Über das Buch:
Emily ist die Leadsängerin der Band Skyness, Josua der Gittarist der Band Rockbound. Bis vor einem Jahr waren sie ein Paar, jetzt reden sie nicht mehr miteinander. Aber vergessen haben sie einander nie.
Als Josua durch die Medien erfährt, dass Emily im Krankenhaus liegt, ist ihm klar: Sie braucht ihn jetzt! Da lässt er sich von nichts und niemandem aufhalten, auch nicht von Emilys Bruder, der so gar nichts für Josua übrighat …
Doch will Emily ihn überhaupt sehen? Was ist der Grund dafür, dass sie so anders ist? Und stehen die Gründe, die damals zur Trennung führten, nicht immer noch zwischen ihnen? Immerhin kann Josua mit ihrem Gott heute genauso wenig anfangen wie damals ...
Über die Autorinnen:
Melissa C. Feurer wurde 1990 in Gunzenhausen in Mittelfranken geboren. Seit ihrem Abitur 2010 studiert sie in Würzburg Grundschullehramt. Ihre Begeisterung für das Schreiben entdeckte sie bereits mit 11 Jahren.
8. Einsame Musiker
Josua – Musiker
Philipp saß hinter seinem Schlagzeug, wirbelte einen Drumstick in den Händen herum und hörte zu, wie Josua ihm den Liedtext zuerst vorlas und dann mit der Melodie, die ihm längst durch den Kopf ging, vorsang. Trotz seiner regungslosen Miene sah Josua ihm an, dass es ihm gefiel.
Sie spürten es alle drei, dass dieses Lied mehr Wahrheit in sich hatte als ihr gesamtes erstes Studioalbum. Früher hatten sie sich an die Musik geklammert, damit sie ihnen Leben geben konnte. Und jetzt hatten sie die Kraft gefunden, dieser Musik auch Leben zurückzugeben.
Sie gaben dem Lied eine Melodie, einen Rhythmus und Herzschlag. Jeder von ihnen hatte seine eigene Vorstellung, und als sie mit dem Ergebnis endlich zufrieden waren, wussten sie, dass sie etwas Wunderbares geschaffen hatten und dass das erst der Anfang war.
„Rockbound sind wieder da“, verkündete Philipp zufrieden und ließ die Drumsticks scheppernd auf seine Snaredrum fallen. „Ruf Marc an und sag ihm, wir wollen sofort ins Tonstudio kommen. Wie lange brauchen wir, um Lieder für ein ganzes Album zu schreiben?“
„Zwei Wochen“, grinste Danielle, während ihre Hand über die Basssaiten wanderte. „Ach was, eine.“
„Vierundzwanzig Stunden“, widersprach Josua und ließ sich im Schneidersitz auf den Boden sinken.
„Dann sagen wir Marc also, wir wollen nächsten Monat ins Studio kommen?“, fragte Philipp.
„Wie viele Alben sollen das werden, wenn Josua eines pro Tag schafft?“ Danielle wollte die Hände nicht von ihrem Bass lassen und zupfte unablässig einfache Läufe auf den Saiten. Josua konnte nicht umhin, ihnen in Gedanken sofort eine Melodie hinzuzufügen, sie vor sich hinzusummen und sich Worte auszumalen. In den vergangenen Monaten hatte er manchmal seine Gitarre genommen und Lieder geschrieben, die nur für seine Ohren bestimmt gewesen waren. Einige von ihnen kamen ihm sofort in den Sinn, als Danielle sagte: „Wir brauchen neue Lieder. Tonnenweise neue Lieder.“
„Ich habe mehr als genug Ideen“, erwiderte er, während er eine Schachtel Zigaretten aus seiner Hosentasche zog. „Allerdings weder einen Bleistift noch Papier, um sie aufzuschreiben.“ Er musste die eben aus der Packung genommene Zigarette fallen lassen, um den Filzstift zu fangen, den Philipp ihm ohne Vorwarnung zuwarf.
„Schreib sie auf die Wand.“
Josua zog die Augenbrauen hoch, hob seine Zigarette auf und klemmte sie sich hinter das Ohr. Dann nickte er zufrieden. „Das“, sagte er grinsend, „ist genau die richtige Einstellung für mittellose Musiker wie uns.“
* * *
Die darauffolgenden Tage verbrachten sie innerhalb der beschaulichen vier Wände ihres Probenraums. Die Zeit, in der die anderen beiden ihrer Arbeit nachgingen, nutzte Josua, um nach Hause zu gehen, Liedtexte aufzuschreiben, die ihm ohnehin unaufhörlich durch den Kopf gingen, und den Schlaf nachzuholen, den er vor lauter musikalischem Ehrgeiz kaum noch fand. Es war ihm ein Rätsel, wie Danielle und Philipp das schafften. Er hatte sich bei ihrem Hafenspaziergang im Regen eine ordentliche Erkältung geholt und die Erschöpfung nagte während der stundenlangen Bandproben an ihm.
„Geh nach Hause und ruh dich aus“, riet Danielle ihm manchmal, aber sie beharrte nie darauf, wenn er ihrer Anweisung nicht Folge leistete. Immerhin hatten sie viel vor bis zu ihrem Termin mit Marc.
Also schleppte sich Josua weiter durch die langen Tage und Nächte, die sie mit dem Schreiben und Proben neuer Lieder zubrachten, und war verbissen darauf bedacht, sich von seinem Körper keinen Strich durch die Rechnung machen zu lassen. Unmengen Kaffee vom Bäcker um die Ecke trugen einen entscheidenden Teil dazu bei.
„Du bekommst einen Koffeinschock“, prophezeite ihm Philipp, der selbst dunkle Ringe unter den Augen hatte. „Mach eine Pause. Das bringt mehr als Kaffee.“
„Ich brauche keine Pausen“, entgegnete Josua ruppig und zerdrückte den leeren Pappbecher in seiner Hand. Er konnte die Ratschläge seiner Freunde nicht mehr hören. Sie wussten ganz genau, dass sie sich jetzt keine Unterbrechungen leisten konnten. „Noch mal das gleiche Lied“, ordnete er an. „Und wenn du es wieder in den Sand setzt, gleich noch einmal.“
Philipp und Danielle nahmen seine schlechte Laune hin und fügten sich seinen Anweisungen. Josuas Ohren dröhnten von der lautstarken Dauerbeschallung, als sie gegen Abend ihre Instrumente zur Seite stellten und die Mikrofone ausschalteten. Das Prasseln des Regens gegen die Fensterscheiben machte es nicht besser. Und dabei befanden sie sich im Keller und die Wände der Lichtschächte hemmten das Unwetter noch.
Josua hatte beim letzten Lied zwei seiner Einsätze verpasst. Sein Kopf fühlte sich an, als wolle er jeden Moment zerplatzen, und ihm fehlte die Konzentration, den anderen beiden auch nur zuzuhören. Erschöpft ließ er sich auf den Boden sinken. Er hätte viel darum gegeben, zu Hause in seinem Bett zu liegen und tagelang einfach nur noch zu schlafen.
„He, Josh, mach den Boden nicht schmutzig!“, spöttelte Philipp, der trotz des verpatzten letzten Liedes auffallend gut gelaunt war. Er und Danielle fanden in den stundenlangen Bandproben einen willkommenen Ausgleich zu ihrer Arbeit und dem grauen Alltag.
„Ist er schon“, nuschelte Josua, der nicht in der Stimmung für Scherze war. „Kannst ihn ja putzen.“
Danielle schnaubte. „Das ist Schmutz von zwei Jahren Bandgeschichte, den wischt man nicht einfach so weg!“
Josua stützte die Stirn in die Handflächen und atmete tief ein, um die Übelkeit zurückzudrängen, die ihn ergriffen hatte. Aus scheinbarer Ferne drangen Danielles und Philipps Stimmen zu ihm durch.
„Josh?“ Danielle rüttelte ihn an der Schulter und er zwang sich, sie anzusehen. Nur mühsam fand er wieder ins Hier und Jetzt zurück. „Was denn?“, murmelte er und schob Danielles Hand von seinem Arm.
„Alles okay bei dir?“ Sie musterte ihn kritisch.
„Jap“, sagte Josua betont lebhaft. „Alles okay bei mir.“ Er sammelte sich, weil ihm die sorgenvollen Blicke seiner Freunde unangenehm waren. Auf seine Lüge folgte ein langes Schweigen.
„Hunger?“, fragte Philipp schließlich einsilbig. „Ich fahre in die Stadt.“
„Bring mir etwas mit.“ Danielle setzte sich auf einen Verstärker, kramte in ihren Taschen nach Kleingeld und reichte es ihm. Josua verlangte nur nach einem weiteren Becher Kaffee.
„Schlaf würde dir wirklich nicht schaden, Josh“, gab Danielle zu bedenken, nachdem Philipp gegangen war.
„Ich habe geschlafen.“
Als Danielle nach einem langen Moment der Stille wieder sprach, klang ihre Stimme ernst. „Ehrlich, das alles ist zu viel für dich.“
„Ihr verbringt genauso viel Zeit mit den Proben wie ich“, gab Josua unwirsch zurück.
„Jaah“, sagte Danielle gedehnt. „Wir beide zusammen. Josh, ist dir aufgefallen, dass du der Einzige von uns bist, dem es so zusetzt?“
Josua stöhnte genervt auf. „Du bist nicht mein Gewissen, Danielle.“
„Du könntest aber eines gebrauchen.“
Sie lachten beide nicht über diesen Witz, starrten nur auf den Boden und schwiegen. Josua fühlte sich von Danielles Sorge in die Enge getrieben. Und sie überbot das Ganze auch noch: „Vielleicht solltest du mal zum Arzt gehen.“
„Arzt?“, fuhr Josua auf und starrte Danielle an, als hätte sie ihn beleidigt. „Es ist alles okay. Meine Güte, mach doch nicht so ein Theater!“
Danielle betrachtete ihre Füße. „Ich sehe doch, wie es dir geht. Du wärst gerade fast umgekippt.“
„Quatsch. Ich bin müde, das ist alles.“ Seine Hände ballten sich von ganz allein zu Fäusten. Er konnte es nicht ertragen, wenn man ihn zu bevormunden oder zu bemuttern versuchte.
„Du bist –“
„Lass gut sein“, knurrte Josua und beendete damit die unliebsame Diskussion.
* * *
Nach diesem Gespräch gab Josua sich besonders große Mühe, seine Schwäche gegenüber den anderen nicht zu zeigen. Er übernahm die Organisation der Proben mit eifriger Sorgfalt, er machte Witze und er war selbst mit seiner besten musikalischen Leistung noch nicht zufrieden. Danielle sprach ihn nicht nochmals auf seine Gesundheit an.
Wenn Philipp bei der Arbeit war, feilte Josua mit ihr an den Liedtexten, übte Gitarrenriffs und trank Unmengen heißen Tee, weil seine Stimme angeschlagen war und sein Hals schmerzte. „Dieses Album wird das Beste aller Zeiten“, pflegte er zuversichtlich zu sagen, wenn sie nach einer kräftezehrenden Probe den Bandraum verließen.
Danielle sollte nicht meinen, er hätte in irgendeiner Weise ein Problem mit dem Leistungsdruck, unter dem sie standen. Drogenvergangenheit hin oder her – er war gesundheitlich vielleicht nicht ganz auf der Höhe, aber er konnte viel mehr aushalten, als sie ihm zutraute. Und er ließ sich keine Gelegenheit entgehen, ihr das zu beweisen.
„Einen wunderschönen guten Morgen“, krächzte er, als er eines Morgens das Café betrat, in dem sie an einigen Tagen pro Woche kellnerte. Er war im Morgengrauen aufgewacht, obwohl es am Vorabend spät geworden war und hatte beschlossen, Danielle einen Besuch an ihrem Arbeitsplatz abzustatten.
„Morgen, Josh. Was willst du hier?“
„Frühstücken“, strahlte er. „Ich habe gehört, hier gibt es den besten Espresso der Stadt.“
„Einen Espresso also für dich?“ Sie zückte wichtigtuerisch einen kleinen Notizblock.
„Einen doppelten.“ Nachdem er seine Jacke über die Stuhllehne gehängt hatte, setzte er sich an einen Tisch am Fenster, von wo aus er die Leute auf der Straße beobachten konnte. „Mit Zucker. Und Apfelkuchen.“
„Kommt alles sofort“, grinste Danielle. „Und ich hoffe, du zahlst ein ordentliches Trinkgeld.“
Sie hatte sich schon abgewandt, als Josua ihr nachrief: „Zwei Tassen Espresso! Es ist nicht viel los, du kannst dich zu mir setzen.“
Danielle widersprach empört, sie könne während ihrer Arbeitszeit nicht mit einem Gast Kaffee trinken, aber schließlich setzte sie sich dennoch zu Josua. „Ich soll dir Grüße ausrichten“, sagte sie, während sie angewidert zusah, wie Josua Unmengen von Zucker in seinen Espresso schüttete. „Von Ronja.“
Die weißen Körnchen ergossen sich über die Tischfläche. „Ronja?“
„Phil hat mit ihr telefoniert.“ Danielle presste die Lippen zusammen. „Sie sagt, Emily gehe es wieder besser. Sie ist mit Milo für ein paar Tage nach Hause gefahren.“
Josuas Erinnerungen illustrierten Danielles Worte mit farbigen Momentaufnahmen der Vergangenheit. Emily, die ihm von ihrer Familie erzählte, während sie im Zug nach Würzburg saßen, wo sie Weihnachten verbringen wollten. Als Emily ihrer Mutter erzählt hatte, dass Josua nicht nach Österreich zu seiner Familie fahren würde, war Frau Behrends so freundlich gewesen, ihn über die Feiertage einzuladen, obwohl Milo damit ganz und gar nicht einverstanden gewesen war. Das war das schönste Weihnachtsfest gewesen, das Josua je erlebt hatte. Und mit Emilys Mutter hatte er sich ganz wunderbar verstanden.
„Josh, hörst du mir zu?“
„Was?“ Er schreckte aus seinen Gedanken. „Ja, klar. Es … es ist gut zu wissen, dass es ihr besser geht.“
„Ja“, sagte Danielle zwischen zwei Schlücken Kaffee. „Wenn ich Ronja nur glauben könnte. Bevor das passiert ist, hat sie auch behauptet, es gehe ihnen allen gut.“
Josua sah ihr an, dass ihr das gegen ihren Willen herausgerutscht war, aber er hakte trotzdem nach: „Du meinst, sie lügt uns an?“
„Nein“, meinte Danielle ausweichend. „Nein, sie lügt bestimmt nicht. Vielleicht beschönigt sie das alles ein wenig, um uns nicht zu beunruhigen.“
Josua fragte sich, worin der Unterschied bestand. „Dann müssen wir –“
„Ich muss jetzt in erster Linie wieder an die Arbeit“, fiel ihm Danielle ins Wort. „Aber, Josh ...“ Sie zögerte, erhob sich, betrachtete ihre Füße und sprach dann weiter. „Vielleicht können wir später miteinander reden. Wenn du Zeit hast.“
„Worüber?“
Sie setzte an etwas zu sagen, zuckte dann aber mit den Schultern. „Später, okay?“
Josua wurde das unangenehme Gefühl nicht los, dass es in ihrem Gespräch nicht nur um Ronja und ihre Aussagen über Emilys Zustand gehen würde.
Emily – Einsam
Milo und ihre Mutter wechselten sich damit ab, Emily zu belagern und aufzupassen, dass sie keine Sekunde allein war. Seit sie am Vortag angekommen waren, hatte sie sich nicht eine Minute lang zurückziehen und durchatmen können, weil man ihr auf Schritt und Tritt folgte. Unter den verschiedensten Vorwänden natürlich.
Wenn sie sich auf die Terrasse setzte, um den kühlen Wind auf ihrer Haut zu spüren, musste dringend der Rasen gemäht werden. Wenn sie auf dem Sofa lag und am liebsten ihre Ruhe haben wollte, überkam Milo plötzlich die unerklärliche Lust, sich zu ihr zu gesellen und sich die Nachrichten anzusehen. Und wenn sie in die Küche ging, um sich ein Glas Wasser zu holen, konnte sie sich sicher sein, dass ihre Mutter ausgerechnet dann anfangen würde, das Geschirr aus der Spülmaschine zu räumen. Es war zum Verrücktwerden.
„Ich gehe duschen“, verkündete Emily am Nachmittag, als sie genug von der ständigen Überwachung hatte. „Und ich dusche allein“, fügte sie an Milo gewandt hinzu, der ihr ins Wohnzimmer gefolgt war und nun im Bücherregal ihrer Mutter stöberte.
Er schreckte auf, als er ihre unterkühlte Stimme vernahm. „Ich begleite dich sicher nicht ins Badezimmer“, erklärte er distanziert, als wäre die Vorstellung, er könne ihr überhaupt irgendwohin folgen, vollkommen absurd.
„Gut“, sagte Emily. „Es reicht ja auch aus, wenn du dich neben der Tür aufstellst und hereinstürmst, wenn ich nicht innerhalb von fünf Minuten wieder herauskomme.“ Sie musste ihrem angestauten Ärger einfach irgendwie Luft machen. „Soll ich dir vielleicht den Föhn aushändigen, damit ich nicht –“
„Emily!“ Milo machte einen Schritt auf sie zu. „Was erwartest du eigentlich? Wie sollen wir uns verhalten?“
„Was erwartest du?“, gab sie zurück. „Dass ich es gleich noch mal versuche? Am besten hier, zu Hause bei Mama?“
Milo schwieg beharrlich, bis Emily sich abwandte, um ins Badezimmer zu gehen. Dann rief er ihr nach: „Mach einfach keinen Unsinn, okay?“
Sie sparte sich die Antwort, als sie bemerkte, dass jemand den Schlüssel für die Badezimmertür entfernt hatte.
* * *
Emily lag rücklings auf ihrem Bett und starrte in den schmalen Tunnel über sich, den die Schwärze noch übrig gelassen hatte. An der Decke hing ein Stück dunkelblaues Tonpapier, dessen Umriss sie erkennen konnte. Die kleinen gelben Punkte darauf sah sie nicht, egal wie sehr sie sich anstrengte. Das war ihr eigenes kleines Universum, das sie gemeinsam mit ihrem Vater aus im Dunkeln leuchtenden Plastiksternen geschaffen hatte. Aber jetzt, als es immer dunkler um sie wurde, leuchteten sie ihr nicht.
„Wie süß. Wolltest du als Kind Astronautin werden?“, hatte Josua mit gutmütigem Spott gefragt, als er bei seinem einzigen Besuch hier das Kunstwerk über ihrem Bett bewundert hatte.
Emily hatte sich neben Josua gesetzt, der – so wie sie jetzt – auf dem Rücken gelegen und an die Decke gesehen hatte. „Nein. Ich wollte Tierärztin werden“, hatte sie errötend gestanden. „Aber mein Vater hat mir immer die Sternbilder erklärt. Das war meine Lieblingsbeschäftigung an Sommerabenden: mit Papa Sterne anschauen.“
Josua war still geworden, wohl aus Rücksicht auf ihre Gefühle. In der Nacht hatten sie miteinander das schmale Bett geteilt und die künstliche Milchstraße über ihren Köpfen betrachtet, als wäre sie der echte Abendhimmel.
Angestrengt starrte Emily auf die dunkle Fläche, ohne auch nur ein einziges Leuchten ausmachen zu können. Auch die echten Sterne würde sie nie wieder sehen. Gottes große Schöpfung verschwand vor ihren Augen und sie konnte nichts dagegen tun. Und allein war sie auch. Jetzt, da ihr Bruder sie endlich in Ruhe ließ, war sie sogar schrecklich einsam.
9. Gescheiterte Versuche
Josua – Versuche
Danielle schien sich absichtlich Zeit zu lassen, während sie den letzten Kunden die Rechnung brachte, den Tisch abwischte und die leeren Gläser und Tassen wegtrug.
Sogar ihrem Kollegen Lui fiel das auf. Er stieß sie in die Seite und meinte spöttisch: „Mach, dass du wegkommst. Ich übernehme jetzt.“
Danielle strich sich das kurze blonde Haar aus dem Gesicht und grinste ihn unsicher an. „Es eilt doch nicht.“
„Deinem Freund da drüben schon.“
Josua sah hastig weg, als Danielle den Kopf zu ihm umwandte, und hörte auf, mit den Fingern auf die Tischplatte zu trommeln. Er hatte die ganze Zeit über angespannt gewartet und dabei einen Kaffee nach dem anderen getrunken. Zum ersten Mal seit Tagen fühlte er sich nicht mehr im Geringsten müde, sondern hellwach und in höchster Alarmbereitschaft. Was war es, das Danielle unbedingt mit ihm besprechen wollte?
„Okay, ich bin fertig.“ Plötzlich stand sie neben ihm, die Hände in den Hosentaschen vergraben und ein unsicheres Lächeln im Gesicht. „Wenn du magst, können wir auch hierbleiben und noch einen Kaffee –“
Josua schüttelte den Kopf, hakte sich – ohne recht darüber nachzudenken – bei Danielle unter und führte sie nach draußen.
„Zu mir oder zu dir?“, fragte Danielle, die ihre Selbstsicherheit wiedergewonnen hatte, frech und erntete nur einen verständnislosen Blick von Josua.
„In den Park“, sagte er. Es war nicht weit, zwei Stationen mit der U-Bahn, ein paar Meter zu Fuß und schon erreichten sie den Stadtpark. Sie schwiegen die meiste Zeit, liefen an den Sportplätzen vorbei und lachten über ein paar Volleyballspieler, sprachen sogar über das Wetter.
„Du wirst nicht noch mal versuchen, zu Emily zu gehen, oder?“, fragte Danielle irgendwann. Sie gingen nebeneinander her, ohne dass ihre Arme sich dabei streiften.
Josua zuckte mit den Schultern und schwieg, weil Emilys Bild in seinen Gedanken aufblitzte.
„Ich meine, du hast Ronja darum gebeten, ihr nicht zu sagen, dass du da warst.“
„Damit Emily sich nicht aufregt“, erklärte Josua knapp.
Danielle überlegte lange, dann fragte sie: „Liebst du sie?“
Es fühlte sich an, als hätte ihm jemand einen Schlag in die Magengrube versetzt. Er musste nach Luft ringen, ehe er fragen konnte: „Ob ich Emily liebe?“
In einem Baum über ihnen stieß ein Vogel einen schrillen Schrei aus. Einmal hatte Emily ihm diese Frage gestellt. „Liebst du mich eigentlich?“ Josua war beinahe vom Sofa gefallen, auf dem sie nebeneinandergelegen hatten. Selbst jetzt noch hätte er sich für seine Antwort ohrfeigen können. „Liebe ist ein verflixt großes Wort. Aber ich habe dich sehr gern.“
Der Vogel krächzte noch einmal und Josua, dem nun erst auffiel, dass er stehen geblieben war, setzte sich mechanisch wieder in Bewegung. „Warum willst du das wissen?“
Danielle zuckte mit den Schultern. „Ich hab diese Sache zwischen euch nie verstanden“, murmelte sie.
„Was meinst du damit?“
„Sie wollte immer irgendetwas, das du ihr gar nicht geben konntest. Eine Beziehung, Sicherheit, deine Liebe. Dabei wusste sie doch von Anfang an, dass du nichts so liebst wie deine Freiheit.“
Sie hätte das alles sicherlich niemals ausgesprochen, wenn sie gewusst hätte, wie weh jedes ihrer Worte Josua tat. Es stimmte. Emily hatte mehr von ihm gewollt als körperliche Nähe, mehr als eine Freundschaft, in der sie beide nicht die Finger voneinander hatten lassen können. Aber sie hatte nie nein gesagt, sondern sich immer mit dem zufriedengegeben, wozu er bereit gewesen war, es ihr zu geben. Und sicher bereute sie das jetzt bitter.
„Manchmal glaube ich, sie hat dich gar nicht richtig gekannt“, fuhr Danielle fort. „Ich meine … ich kenne dich. Und ich weiß, dass diese Beziehungssachen nichts für dich sind.“
Etwas in Josua sträubte sich gegen ihre Worte. Er hatte das Gefühl, mit hoher Geschwindigkeit auf eine massive Mauer zuzusteuern. Gerade noch rechtzeitig zog er die Notbremse: „Sag es nicht.“
„Sag was nicht?“ Danielle sah ihn so schuldbewusst an, dass er ihr die Unwissenheit nicht abnahm.
„Das, was du gerade sagen wolltest.“
Sie blickten einander in die Augen, lange und eindringlich. „Aber es stimmt doch“, flüsterte Danielle niedergeschlagen. „Und das weißt du.“
* * *
Sie sprachen an diesem Tag nicht mehr über das, was Danielle ihm hatte sagen wollen, und in den darauffolgenden Tagen vermied Josua es beflissentlich, mit ihr allein zu sein. Die Sache war ihm zu heikel geworden. Dass Danielle immer noch etwas anderes für ihn empfand als er für sie, hatte er sich ausmalen können. Aber wie hätte er ahnen können, dass es ihr so ernst war?
Es stimmte, sie passte besser zu ihm als Emily. Zumindest zu ihm, wie er früher einmal gewesen war. Aber vielleicht hatte er sich verändert. Vielleicht wünschte er sich deshalb jetzt, er hätte sich nicht dagegen gesträubt, eine echte Beziehung mit Emily einzugehen.
„Wovor hast du Angst?“, hatte Emily ihn einmal gefragt, aber er hatte ihr darauf nie eine Antwort gegeben. Er hatte vor so vielen Dingen Angst gehabt. Davor, zu versagen, nicht gut genug für sie zu sein. Davor, so spießig und prinzipientreu wie seine Eltern zu werden. Davor, dass es nicht mehr dasselbe wäre, wenn er zuließe, dass es offiziell wurde.
Josua schüttelte die niederdrückenden Gedanken nur ab, wenn er den Probenraum betrat. Dort hatte Trübsinn nichts verloren, denn es gab immer noch genug anderes, was seine Konzentration forderte.
Es war Dienstagnachmittag, und für Donnerstagmorgen hatten sie einen Termin bei Marc vereinbart. Sie wollten ihm die neuen Lieder vorspielen, ein paar Aufnahmen machen und ausprobieren, welche Richtung sie mit ihrem neuen Album einschlagen wollten. Die vergangenen Wochen waren anstrengend gewesen, aber es hatte sich gelohnt. Marc würde sich überschlagen vor Begeisterung, da war Josua sich ganz sicher.
„Mit Verlaub gesagt, Josh, du siehst aus wie der Tod“, begrüßte Philipp ihn feixend. Er öffnete soeben eine Dose Bier.
Josua brummte nur mürrisch. Er hatte kaum geschlafen und seit er sich nach dem Frühstück übergeben hatte, nichts mehr zu sich genommen.
„Puh, es gießt in Strömen!“, verkündete in diesem Moment eine überdrehte Stimme aus dem Flur, ehe Danielle tropfnass und wie ein Wirbelwind hereingestürmt kam. „Hört das denn eigentlich überhaupt nie wieder auf zu regnen?“ Zur Begrüßung umarmte sie Josua und wuschelte ihm durch das nasse Haar. „Du hast aber auch ganz schön Wasser abbekommen. Oder hast du etwa geduscht?“
„Sehe ich so aus?“, fragte Josua nur, während er seine Gitarre auspackte und stimmte.
„Da hat aber wieder jemand schlechte Laune“, murrte Danielle und zog es vor zu schweigen, bis alle Instrumente und Mikrofone einsatzbereit waren. „Ich habe die nächsten zwei Tage frei. Wenn die Probe heute also nicht klappt, machen wir weiter bis zu unserem Termin mit Marc.“
„Das kannst du vergessen“, gab Josua zurück, schlug die ersten Akkorde an und eröffnete damit ihre hoffentlich letzte Probe vor dem ersten Besuch im Tonstudio. Aber wie das mit Generalproben bekanntermaßen immer war, ging alles schief. Josua verpasste seine Einsätze, Danielle verspielte sich, und als alles dann doch endlich klappte, ließ Philipp mitten im Lied einen seiner Drumsticks fallen.
Er entschuldigte sich zerknirscht und hielt sie zu einer Wiederholung des Liedes an. Doch es war einfach unmöglich: Sooft sie die Lieder auch wiederholten und übten und sogar veränderten, sie waren nie mehr als mäßig zufrieden.
„Das war okay so“, meinte Josua irgendwann mürrisch. Er war schweißüberströmt und hatte nicht die geringste Lust, weiterzumachen. Draußen war es bereits dunkel geworden und im Bandraum war die Atmosphäre angespannt und ungemütlich.
„Red keinen Schwachsinn. Es war genauso mies wie das Mal zuvor.“
„Ich habe aber keine Lust mehr.“
„Stell dich nicht so an.“ Philipp klopfte ungehalten mit den Fingerkuppen auf eine seiner Trommeln. „Wir können nicht immer Rücksicht auf deine Launen nehmen.“
Also spielten sie das Lied noch einmal und dann noch unzählige weitere Male, bis Josua es einfach nicht mehr hören konnte und sich ärgerte, es jemals geschrieben zu haben. Je mehr er sich anstrengte, alles richtig zu machen, desto weniger schien es ihm zu gelingen.
„Reiß dich zusammen“, beschwerte sich Danielle, als er schon wieder einen Einsatz verpasst hatte. Und das tat er. Er atmete tief durch und konzentrierte sich auf das, was er tat. Er griff die Akkorde, schlug die Saiten an, er sang, er schrie und er schwitzte dabei vor Anstrengung. Irgendwann musste er die Augen schließen, um das Flackern der Lampen auszublenden, von dem ihm schwindlig wurde. Seine Müdigkeit war wie weggeblasen. Erst als das Lied zu Ende war, bekam er die Folgen der Verausgabung zu spüren und seine Beine gaben nach.
„He, pass auf!“, rief Danielle, als er gegen sie stolperte, aber dann begriff sie den Ernst der Lage. Hastig packte sie Josuas Arm und versuchte, ihren Freund auf den Beinen zu halten.
Der ließ sich gegen ihre Schulter sacken und zwang damit auch Danielle in die Knie. Etwas unsanft landeten sie beide auf dem Boden. Philipp war sofort bei ihnen, nahm Josua die Gitarre ab, machte einen riesengroßen Wirbel, von dem Josua kaum etwas mitbekam, und versuchte, ihm gewaltsam einen Schluck Wasser einzuflößen.
„Es geht schon wieder“, sträubte Josua sich, obwohl von den Rändern seines Blickfeldes aus bei jeder Bewegung wieder die taube Schwärze auf ihn zukroch. „Lass los. Es ist okay.“
„Ich bringe ihn nach Hause“, erklärte Danielle an Philipp gewandt, während sie schon in ihre Jacke schlüpfte.
Josua ließ zu, dass sie seinen Arm ergriff, protestierte aber: „Ich finde den Weg auch allein.“
„Keine Widerrede.“ Danielles Stimme klang fast schon zu weich für ihre Verhältnisse. Sie zerrte Josua zur Tür und hinaus in den Kellerflur. Hier war das Prasseln des Regens noch lauter zu hören.
„Ich komme allein zurecht“, nuschelte Josua und ließ sich wie ein nasser Sack von Danielle mit sich ziehen. Er fühlte sich unendlich erschöpft.
Danielle entfuhr ein Schnauben. „Das sehe ich, Josh.“ Sie schlang einen Arm um ihn und musste ein wenig lächeln. „Es ist ja nicht weit.“
Emily – Gescheitert
„Das ist Unsinn! Das ist vollkommen bescheuert und unnötig!“ Emily schlug mit der Hand auf den Tisch, der in der Küche ihrer Berliner Wohnung stand, und wäre noch viel lieber aufgesprungen, um diesen zu packen und umzuwerfen.
Ihr Bruder trat hinter sie und legte ihr beide Hände auf die Schultern. „Emily, es war keine leichte Entscheidung für uns. Aber es ist –“
„... besser so?“, fiel sie ihm ins Wort. „Hast du eigentlich überhaupt nichts begriffen?“ Sie schüttelte seine Hände ab. „Ich will keine Auszeit! Ich brauche keine Auszeit!“
„Wir brauchen alle eine“, mischte Ronja sich ein, die am anderen Tischende saß und furchtbar mutlos klang. Von ihr hatte Emily noch am ehesten Unterstützung erwartet.
„Das könnt ihr nicht machen!“, schrie sie. „Ihr könnt mir nicht auch noch die Musik nehmen!“
Milo wollte sie erneut festhalten und sie zu sich drehen, damit er ihr ins Gesicht sehen konnte, aber Emily riss sich los. „Niemand will dir irgendetwas nehmen“, setzte er an.
„Ich brauche die Musik!“, beharrte Emily. „Ihr könnt mich nicht von der Bühne fernhalten, solange ich mein Publikum wenigstens noch ein bisschen sehen kann. Diese Chance habe ich nie wieder.“
„Und was ist, wenn es so weit ist?“, fragte Franz matt. „Was, wenn du –“
Emily hätte ihn für diese Frage am liebsten angeschrien. Sie hatte dieses Thema so lange beflissentlich vermieden. „Was soll dann sein? Dann müsst ihr euch eine neue Sängerin suchen!“
„Wir suchen uns keine neue Sängerin.“ Milos Stimme klang fest und bestimmt, doch Emily hakte trotzdem nach: „Was hast du gesagt?“
„Wir suchen uns keine neue Sängerin“, wiederholte Milo. „Entweder es geht mit dir weiter oder überhaupt nicht.“
„So ein Quatsch!“, brauste Emily auf, aber sie wurde von Ronja unterbrochen: „Mensch, Emily, wir haben längst darüber geredet und waren uns einig. Skyness ohne dich wird es nicht geben.“
„Das könnt ihr nicht machen!“
Milo streckte die Hand nach ihr aus und ließ sie wieder sinken. „Wir haben darüber gebetet. Und wir wissen alle, dass es das Richtige ist.“
„So richtig wie die Auszeit?“, fragte Emily, aber ihre Worte klangen nicht mehr zornig, sondern hilflos. „Milo, bitte. Macht das nicht. Keine Auszeit. Das ertrage ich nicht.“ Zittrig sog sie Luft in ihre Lunge, darauf bedacht, nicht zu weinen.
Wenn sie auch noch die Musik verlieren würde, dann wäre alles verschwunden, was ihr Leben früher ausgemacht hatte. Sie sah die Welt um sich herum kaum noch. Sie hatte Josua verloren. Wenn nun auch noch die Musik aus ihrem Leben verschwinden würde, dann wäre nichts mehr da.
„Außer mir.“ Emily schloss bei diesem Gedanken die Augen. „Ja, außer dir, Herr“, dachte sie traurig. Eigentlich sollte das doch mehr als genug sein, oder?
* * *
Nachdem Ronja und Franz sich verabschiedet hatten und auch Milo noch einmal weggegangen war, saß Emily mit angewinkelten Beinen in ihrem Korbsessel und versuchte, das soeben stattgefundene Gespräch aus ihren Gedanken zu streichen. Es hatte immer außer Frage gestanden, dass sie Musik machen würden, egal was geschah. Und ausgerechnet jetzt wollten die anderen aufgeben.
„Herr, das können sie nicht machen.“ Sie kuschelte sich tiefer in die Kissen. „Was soll ich denn jetzt tun?“
Sie lauschte in sich hinein, suchte nach einem Frieden, der nicht eintreten wollte, nach einer Antwort, die sich nicht finden lassen wollte. Warum war es so schwer, Gottes Willen zu erkennen, wenn man dringend Rat brauchte? Wie immer kam ihr nur ein wenig hilfreicher, aber tröstlicher Bibelvers in den Sinn: „Meine Schafe hören auf meine Stimme; ich kenne sie und sie folgen mir.“
Aber wie sollte sie Gott folgen, wenn sie doch kaum die Kraft fand, überhaupt weiter vorwärtszugehen, und sie viel lieber in der Zeit rückwärtsgegangen wäre?
Immer öfter fehlte ihr am Morgen sogar die Kraft, aufzustehen und dem Tag entgegenzutreten. Das ging so weit, dass sie schon am Abend Angst vor dem Gefühl der Ohnmacht beim Erwachen hatte. Und wenn sie von Josua geträumt hatte, dann war es besonders schlimm. Dann wollte sie ihn am liebsten anrufen und diesen dummen Streit ein für alle Mal aus der Welt schaffen.
„Tu es jetzt“, redete sie sich selbst gut zu und suchte dann auf dem Wohnzimmertisch nach dem schnurlosen Telefon, das ihr Bruder vor dem Gehen dort hingelegt hatte, damit sie ihn jederzeit auf dem Handy anrufen konnte. Die Nummer mit der Hamburger Vorwahl konnte sie selbst jetzt noch auswendig.