aber unzweifelhaft jener Lanfranc zu identifizieren, der sich in seiner Verantwortung für das Kloster Le Bec das Vertrauen und die Freundschaft Wilhelms des Eroberers erworben hatte. Lanfranc hatte wohl schon im Vorfeld einige Mühe mit den Verträgen für die Grundstücke, die für den Bau der Kirche, der Klostergebäude und der weitläufigen Gärten gebraucht wurden. Er musste sich aber auch um die Anstellung der zahlreichen Handwerker und die Anschaffung von Materialien einschließlich ihres Transports kümmern.
Grundlage aller nachfolgenden Bauarbeiten war ein korrekter Grundriss, dem man sich mit dem Lot und dem Zirkel näherte. ‚Nur‘ genau war nicht genau genug: Bischof Oswald von York zum Beispiel hatte um das Jahr 1000 Fachleute anwerben wollen, die mit gerader Geradlinigkeit die Lage der Fundamente des Klosters in Ramsay festlegen sollten.5 Eine solche Exaktheit hätte man sich wohl auch fünfundzwanzig Jahre später beim Baubeginn des Speyrer Doms gewünscht, wo ein früher Messfehler dazu führte, dass auch nach zahlreichen Korrekturen an keiner Stelle ein wirklich rechter Winkel entstehen wollte. Nach der Fundamentierung wurde meist mit dem Bau des Chors oder der Krypta, der Unterkirche, manchmal auch des Querschiffs und der Vierung begonnen, damit in diesen Abschnitten bereits Gottesdienste gefeiert werden konnten. Die Arbeiten am Langhaus, am Westwerk und an den Türmen wurden parallel dazu noch über viele Jahre fortgesetzt.
Caen hatte den unschätzbaren Vorteil, einen geeigneten Steinbruch, in dem der bereits erwähnte Pierre de Caen abgebaut wurde, in unmittelbarer