Norbert Scheuer, 1951 geboren, studierte physikalische Technik und Philosophie. Er lebt in der Eifel und arbeitet als Systemprogrammierer. Bei C.H.Beck erschienen «Flußabwärts» (2002), «Kall, Eifel» (2006), «Überm Rauschen» (2009, war auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises und wurde 2010 von der Stadt Köln für die Reihe «Ein Buch für die Stadt» ausgewählt), sowie in einer überarbeiteten Nachauflage sein erster Roman «Der Steinesammler» (2010). 2011 erscheint der Band «Bis ich dies alles liebte. Neue Heimatgedichte», der alle Gedichte aus Norbert Scheuers vergriffenem Gedichtband «Ein Echo von allem» sowie neue Gedichte versammelt.
Norbert Scheuer erhielt zahlreiche Literaturpreise, zuletzt den Martha-Saalfeld-Förderpreis (2003), den 3sat-Preis beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb (2006) und den Glaser-Preis (2006), den d.lit-Literaturpreis (2010) und den Rheinischen Literaturpreis Siegburg (2010).
Leos Eltern hatten eine Wirtschaft in Kall in der Eifel, die sich nicht rechnete.
Um die Schulden zu bezahlen, arbeitet die Mutter jetzt in einer Kantine und kellnert im Gasthaus, das ihnen einmal gehörte.
Der Vater ist auf Montage.
Leo hat die Schule verlassen und arbeitet als Hilfsarbeiter im Zementwerk, er hat ein Verhältnis mit Ingrid, die verheiratet ist und ihn hinter den Müllcontainern liebt.
Leo ist ständig müde. Er sieht Lia, die früher in der Wirtschaft der Mutter half. Lia, die er liebt, die mit einem Verkäufer wegging und sich ein Kind machen ließ. Er sieht, wie sie mit der kleinen Clara zurückkommt und Hilbert heiratet, wie diese Ehe scheitert und Lia andere Männer hat, Clara eines Tages etwas zustößt und Lias Hut im Fluß treibt, neben dem die Jungs Fußball spielen.
Genau und lakonisch, mit einem feinen Gespür für Stimmungen und Landschaften und mit dem Erbarmen des geborenen Erzählers beschreibt Norbert Scheuer eine Welt, deren herbe Schönheit zuviel Unglück anzieht und der man doch standhalten muß.
Es schneite, das Flutlicht auf dem Sportplatz war noch nicht an, wir liefen im Halbdunkel herum, schossen uns den Ball zu, bis der Trainer schrie, daß wir uns in einer Reihe aufstellen sollten. Mein Freund Martin kam wie immer zu spät. Er arbeitete damals im einzigen Supermarkt unserer Stadt, sein Chef gab ihm nicht frei. Um halbwegs pünktlich zu sein, mußte er heimlich abhauen und vom Bahnhof, in dessen Nähe sich der Supermarkt befand, laufen. Er kam außer Atem an, drängte sich in die Reihe, stieß mich an und raunte, daß ihm saukalt sei und er keine Lust zum Trainieren habe. Claßen schimpfte wegen Martins Verspätung und hielt dann seine obligatorische Ansprache. Er sagte, daß es unser letztes Jahr in der Jugendmannschaft sei und wir den Aufstieg unbedingt schaffen müßten. Es donnerte von weit her, ein paar Blitze zuckten durch den Abend. Es war das erste Mal, daß ich ein Gewitter im Schnee erlebte. Irgendwie erschien mir alles, trotz der Ansprache des Trainers, still und unbewegt, als würde die Zeit einen Moment stehenbleiben. Flocken senkten sich auf unsere Köpfe und Schultern, blieben in unseren Haaren hängen. Die Flocken schienen wie Papierschnipsel, die lautlos vom Himmel taumelten. Weit entfernt hörte man die hinter Anstois verlaufende Schnellstraße, über die wir noch am Morgen zu unserer Ausflugsfahrt in die Eifel gestartet waren. Ich dachte an diese Tour, auf die Mutter sich das ganze Jahr über gefreut hatte, ich dachte daran, was Oma während der Fahrt erzählt hatte. Sachen, die mir rätselhaft waren und die ich nicht wirklich wissen wollte, vielleicht weil ich ahnte, daß sie mein Leben verändern würden. Martin zitterte, trat von einem Bein aufs andere und schimpfte über Claßen, daß der wieder kein Ende mit seinem Gerede fand. Wenn Autos über die Straße in Richtung Stadt fuhren, tauchten in ihrem Licht rote Sandsteinmassive auf. Sie lagen auf der anderen Flußseite hinter den Bahngleisen. Scheinwerferlichter drehten sich über dem Wald im Schneehimmel. Claßens Stimme kam als leises Echo von den Sandsteinfelsen zurück. Auf den Felsen wuchsen krüppelige Kiefern, deren Äste in den Himmel griffen. Wir hörten Claßen gelangweilt zu, weil wir nur zu gut wußten, was er sagen würde, er hatte seit Wochen kein anderes Thema als unser Spiel gegen Jünkerath. Wir wollten auch alle gewinnen, aber Claßen tat so, als gäbe es nichts Wichtigeres auf der Welt. Er fuhr mit der Hand über sein Gesicht, um den Schnee vom Schnauzbart zu wischen. Er sah in diesem Moment aus wie ein Seehund, der aus dem Wasser auftaucht und mit der Flosse übers Maul fährt, und dann schrie er, daß wir laufen sollten, laufen, laufen …
Zum Abschluß des Trainings kickten wir auf das Tor, das zur Urft hin lag. Vorher schlurfte Claßen durch den Schnee zu seinem alten Koffer, in dem er Trikothemden hatte. Wer ein Trikot bekam, spielte am nächsten Sonntag auf jeden Fall. Der Trainer hatte mich für den Sturm vorgesehen, obwohl ich viel lieber im Mittelfeld spielte.
Claßen machte beim Trainingsspiel mit, tapste hektisch durch den Schnee, forderte den Ball, stolperte am Verteidiger vorbei, dribbelte weiter und schoß, als ich ihn angriff. Der Ball verschwand über der Querlatte im Dunkel. Claßen wollte den Ball mal wieder nicht holen, er tat so, als hätte er sich bei meinem Angriff verletzt. Er hockte sich hin, hielt sich sein Knie und verzerrte das Gesicht, als hätte er sich sehr weh getan, und brüllte, ich solle den Ball holen. Widerwillig stapfte ich die Böschung zur Urft hinunter. Der Schnee lag am Ufer fast kniehoch. Etwas weiter flußabwärts, hinter den Stromschnellen und der Kläranlage, begann ein Gebiet, das im Frühjahr immer überschwemmt wurde und in dem wir früher oft gespielt hatten. Alle paar Jahre stieg das Wasser bis zur stillgelegten Bahnstrecke, die direkt neben der Straße nach Gemünd verlief. Wie ein zerrissenes gelbes Tuch schwamm das Flutlicht auf der Urft. Der Ball war im Fluß gelandet und trieb langsam ab. Martin rannte an mir vorbei, um ihn noch vor den Stromschnellen abzufangen. Ich suchte nach den Stecken, die wir für solche Fälle am Ufer liegen hatten. Sie waren zugeschneit. Als ich endlich einen gefunden hatte, erschien Claßen auf der Böschung. Er schrie:
«Leo, wenn euch der Ball forttreibt, müßt ihr dafür bezahlen.» Die Jungs, die bei ihm standen, lachten. Um den Ball zum Ufer zu lenken, schlug ich mit dem Stecken ins Wasser. Es war klar, daß ich an den Ball nicht mehr herankommen würde. Nur weil Claßen brüllte, stocherte ich noch weiter. In diesem Moment sah ich den Hut im Wasser, Lias Hut, Lia zog sich den Schlapphut immer bis über die Ohren, man sah kaum noch etwas von ihrem Gesicht mit den lustigen Augen. Ich versuchte, ihren Hut aus dem Wasser zu angeln. Ich hatte alles um mich herum vergessen und wollte nur noch den Hut. Ich versuchte ihn näher ans Ufer ziehen, aber die Strömung trieb ihn immer weiter vom Ufer weg. Ich bekam ihn mit der Steckenspitze nicht aus dem Wasser gehoben, da er vollgesogen und zu schwer war, er fiel schließlich zurück und tauchte ganz unter. Dann sah ich Martin, der auf den glitschigen Steinen der Stromschnellen ausgerutscht und beinahe ins Wasser gefallen war. Er schrie etwas, daß ich wegen des Wasserrauschens nicht verstehen konnte. Der Ball war schon an ihm vorbei, und ich suchte immer noch nach dem Hut, den ich ein paar Meter weiter flußabwärts zu sehen glaubte, als Claßen plötzlich neben mir stand, den Stecken aus meiner Hand riß, mich als Idioten beschimpfte und den Stock wütend in den Fluß warf.
Noch heute laufe ich in meinen Träumen am Ufer entlang, warte, daß Lias Hut wieder auftaucht und ich dann ihr Gesicht sehen werde.
Seither sind über zwanzig Jahre vergangen. Ich fahre manchmal samstags mit dem Zug nach Kall, um Mutter zu besuchen. Sie ist mittlerweile siebzig Jahre alt und lebt, seit Vater gestorben ist, in einem Altenwohnheim. Jahrelang war ich nicht bei ihr, aber seit ich mich von Hanna getrennt habe und wieder in Köln wohne, besuche ich Mutter hin und wieder. Ich weiß nicht genau, warum ich zu ihr fahre. Vielleicht tut sie mir leid, weil sie nun allein lebt, und ich denke, daß wir irgendwann alle allein sein werden. Und weil ich mittlerweile erfahren habe, wie schwer das ist. Vielleicht aber auch, weil ich hoffe, etwas von damals zu erfahren. Mutter redet nur wenig, sie fragt, wie es Hanna geht und was die Kinder machen, aber ich kann ihr nicht viel darüber erzählen. Ich glaube, daß es sie auch nicht wirklich interessiert. Ich fahre meist samstags, weil ich dann nicht arbeiten muß. Samstags sind nur wenige Reisende im Zug, Wandergruppen, die in die Eifel hinunter zu den Vulkanen und Maaren fahren. Eine schöne, rauhe, verlassene Gegend, in der ich geboren wurde und in der wir wohnten, bevor wir nach Kall umzogen. Der Zug braucht bis Kall etwa eine Stunde. Er fährt an Dörfern vorbei, an umgepflügten Rüben- und Maisfeldern. Von Überlandleitungen fliegen Starenschwärme auf, die sich jetzt im Herbst sammeln und unruhig über den Sandhalden des längst stillgelegten Bleibergwerks schwirren. Der Zug hält nur an wenigen Bahnhöfen. Jedesmal, wenn ich nach Hause unterwegs bin, habe ich den Eindruck, als würde ich in meine Vergangenheit zurückreisen, erinnere mich an Dinge, die ich glaubte, längst vergessen zu haben, und die ich für unwichtig hielt. Von Euskirchen ist es dieselbe Strecke, die ich früher vom Abendgymnasium zurückfuhr. Ich wollte damals unbedingt Ingenieur werden und aus der Eifel wegkommen. Heute scheint mir, als hätte alles, was ich damals erträumt und gewollt hatte, keine Bedeutung mehr. Ich weiß das jetzt, aber damals wußte ich es nicht, und vielleicht ist das gut so gewesen. Kurz vor der Stadt verschwindet der Zug in einem Tunnel – so lange wie man den Atem anhalten kann, ist es stockdunkel –, und wenn der Zug den Tunnel wieder verläßt, sieht man vom höher gelegenen Bahndamm auf die Stadt. Kall war früher einmal von Bedeutung, als in unserer Gegend noch Mangan und Blei abgebaut wurden. Die Erze wurden für die Rüstungsindustrie benötigt. Nach dem Krieg wurden alle Berg- und Hammerwerke der Gegend wegen Unrentabilität geschlossen, das weitaus billigere und reinere Erz wurde nun aus Spanien, Portugal und Brasilien importiert. Kall fiel wieder in die Vergessenheit einer kleinen Provinzstadt zurück. Vom Zugfenster aus kann man auf Industrieansiedlungen am Stadtrand hinuntersehen, auf den Baumarkt, die Bergwerkssiedlungen und das große Möbelgeschäft, in dem Hilbert damals arbeitete, als er noch mit Lia verheiratet war. Die meisten öffentlichen Gebäude sind viereckige, aus Fertigbetonelementen errichtete Klötze, die aus einer Zeit stammen, als der Bruder des Bürgermeisters eine Betonfabrik besaß. Es ist, als würde man über die Dächer schweben, über kleine Geschäfte im Zentrum und über die Wirtschaft, die meine Eltern Mitte der sechziger Jahren auf Rentenbasis gepachtet hatten und nach ein paar Jahren wieder aufgeben mußten, weil nicht genügend Gäste kamen.
Schließlich fährt der Zug in den Kaller Bahnhof, der viel zu groß ist für die paar Leute, die aus- und einsteigen. Die meisten gehen zur Unterführung, durch die sie unter dem Bahnhofsgebäude hindurch in die Stadt gelangen. Ich nehme die Abkürzung über den Bahndamm, über rostige Gleise, zwischen denen verblühter Sommerflieder wächst. Am Streckenrand liegen seit Jahrzehnten Kabeltrommeln und abgebaute Schwellen. Als ich mich umblicke, fährt der Zug weiter in die Eifel, vorbei am Bahnerhaus, in dem Lia früher wohnte. Als ich noch im Zementwerk arbeitete, habe ich jeden Morgen und Abend den Pfad am Bahnerhaus vorbei genommen. Nach der Arbeit traf ich mich dann mit Martin in der Cafeteria des Supermarktes.
Wenn ich heute nach Kall komme, gehe ich erst einmal in diese Cafeteria. Sie befindet sich im Vorraum zum Supermarkt. Ich setze mich ans Fenster, bestelle einen Kaffee, sehe zum Parkplatz, wo Leute anfahren, um für das Wochenende einzukaufen. Sie steigen aus ihren Autos, laufen zu einem überdachten Unterstand, um einen Einkaufswagen zu holen, und kommen dann in den Markt. Bei einer Frau denke ich, daß sie Lia sein könnte. Ich bin ungeduldig, als würde ich schon lange auf sie warten, als bestände die Möglichkeit, ihr wirklich wieder zu begegnen.
Heute versuche ich zu verstehen, was an dem Abend, als ich Lias Hut im Fluß sah, passierte und was in dem vorhergehenden Jahr alles geschehen war. Damals interessierte es mich nicht, ich war siebzehn Jahre alt und dachte, daß alles nur von mir selbst abhängt und das Vorher und Nachher keine Bedeutung hat. Ich konnte mir nicht vorstellen, alt zu sein, ich dachte, alles würde so bleiben, wie es war, die Zeit schien endlos zu sein, bis zu einer Grenze, hinter der die Erwachsenen lebten, auch Lia. Daher war das, was mit meiner Familie und mit Lia und Hilbert geschah, in diesen Jahren für mich nicht wichtig. Später wollte ich nichts mehr mit den Leuten von damals zu tun haben, irgendwie gab ich ihnen die Schuld an meinem verkorksten Leben. Jetzt, da ich älter geworden bin und diese Grenze lange überschritten habe, fällt es mir leichter zurückzudenken. Ich erinnere mich an Lia mit ihren braunen Augen, den dunklen Härchen über der Lippe. Obwohl sie nicht besonders hübsch war, gefiel sie mir. Sie war zu dieser Zeit dreiundzwanzig Jahre alt. Sie war ein Jahr älter als mein Bruder Alfons, der sie kaum kannte, weil er schon seit einigen Jahren in Flensburg beim Militär war; Alfons kam nur noch selten nach Hause. Ich glaube, er wollte nichts mehr mit uns zu tun haben. Er war nach seinem Grundwehrdienst zur Bundeswehrhochschule gegangen, um Pilot zu werden, wie sein Vater Valentin, Mutters erster Mann und große Liebe. Valentin hatte im Krieg ein Transportflugzeug geflogen. Alfons hatte ein Bild von solch einem Flugzeug über seinem Bett hängen. Man blickte in den Flugzeugbauch, ins Cockpit, in Laderäume, Antriebsmotoren, die aufgeschnitten waren, so daß man die Wicklungen und Kugellager der Rotoren und elektrische Leitungen sehen konnte. Als ich mit Alfons ein Zimmer teilte, träumte er oft, daß er mit seinem Vater in diesem Flugzeug flog. Ich hab gehört, wie er nachts im Traum mit Valentin sprach, daher weiß ich, wie wichtig es ihm war, Pilot zu werden. Er redete immer davon, und er war, anders als ich, sehr gut in der Schule. Mutter hatte nach Valentins Tod nochmals geheiratet, und mit diesem Mann sind wir von ihrer Heimatstadt Prüm nach Kall gezogen. Mutter hatte sich, während wir noch die Wirtschaft besaßen, ständig mit Vater gestritten. Wenn er von Montage kam, stellte er sich hinter die Theke, schickte Mutter nach oben und besoff sich. Wenn er Schnaps trank, wurde er besonders aggressiv. Er hielt alle Gäste aus, grölte herum. Es kamen zu solchen Anlässen viel mehr Leute als üblich. Es war, als röchen sie, daß es etwas umsonst gab. Vater wankte zur Musikbox und wählte Yesterdayman. Wenn die letzten Gäste gegangen waren, ließ er das Lied durch das Haus dröhnen. Er trat, wenn es zu Ende war, gegen die Musikbox, die Nadel ratschte über die Scheibe und fing wieder von vorne an. Schließlich war er vollkommen besoffen, torkelte nach oben. Da Mutter die Schlafzimmertür nicht öffnete, trat er sie ein. Er verprügelte Mutter, brüllte, sie treibe es mit jedem in der Stadt, sie sei eine Hure und Drecksau. Wenn Alfons damals zu Hause gewesen wäre, hätte er es nicht gewagt, Mutter zu schlagen; er hätte nur oben vor dem Fernseher gesessen und getrunken. So aber machte er alles kaputt, was er in die Hände bekam, schleuderte das Telefon auf den Boden, riß eine Klappe von der Kühltruhe, zertrümmerte die Flurlampe. Einmal, als er Mutter zu fassen bekam, schlug er sie und stieß sie die steile Treppe zum Bierkeller hinunter, deren Kanten abgewetzt waren von heruntergerollten Bierfässern. Mutter blieb besinnungslos auf dem dreckigen Steinboden liegen, ihr Rock war hochgerutscht, und man konnte ihre weißen Oberschenkel sehen. Sie sah für einen kurzen Moment nicht aus wie meine Mutter, sondern wie eine fremde ältere Frau. Marmeladengläser, die auf dem Sims gestanden hatten, waren auf die Treppenstufen gefallen und zerbrochen, die Marmelade tropfte über die Stufen. Vater glotzte entgeistert die Treppe hinunter, dann knallte er die Tür zu, krakeelte und polterte weiter durch das Haus, bis er irgendwann in einer Ecke zusammensackte und einschlief.
Ich kannte Lia aus dieser traurigen Zeit. Sie paßte damals auf meine kleinen Geschwister auf und half Mutter bei Hochzeitsfeiern und Beerdigungskaffees. Lia war in der achten Klasse von der Schule abgegangen, sie war nicht der Typ, der den ganzen Tag herumsaß. Sie hatte ein paar Jahre in einem der kleinen Betriebe im Industriegebiet gearbeitet. Sie erzählte Mutter, daß sie als Au-Pair-Mädchen nach Amerika gehen wolle. Mutter kam mit Lia sehr gut aus, sie waren trotz des Altersunterschiedes Freundinnen. Lia wohnte bei uns in einem Fremdenzimmer über dem Saalanbau, die Zimmer standen ohnehin immer leer. Ihres lag zur Urft hin, weil sie das Murmeln des Wassers so gerne hörte. Meine Schwestern schliefen manchmal bei ihr. Sie las ihnen abends vorm Zu-Bett-Gehen Geschichten vor, nachmittags spazierte sie mit ihnen zur Urft und baute Schiffchen, die sie den Fluß hinuntertreiben ließen, oder sie saß auf den Stufen, die vom Garten hinunter zum Ufer führten. Der Fluß schlängelte sich vom Wehr aus, hinter dem Supermarkt vorbei, durch den Ort. Er war wie eine große silberne Schlange, die durch die Gärten hinter den Häusern kroch. Lia erzählte, daß sie früher bei Hochwasser mit einem selbstgebauten Floß vom Wehr aus flußabwärts bis zum Schwemmland hinter dem Sportplatz gefahren waren. Morgens weckte sie meine Schwestern, bereitete ihnen Frühstück und brachte sie zum Kindergarten. Später verschwand sie für ein paar Jahre mit einem der Verkäufer, die eine Zeitlang unseren Saal gemietet hatten. Mutter nannte die Leute verächtlich Deckenverkäufer, sie organisierten Kaffeefahrten und drehten den alten Leuten unnützes Zeug an. Mutter war das Geschäft mit den Deckenverkäufern unangenehm. Sie hatte nie gedacht, daß sie so etwas einmal nötig haben würde. Mutters Eltern hatten eine Wirtschaft und ein Cafe mit einer Konditorei in Prüm gehabt. Sie waren dort angesehene Geschäftsleute. Das Geschäft und das Haus und alles übrige hatte ihr Bruder geerbt, obwohl er der jüngere gewesen war. Sie erzählte immer mit einer gewissen Bitternis, daß sie das zerstörte Haus nach dem Krieg aufgebaut und die Geschäfte geführt hatte, bis ihr Bruder aus russischer Gefangenschaft zurückkam und sich ins gemachte Nest setzte. Der habe ein Jahr, ohne ein Wort zu sprechen, in der Küche gesessen. Jedesmal, wenn Mutter mit Oma telefonierte, machte sie Andeutungen darüber, und am Ende lief es immer auf Vorwürfe und Streit hinaus.
Während Lia morgens die Küche und das Lokal aufräumte, lag Mutter noch im Bett, es wurde abends meist sehr spät wegen betrunkener Kerle, die mit ein paar Bier die ganze Nacht an der Theke standen, sich weigerten zu gehen, wenn Mutter Feierabend machen und die Wirtschaftstür abschließen wollte. Als Lia meine Schwestern zum Kindergarten gebracht hatte, ging sie nach oben, um Mutter zu wecken. Mutters Kopf lag auf einem angewinkelten Arm, ihr dickes kastanienrotes Haar war zerzaust, unter der Zimmerdecke flimmerten die Wellen des Flusses, auf dem Nachttisch stand eine Fotografie von Vater in einem Piratenkostüm mit Kopftuch und großen Ohrringen, ein Foto, das noch in Prüm gemacht worden war. Vater sah darauf aus wie Errol Flynn in einem Film, kühn und verwegen und mit stechenden verträumten Augen, aber in Wirklichkeit war Vater ängstlich und unsicher. Oma meinte, daß er Mutter in der Hoffnung geheiratet habe, sie würde das Haus und den Betrieb in Prüm erben. Sie hielt ihn für einen Filou aus der Stadt, der nichts gelernt hatte und sich in ein gemachtes Nest setzen wollte. Ich glaube nicht, daß das stimmte, ich glaube, daß er Mutter wirklich liebte, auch wenn es oft nicht so aussah. Das Fenster war geöffnet, und man hörte eine Wasseramsel am Fluß singen. Lia weckte Mutter vorsichtig und ging zum Fenster und sah über den verwilderten Garten zur Urft hinunter, während Mutter sich hinter ihr im Bett räkelte.
Als Mutter nach unten kam, hatte Lia schon Kaffee aufgebrüht. Mutter hatte den Morgenmantel nicht ganz zugeknöpft, so daß man stecknadelkopfgroße Sommersprossen auf ihren Brüsten sehen konnte. Sie fragte, ob die Wirtschaft schon geöffnet sei. Lia mußte eingestehen, daß sie vergessen hatte aufzuschließen; sie lief durch die Wirtschaft zur Eingangstür. Mutter hatte es nicht gern, wenn Öffnungszeiten nicht eingehalten wurden. Sie meinte, wenn die Gäste einmal vor verschlossener Tür ständen, kämen sie nachher überhaupt nicht mehr, und das könnten wir uns nicht erlauben. Wir hatten damals nicht genug Geld, und das war auch der Grund, warum wir den Saal an die Deckenverkäufer vermieteten.
An einem dieser Tage fand Lia den alten Hut von Mutter auf dem Speicher in einer Truhe und kam damit in die Küche. Sie hatte den Hut aufgesetzt und sagte, sie fände ihn wunderschön, sie wollte immer schon so einen Hut haben. Sie tanzte damit in der Küche herum, wobei der Staub auf dem Hut sich löste und wie ein Schleier im Sonnenlicht aussah. Mutter machte ein nachdenkliches Gesicht, während Lia sich immer noch drehte und sich selbstgefällig in Vaters Rasierspiegel betrachtete. Sie war ganz begeistert von dem Hut und fragte, ob sie ihn haben könne. Mutter sagte, es hingen viele Erinnerungen daran.
«Was denn für Erinnerungen?»
«Ich hab den Hut mal von jemandem geschenkt bekommen, der mir sehr wichtig war.» Lia wollte mehr darüber wissen, aber Mutter erzählte nichts, vielleicht, weil ich dabei war. Aber Lia fragte so lange, bis Mutter sagte:
«Na ja, nimm ihn und werd glücklich damit.» Mutter hatte Wichtigeres im Kopf als diesen Hut, sie machte sich Sorgen, weil die Busse mit den alten Leuten, die zu den Verkaufsveranstaltungen kamen, noch nicht eingetroffen waren. Die Deckenverkäufer kamen die erste Zeit dreimal in der Woche mit Bussen voller alter Leute, die oft nicht einmal wußten, wo sie hingefahren waren. Sie liefen verwirrt durch den Ort, so daß ich sie mit Lia suchen gehen mußte. Mutter wunderte sich schon darüber, daß in den letzten Wochen immer weniger Busse kamen. Sie fürchtete, die Busse würden bald ganz ausbleiben, was ein paar Monate später auch geschah und uns den finanziellen Todesstoß versetzte. Deswegen war Mutter auch später nicht mehr gut auf Lia zu sprechen. Sie sagte, daß Lia davon gewußt und uns mit den Deckenverkäufern hintergangen habe.
Im Saal hatte Lia bereits alles vorbereitet, die Tische waren eingedeckt, die Kuchen standen auf dem Büfett. Während Mutter in der Küche hantierte und uns den Rücken zuwendete, setzte sich Lia zu mir auf die Küchenbank. Sie schob mich mit dem Hinterteil ein wenig zur Seite, damit Gutgehende Wirtschaft mit Saal auf Rentenbasis zu kaufen