Andreas Kappeler
UNGLEICHE BRÜDER
RUSSEN UND UKRAINER
VOM MITTELALTER BIS ZUR GEGENWART
C.H.Beck
Die russische Annexion der Krim und die darauf folgende Besetzung der Industrieregion im Südosten der Ukraine durch von Russland gesteuerte Milizen im Frühjahr 2014 haben einen militärischen Konflikt zwischen diesen Staaten ausgelöst, der bis heute andauert. Seit dem 18. Jahrhundert zeigte sich im Verhältnis dieser eng miteinander verbundenen Völker zunehmend eine Asymmetrie. Sie gipfelte darin, dass Russland im 19. Jahrhundert die «Kleinrussen», wie die Ukrainer damals offiziell hießen, nicht als eigenständige Nation mit einer von Russland getrennten Geschichte anerkannte. Diese Sicht hat sich in Russland bis heute erhalten und ist auch im Westen verbreitet. Dagegen setzt Andreas Kappeler die historische Perspektive einer histoire croisée und folgt dem Wechselspiel von Verflechtungen und Entflechtungen zwischen diesen beiden Völkern von den Anfängen bis zur Gegenwart.
Andreas Kappeler ist em. Professor für Osteuropäische Geschichte an der Universität Wien und Mitglied der Österreichischen und der Ukrainischen Akademie der Wissenschaften. Bei C.H.Beck sind von ihm erschienen: Rußland als Vielvölkerreich (22008), Kleine Geschichte der Ukraine (42014), Die Kosaken (2013) und Russische Geschichte (72016).
Vorwort
1. Kapitel: Eintracht und Streit in der Familie
Der große und der kleine Bruder
Die Großrussen und die Kleinrussen
2. Kapitel: Die gemeinsame Wiege der Kiewer Rus’
Der Erbstreit der Historiker
Der Erbstreit der Politiker
3. Kapitel: Mongolen und Polen – Asien und Europa: Die Geschwister gehen getrennte Wege (14. bis 17. Jahrhundert)
Danylo von Galizien-Wolhynien und Alexander Nevskij
Der Aufstieg Moskaus und die Herausbildung des Zarenreichs
Die Ukraine unter litauischer und polnischer Herrschaft
Die ukrainischen Kosaken und die Revolution von 1648
Starker Staat – libertäre Gesellschaft, belagerte Festung – Orientierung nach Europa
4. Kapitel: Die Annäherung der Ukraine an Russland und die Integration der «Kleinrussen» in das Imperium der Zaren (17. bis frühes 19. Jahrhundert)
Die Vereinbarung von Perejaslav und der Beginn der Herrschaft Russlands über die Ukraine
Peter der Große, Mazepa und das Ende des ukrainischen Kosakentums
Die Ukrainisierung der russischen Kultur
Feofan Prokopovyč
Die Expansion Russlands ans Schwarze Meer und in die rechtsufrige Ukraine
Die Entdeckung Kleinrusslands durch die Russen um 1800
5. Kapitel: Zwei verspätete Nationen
Prozesse der Nationsbildung in der Vormoderne
Varianten eines russischen Nationalbewusstseins in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts
Die ukrainische Herausforderung und die russische Antwort
Der russische imperiale Nationalismus und die Krise der ukrainischen Nationsbildung
6. Kapitel: Ein asymmetrisches Verhältnis: Russen und Ukrainer im Russländischen Reich im 19. und frühen 20. Jahrhundert
Russische Stadt – ukrainisches Dorf
Hierarchie der Kulturen
Wechselseitige Perzeptionen
Akkulturation und doppelte Identität
War die Ukraine eine Kolonie Russlands?
7. Kapitel: Die Russische und die Ukrainische Revolution
Die Russische Revolution (Februar 1917 bis März 1918)
Die Ukrainische Zentralrada und ihr Verhältnis zu Petrograd
Die Ukrainische Volksrepublik zwischen den «roten» und den «weißen» Russen im Bürgerkrieg
Weshalb gelang es den Bolschewiki, den Bürgerkrieg zu gewinnen und die Herrschaft über den größten Teil der Ukraine zu erringen?
8. Kapitel: Russen und Ukrainer in der sowjetischen «Völkerfamilie»
Die Gründung der Ukrainischen und der Russländischen Sowjetrepublik
Korenizacija und Ukrainisierung
Der ukrainische Nationalkommunismus
Industrialisierung, Zwangskollektivierung und Hungersnot
Sowjetpatriotismus, Völkerfreundschaft und die Rückkehr des «Großen Bruders»
Großer Vaterländischer Krieg oder antisowjetischer Befreiungskampf
Von der Völkerfamilie zum Sowjetvolk
Russland und die Ukraine als Totengräber der Sowjetunion
9. Kapitel: Feindliche Brüder? Die Konfrontation der beiden postsowjetischen Staaten
Die Unabhängigkeit der Ukraine und die Reaktion Russlands
Kontroversen und Kompromisse
Die Orange Revolution von 2004: Juščenko, Janukovyč und Putin
Die Revolution des Euro-Majdan
Das militärische Eingreifen Russlands – Versuch einer Deutung
Putins Begründungen zur Rechtfertigung des Anschlusses der Krim
10. Kapitel: Russland, die Ukraine und Europa
Anmerkungen
Literaturverzeichnis
Abbildungsnachweis
Personenregister
Am 27. Februar 2014 tauchten auf der Halbinsel Krim überraschend russische bewaffnete Einheiten auf, die an ihren Uniformen keine Hoheits- und Rangabzeichen trugen. Sie besetzten das Parlament und das Regierungsgebäude der zur Ukraine gehörenden Autonomen Republik und installierten eine neue Regierung. Am 17. März sprachen sich in einem fragwürdigen Referendum 96,8 Prozent der Abstimmenden für eine «Wiedervereinigung der Krim mit Russland» aus. Wenige Tage später wurde die Krim in die Russländische[1] Föderation aufgenommen. Erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg annektierte damit ein europäischer Staat das Territorium eines Nachbarstaats. Dies war ein eklatanter Bruch des Völkerrechts und mehrerer bilateraler und internationaler Abkommen, in denen Russland die territoriale Integrität der Ukraine garantiert hatte.
Im März und April 2014 besetzten bewaffnete Milizen, die von Russland gesteuert und massiv mit Waffen und Soldaten unterstützt wurden, Teile des Donec’k-Beckens (Donbass), des Industriegebiets im Südosten der Ukraine, und riefen die «Volksrepubliken» Donec’k und Luhans’k aus. Die ukrainische Armee griff ein, um die innere und äußere Souveränität des Staates wiederherzustellen und den Verlust weiterer Territorien zu verhindern. Internationales Aufsehen erregte der irrtümliche Abschuss eines Flugzeugs der Malaysian Airlines mit 298 Passagieren an Bord durch die separatistischen Milizen. Als diese in Bedrängnis gerieten, griffen im August 2014 schwerbewaffnete russische Einheiten direkt ein. Spätestens jetzt nahm die Auseinandersetzung den Charakter eines unerklärten russisch-ukrainischen Krieges an. Ihm fielen bis Ende 2016 fast 10.000 Menschen zum Opfer, mehr als 2,5 Millionen wurden in die Flucht getrieben, und weite Teile des Donbass wurden zerstört. Das neue Regime in Kiew stabilisierte sich infolge der Wahl von Petro Porošenko zum Präsidenten im Mai und eines prowestlich ausgerichteten Parlaments im Oktober 2014. Zwar konnte das Blutvergießen im Februar 2015 in einem Waffenstillstand eingedämmt werden, doch stehen sich in der Südostukraine weiter schwerbewaffnete Kräfte gegenüber, die sich Scharmützel liefern, denen immer wieder Menschen zum Opfer fallen. Der Krieg ist zu einem «gefrorenen Konflikt» erstarrt, in dem die ukrainische Regierung auf unbestimmte Dauer die Kontrolle über einen Teil ihres Staatsterritoriums verloren hat.[2]
Als ich vor mehr als zwanzig Jahren begann, mich mit der Geschichte der russisch-ukrainischen Beziehungen zu beschäftigen, hätte ich einen bewaffneten Konflikt zwischen Russen und Ukrainern für äußerst unwahrscheinlich gehalten. Dagegen sprachen ihre sprachliche, religiöse und kulturelle Verwandtschaft, ihre wirtschaftliche und demographische Verflechtung und das weitgehend konfliktfreie Zusammenleben von Russen und Ukrainern im Alltag.
Wenige Jahre zuvor war die Sowjetunion auseinandergebrochen, und auf der politischen Karte Europas erschienen plötzlich 15 unabhängige Staaten, deren Grenzen den 15 Sowjetrepubliken entsprachen. Die beiden bevölkerungsreichsten von ihnen waren die Russländische Föderation und die Ukraine. Die Sowjetunion war in der Öffentlichkeit gemeinhin mit Russland gleichgesetzt worden, und der neue russländische Staat schien deren Erbe anzutreten, obwohl er nur die Hälfte ihrer Bevölkerung umfasste. Die Ukrainer waren weitgehend unbekannt oder galten als Teil der russischen Nation. Der selbständige ukrainische Staat wurde zunächst kaum zur Kenntnis genommen, glaubte man doch, dass die Gemeinschaft unabhängiger Staaten (GUS) die Rolle der Sowjetunion als eurasischer Ordnungsmacht übernehmen würde und dass sich mindestens die drei eng verwandten ostslawischen Völker wieder zusammenschließen würden. Es zeigte sich jedoch schon bald, dass der ukrainische Staat auf seine Unabhängigkeit pochte, während Russland nicht bereit war, die Ukraine als gleichberechtigten Staat und als eigenständige Nation anzuerkennen.
Das unerwartete Auftauchen der beiden Staaten weckte mein Interesse an der Geschichte ihres Wechselverhältnisses. Das lag nahe, hatte ich mich doch schon länger mit der Geschichte Russlands und der Ukraine beschäftigt. Ich stellte mir die Frage nach den historischen Voraussetzungen des Verhältnisses und allgemein der verschränkten Geschichte (histoire croisée) der beiden Völker.
Der Dialog nicht nur der Politiker, sondern auch der Historiker beider Länder gestaltete sich als schwierig. Nachdem in der Sowjetunion die Geschichte des multinationalen Imperiums im Dogma der Völkerfreundschaft harmonisiert worden war, bildeten sich nun nationale historische Narrative heraus, die zum Teil auf die vorrevolutionäre Geschichtsschreibung zurückgriffen. Die russische und die ukrainische historische Erzählung waren über weite Strecken inkompatibel, und man nahm die Standpunkte der anderen Seite nicht zur Kenntnis. In Russland stand die Geschichte des von Russen dominierten Imperiums im Vordergrund und kaum jemand beschäftigte sich mit der ukrainischen Geschichte, in der Ukraine konzentrierte man sich nun ganz auf die Geschichte der eigenen Nation.
So kam als Aufgabe hinzu, zwischen den Historikern beider Länder zu vermitteln, wechselseitige Standpunkte offenzulegen und Missverständnisse zu klären. Dies war das Ziel eines transatlantischen Forschungsprojekts «The Russian-Ukrainian Encounter», das ich gemeinsam mit drei nordamerikanischen Kollegen Mitte der 1990er Jahre durchführte. In je zwei Konferenzen in Köln und New York diskutierten Historikerinnen und Historiker aus Russland, der Ukraine, den USA, Kanada und Deutschland über Fragen der ukrainisch-russischen Beziehungen vom Mittelalter bis zur Gegenwart.[3] Der schon damals nicht einfache Dialog zwischen russischen und ukrainischen Historikern ist mit dem bewaffneten Konflikt fast ganz abgebrochen.
Das Thema erhielt nun plötzlich eine unerwartete Aktualität. Seither haben sich die Fragestellungen verändert und richten sich auf die historischen Voraussetzungen des russisch-ukrainischen Konflikts. Dies bringt die Gefahr mit sich, die aktuelle Auseinandersetzung in die Vergangenheit zurückzuprojizieren, Ursachen zu konstruieren, die zwangsläufig auf den Krieg hinausliefen. Eine solche direkte Kausalität lässt sich indessen nicht nachweisen. Zwar gab es seit 1992 immer wieder Probleme in den bilateralen wirtschaftlichen und politischen Beziehungen und auf diskursiver Ebene. Der bewaffnete Konflikt lässt sich jedoch nicht aus den längerfristigen Voraussetzungen herleiten, sondern nur aus den Ereignissen seit Beginn der ukrainischen Revolution des Euro-Majdan vom Winter 2013/14.
Dennoch kann, so meine ich, eine Geschichte der russisch-ukrainischen Wechselbeziehungen zum Verständnis des aktuellen Konflikts beitragen. Das weitgehende Fehlen von Kenntnissen über die Geschichte der Ukraine hat zu Fehlurteilen und Missverständnissen in Öffentlichkeit und Politik geführt. Dazu gehört, dass viele den unabhängigen ukrainischen Staat nicht ernst nehmen, die Ukraine noch immer als Teil der russischen Nation wahrnehmen, den Ukrainern eine eigene Sprache, Kultur und Geschichte absprechen. Damit übernimmt man unbesehen die russische Sichtweise, die seit zwei Jahrhunderten die Deutungshoheit hat.
Seit dem 18. Jahrhundert zeigte sich im russisch-ukrainischen Verhältnis eine Asymmetrie, die darin gipfelte, dass Russland im 19. Jahrhundert die «Kleinrussen», wie die Ukrainer damals offiziell hießen, als Teil eines «all-russischen» Volkes betrachtete und ihnen eine eigenständige Geschichte absprach. Fortan schienen die Ukrainer in den Augen russischer wie westlicher Zeitgenossen im Russentum aufzugehen. Es ist deshalb wichtig, auch die früheren Epochen in den Blick zu nehmen, in denen die Geschichte Russlands und der Ukraine in getrennten Bahnen verlief und die Ukraine einen festen Platz auf der mentalen Landkarte Europas hatte. Die mittelalterliche und frühneuzeitliche Geschichte hat deshalb in der ukrainischen Erinnerungskultur einen hohen Stellenwert. Die Ukraine ist nicht erst 1991 entstanden, sondern hat eine lange Geschichte, die teils getrennt von der Geschichte der Russen, teils mit ihr verbunden verlief.
Dieses Buch folgt dem methodischen Ansatz der «verschränkten» oder «verflochtenen» Geschichte, der sich mit längerfristigen Wechselbeziehungen, Transfers, Begegnungen und Konflikten von Staaten, Gesellschaften, Nationen und Kulturen beschäftigt.[4] Besonderes Augenmerk richte ich auf die Verflechtungen von Ideen, Perzeptionen, historischen Erzählungen, Erinnerungskulturen und Geschichtspolitiken. Umgekehrt frage ich auch nach Prozessen der Entflechtung, Distanzierung und Auseinanderentwicklung. So kann die russisch-ukrainische histoire croisée als Wechselspiel von Verflechtungen und Entflechtungen erzählt werden. Dabei ist allerdings nicht immer klar, wer oder was sich mit wem verschränkt. Die Begriffe «russisch» und «ukrainisch» waren einem ständigen Wandel unterworfen, veränderten ihren Inhalt oder wurden durch andere Begriffe ersetzt, und eine Zuordnung ist nicht immer eindeutig. In Abgrenzung von essentialistischen Vorstellungen von einer linear fortschreitenden Formierung der Nation müssen hybride Erscheinungsformen, multiple und situative Identifikationen berücksichtigt werden. Nationale Kategorien standen in Konkurrenz oder verbanden sich mit imperialen, regionalen, religiösen und sozialen Faktoren. Um keine Verwirrung zu stiften, verwende ich im Folgenden durchgehend die modernen Begriffe «russisch»/«russländisch» und «ukrainisch», doch müssen die genannten Differenzierungen immer im Auge behalten werden.[5]
Das Buch ist chronologisch gegliedert. Vorausgeschickt wird eine Erläuterung des Titels: Russen und Ukrainer bezeichnen sich seit Jahrhunderten als Brudervölker, wobei die Russen meist die Rolle des großen Bruders spielten (1. Kapitel). Die Geschichte der beiden Brüder begann in der «gemeinsamen Wiege» der mittelalterlichen Kiewer Rus’, um deren Erbe sie bis heute streiten (2. Kapitel). Es folgte eine lange Phase der Entflechtung und Auseinanderentwicklung, die mit dem Einfall der Mongolen im 13. Jahrhundert begann und bis ins 17. Jahrhundert andauerte (3. Kapitel). Daran schloss sich eine Epoche der Annäherung an, gefolgt von der Integration der Mehrheit der Ukrainer in das Russländische Reich und der zunehmenden Verschränkung der ukrainischen und russischen Gesellschaften und Kulturen (4. Kapitel). Das folgende Kapitel ist der Formierung der beiden «verspäteten Nationen» gewidmet, die sich in enger Interaktion vollzog, bis zum Ende des Zarenreichs nicht abgeschlossen war und bis heute andauert. Im 6. Kapitel werden das asymmetrische russisch-ukrainische Verhältnis im Russländischen Reich des 19. und frühen 20. Jahrhunderts in Politik, Gesellschaft und Kultur sowie die wechselseitigen Perzeptionen abgehandelt. In der Darstellung der Jahre 1917 bis 1921 ergänze ich die Geschichte der Russischen Revolution durch die Geschichte der Ukrainischen Revolution, die zur kurzfristigen Emanzipation des kleinen Bruders führte (7. Kapitel). Das wechselhafte russisch-ukrainische Verhältnis im Rahmen der Sowjetunion ist Gegenstand des folgenden Kapitels, in dem die umstrittenen Fragen der Ukrainisierung der Zwanzigerjahre, der Hungersnot von 1932/33 und der Kollaboration von Ukrainern und Russen mit dem nationalsozialistischen Deutschland im Zweiten Weltkrieg besondere Aufmerksamkeit finden. Das 9. Kapitel ist der Geschichte der beiden postsowjetischen Staaten bis hin zum russisch-ukrainischen Krieg gewidmet. In einem Nachwort spreche ich die westlichen Perzeptionen der Ukraine und Russlands in ihrem historischen Wandel an (10. Kapitel).
Eine Monographie zum Gesamtkomplex der russisch-ukrainischen Wechselbeziehungen gibt es bisher nicht. Ich selber habe zwei Vorarbeiten verfasst, eine 2003 erschienene Problemskizze und eine Monographie aus dem Jahr 2012, in der ich die russisch-ukrainischen Verflechtungen am Leben und Wirken eines russisch-ukrainischen Ehepaars und seinen wissenschaftlichen Werken exemplifiziere.[6] Ich greife im Folgenden auf diese beiden Publikationen zurück, wobei ich Selbstzitate in der Regel nicht kenntlich mache. Das Gleiche gilt für meine allgemeinen Arbeiten zur Geschichte Russlands und der Ukraine.
Von den Forschungsarbeiten, die ich mit Gewinn benutzt habe, sind mehrere Sammelbände in englischer, russischer und ukrainischer Sprache, die sich mit der Geschichte des russisch-ukrainischen Verhältnisses befassen, zu nennen.[7] Wichtige Studien zu einzelnen Perioden und Aspekten haben Zenon Kohut, Mirja Lecke, Aleksej Miller, Johannes Remy, Serhii Plokhy, David Saunders, Myroslav Shkandrij und Roman Szporluk vorgelegt.[8] Für die allgemeine Geschichte Russlands und der Ukraine verweise ich auf die einschlägigen Gesamtdarstellungen von Carsten Goehrke, Heiko Haumann, Manfred Hildermeier, Geoffrey Hosking, Dietmar Neutatz sowie die Cambridge History of Russia (zur Geschichte Russlands) bzw. von Kerstin S. Jobst, Andreas Kappeler, Paul R. Magocsi, Orest Subtelny, Serhii Plokhy, Andrew Wilson und Serhy Yekelchyk (zur Geschichte der Ukraine).[9] Ich führe die wichtigste allgemeine Literatur zu den einzelnen Kapiteln pauschal an, direkt belegt werden in der Regel nur Zitate. Die Titel werden nur bei der ersten Nennung vollständig angeführt, in der Folge in abgekürzter Form. Ich verweise mit wenigen Ausnahmen nur auf Literatur in deutscher und englischer Sprache und berücksichtige Forschungsarbeiten in russischer und ukrainischer Sprache nicht.
Die Transliteration folgt den wissenschaftlichen Regeln, gibt also russisch/ukrainisch ч mit č, ш mit š, ж mit ž und ц mit c, russisch ы bzw. ukrainisch и mit y wieder. Die im Deutschen eingebürgerten ukrainischen Namen Kiew (ukr. Kyïv), Lemberg (ukr. L’viv), Odessa (ukr. Odesa) und Dnjepr (ukr. Dnipro) stehen in dieser Form.
Ich danke einer ganzen Reihe von Kolleginnen und Kollegen, mit denen ich seit langem in Gedankenaustausch bin, für Anregungen, Kritik und Belehrung, in erster Linie Manfred Alexander, Christoph Augustynowicz, Viktor Brechunenko, Carsten Goehrke, Mark von Hagen, Guido Hausmann, Yaroslav Hrytsak, Börries Kuzmany, Aleksandr Lavrov, Aleksej Miller, Michael Moser, Jurij Mycyk, Tanja Penter, Serhii Plokhy, Andreas Renner, Angela Rustemeyer, Gerhard Simon, Frank E. Sysyn, Ricarda Vulpius, Marija Wakounig, Veronika Wendland, Alois Woldan und postum Otto Dann und Hans-Joachim Torke. Ich danke auch Frau Teresa Löwe-Bahners und Frau Rosemarie Mayr vom Verlag C.H.Beck für die gute Zusammenarbeit.
1. Kapitel
«Denk’ an uns, Deine jüngeren Brüder!», appellierte Iov Borec’kyj, der orthodoxe Metropolit von Kiew, im Jahr 1624 an den Moskauer Zaren Michail, um dessen Unterstützung zu erbitten.[10] Dies ist die erste mir bekannte Quelle, in der Ukrainer als jüngere Brüder der Russen bezeichnet werden. Dass es kein Russe, sondern ein Ukrainer war, der damit das asymmetrische Verhältnis zwischen der Ukraine und Russland kennzeichnete, erklärt sich aus der Situation des frühen 17. Jahrhunderts, als die Orthodoxen in Polen-Litauen unter dem Druck der Katholischen Kirche standen und den Zaren als Verbündeten zu gewinnen suchten.
Das Bild der beiden Brudervölker taucht seither in den Quellen immer wieder auf. Es wurde und wird vor allem von der russischen Seite ins Feld gebracht, um an die enge Verbundenheit des jüngeren mit dem älteren Bruder zu appellieren und dessen möglichen Ausbruch aus der orthodoxen «russischen» Familie zu verhindern. In der Sowjetunion pries die Propaganda die harmonische Familie der sowjetischen Völker, in der den Russen die Rolle des älteren Bruders der übrigen Nationalitäten zukam. Der ukrainische Bruder war dabei besonders eng mit Russland und den Russen verbunden. Repräsentativ ist der Titel eines im Jahr 1982 erschienenen historischen Werkes: «Freundschaft und Bruderschaft des russischen und des ukrainischen Volkes».[11] Umgekehrt diente das Bild des «großen Bruders» im Westen zur Kennzeichnung der Abhängigkeit der sowjetischen Nationalitäten und der sozialistischen Staaten von Moskau.
Im postsowjetischen Russland appellierten die Politiker immer wieder an das harmonische Zusammenleben der beiden slawischen Brüder. Der russische Außenminister Andrej Kozyrev grenzte sich von der sowjetischen Hierarchisierung ab, wenn er sagte, dass keine Seite der «ältere» oder «jüngere» Bruder sei, sondern dass sie Zwillingsbrüder seien. «Wir sind gemeinsam geboren und wir werden gemeinsam arbeiten.»[12] Als sich die Präsidenten Russlands, der Ukraine und von Belarus im Jahre 2000 zum 55. Jubiläum des Sieges im Zweiten Weltkrieg trafen und zusammen mit dem Moskauer Patriarchen eine «Kapelle der Einheit» einweihten, erklärte Vladimir Putin: «Wir sind eine Familie. Wir haben gesiegt, weil wir zusammenhielten … Für Brudervölker gibt es keine Hindernisse, wenn sie ihre Kräfte vereinigen.»[13]
Nicht nur die meisten Russen betrachteten die Ukrainer als Brudervolk, sondern auch die Mehrheit der Ukrainer sah in den Russen enge Verwandte, mit denen man auf gutem Fuß stand. Dies zeigte sich schon im Zarenreich, als die Abgrenzung der beiden Völker fließend war und zahlreiche Ukrainer partiell oder vollständig russifiziert wurden. Dieser Akkulturationsprozess wiederholte sich in der Sowjetunion seit den 1930er Jahren. Die Massenmigrationen im Zuge der Industrialisierung führten zu einer ethnischen Vermischung und zu unzähligen Mischehen, die im Gegensatz zu den Verbindungen mit anderen Nationalitäten oft gar nicht als Mischehen wahrgenommen wurden. In der unabhängigen Ukraine verwendeten die ukrainischen Politiker das Bild der beiden Brüder allerdings seltener als die russischen.
Die Metapher der Familie ist ein Schlüssel zum Verständnis der russisch-ukrainischen Wechselbeziehungen. Der russische Politologe Dmitrij Furman hat dazu klarsichtige Überlegungen angestellt: «Das Spezifische an den russisch-ukrainischen Beziehungen besteht darin, dass sie auf der Ebene der zwischenmenschlichen Beziehungen gut sind, dass sie sich aber beim Übergang auf die Ebene der Nationen und Staaten verschlechtern. Der scharfe Kontrast zwischen den persönlichen und den staatlichen Beziehungen weckt besondere Gereiztheit, Kummer und Befremden – darf es denn unter Brüdern Streit geben? … [Tatsächlich] ist das Verhältnis von Brüdern längst nicht immer einfach und leicht. Konflikte in der Familie sind bekanntlich oft erbitterter als zwischen Fremden.» Russen und Ukrainer streiten wie andere Brüder, «um ihre Vorfahren, um das Erstgeburtsrecht, um das Erbe, darum, dass der ältere den jüngeren als ebenbürtig anerkennt und aufhört, ihn zu bevormunden, und umgekehrt, dass der jüngere nicht vergisst, dass er der jüngere ist und sich nicht zu viel herausnimmt.»[14]
Es ist unbestreitbar, dass Russen und Ukrainer in vielerlei Hinsicht nahe Verwandte waren und sind. Dies betrifft ihre Sprachen, die man gemeinhin zusammen mit dem Weißrussischen zur Familie der ostslawischen Sprachen rechnet. Beide, Ukrainer und Russen, führen ihre Herkunft auf die mittelalterliche Kiewer Rus’ zurück. Beide bekennen sich seit damals mehrheitlich zur Orthodoxie, und die orthodoxe Kultur mit der lange vorherrschenden kirchenslawischen Literatursprache war über Jahrhunderte hinweg ein einigendes Band. Im 19. und 20. Jahrhundert hatten die Russen und die Mehrheit der Ukrainer eine gemeinsame Geschichte im Rahmen des Zarenreichs und der Sowjetunion.
In dieser Familie gab es Halbbrüder, die lange in fremden Familien lebten. Die Mehrheit der Westukrainer gehörte seit dem 17. Jahrhundert zur Griechisch-Katholischen Kirche, und ihre Geschichte verlief seit dem späten 18. Jahrhundert in eigenen Bahnen, in der Habsburgermonarchie und nach 1920 in der Zweiten Polnischen Republik, in der Tschechoslowakei und in Rumänien. Erst im Zweiten Weltkrieg wurden sie mit den übrigen Ukrainern «wiedervereinigt», so die russisch-sowjetische Lesart. Auch die Weißrussen, deren Sprache, Religion und Geschichte viele Gemeinsamkeiten mit den Ukrainern aufweisen, können als Halbbrüder gelten, die lange in engen Wechselbeziehungen mit den Ukrainern standen. In der Frühen Neuzeit war sogar die Möglichkeit einer «ruthenischen» Nation, die Ukrainer und Weißrussen umfasste, angelegt.
Familien grenzen sich gegenüber Nachbarn ab und werden durch gemeinsame Feinde zusammengeschweißt. Im Fall der Russen und Ukrainer waren dies seit dem Schisma zwischen Ost- und Westkirche im 11. Jahrhundert die «Lateiner», die Römisch-Katholiken. In der Folge verkörperten die katholischen Polen, gegen die der Moskauer Staat zahlreiche Kriege führte, diesen Gegner. In Russland galten Polen, Jesuiten und Papisten als Speerspitzen westlicher Aggressoren, die Russland einkreisen wollten. Auch in der Sowjetunion wurde Polen wieder zum Feind, an den der junge Sowjetstaat nach einer militärischen Niederlage einige Territorien, unter ihnen Teile der Ukraine, verloren hatte. Beschuldigungen, die Polen hätten die Ukrainer gegen Russland aufgestachelt, gehörten zum propagandistischen Standardrepertoire.
Die westslawischen Polen waren gewissermaßen Cousins der Ukrainer und Russen. Die gemeinsame Gegnerschaft zu den katholischen Polen trug zum Zusammenhalt der Ukrainer und Russen bei. Denn auch die Beziehungen der Ukrainer zu Polen waren durch Konflikte geprägt. Fast alle Ukrainer befanden sich während Jahrhunderten unter der Herrschaft Polen-Litauens und unter dem Druck der römisch-katholischen Kirche und der polnischen Adligen. Die Mehrheit der reicheren ukrainischen Adligen trat im 17. Jahrhundert zum Katholizismus über und wurde allmählich polonisiert. Dabei glich das Verhältnis der Polen zu den Ukrainern demjenigen der Russen zu ihren kleinen Brüdern. Auch sie anerkannten den Cousin nicht als gleichwertig. Der kleine ukrainische Bruder musste sich also von zwei Verwandten emanzipieren.
Der zweite gemeinsame Feind waren die Reiternomaden, mit denen schon die Fürsten der Kiewer Rus’ ständig Krieg führten. Im 13. Jahrhundert eroberten die Mongolen Russland und die Ukraine, und die Abwehr der Tataren einte die beiden Völker. Das setzte sich fort in den Kämpfen gegen die Krimtataren, die vom 15. bis 18. Jahrhundert die Steppen im Süden der heutigen Staaten Russland und Ukraine kontrollierten und in die von sesshaften ukrainischen und russischen Bauern besiedelten Gebiete einfielen. An der Steppengrenze formierten sich die Gemeinschaften der vorwiegend aus Ukrainern und Russen bestehenden Kosaken, die die Tataren und Osmanen bekämpften und in der Volksüberlieferung als christliche Helden erschienen.
In der patriarchalischen Familie war der kleine dem großen Bruder untergeordnet. Wenn er sich gegen die Bevormundung wehrte, sich zu emanzipieren begann und auf seine Eigenständigkeit pochte, reagierte der große Bruder besonders heftig. Beispiele waren die rigorosen Strafmaßnahmen der zarischen wie der sowjetischen Regierung gegen die ukrainische Nationalbewegung. Noch heftiger reagierte man, wenn die Ukrainer von Russland abzufallen drohten. Der klassische Fall war das Bündnis, das der Kosaken-Hetman Mazepa im Jahr 1708 mit Schweden, einem weiteren Erbfeind Russlands, schloss. Er ging als Prototyp des Verräters in das russische kulturelle Gedächtnis ein, und die Bezeichnung «Mazepisten» (mazepincy) dient bis heute zur Brandmarkung der Ukrainer. Als die Ukraine mit dem Auseinanderbrechen der Sowjetunion die gemeinsame Familie verließ und besonders als sie sich im Euro-Majdan dem Westen zuwandte, wurden diese Stereotypen erneut aktiviert.
Es wäre allerdings ein Irrtum, das Verhältnis zwischen den beiden Geschwistern ausschließlich als antagonistisch zu bezeichnen. Zwar kam es immer wieder zu Konflikten auf staatlicher und politischer Ebene, in den persönlichen Beziehungen gab es jedoch, wie Furman richtig bemerkte, kaum Spannungen. Die meisten Russen und Ukrainer sahen sich über weite Strecken der Geschichte als eng verwandte Geschwister, die freundschaftlich zusammenlebten. Die subalterne Stellung wurde von nicht wenigen Ukrainern akzeptiert, unter denen ein «Großer-Bruder-Syndrom» und Minderwertigkeitskomplexe verbreitet waren.
In repräsentativen Umfragen aus den 1990er Jahren und aus den Jahren 2008 bis 2013 erklärte eine Mehrheit sowohl der Ukrainer als auch der Russen, dass ihnen das jeweils andere Volk (sowie die Weißrussen) näher stünde als alle anderen Völker. Im Jahr 2009 hatten über 96 Prozent der Ukrainer ein positives Verhältnis zu den Russen, im Februar 2014 waren es noch immer 86 Prozent, und erst nach der russischen bewaffneten Intervention sank der Wert auf 60 Prozent ab. Weniger hoch war der Prozentsatz der Russen, die ihr Verhältnis zu den Ukrainern positiv bewerteten. Er betrug im Jahr 2009 75 Prozent, im Januar 2014 66 Prozent, und nahm dann ebenfalls weiter ab.
Tiefer lagen die positiven Werte für das jeweilige Verhältnis zum anderen Staat, was die These von Furman bestätigt. Bei den Russen zeigten sich große Schwankungen, die der offiziellen Politik entsprachen und den Einfluss der Medienpropaganda widerspiegelten. Nachdem Anfang 2008 noch über 50 Prozent der Russen angaben, ein gutes Verhältnis zur Ukraine zu haben, sank diese Rate in den folgenden Monaten auf lediglich 30 bis 34 Prozent. Mit dem Amtsantritt von Viktor Janukovyč im Jahr 2010 stieg die Zustimmung wieder bis auf 72 Prozent an und hielt sich bis Februar 2014 auf 66 Prozent. Nach Ausbruch des von einer beispiellosen Propaganda begleiteten russisch-ukrainischen Krieges sanken die Werte rapide, und im Sommer 2014 gaben nur noch 32 Prozent der Russen an, ein gutes Verhältnis zur Ukraine zu haben, im Februar 2016 waren es noch 26 Prozent. Das traditionell gute Verhältnis der Ukrainer zu Russland litt dagegen zunächst kaum unter den politischen Spannungen und hielt sich in den Jahren 2008 bis 2011 auf einer Höhe von etwa 90 Prozent. Bis Februar 2014 waren es immer noch 78 Prozent Zustimmung, und erst die bewaffnete Intervention Russlands führte zu einem Einbruch auf 52 Prozent im Mai 2014 und auf 36 Prozent im Februar 2016. Es überrascht zunächst, dass erheblich mehr Ukrainer als Russen noch während des russisch-ukrainischen Kriegs an ihrer Zuneigung zum Nachbarland festhielten. Hier gilt es regionale Unterschiede zu beachten: Die Mehrheit der Freunde Russlands kam aus dem Osten und Süden der Ukraine.[15]
Dem «großen Bruder» und dem «kleinen Bruder» entsprachen mindestens vordergründig die Namen «Großrussen» und «Kleinrussen». Mit den Begriffen Kleinrussen/Kleinrussland (malorossy/Malorossija) bezeichnete man im Zarenreich die Ukrainer bzw. die Ukraine (oder Teile der Ukraine).[16] Die Begriffe Großrussen und Kleinrussen bezogen sich aber nicht auf deren Größe, sondern hatten lange eine neutrale Bedeutung. Mit «klein» und «groß» war ursprünglich die Entfernung der beiden Teile der mittelalterlichen Rus’ von Konstantinopel, dem Sitz des Patriarchen der Orthodoxen Kirche, gemeint. Die Kleine Rus’, die heutige Ukraine, lag näher, die Große Rus’, das heutige Russland, lag weiter entfernt. Die beiden Begriffe wurden im 16. Jahrhundert von Ukrainern in Polen-Litauen wiederbelebt, und der Begriff Kleinrussland wurde in den Titel des 1620 gewählten orthodoxen Metropoliten von Kiew aufgenommen. Als im Jahr 1654 ein Teil der Ukraine unter die Herrschaft Russlands kam, übernahm Zar Aleksej Michajlovič die «Große und Kleine Rus’» in seinen Titel, und Kleinrussland war fortan die offizielle Bezeichnung der Ukraine bis zum Ende des Zarenreichs. Im 19. Jahrhundert wurde die Gemeinschaft der Großrussen, Kleinrussen und Weißrussen zum Kern des Russländischen Imperiums und des «all-russischen» Volkes erklärt. Dieses orthodoxe «all-russische» oder «dreieinige» Volk wurde nicht nur als Familie, sondern als unauflösbares Ganzes und zunehmend als russische Nation imaginiert. Damit wurden die Ukrainer noch enger an Russland und die Russen gebunden: Eine Trennung der Geschwister hätte die Existenz der russischen Nation in Frage gestellt.
Zwar diente der Begriff «Kleinrussen» im Zarenreich auch als Selbstbezeichnung der Ukrainer, doch führte die offizielle Inklusion der «Kleinrussen» in das russische Volk dazu, dass er für national engagierte Ukrainer, die den Begriff «Ukrainer» durchsetzen wollten, zusehends eine negative Konnotation erhielt. Er bezeichnete fortan die Gruppe der Ukrainer, die die offizielle Doktrin von der all-russischen Nation übernahmen, statt sich zur ukrainischen Nation zu bekennen, die sich an die «großen» Russen anpassten und sich der russischen Sprache bedienten. Diese «kleinen» Russen ordneten sich als «kleine Brüder» dem «großen Bruder» unter. Während die offiziellen Bezeichnungen Kleinrussland und Kleinrussen mit dem Sturz des Zarenreichs verschwanden, lebten die ukrainischen Begriffe der Kleinrussen (malorosy) und des Kleinrussentums (malorosijstvo) in der eingeschränkten, herabsetzenden Bedeutung fort und wurden in der unabhängigen Ukraine wiederbelebt, um diejenigen Staatsbürger zu bezeichnen, denen man mangelnde Loyalität zum Staat, das Festhalten an der russischen Sprache und eine Orientierung auf den großen Bruder Russland vorwarf.
Für ein Verständnis der russischen Nation ist die Unterscheidung zwischen den Begriffen Russland (Rossija) und russisch/Russe (russkij) von zentraler Bedeutung. Während die Begriffe russisch/Russe direkt auf die mittelalterliche Rus’ zurückgehen, tauchte der Terminus Russland (Rossija) erst im 16. Jahrhundert auf und wurde im 18. Jahrhundert in den offiziellen Namen des Russländischen Imperiums (Rossijskaja imperija) aufgenommen. Die russischen Begriffe Russland/russländisch umfassten nicht nur die ethnischen Russen, sondern auch die im Russländischen Imperium lebenden Nichtrussen. Das gilt auch wieder für die heutige Russländische Föderation (Rossijskaja Federacija), deren Bürger offiziell als Russländer (rossijane) und nicht als Russen (russkie) bezeichnet werden. In der Praxis vermischten sich allerdings die beiden Bedeutungen und die Projekte der imperialen supraethnischen und der ethnischen Nation, und während der Präsidentschaft Putins verdrängte der Begriff Russe zusehends den Begriff Russländer. Für die Formierung der russländischen/russischen Nation war der Bezug auf das Imperium in der Regel wichtiger als die Berufung auf das Volk. Dies unterschied sie von den Ukrainern, die über weite Strecken ihrer Geschichte keinen «eigenen» Staat hatten und für die deshalb das Volk, die ethnische Gruppe, der wichtigste nationale Bezugspunkt war. Im Ukrainischen gibt es wie im Deutschen keine eigene Bezeichnung für das Staatsvolk, das sich nicht nur aus ethnischen Ukrainern bzw. Deutschen, sondern aus unterschiedlichen ethnischen Gruppen zusammensetzt.
Ursprünglich wurden die Ukrainer wie die Russen und Weißrussen mit Namen bezeichnet, die sich vom Begriff Rus’, der Bezeichnung des mittelalterlichen Staatswesens und seiner Bevölkerung, herleitete. In der Westukraine bezeichneten sich die Ukrainer bis ins 20. Jahrhundert als rusyny oder rusnaki (deutsch Ruthenen). Der Begriff Ukraine, der schon im Mittelalter das südliche Grenzland (ukraina) der Rus’ am Steppenrand bezeichnet hatte, erhielt im 17. Jahrhundert eine umfassendere Bedeutung, wurde aber in der Folge vom Begriff Kleinrussland weitgehend verdrängt. Das Ethnonym Ukrainer tauchte in den Quellen seltener auf. Die ukrainische Nationalbewegung, die sich im Lauf des 19. Jahrhunderts entfaltete, widersprach der Formel vom «all-russischen» Volk und ersetzte die Begriffe Kleinrussland/Kleinrussen durch Ukraine/Ukrainer, um sich von Russland und den Russen abzugrenzen. Die Zarenregierung behinderte diesen Prozess, und die Zensur verbot zeitweise sogar den Gebrauch der Begriffe Ukraine und ukrainisch. Offizielle Anerkennung erfuhr der Begriff Ukraine erst in der Ukrainischen bzw. der Westukrainischen Volksrepublik der Jahre 1917–1920 und anschließend in der Ukrainischen Sowjetrepublik.
2. Kapitel
Im 9. Jahrhundert entstand am Handelsweg von der Ostsee zum Schwarzen Meer ein Herrschaftsverband, der die zentralen Teile des heutigen Siedlungsgebietes der Russen, Ukrainer und Weißrussen umfasste. Mit der Heirat des Fürsten Vladimir (ukrainisch Volodymyr) mit Anna, der Schwester des oströmischen Kaisers, und der Annahme des orthodoxen Christentums am Ende des 10. Jahrhunderts wurde die Rus’, die seit dem 19. Jahrhundert als Kiewer Rus’ bezeichnet wird, zu einem geachteten Mitglied der europäischen «Familie der Könige». Davon legten Heiratsverbindungen mit mehreren Herrscherhäusern in Nord-, Mittel- und Westeuropa Zeugnis ab. Fürst Vladimir wird in der Russischen und der Ukrainischen Orthodoxen Kirche als Heiliger verehrt. Die Rus’ war eine lockere Föderation von Fürstentümern, die von einzelnen Zweigen der Dynastie der Rjurikiden regiert wurden; der Fürst (seit dem 12. Jahrhundert Großfürst) von Kiew war primus inter pares. Die Rus’ erlebte im 11. Jahrhundert unter Fürst Jaroslav dem Weisen eine Blütezeit, und ihre Städte, allen voran Kiew und Novgorod, waren bedeutende Zentren des Handels und der Kultur. Gemeinsame Schriftsprache war das von den Südslawen übernommene Altkirchenslawische oder Altbulgarische, als Umgangssprache dienten ostslawische Dialekte.
Die mittelalterliche Kiewer Rus’ gilt allen drei ostslawischen Völkern als «Goldenes Zeitalter». Dort stand die «gemeinsame Wiege» der drei Brudervölker, wie es in der Sowjetunion offiziell hieß. Die Wiege wurde allerdings nicht von slawischen Eltern, sondern von Fremden aufgestellt, den Rus’, normannischen Warägern, die den nach ihnen benannten Herrschaftsverband begründeten. Dieser Gründungsakt wurde und wird von national gesinnten Russen und Ukrainern zum Teil noch immer in Frage gestellt. Ihnen missfällt die Vorstellung von «deutschen» Staatsgründern, von denen Russen und Weißrussen und zeitweise auch die Ukrainer sogar ihre Namen erhielten. Sie können jedoch keine überzeugenden Argumente für eine alternative Interpretation der Quellen vorbringen. Für die weitere Geschichte der Kiewer Rus’ war diese Streitfrage nebensächlich, denn die nordgermanische Führungsschicht ging bald in der ostslawischen Stammbevölkerung auf. Die Frontstellung gegen den Westen, die «Deutschen», einte zwar Russen und Ukrainer, verhinderte aber nicht, dass sie bis zum heutigen Tag um das Erbe der Kiewer Rus’ streiten.[17]
Die alte Rus’ war und ist der Gründungsmythos der ukrainischen und der russischen Nation, des russischen und des ukrainischen Staates und der russischen und der ukrainischen Orthodoxie. Deswegen wurde und wird der Streit darum, ob es sich um einen russischen oder einen ukrainischen Herrschaftsverband gehandelt und wer als ihr Erbe zu gelten habe, besonders erbittert geführt, nicht nur in der Geschichtswissenschaft, sondern auch in Medien und Politik.
Das nationale Narrativ der Geschichte Russlands basiert auf der Abfolge der Hauptstädte Kiew – Moskau – St. Petersburg – Moskau. Demzufolge wurde der russische Staat in Kiew begründet, im 13. Jahrhundert wurde sein Zentrum erst nach Vladimir-Suzdal’ im Nordosten der Rus’ und dann nach Moskau verlegt, unter Peter dem Großen wurde das neu gegründete St. Petersburg Hauptstadt, und die Bolschewiki verlegten sie im Jahr 1918 wieder nach Moskau zurück. Es überrascht, dass das erste zusammenhängende Narrativ, das die Kontinuität Kiew – Moskau in den Mittelpunkt stellte, in der Ukraine entstand. Im Jahr 1674, zwei Jahrzehnte nach der Unterstellung Kiews und der linksufrigen Ukraine unter Moskauer Herrschaft, erschien in Kiew ein Geschichtswerk, das erstmals die Idee vom Moskauer Staat als Erbe der alten Rus’ ausführte und begründete. Dies machte schon der Titel des Werkes deutlich: «Kiewer Synopsis oder kurze Sammlung aus verschiedenen Chroniken über den Ursprung des slawisch-russischen Volkes, der ur-anfänglichen Fürsten der von Gott beschützten Stadt Kiew, über das Leben des heiligen rechtgläubigen Großfürsten von Kiew und der ganzen Rus’, des ersten Selbstherrschers Vladimir, und über die Erben seines gottesfürchtigen Russländischen Staates bis zu unserem erlauchten und frommen Herrscher Zar und Großfürst Aleksej Michajlovič, Selbstherrscher der ganzen Großen, Kleinen und Weißen Rus’».[18]
Verfasser oder mindestens Kompilator der Synopsis war der aus Preußen stammende Archimandrit des Kiewer Höhlenklosters und ehemalige Rektor des 1632 gegründeten Kiewer Collegiums Innozenz Giesel (Innokentij Gizel’). Das Werk ging vom «slawisch-russischen Volk» aus, das seinen Ursprung im «russländischen Staat» von Kiew hatte und das jetzt nach langer Aufspaltung endlich wieder in einem Staat und unter einer Dynastie vereinigt war. Damit wurde zum ersten Mal die Einheit von Ukrainern und Russen historisch begründet und mit der Moskauer Dynastie und dem «russländischen Staat» verbunden. Dass dieses Werk nicht in Moskau, sondern in Kiew entstand, kann man damit erklären, dass die Kiewer Geistlichkeit gegenüber dem Zaren Loyalität bekundete, um seine Unterstützung in der Konfrontation mit dem katholischen Polen zu sichern und Kiew einen privilegierten Status im Moskauer Reich zu verleihen. Außerdem besaß damals nur der ukrainische Klerus die für ein solches Werk notwendige humanistische Bildung. Die Synopsis, die erste Gesamtdarstellung der «russischen» Geschichte, wurde weit verbreitet und übte großen Einfluss auf die russische Geschichtsschreibung aus.
Die im 19. Jahrhundert entstehende moderne russische Historiographie erklärte das Kiewer «Russland» endgültig zum ersten russischen Staat und kanonisierte die Stufenfolge Kiew – Moskau – St. Petersburg.[19] Nikolaj Karamzin (1766–1826), der erste bedeutende Historiker, legte den Schwerpunkt auf die Kontinuität der Staatlichkeit und der Dynastie. Nikolaj Ustrjalov bezog das russische Volk mit ein, das Großrussen und Kleinrussen umfasste, und schuf den bis heute fortlebenden Mythos von der «Wiedervereinigung» der seit dem Zerfall des Kiewer Reiches getrennten Geschwister im 17. und 18. Jahrhundert. Michail Pogodin begründete die Kontinuität des Kiewer und des Moskauer Staates damit, dass die russische Stammbevölkerung nach dem Einfall der Mongolen im 13. Jahrhundert aus dem verwüsteten Kiewer Raum in die Fürstentümer im Nordosten Russlands geflüchtet sei. Die Ukrainer hätten, so seine These, das Kiewer Gebiet erst später von Westen her besiedelt.
In den klassischen Gesamtdarstellungen der russischen Geschichte von Sergej Solov’ev und Vasilij Ključevskij (1841–1911) wurden die Geschichte von Volk und Staat und die Geschichte von Groß- und Kleinrussland dann in einer «großen Erzählung» vereint. Sie basierte auf der Annahme, dass der russische Staat und die russische Nation in der Kiewer Zeit begründet worden seien und im Petersburger Imperium ihre Fortsetzung und Vollendung fanden. Der «großrussische Nationalstaat» hatte laut Ključevskij die Aufgabe, das «gemeinsame Vaterland» der Kiewer Rus’ und die «in zwei Hälften gespaltene russische Nation» wieder zu einen.[20