Cover

SILVIA FERRARA

DIE GROSSE
ERFINDUNG

Eine Geschichte der Welt
in neun geheimnisvollen
Schriften

Aus dem Italienischen
von Enrico Heinemann

C.H.BECK

ZUM BUCH

«Die unglaubliche Reise einer Wissenschaftlerin: ein wunderschönes Buch über die Geburt der Schrift.» – La Repubblica

Dieses Buch erzählt von der vielleicht größten Erfindung der Welt. Ohne sie wären wir nur Stimme, schwebten wir in ständiger Gegenwart. Wenigstens viermal in der Weltgeschichte wurde die Schrift neu erfunden: in Ägypten, Mesopotamien, China und Mexiko (die Maya-Schrift). Silvia Ferrara verbindet Archäologie, Anthropologie und Neurowissenschaft, um die frühesten Phasen der Entstehung von Schriftkulturen zu vergegenwärtigen. Und sie schlüpft in die Rolle einer wissenschaftlichen Detektivin, um ihre große Passion mit uns zu teilen: die bis heute noch nicht entzifferten Schriften wie die kretische Hieroglyphe, die Linearschrift A, der Diskos von Phaistos (Kreta) oder die Rongorongo-Schrift von der Osterinsel. «Die große Erfindung» ist ein populärwissenschaftlicher Pageturner, geschrieben im Stil einer mündlichen Erzählung.

ÜBER DIE AUTORIN

Silvia Ferrara ist Professorin für «Ägäische Kulturen» an der Universität Bologna. Ihr Forschungsschwerpunkt liegt auf den antiken Schriften der vorgriechischen Zeit. Ferrara ist Projektleiterin des vom Europäischen Forschungsrat finanzierten Projekts INSCRIBE (‹Invention of Scripts and their Beginnings›, 2018–2023), das die Erfindung und die frühen Phasen der Schrift untersucht.

«Silvia Ferrara ist der Indiana Jones der Schrift.»

– Il Resto del Carlino

INHALT

ANTE LITTERAM

HINTERGRUND

Geschichten

Fiktion

Funke

Täfelchen

Natur

Die Linie

Die Dinge

Die Icons

Die Symbole

UNENTZIFFERTE SCHRIFTEN

Inseln

Kreta

Mit offenem Blick

Pioniere

Wie neu

Kartenhaus

Die missverstandene Katze

Silben

Verschollene Sprache?

Zypern

Mischungen

1, 2 und 3

Meins

Die Murmeln des Königs

Hätten wir’s?

Intermezzo

Die Osterinsel

Nabel der Welt

Wunder

Das Ei eines Dodos

Die Rücken der Moai

Tantalos

Rebus

ERFUNDENE SCHRIFTEN

Städte

Staatsbürokraten

Unvollkommene Entsprechungen

Innovation, Intention

Der Wald

Vor den Pharaonen

Marketing

Grammatik der Schöpfung

Die Invasion der Zeichen

Der steinerne Gast

Sliding Doors

Zwischen den beiden Strömen

Tokenismus

Zeitlupe im Stummfilm

Mehrdeutigkeit des Rebus

United Nations

Chinesische Schildkröten

Von Grund auf neu

Eine Woche ohne Ungemach?

Die ruhmreiche Geschichte der Lady Hao

Nennen Sie sie bloß nicht Ideogramme

Übersee

Es hätte schlechter laufen können

Fehlstart, langes Leben

Smileys

Lebende Seele

Abgeschlossene Geschichten

Konvergenzen

Diderot

EXPERIMENTE

Tradition

Stille Post

Flops

Einsame Erfinder

Blues Brothers

Migräne

Der Alchemist

Die asemische Schrift

Der Hexenmeister

Der Analphabet

Isolierte Zweige

Pokémon

Das Inka-Paradox

Sprechende Knoten

Ein Systemchen

Dunkel

Ein Gänsespiel

Schwarzer Schwan

Bestiarium am Indus

Entropie

Soziale Erfinder

Sich einigen

Brad Pitt

Anpassungen

Scrabble, Schach und Schrift

Besser in schlechter Gesellschaft

ENTDECKUNGEN

Wovon wir ausgehen

Quartett

Donald Rumsfeld

Stelen von «etwas»

Rubbellos

Das Gold

Zehn Gebote

Wie man entziffert

Extraktion

Fünf einfache Stücke

Und das sechste

Ex machina

DIE GROSSE VISION

Zuerst

Evolution

Notwendigkeit

Gedächtnis

Danach

Verspätet

Phasenverschoben

Briefkasten

Nach dem Rad

Morgen

Das Icon, Fortsetzung

Toter Buchstabe

POSTSKRIPTUM

ANHANG

LITERATURVERZEICHNIS

Hintergrund

Unentzifferte Schriften

Erfundene Schriften

Experimente

Entdeckungen

Die große Vision

BILDNACHWEIS

ANTE LITTERAM

Ich bin in der fünften Klasse, und meine Lehrerin beschreibt die Tafel mit seltsamen Zeichen, die ich noch nie gesehen habe. An diesem Frühlingstag 1986 kann ich mit zehn Jahren gerade so lesen. Ich hinke dem normalen Lerntempo etwas hinterher: Schreiben lernen war eine Herausforderung, eine ziemlich lange, die ich in kleinen Schlückchen genossen habe.

Aber in diesem Moment prägt die Lehrerin mit ihrem Tafelanschrieb, ohne es zu wissen, mein Leben. Ich erinnere mich, sie trug ein weißes Kleid, weiß wie die Kreidezeichen auf der schwarzen Tafel. Alpha, Beta, Gamma. Ich versuchte, sie zu entziffern. Es gibt wenige Augenblicke im Leben, in denen eine Geste so raumgreifend wirkt und so sehr die Zeit ausfüllt. Im Verlauf der Jahre verfälschen, verblassen oder verlieren sich Erinnerungen, aber diese hingekritzelten Zeichen wirkten wie Messerschnitte. Ich höre dieses abgehackte Quietschen der Kreide nach dreißig Jahren noch immer. Das griechische Alphabet hat sich mir fest eingeprägt. Ich konnte nicht wissen, dass ich mein Leben damit zubringen würde, die unlesbaren Zeichen der Welt zu enträtseln und nachzuvollziehen, warum sie ihre Form erhalten und was sie wohl zu bedeuten haben. Damals war mir nicht klar, dass ich mein Leben dem Entziffern widmen würde.

Dieses Buch handelt weder von der griechischen Antike noch vom Alphabet, und es ist auch kein historischer Essay, sondern gewissermaßen eine Erzählung, die von einer Erfindung handelt: von der größten der Welt. Gewissermaßen, weil sie zwar einen Anfang hat und von einer abenteuerlichen Reise um die Welt handelt, ihr Ende aber erst noch geschrieben werden muss.

Die größte Erfindung der Welt. Ohne sie wären wir nur Stimme, schwebten wir in ständiger Gegenwart. Unser solidestes und tiefstes Innerstes ist mit dem Gedächtnis verschweißt, mit dem Bedürfnis, uns auf einem festen Grund zu verankern und zu bleiben, ganz im Bewusstsein, dass unsere Zeit begrenzt ist. Dieses Buch erzählt von dem dringenden Bedürfnis, uns beständig zu machen, vom Drang hin zu den anderen, vom Dialog mit uns selbst. Es erzählt von der Erfindung der Schrift.

Die Helden dieser Geschichte sind freilich nicht nur die Schriften oder diejenigen, die sie entdeckt und entziffert haben. Die Helden sind wir, unser Gehirn, unsere Fähigkeit, zu kommunizieren und mit dem Leben um uns herum zu interagieren. Die Schrift ist eine ganze Welt, die es zu entdecken gilt, aber auch eine Brille, durch die wir unsere Welt betrachten: Sprache, Kunst, Biologie, Geometrie, Psychologie, Intuition, Logik. Sie spricht zu uns und über uns als menschliche Wesen, die Gefühle empfinden, empfangen und wecken können. Dieses Buch ist eine nie erzählte Reise, bestehend aus Geistesblitzen der Vergangenheit, wissenschaftlicher Forschung der Gegenwart und der sich vage und unvorhersagbar abzeichnenden Schrift der Zukunft.

HINTERGRUND

Geschichten

Fiktion

Menschen erfinden begeistert Geschichten. Obwohl Paviane ein spannendes Leben führen, bringen sie nur zehn Prozent ihrer Zeit damit zu, das Verhalten von Artgenossen zu deuten, auf es zu reagieren und es nachzuahmen. Die übrige Zeit sind sie mit Nahrungssuche und Fressen beschäftigt. Bei uns sind die Prozentsätze umgekehrt verteilt.

Wir verwenden unglaublich viel Zeit darauf, andere zu verstehen. Wir versetzen uns in sie hinein, empfinden Empathie und spiegeln ihre Gefühle und Absichten wider. Dieses Privileg war eine treibende Kraft bei der Entwicklung unserer sozialen Intelligenz. Andere Faktoren spielten natürlich auch eine Rolle, aber wir sind die einzige Spezies, die Fantasie einsetzt. Wir erschaffen jeden Tag reale, wahrscheinliche, mögliche, unmögliche und absurde Szenarien. Eine uferlose Menge an Möglichkeiten für Fiktion, für Fiction.

Wir erschaffen Dinge, die in der Natur nicht existieren, zum Beispiel Symbole. Aber auch Geschichten, Gesetze, Institutionen, Regierungen. Das ist alles künstlich. Und alles dreht sich um Informationsaustausch: erzählen, Bündnisse schließen, ein soziales Gleichgewicht herstellen oder es erschüttern, tratschen.

Aber es gibt eine Reihenfolge. Wie Studien zu heutigen Jägern und Sammlern der Kalahari-Wüste oder auf den Philippinen offenbaren, zeigen deren Kommunikationsweisen deutliche Unterschiede. Sie reden im Laufe des Tages über praktische Dinge, Wanderungen und Nahrung, tratschen aber auch über Positionen in der Gruppe, gesellschaftliche Ziele und Rivalitäten. Über ganz persönliche Dinge oder über die Versorgungslage, ohne jede Fantasie. Wenn sie sich allerdings abends nach der Jagd versammeln, werden die Gespräche entspannter, fallen Widerstände. Im Mondlicht um ein Feuer herum hockend, erzählen sie sich Geschichten, singen und tanzen. Die Gruppe rückt zusammen.

So ist es immer: Wenn Entspannung einkehrt, kommt die Fantasie zu Wort. Kommen einem die schönsten Ideen nicht dann, wenn man den Kopf freibekommen hat? Man denke an die Gespräche mit Kollegen im Büro am Kaffeeautomaten, an die Diskussionen mit der Ehefrau oder dem Ehemann, wie und wo man zu Abend essen soll, oder an die Situation, in der man seinem Ärger über den Chef Luft macht. Aber am Abend liest man seinen Kindern eine Gutenachtgeschichte vor, schaut sich auf Netflix einen Film an, tanzt in einer vollbesetzen Diskothek oder singt auf einem Konzert aus voller Kehle mit. In Hunderttausenden von Jahren der Entwicklung haben sich unsere Kommunikation und die Muster ihrer Umsetzung keinen Deut verändert.

Um das zu zeigen, erzähle ich zwei lange Geschichten. Zwei ganz unterschiedliche. Sie bestehen ihrerseits aus zahlreichen Einzelerzählungen, aus Handlungssträngen, die sich nicht überschneiden. Diese Stränge ähneln sich stark, haben viele Zutaten gemeinsam, auch wenn sie nicht miteinander verbunden sind. Aber die großen Geschichten sind ganz unterschiedlich. Eine besteht aus Detektivarbeit, Wettrennen um Ergebnisse, Ambitionen und Genugtuung; die andere erzählt von Ruhe, Zeit, Wachstum, Geduld und Kontrolle. Eine handelt von ungelösten Rätseln, die andere von Erfindungen; eine von Versuchen und dem unerwarteten Untergang, die andere von Verwicklungen mit glücklichem Ausgang. Welches die eine und welches die andere ist, wird schon bald deutlich. Aber am Ende sind es nur Geschichten.

Funke

Ehe wir uns auf diese Geschichten einlassen, müssen wir allerdings einige vorausgehende Fragen klären. Nützlich ist vor allem eine provisorische Antwort auf die Frage: Wie entsteht eine Schrift? Befassen wir uns also ernsthaft mit dem Anfang, dem Beginn des Ganzen. Wenden wir uns dem Augenblick zu, in dem die Symbole entstanden, die Zeichnung eines Dinges zu dessen Bezeichnung wurde. Ich zeichne ein Pferd, und wenn ich Sprache artikulieren kann (wie die Sapiens und wohl sogar schon die Neandertaler vor Tausenden von Jahren), nenne ich es «Pferd». Prähistorische Kunst ist wunderschön, faszinierend, ja raffiniert, aber auch rätselhaft: Vielleicht stellt diese Pferdegestalt auch etwas anderes dar. Vielleicht ist es nicht einfach ein steinzeitliches Reittier, sondern eine Fantasiekreatur: ein hornloses Einhorn, ein Pegasos ohne Flügel. Was es wirklich darstellt, erfahren wir nie. Das Rätsel, das uns fasziniert hat, lässt uns am Ende ratlos zurück.

Und dann ist eine Zeichnung immer noch eine Zeichnung, sie hat ein Potenzial, aber keine Stimme, sie bleibt stumm. Gezeichnet wurde millionenfach, in Jahrtausenden, an Hunderten Orten auf der Erde. Und so zeichneten auch die Sumerer vor fünftausend Jahren in Mesopotamien Gegenstände und Zahlen auf Tontafeln.

Auf diesen Täfelchen hielten sie kleine Tauschgeschäfte fest, die im Umfeld mesopotamischer Tempel anfielen. Denken Sie an eine Einkaufsliste mit Symbolen in beliebiger (ungeordneter) Reihenfolge, mit denen Schreiber Gedächtnisse entlasteten. Eine Art frühgeschichtliche Stenographie mit (nichtphonetischen) Symbolen, die für Zahlen stehen.

Wenn ich Sie fragen würde, ob dies eine Schrift ist, bekäme ich ein Nein zur Antwort. Und damit bin ich einverstanden. Aber hier wird der Boden bereitet für eine großartige, glänzende Intuition, die diese Erfindung möglich machen wird. Nicht nur im Mesopotamien in der Zeit um 3100 v. Chr., sondern auch in China, Ägypten und Mittelamerika zu verschiedenen Zeiten, und auf immer dieselbe Weise aufgrund des gleichen brillanten Geistesblitzes. In vier magischen Momenten, getrennten und voneinander unabhängigen, glomm ein Funke auf, und das Rad der Erfindung begann sich zu drehen. Und vielleicht gab es im Verlauf der Geschichte zahlreiche weitere Erfindungen dieser Art.

Wenn Sie glauben, dass es schwierig ist, genau diesen Augenblick nachzuvollziehen, der doch unter dem Schutt vergangener Jahrtausende, in den Grabungsschichten verborgen liegt und rekonstruiert werden muss, dann täuschen Sie sich. Das Wunder an allem ist, dass wir uns das mesopotamische Strichmännchen wie in einem Film vor Augen führen können, während es seinen Ton bearbeitet und den Schreibgriffel zur Hand nimmt. Wir sehen es auf einem Schemel sitzen, wie es die Tafel herstellt, von Hand Felder einritzt, um Platz zu schaffen für Dinge, die es festhalten will, wie es diese zählt und ihre Menge einträgt. Es sind Dinge, die dem Tempel zurückerstattet werden müssen: Oben rechts zeichnet es ein Rohr (im Sinne von Schilf) in den Ton: «Rohr» heißt auf Sumerisch DSCHI, ein Laut, der aber zugleich auch für das Verb «erstatten» steht.

Magie oder besser Überraschung: Hinter ein und demselben Laut stehen zwei völlig verschiedene Bedeutungen. Das Männchen hat plötzlich festgestellt, dass es das Symbol für das Rohr auch zur Bezeichnung von etwas ganz anderem verwenden kann, das mit einem bildhaften Zeichen offenbar nicht darstellbar ist. Und so nutzt es eines seiner Logogramme, um ein Wort mit anderer Bedeutung, aber mit gleicher Lautung darzustellen. Unbeabsichtigt, geradezu instinktiv ist ihm in seinem sumerischen Gehirn ein Licht aufgegangen: Er hat ein Wortspiel erfunden und es festgehalten – nach dem sogenannten Prinzip der Homophonie, das ganz einfach, intuitiv und natürlich funktioniert. Und wie wir noch sehen werden, nutzen wir dieses Prinzip bis heute. Beispiele fallen uns ganz spontan ein, und manche sind sogar zum Lachen komisch. Wenn ich den Staub der Jahrtausende beiseite wische, kann ich mir dieses mesopotamische Männchen vorstellen, wie es Zeichen in den Ton ritzt und über seinen ulkigen Einfall lächelt. So wie ich lächle, wenn bei mir auf WhatsApp ein homophones Emoji eingeht. Ob sich dieses Männchen bewusst war, was es mit seinem Einfall auslösen würde, ist eine andere Geschichte. Aber es ist ziemlich unwahrscheinlich.

Täfelchen

Wir müssen vorsichtig sein, wenn wir von «Erfindung der Schrift» reden. Diese Erfindung hat sich nicht in einem mechanischen Ablauf vollzogen, mit einer genauen und gezielten Auswahl von Zeichen, um Laute darzustellen, um ein funktionstüchtiges, ökonomisches und vollendetes System zu schaffen.

Und wir dürfen uns den Schreiber auch nicht als einen erhabenen Priester vorstellen, der sich an einem regnerischen oder schwülen Tag vornimmt, allein, konzentriert und planvoll kleine Zeichnungen anzufertigen, um die Protokeilschrift oder die altchinesische Schrift zu erfinden, und sie dann an einem Tag fertigstellt.

Dennoch sind manche Schriften von Einzelnen planvoll entworfen worden. Einige begegnen uns noch in diesem Buch, so die Cherokee-Silbenschrift, die Sequoyah 1821 auf der Grundlage des lateinischen und des griechischen Alphabets für die Sprache der Cherokee in Nordamerika entwickelt hat. Er wurde zum Nationalhelden. Oder wie das Alphabet Hildegard von Bingens, der Benediktineräbtissin aus dem 12. Jahrhundert. Oder die Semisilbenschrift, die der kamerunische König Njoya am Ende des 19. Jahrhunderts für das Volk der Bamun entwickelt hat. Aber dies sind abgeleitete Kunstprodukte, die von oben – vor allem im Fall der Bamun-Schrift –, von Herrschenden durchgesetzt wurden.

Die Erfindung der Schrift wurde nicht am grünen Tisch beschlossen.

Vielmehr ist die Schrift – insbesondere die aus dem Nichts, von Grund auf neu erschaffene – das Ergebnis einer koordinierten, kumulativen und schrittweisen Entwicklung.

Die Schrift als ein vollständiges, strukturiertes und organisiertes System ist eine Errungenschaft der vielen. Und die haben kommuniziert, Meinungen ausgetauscht, gestritten und sich geeinigt, um zu einem gemeinsamen, vereinbarten und normierten Repertoire aus Zeichen zu gelangen.

Schrift ist somit eine soziale Erfindung mit Verständigung, Koordination und Feedback als den Schlüsselfaktoren. Dies zeigen die kommenden Kapitel deutlich.

Ebenso wurde die Schrift nicht auf einen Schlag, sondern schrittweise erfunden. Ihre Entwicklung ist eine Maschinerie mit verschiedenen Getrieben, die häufig über mehrere Generationen hinweg liefen. Wie wir sehen werden, hat das Rad der Schriftentstehung einen Weg aus Experimenten, Versuchen und Anpassungen hinter sich gebracht. Und damit auch einen schrittweisen Prozess aus wiederholten und weitervermittelten Übungen.

Schauen wir uns nun die Buchstaben an, die auf dieser Seite zu lesen sind oder in einem beliebigen anderen Schriftsystem auftauchen, dem arabischen, hebräischen oder georgischen. Schauen wir uns diese Zeichen eines nach dem anderen an. Wie kamen sie zu diesen und nicht zu anderen Formen? Wieso hat sich genau diese und keine andere Anzahl an Zeichen etabliert? Und wie kam es zu der Entscheidung, welche Laute festgehalten werden und welche nicht?

Das alles ist die eigentliche Erfindung: der langwierige Prozess des Aushandelns, die gemeinsame Arbeit, die Erstellung eines kompletten, geordneten Systems. Eine runde Sache.

Der Eindruck drängt sich auf, dass Schrift ein kulturelles und kein naturgegebenes Produkt ist: eine Technik, ein Objekt, ein Artefakt. Und doch folgen die Formen der Zeichen der uns umgebenden Natur und ihren Umrisslinien. Sie gleichen sich der Anatomie unserer visuellen Wahrnehmung an, nehmen die Gestalt der Dinge an, die um uns sind und unsere Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Und die Laute hinter den Zeichen ergeben spontane Wortspiele, surfen auf unserer angeborenen Fähigkeit, Bedeutungen zu übertragen, uns in Abstraktionen zu ergehen, entlegene Verbindungslinien zu ziehen und Symbole zu erkennen. Tatsächlich ist Schrift etwas Geschaffenes, aber auch etwas in der menschlichen Natur Angelegtes, das tief in unserer plastischen und vielseitigen Fähigkeit wurzelt, die Welt mit eigenen Augen zu sehen und sie dabei aber gleichzeitig auch, quasi per Magie, auf ganz andere Art wahrzunehmen. Darin liegt alles: in unserer Natur, die voller Überraschungen ist, auch wenn wir ein materielles, festes und statisches Objekt erschaffen.

Natur

Die Linie

Schauen Sie sich die Dinge um sich herum an. Betrachten Sie ihren Linienverlauf, ihre Umrisse und Abschnitte: Wie schneiden sich die Linien? Welche Formen ergeben sie? Die Fensterrahmen bilden Rechtecke, die Oberflächen der Tische mit ihren Füßen umgedrehte Ls, die Anschläge zwischen zwei Türflügeln Ts und die ovale Lehne eines Sessels ein D; dazu die senkrechte Gerade der Strommasten, die umgedrehten Vs der Berge, der Kreis der Sonne, die Asteriske der Sterne, die chaotischen Kringel einer abgerollten Schnur, die gewundenen und verwickelten Computerkabel.

In den Dingen existiert ein Alphabet, und nicht zufällig. Wenn man darauf achtet, genau hinsieht, tritt aus den Umrissen der Dinge eine ganze Architektur aus Buchstaben hervor. Es ist geradezu offensichtlich: Unsere visuelle Wahrnehmung ist für Linien, für Kontraste deutlich empfänglicher als für die flachen und formlosen Oberflächen, die sie umschreiben. Was sich an den Rändern, den Säumen, den Grenzen abzeichnet, zieht unsere Aufmerksamkeit auf sich – das Innere ist eher uninteressant. Auf diese Entdeckung sind beinahe versehentlich die Neurophysiologen David H. Hubel und Torsten N. Wiesel gestoßen und haben dafür den Nobelpreis bekommen.

Wir sind durch und durch visuelle Wesen, also eine Spezies, die sich wie kaum eine andere auf das Sehen stützt, um sich in der Welt zurechtzufinden. Unter unseren Sinnen ist die optische Wahrnehmung der vorherrschende. Und doch wurden die Funktion der Sehfähigkeit und der visuelle Cortex, die Sehrinde, erst relativ spät entdeckt. Ab den 1950er Jahren zeichnete der Neurophysiologe Hubel die Aktivität der Sehzellen von Katzen als Versuchstieren auf. Seine Experimente zogen sich über Jahre hin, begleitet vom Schnurren der Fellträger, die dauernd abgelenkt waren und nie stillhalten wollten.

Das Ziel bestand darin, die Hirnaktivität der Katzen nachzuvollziehen, während vor ihnen schwarze oder weiße Kleckse auf eine Leinwand projiziert wurden. Wie nahmen sie diese wahr? Experiment um Experiment hatten die Kleckse keinerlei Effekt, ihre umrisslosen Formen lösten keine neuronale Reaktion aus. Das Katzen-Enzephalogramm blieb flach. Bis die Forscher eines Tages das Glas mit dem Klecks in den Projektor schoben und dessen Rand eine Linie auf die Leinwand zeichnete. Daraufhin trat im Katzengehirn etwas in Aktion: Eine Linie, obwohl nur dünn, übte auf die Netzhaut der Tiere einen spürbaren Reiz aus. Die unwiderstehliche Kraft der Linie.

Die Linien, die Profile in unserer Umgebung bilden die ersten Anhaltspunkte, anhand derer wir unsere Umwelt wahrnehmen und verstehen können. Unser Gehirn liefert uns die Pixel der Bilder, die Steinchen des zu rekonstruierenden Mosaiks. Es zeigt uns nicht wie eine Kinoleinwand alles, was sich vor unseren Augen abspielt. Und die elementarsten Pixel, die ersten Steinchen der Welt, sind Umrisse. Nicht die Flächen, die sie umschreiben.

Wenn es also die Ränder sind, die die Aufmerksamkeit unserer Neuronen wecken, dann ist es kein Zufall, dass sich in den Linien und Gestalten der Dinge der Welt ein Alphabet abzeichnet, das dem von Buchstaben ähnelt. Die jeweiligen Linien treten sogar gleich häufig auf. Wenn wir sämtliche Schriftsysteme der Menschheitsgeschichte betrachten, ohne Rücksicht darauf, wann und wo sie entstanden, sehen wir, dass die Formen der Zeichen gleich häufig verteilt sind. Kombinationen aus Linien, die ein L oder T bilden, sind in den Schriftsystemen verschiedener Epochen in ihrer Häufigkeit gleich (stark) vertreten. Das X oder das F taucht seltener auf. Das Überraschende dabei ist, dass diese Verteilung nicht nur in der Schrift, sondern auch in den Gestalten der natürlichen Welt die Regel ist.

Es ist, als habe sich die Schrift in ihrer Entwicklung den Umrissen der Natur anzupassen versucht, um sich besser wahrnehmbar und leichter lesbar zu machen. Wie die Linie, die die Aufmerksamkeit von Hubels Katze erregt. Die Neuronen unseres Gehirns haben intuitiv oder aufgrund einer natürlichen Veranlagung Formen ausgewählt, die an bereits Gesehenes und damit Erkennbares erinnern. So wurde der Prozess, der mit der Wahrnehmung der Dinge einhergeht, geradezu brutal für etwas anderes wiederverwertet: zum Erkennen von Schriftzeichen. Ich sage deshalb «brutal», weil die Erfindung der Schrift im unserem Gehirn Raum beansprucht hat – wenn auch ohne es physiologisch zu verändern. Der besetzte Raum (das okzipito-temporale Areal) war bereits vorhanden, aber für etwas anderes vorgesehen: für die visuelle Wahrnehmung der Dinge. Ein echtes neuronales Recycling. Auf diese Art hat der Mensch, indem er reduzierte, mit Formen spielte und diese vor allem vereinfachte, nicht nur Neues erfunden, sondern es auch mit der Zeit auf fast natürlichem Weg leichter erkennbar gemacht. Wie wir sehen werden, sind die Zeichen dadurch nicht immer leichter wahrzunehmen oder zu entziffern. Aber so viel: Das Alphabet der Natur bildet die DNA der Schrift.

Nulla dies sine linea, sagte Plinius der Ältere. Kein Tag ohne Linie. Und nun heben Sie den Blick und suchen Sie die Buchstaben in der Welt.

Die Dinge

Diese Darstellung ausgehend von den Linien gilt (offenkundig) für «lineare» Schriften, also für diejenigen, die auf einer höheren Stufe der Stilisierung mit Zeichen operieren, welche nicht sofort als bestimmte Dinge wie eine Hand, ein Fuß oder ein Baum zu erkennen sind. Diese Zeichen haben einen klaren Bezug. Und hier wird es komplizierter, denn die von ihnen dargestellten Dinge sind nur deshalb verständlich, weil wir sie schon gesehen haben. Aber Erkennbarkeit taucht in vielerlei Abstufungen auf und ist häufig subjektiv. Die Schrift entsteht, um den Dingen, die wir sehen, eine Bezeichnung zu geben und sie festzuhalten. Keine Verben oder Handlungen, sondern Listen von Dingen.

Über den Begriff «Ding» könnten wir eine lange und intensive philosophische Erörterung beginnen, aber das überlassen wir besser den Berufsphilosophen. Der vorsokratische Naturphilosoph Thales von Milet soll beim Spaziergang forschend in den Himmel geblickt haben und deshalb in einen Brunnen gestürzt sein. Ein vorbeikommendes Mädchen verspottete ihn: «Du willst die Dinge des Universums ergründen, aber was ist mit denen vor deinen Augen?» Das Altgriechische verwendete das Wort ta für sämtliche Dinge, eine einzige Silbe mit einem ganzen Strauß an Bedeutungen. Aber dem stehen die konkreten Dinge wie die Löcher in der Straße entgegen.

Wir reden folglich vom Konkreten. Schriften und «Dinge» standen von jeher in einer sehr engen Beziehung zueinander. Beide sind per Definition greifbar und beständig. Machen wir dazu ein Experiment: Nehmen Sie Papier und Stift zur Hand und zeichnen Sie nur ein Ding. Sie haben dreißig Sekunden. Was haben Sie gezeichnet? Mit hoher Wahrscheinlichkeit einen Gegenstand. Ein Haus? Ein Fahrrad? Eine Schokokugel? Das Gleiche käme wohl heraus, obwohl weniger vorhersagbar, wenn ich Sie auffordern würde, an ein einzelnes Ding zu denken: Sie dächten wohl weniger an Glück oder die Relativität. Vielmehr dächten Sie an etwas Konkretes.

Auf der Grundlage dieser Konkretheit ist fast jede Schrift entstanden. Und so gehen wir heute noch vor, wenn wir zum Beispiel Handlungen mit Bildern darstellen wollen, bei denen es sich um abstrakte und damit nur schwer abzubildende Begriffe handelt. Denken wir an die Icons auf dem Computerbildschirm. Das Zeichen des Papierkorbs steht bildhaft für «wegwerfen», «löschen», oder das Icon der Lupe für «suchen». Und so funktionieren auch fast sämtliche Emojis: Das Flugzeug steht für «fliegen», das Herz nicht für «herzen», sondern für «lieben», der aufgereckte Daumen für «liken». Die Handlung wird durch das Werkzeug ausgedrückt, mit dem sie ausgeführt wird oder das sie ermöglicht.

Dinge haben in der Zeit Bestand, sie sind nicht flüchtig wie die Bewegung, die Geste oder die Handlung. Wenn wir sie mitteilen, insbesondere durch eine Zeichnung oder durch Schrift, wecken wir eine tiefsitzende Intuition: Wir spüren, dass Objekte eine kognitive Beständigkeit haben, die sie deutlicher erkennbar und unmittelbarer macht. Eben festgefügt. Sie sind da und bleiben. Handlungen haben ein dynamisches Element, das sich schwerer zu Papier bringen lässt: Die Handlung besteht aus Bewegung, die Geste verfliegt.

Schrift ist das Gegenteil: materiell, fest, reglos. Sie ist – wie die Dinge – beständig.

Sie schreibt auch die Tat fest und verdinglicht sie, macht sie zur «Sache». Und so geht aus der Kraft der Schrift, aus deren Beständigkeit, auch deren engste Fessel hervor: Wie das Ding steht auch die Schrift da.

Abbildung 1   Beispiele für ikonische Zeichen in den frühesten Schriften (ägyptische Hieroglyphen, archaische Keilschrift, Nahuatl, kretische Hieroglyphen, Maya und anatolische Hieroglyphen)

Die Icons

Die Listen der Dinge, aus denen die Schrift hervorging, wurden in Form erkennbarer Ikonogramme dargestellt: ein Napf, eine Ähre, ein Pferd, ein Berg, ein Fisch.

Die Ikonogramme der Anfänge waren schöpferisch, vielgestaltig, aber auch präzise gezeichnet, mit einem abgestuften Bezug zur Realität, der auf Ähnlichkeiten und Analogien beruhte: Der Teil fürs Ganze (der Stierkopf für das Rind, das Schamdreieck für die Frau) oder die charakteristischen Umrisse für ein kompliziertes Objekt (Wellen für Wasser, Sterne fürs Firmament). Eines blieb indes konstant: die Bedeutung der Zeichnungen musste erkennbar sein. Und dies gilt für alle Icons: ob gemalt oder gezeichnet, ihre Form und ihre Bedeutung müssen einander zuordenbar und wechselseitig erkennbar sein, ohne jede Willkür bei ihrer Deutung – sie werden «gelesen» und verstanden. Bei der Erkennbarkeit gibt es tausenderlei Abstufungen. Das Bildzeichen muss nur die Umrisse eines Gegenstandes haben, der eine genaue Bezeichnung hat.

Seit Jahrhunderten fragt man sich, welche Beziehung zwischen den Namen, die wir den Dingen geben, und deren Realität herrscht. Ist es eine Sache der Konvention, einem Objekt, einer Entität einen bestimmten Namen zuzuweisen und anzuheften? Oder bringen die Namen das Wesen dessen zum Ausdruck, was sie natürlich, ohne künstliches Zutun, darstellen?

Die Vorstellung, dass alle Namen den Objekten, die sie darstellen, wirklich ähnlich seien, ist problematisch. Haben wir womöglich nur nackte, inhaltslose Bezeichnungen? Laut Platon führen Namen in die Irre, und sie werden nicht immer wegen ihrer Ähnlichkeit, sondern durch Gewohnheit festgelegt. Für Shakespeare besteht zwischen Name und Sache eigentlich keine Beziehung: a rose by any other name would smell as sweet – Julia empfände für Romeo auch dann wahre Liebe, wenn er mit Familienname Müller hieße. Konvention, Gewohnheit, Tradition. Und den Gnadenstoß verabreichte dieser Vorstellung vor einem Jahrhundert der Vater der modernen Sprachwissenschaft, Ferdinand de Saussure, persönlich: Zwischen Wörtern und Dingen besteht keine natürliche Ähnlichkeit; Zeichen und Bedeutung haben nichts miteinander zu tun, ihre Beziehung zueinander ist schwach, kapriziös, arbiträr. So kam das Wort «Rose» zustande, wie auch alle übrigen Wörter. Ende der Geschichte.

Tatsächlich sehen wir das heute weniger streng. Zwar besteht zwischen Wort und Natur eine nur unbeständige Verbindung, aber zuweilen überrascht uns doch, wie markant sie ist. Die Ikonizität, so vorhanden, ist tatsächlich sichtbar und auch spürbar. Die Zeichensprache ist zum Beispiel per Definition visuelle Ikonizität. Dagegen kann ich in der gesprochenen Sprache ein Wort wiederholen, um die Mehrzahl anzugeben (zumindest im Indonesischen: Orang-orang bedeutet «Menschen») oder zur Betonung Vokale verlängern: Jaaaa. Naaaa. Das ist kein umgangssprachlicher Ton, sondern sprachliche Ikonizität.

Oder ich kann auch Lautmalereien nutzen, sogenannte Onomatopöien, Wörter, die Töne nachahmen oder reproduzieren wie die Tierlaute «miau», «wau» oder «muh». Auch andere Wörter ahmen Geräusche nach wie «krächzen», «flüstern» oder «dröhnen». Jede Sprache hat zur Onomatopöie eine besondere Beziehung. Im Italienischen ist diese eher schwach ausgeprägt, während das Japanische deutlich kreativer ist: So ist zum Beispiel ein leichter Gegenstand, der rollt, ein korokoro, während ein schwerer ein gorogoro ist. Man hört die Gegenstände mit ihrem unterschiedlichen Gewicht geradezu voranrollen, mit wiederholten Silben, die eine anhaltende Bewegung wiedergeben. Auch wenn sie flink und rasch ist. Versuchen Sie es, ohne auf die Fußnote zu spicken (schummeln gilt nicht): Was ist wohl ein tekuteku?[1] Und ein pyonpyon?[2] Kurz, das sind Wörter, die ein klares und lebendiges Bild erstehen lassen. Ihre Lautung ist ikonisch (und Sie haben geschummelt).

Das Englische hat noch Besseres zu bieten. In den Comics aus meiner Kinderzeit verpassten Batman und Robin den Bösewichten vom Dienst ordentliche Abreibungen, und zwar so realistisch und anschaulich, dass ich immer mitgelitten habe: CRASH! BANG! ARRRGH! Die Sprechblasen ahmten den Lärm der Prügeleien nach. Wegen der lautmalenden Schlägereien hieß ein Superbösewicht bei Batman sogar «Onomatopoeia». Die Ikonizität hat eine so eindringliche Kraft, dass sie zu einer physischen Person wird. Auch deshalb, weil sie nur auf Papier gut funktioniert. Man stelle sich einen Film mit einem Schurken vor, der eine Pistole abfeuert und «BANG» sagt: Er stünde als Idiot da.

Sämtliche erfundenen Schriften prägte eine besonders kraftvolle Ikonizität der Zeichen (Abb. 1). Wir können sogar sagen, dass diese grafische Ikonizität das erste echte Sprungbrett zur Entwicklung der Schrift darstellte. In China, Mesopotamien, Ägypten und Mittelamerika, aber auch anderswo redeten Ikonogramme und sagten, für welche Wörter sie in der jeweiligen Sprache standen: im Altchinesischen, Sumerischen, präpharaonischen Ägyptisch und Proto-Maya.

Aber hier beginnen die Probleme: Welche Beziehung besteht zwischen echten Ikonogrammen und Symbolen, deren Bedeutung nicht klar, transparent und erkennbar ist? Wie berücksichtigen wir die Abstraktion?

Abbildung 2   Handabdrücke in der Cueva de las Nanos in der argentinischen Provinz Santa Cruz

Die Symbole

Symbole sind so alt wie die Menschheit, und damit meine ich nicht nur den Homo sapiens. Schon in den steinzeitlichen Wandmalereien von vor vierzigtausend Jahren taucht neben den naturalistischen Darstellungen und «lesbaren» Tier-Ikonogrammen eine Reihe abstrakter Zeichen auf. Und seltsamerweise finden wir die gleichen an anderen Standorten derselben Epoche auf der ganzen Welt vor: von den Höhlen von Lascaux und Chauvet in Frankreich über die Insel Sulawesi in Indonesien bis zur Blombos-Höhle in Südafrika, die in schon deutlich früherer Zeit von Menschen besiedelt war.

Um Malereien von Pferden, Guanakos und gesichtslosen Menschen herum gruppieren sich 32 einfache, aber wunderschöne geometrische Formen: Kreise, Asteriske, Zickzackkurven und Dreiecke, parallele Linien, Spiralen und Handnegative, die mit Schablonen auf den Fels aufgebracht wurden (Abb. 2). Ähnliches findet sich auch in verschiedenen anderen Teilen der Welt. Es sind keine Kritzeleien, sondern tiefgründige und kraftvolle Signaturen, die wie die Erfindung von Gebrauchsgegenständen oder die Entdeckung des Feuers eine der Sternstunden in der Geschichte unserer Spezies markieren. Sie bekunden die für uns alle unwiderstehliche Absicht, einer Sache Ausdruck zu geben, Bedeutung zu spenden, irgendeine, sei es auch unbeholfen mit einfachen Strichen. Ihre Kraft liegt in der Botschaft: Dies wird bleiben, und zwar weit über den Moment hinaus, den ich der Zeit stehle, um sie zu erschaffen.

Wer diese Malereien gezeichnet hat, kannte auch ihre Bedeutung, denn er hat Sprache und mündlichen Ausdruck mit grafischer Kreativität verknüpft. Damit sind sie die erste Form der Mitteilung eines abstrakten Gedankens, auch wenn sie uns heute unlösbare Rätsel aufgeben. Sicher handelt es sich nicht um Schrift, aber um ein erstes schöpferisches Aufblitzen, das in eine (möchte ich sagen) fast unvermeidliche Richtung deutet.

Unsere Spezies wird von Symbolen beherrscht, die wir aber nicht immer entziffern können. Auch ihren Ursprung und ihre Entwicklung können wir nicht rekonstruieren. Woher stammen sie? Warum wurden sie erschaffen? Welches ist der Funke der Abstraktion?

Wenn wir etwas Bestimmtes mit einem besonderen Namen durch ein Bild/Icon darstellen, haben wir ein Zeichen erschaffen. Solche Zeichen heißen oft «Piktogramme». Der Begriff ist unangemessen und verwirrt, weil diese Zeichnung in dem Moment, da sie zur Bezeichnung des Dargestellten wird, keine mehr ist. Sie wird zum Zeichen. Und damit zu einem Ansatz von Schrift.

Ich zeichne die Schnauze einer Katze und nenne es «Katze» und nicht «cat» oder «chat». Ich führe das Zeichen ins sprachliche Reich des Deutschen ein. Die Katze wird zu einem Logogramm meiner Sprache, zu einem Zeichen, das auf das deutsche Wort «Katze» und auf kein anderes verweist. Der Name hat Substanz erhalten, die fellige Substanz der deutschen Katze.

Ich zeichne ein Bein und nenne es «Bein» – ein Logogramm. Ich zeichne einen Fuß, der allerdings für das Tätigkeitswort «gehen» steht. Ich habe vom materiellen Fuß abstrahiert und ihn gleichsam in Bewegung gesetzt. Jetzt habe ich etwas anderes, nämlich ein Ideogramm geschaffen, indem ich mit den Grenzen der Wortbedeutungen gespielt und diese in ihren Möglichkeiten erweitert habe. Aber damit ist die Bedeutung des Zeichens auch unklarer geworden. Ich habe auf wunderbare, unwiderstehliche Weise Verwirrung gestiftet.

Wie sind wir auf sie gekommen? Auf diese Zeichen für Herren und Damen, die auf die jeweiligen Toiletten in Restaurants hinweisen, auf die Verkehrszeichen, die Textilpflegesymbole, die Musiknoten und all die Zeichen, die wir täglich entziffern, um uns in unserer Welt zurechtzufinden. Vom Erkennen geometrischer Linien in Objekten bis zu unserer Fantasie, wenn wir Bedeutungen übertragen: Wir spielen jeden Tag mit der Natur und dem Leben der Symbole. Und wie wir noch sehen werden, amüsieren wir uns dabei sogar häufig.

Kehren wir zu den eingangs erwähnten Geschichten zurück. In der ersten, die ich erzähle, weht uns der Geruch des Meeres, aber auch der Duft von drei Zutaten an, die auf uns gewaltigen Einfluss ausüben und unsere Intelligenz, Fähigkeit zur Logik und Intuition beanspruchen. Alle drei fordern uns heraus, andere gründlich zu verstehen, treiben uns auch an, genauer hinzuschauen, die Gegebenheiten unserer Umwelt kennenzulernen, zu überprüfen und zu interpretieren.

Die Zutaten sind das Geheimnis, der Wettbewerb und das Experiment.

Fußnoten

Ein geschwinder Spaziergang.

Ein Hüpfer.

UNENTZIFFERTE SCHRIFTEN

Inseln

In unserer ersten Erzählung sind das Geheimnis, der Wettbewerb und das Experiment mit Inseln verwoben. Auch wenn wir uns von Inseln als solchen eine falsche Vorstellung machen: die von urzeitlichen Ökoparadiesen, archaischen Idyllen mit überbordender, wildwuchernder und alles beherrschender Vegetation, in der man die Zivilisation weit hinter sich lässt. Inseln dienen uns als Orte der Zuflucht, die einfaches Leben verheißen. Als Orte, an denen man leicht vergessen kann.

In dieser Geschichte sind Inseln allerdings das Gegenteil: Schichten einer komplexen Gesellschaft, den anderen häufig voraus, hochentwickelte Zentren, in denen experimentiert und kreiert wird. Aktive Heimstätten, an denen darauf hingearbeitet wird, in Erinnerung zu bleiben. Und zwar rastlos. In dieser Geschichte stehen Inseln für das Aufblitzen von Schöpfung und Ambition, für die Behauptung von Identität. Auf den Inseln dieses Kapitels herrscht ein kraftvolles, tiefes Bedürfnis, das uns wohl alle verbindet: zu zeigen, dass man einzigartig ist.

Dies ist anscheinend eine wesentliche Zutat von Schriften, die auf Inseln entstanden sind. Eine Vielfalt, die beinahe zwangsläufig Rätsel aufgibt. Heute liegen uns ungefähr ein Dutzend alte Schriften vor, die wir nicht lesen und verstehen können. Sie warten immer noch auf ihre Entzifferung. Und fast alle werden in diesem Buch behandelt, vom Voynich-Manuskript bis zur Indusschrift – auf einem Weg, der über Inseln führt. Denn tatsächlich stammt die Hälfte dieser unentzifferten Schriftsysteme von einer Insel: von Zypern, Kreta und der Osterinsel. Wie hängen diese (bislang) noch nicht dechiffrierten Codes mit der räumlichen Begrenztheit von Inseln zusammen? Oder sind sie im Grunde deren logische Folge?

Mysterium und Kreativität, Geheimnis und Innovation, Vielfalt und Wettbewerb. Aber es fehlt ein weiteres Element: Auf Inseln stellt die Erfindung einer Schrift auch ein Experiment dar. Und in deren bewegter Geschichte ist dieser Versuch, zumindest auf lange Sicht, häufig gescheitert. Wie wir sehen werden, bringt die Inselseele offenbar Unvollständiges, Skizzenhaftes und Unvollendetes hervor. Der kreative Blitz erlischt und wird zum toten Gleis. Unsere isoliert entstandenen Schriften sind oftmals keine Erfolgsgeschichten. Weder für sich, weil sie ausstarben, noch für uns, die wir ihre Geheimnisse nicht lüften können.

Dennoch steht hinter allen Schriftexperimenten das hartnäckige Bestreben nach Existenz und Dauerhaftigkeit. Aber sie krankten häufig am Fehler, auf lokaler Ebene zu verharren, anstatt anderswo nach Lebenssaft zu suchen, ferne Orte zu erkunden. In ihrem beharrlichen Versuch, sich eine Existenz zu schaffen, machten sie an den Ufern des Meeres halt.

Kreta

Unentziffert. Nicht entschlüsselte Codes. Auf Kreta tauchten vier Schriften auf: die kretischen Hieroglyphen, die Linearschrift A, die Schriftzeichen auf dem Diskos von Phaistos und die Linearschrift B. Einzig von der letzten ist die Sprache bekannt. Wie ist dies möglich? Wieso ist unsere Kenntnis so begrenzt? Wieso wissen wir so wenig über die Sprachen dieser Insel? Genügen viertausend Jahre Geschichte, um alles in Stille zu begraben?