Emmanuel Todd
Traurige Moderne
Eine Geschichte der Menschheit
von der Steinzeit
bis zum Homo americanus
Aus dem Französischen von
Werner Damson und Enrico Heinemann
C.H.Beck
Familienstrukturen sind der unbewusste Motor der Geschichte. Von dieser bahnbrechenden Erkenntnis aus erzählt Emmanuel Todd die Geschichte der Menschheit neu: Vom frühen Homo sapiens, der in Kleinfamilien lebte, über die großen Kulturen des Altertums mit ihren immer komplexeren Großfamilien bis zur Rückkehr des Homo americanus zur Kernfamilie der Steinzeit. Wer die Lage der Menschheit zu Beginn des 21. Jahrhunderts verstehen will, sollte dieses luzide Buch des großen französischen Querdenkers lesen.
Westliche Waren und Lebensstile dringen bis in die letzten Winkel der Welt vor, und doch sind wir von einer globalen Einheitskultur weit entfernt. Emmanuel Todd zeigt, wie sich seit der Steinzeit unterschiedliche Familiensysteme verbreitet haben, die bis heute die Mentalitäten zutiefst prägen. Er beschreibt die Dynamik der amerikanischen Gesellschaft mit ihren primitiven Kleinfamilien und die Unbeweglichkeit von Kulturen mit hochkomplexen patriarchalischen Großfamilien, und er erklärt den europäischen Konflikt zwischen einer deutschen Stammfamiliengesellschaft und Gebieten mit egalitären Familienstrukturen. Werden diese tief verankerten Unterschiede bei der Lösung der gegenwärtigen Krisen nicht berücksichtigt, gerät die Demokratie unter die Räder. «Unsere Moderne», so Todd, «erinnert an einen Marsch in die Knechtschaft».
«Eine Gegen-Vision der Welt, abseits der dominierenden Erklärungsmodelle.» Libération
«Todd überblickt nicht mehr und nicht weniger als die letzten hunderttausend Jahre Menschheitsgeschichte … überzeugend und immer anregend.» Le Figaro
Emmanuel Todd, geboren 1951, einer der prominentesten und meistdiskutierten Soziologen Frankreichs, arbeitet seit 1984 am Institut national d’études démographiques. Weltbekannt wurde er, als er 1976 in «La chute finale» den Zusammenbruch der Sowjetunion voraussagte. Seine Bücher «Weltmacht USA. Ein Nachruf» (2002) und «Die unaufhaltsame Revolution» (mit Youssef Courbage, 2008) wurden in Deutschland zu Bestsellern. Bei C.H.Beck erschien von ihm zuletzt «Wer ist Charlie? Die Anschläge von Paris und die Verlogenheit des Westens» (2015).
Vorwort zur deutschen Ausgabe
Im Einklang mit der deutschen Historischen Schule
Familienstrukturen und die Öffnung einer abgeschotteten Welt
Einführung: Die Entwicklung der Familienstrukturenund die Umkehr der Geschichte
Es gibt kein Mysterium der Ökonomie
Die Krise der entwickelten Länder
Bewusstes, Unterbewusstes und Unbewusstes der Gesellschaften: Wirtschaft und Politik, Bildung, Familie und Religion
Die Entwicklungszeit des Bewussten, des Unterbewussten und des Unbewussten
Die Familiensysteme werden komplexer und neigen zur Differenzierung
Ein «Umkehrmodell» der Geschichte
Geschichte gut beschreiben, nicht erklären
Das Divergenzprinzip
Imperialismus und Feminismus
Unmögliche Zukunftsszenarien
Die Anglosphäre im Zentrum der modernen Geschichte
Deutschland und Japan: Die Rolle von Stammfamilie und Primogenitur in der Geschichte
Vorwärts in die Vergangenheit
1.: Die Differenzierung der Familiensysteme: Eurasien
Die Neolithische Revolution
Von der Kernfamilie zur kommunitären Familie in Eurasien
In Europa, Japan und Korea tauchte die Stammfamilie erst spät auf
2.: Die Differenzierung der Familiensysteme: Das indigene Amerika und Afrika
Das indigene Amerika
Neuguinea
Afrika südlich der Sahara: Eine Frage der Methode und der Ideologie
Murdocks ethnografischer Atlas
Die kommunitäre Familie in Westafrika
Die Formen der unvollständigen Stammfamilie im ostafrikanischen Hochland
Archaische Formen im Süden: Der «matrilineare Gürtel» und eine gehobene Stellung der Frau
Die Polygynie und ihr Nordwest-Süd-Gefälle
Patrilinearität gegen AIDS
Die patrilineare Innovation in jüngerer Zeit im äußersten Südosten
Als Schlussfolgerung: Kernfamilie und Flexibilität des ursprünglichen Homo sapiens
3.: Homo sapiens
Das Urehepaar
Lager, Gruppen, Dörfer und Völker
Flexibilität der lokalen Gruppe
Exogame Familien, endogame Völker
Gemäßigte familiäre Exogamie
Das Inzesttabu als Teil des ursprünglichen anthropologischen Systems: Der Westermarck-Effekt
Undifferenziertheit als allgemeines Konzept
Frühe Kelten, Germanen und Slawen
Die Trennung der Völker: Der Begriff der relativen Identität
4.: Judentum und frühes Christentum: Familie und Alphabetisierung
Die ursprüngliche jüdische Kernfamilie
Die neuassyrische und die neubabylonische Epoche: Primogenitur und Patrilinearität
Die hellenistische und die römische Epoche: Rückkehr zur Bilateralität
Die nur scheinbare Matrilinearität des Judentums
Die Patrilinearität in der jüdischen Erziehung
Bilinearität
Die gemäßigte Exogamie des Judentums
Die eigentliche Innovation des jüdischen Familiensystems: Der Schutz der Kinder
Das frühe Christentum
Christliche Innovation 1: Radikale Exogamie
Christliche Innovation 2: Feminismus
Christliche Innovation 3: Sexualfeindlichkeit
Christliche Innovation 4: Armut als Grenzerfahrung
Ist das Paradies die wahre Belohnung?
Die beiden monotheistischen Religionen und ihre Familiensysteme
Zwei Stufen des Universellen
5.: Deutschland, der Protestantismus und die Alphabetisierung
Vom Protestantismus zur Massenalphabetisierung
Die Stammfamilie und die Schrift
Von der Stammfamilie zum Protestantismus und umgekehrt
Von der Stammfamilie zur Alphabetisierung
Alphabetisierung und Verstärkung des patrilinearen Merkmals in Deutschland
Die Entwicklung in Schweden und in Russland
6.: Der große geistige Wandel in Europa
Das «westliche Heiratsmuster»: Später Sieg der christlichen Sexualfeindlichkeit
Die Wege der Disziplin
Zerstörung des undifferenzierten Verwandtschaftssystems
Der schwindelerregende protestantische Blick ins Innere und das Zerreißen des Verwandtschaftsnetzes
Der protestantische Militärstaat und die frühen Nationalismen
Der Weg zum wirtschaftlichen Aufschwung
Der Anteil der Stammfamilie in historischer Sicht oder: Familienstruktur als kontinuierliche Variable
7.: Bildungsaufschwung und Wirtschaftsentwicklung
Warum England und nicht Deutschland?
Die Stammfamilie und die Industrialisierung
8.: Säkularisierung und Krise des Übergangs
Der Katholizismus ohne Gleichheit: 1800–1965
Der Zusammenbruch des Protestantismus: 1870–1930
Der Absturz der Religion und die Ära der Ideologien
Die Krise des Übergangs und die Ideologien
Familienstrukturen und Ideologien
Religion und Ideologie
9.: Die englische Matrix der Globalisierung
Die essentialistische Sackgasse
Familie und Gemeinschaft in England
Staat und Familie
Zyklen in der englischen Geschichte
Noch weiter zurück in die Vergangenheit: Die Spur Roms in den ländlichen Gebieten
Das englische Lehnsgut
Von der undifferenzierten zur absoluten Kernfamilie
Der Wandel in den Jahren 1550–1650
Verinnerlichung im Individualismus
Familiäre Freiheit und politische Herrschaft in England
10.: Homo americanus
Zurück zur reinen Kernfamilie
Die absolute Kernfamilie als Idealtypus: 1950–1970
Die Kernfamilie als Ideal und ein Schub in der Religiosität
Die moderate Wirkung der Einwanderung
Die Exogamie in den Vereinigten Staaten
Homo americanus, Homo sapiens
Homo americanus in seiner schwarzen Version
11.: Die Demokratie trägt immer noch Züge ihres Ursprungs
Die Dezentrierung der Demokratie
Fortbestand und Entfaltung repräsentativer Institutionen in Westeuropa
Von der englischen Oligarchie zur amerikanischen Demokratie: Das Gefühl, zu einer Rasse zu gehören
Das Konzept der ethnischen Demokratie
Das konkret Universelle Amerikas und das abstrakt Universelle Frankreichs
Die Demokratie trägt immer Züge ihres Ursprungs
12.: Das Hochschulwesen untergräbt die Demokratie
Die zweite Bildungsrevolution: 1900–1940
Der demokratische Höhepunkt
Die dritte Bildungsrevolution und ihr Abbruch
Die historische Bedeutung der Stagnation
Die Rückkehr der Ungleichheit im Bildungsbereich
Über die Ungleichheit in England und Amerika
Der Vietnamkrieg als Indikator: «Working-class war»
Academia: Eine Maschine, die Ungleichheit produziert
Die ökonomische Ungleichheit ist die Folge
Wandel der Ideologie, Krise der Politik und Anstieg der materiellen Ungleichheit
Der Freihandel und die «schicksalhafte» Entwicklung zur Ungleichheit
13.: Eine Krise in Schwarz und Weiß
Die Aufhebung der Rassentrennung
Die Demokratie der Weißen wird erschüttert
Menschen mit Haupt- und Sekundarschulabschluss haben weiterhin ein Rassenbewusstsein
Dog whistles gegen den Sozialstaat: Die Republikaner
Die Anpassung der Demokraten: Der Jazz und das Gefängnis
Die Masseninhaftierung von Schwarzen als pathologische Dimension der rassischen Reaktion
Die Schichtung der schwarzen Gemeinschaft
Der liberale Gulag in Schwarz und Weiß
14.: Donald Trump als Wille und Vorstellung
Die Rationalität des Wählervotums für Trump
Bildungsmäßige Schichtung und politische Wahl
Die Zitadellen der Elite: Silicon Valley und Academia
Der ökonomische Konflikt tritt an die Stelle des Rassenkonflikts
Der rassische Triumphalismus und Clintons imperiales Projekt
Clintons Kontrolle über die schwarze Wählerschaft: Ein weiterer Verrat der Eliten
Die Demokratische Partei und ihr Problem mit den Hispanics
Der demokratische Aufbruch hat immer noch fremdenfeindliche Züge
Globales Projekt gegen nationales Projekt
Die absolute Kernfamilie schwindet, und die junge Generation kommt nicht raus
Der Widerstand der amerikanischen Jugend gegen die Fremdenfeindlichkeit
15.: Das Gedächtnis der Orte
Meine erste Konzeption: Konvergenz der Kernstrukturen nach einer Übergangskrise
Einwanderung in den 1990er-Jahren: Die Divergenz im Westen
Die verschiedenen Arten von Kapitalismus
Die Unterschiede innerhalb Frankreichs bestehen fort
Abschied von Freud
Schwache Werte und das Fortbestehen der Nationen
16.: Gesellschaften mit Stammfamilie: Deutschland und Japan
Niedrige Geburtenraten in Deutschland und Japan: Eine Langzeitfolge der patrilinearen Stufen
Frauen ohne Kinder
Der zweite demografische Übergang als Teil der Globalisierung: Eine Fehlanpassung der Gesellschaften mit Stammfamilie?
Unterschiede im Bildungswesen von zwei Stammfamiliengesellschaften
Patrilinearität in Deutschland und Japan, Feminismus in Schweden
Widerstand eines kollektiven Bewusstseins: Der Zombie-Nationalismus
Ökonomischer Vorsprung und demografische Krise
Extrovertiertheit in Deutschland, Introvertiertheit in Japan
17.: Die Metamorphose Europas
Vielfalt der Familienstrukturen am Rande Eurasiens
Die Vielfalt der religiösen Einflüsse
Der Triumph der Ungleichheit in Europa
Industrieller Blitzkrieg im Westen
Die demografische Zerstörung von Osteuropa, dann von Südeuropa
Deutschlands «demografische» Außenpolitik
Der Drang nach Osten
A Bridge Too Far: Patrilineare und endogame Migrationsgemeinschaften
Das postdemokratische Europa – ganz normal
18.: Gesellschaften mit kommunitärer Familie: Russland und China
Von der exogamen kommunitären Familie zum Kommunismus
Kontinuität regionaler Differenzierungen: Putin und Lukaschenko
Trendwende in Russland: Die Demografie als Beweis
Die Geburtenrate in Russland
Eine Veränderung des Verwandtschaftssystems?
Die Antithese zur angloamerikanischen Welt
Spezialisierung auf militärischem Gebiet
China als Gegenstand der Ideologie
Skeptische Haltung der Demografen
Die fortdauernde patrilineare Dynamik in China und anderswo
Das Gedächtnis der Orte: Autorität und Gleichheit in China
Russland als Zufall und Notwendigkeit
Anstoß
Postskriptum: Die Krise der westlichen Demokratie
Großbritannien, USA, Frankreich
Drei Grade der Vermittlung
Japan und Deutschland
Das Unbehagen der deutschen Eliten: Das grundlegende Dilemma der Gesellschaften mit Stammfamilie
Karten
ANHANG
Anmerkungen
Vorwort zur deutschen Ausgabe
Einführung: Die Entwicklung der Familienstrukturenund die Umkehr der Geschichte
1.: Die Differenzierung der Familiensysteme: Eurasien
2.: Die Differenzierung der Familiensysteme: Das indigene Amerika und Afrika
3.: Homo sapiens
4.: Judentum und frühes Christentum: Familie und Alphabetisierung
5.: Deutschland, der Protestantismus und die Alphabetisierung
6.: Der große geistige Wandel in Europa
7.: Bildungsaufschwung und Wirtschaftsentwicklung
8.: Säkularisierung und Krise des Übergangs
9.: Die englische Matrix der Globalisierung
10.: Homo americanus
11.: Die Demokratie trägt immer noch Züge ihres Ursprungs
12.: Das Hochschulwesen untergräbt die Demokratie
13.: Eine Krise in Schwarz und Weiß
14.: Donald Trump als Wille und Vorstellung
15.: Das Gedächtnis der Orte
16.: Gesellschaften mit Stammfamilie: Deutschland und Japan
17.: Die Metamorphose Europas
18.: Gesellschaften mit kommunitärer Familie: Russland und China
Die Krise der westlichen Demokratie
Für Laurent
Karte 1.2: Die wichtigsten Familiensysteme Eurasiens
Karte 2.1: Kommunitäre und unabhängige Familie in Afrika
Karte 17.1: Die Familientypen in Europa
Karte 17.2: Autorität und Ungleichheit in Europa
Es ist mir eine große Freude, ein Vorwort zur deutschen Ausgabe dieses Buches zu schreiben, denn Deutschland nimmt in ihm einen besonderen Platz ein. Dieses Land spielte im Verlauf der Geschichte eine einzigartige Rolle, im Guten wie im Schlechten. Beginnen wir mit einem hellen Kapitel. Deutschland war durch Luther und den Protestantismus der Ausgangspunkt einer Massenalphabetisierung, die erst Europa und dann die ganze Welt erfasste. In einer Weltgeschichte, die der Bildung den Vorrang vor der Ökonomie einräumt, steht Deutschland daher am Beginn eines Aufschwungs mit den uns bekannten Phasen der Alphabetisierung und Industrialisierung, des Geburtenrückgangs und der anschließenden Entwicklung des Hochschulwesens. Allerdings war England Pionier der Industrialisierung, Frankreich Pionier der Geburtenkontrolle, und die USA waren Pionier der Massenbildung im Sekundar- und Hochschulbereich. Das dunkle Kapitel der deutschen Geschichte, das völlige Versinken in den Nationalsozialismus, ist eine Grenzerfahrung, die Deutschland ebenfalls zum Fokus allen Nachdenkens über die Universalgeschichte macht.
Das Buch beginnt zwar mit dem Auszug des Homo sapiens aus Afrika und untersucht das Aufkommen unterschiedlicher Familientypen seit dem Beginn des 3. Jahrtausends v. Chr., doch im Vordergrund steht das Verständnis unserer Gegenwart. Der Schwerpunkt liegt daher weniger auf dem Nationalsozialismus als auf dem weniger dramatischen Misserfolg der europäischen Einigung, seitdem Deutschland in diesem Prozess die führende Rolle übernommen hat. Für die kafkaeske Verwandlung der Europäischen Union ist Deutschland bei Weitem nicht allein verantwortlich, doch die ihm eigene Dynamik ist dafür ein gewichtiger Faktor, weil sich Deutschland an universalistischen Wertvorstellungen orientiert, die es gleichzeitig leugnet und die daher gewissenlos und ungehemmt ihre Wirkung entfalten.
Ich bin Franzose, aber anders als viele meiner Mitbürger orientiere ich mich als Wissenschaftler nicht an dem Postulat eines abstrakten universalen Menschen. Der Mensch ist zwar universal, aber die englische Sozialanthropologie, die meine Ausbildung entscheidend geprägt hat, hat mir gezeigt, wie unterschiedlich die gesellschaftlichen und religiösen Systeme sind, die sein konkretes Leben bestimmen. Dabei stellt jedes einzelne System eine mögliche Lösung für die Unsicherheit der menschlichen Existenz dar, und jedes hat Vor- und Nachteile.
Ein weiterer Grund, warum ich mich über ein Vorwort zur deutschen Ausgabe freue, hängt mit meinem Beruf zusammen. Die hier vorgelegte Darstellung der Menschheitsgeschichte legt den Akzent zwar auf die Dynamik der angloamerikanischen Welt seit dem 17. Jahrhundert, ähnelt dabei aber historischen Modellen, wie sie in Deutschland vor dem «Dritten Reich» dominierten. Es ist seltsam: Indem ich in meinen empirischen Studien die Faktoren der französischen Annales-Schule und der historischen Anthropologie von Cambridge – familiäre und religiöse Strukturen, Bildung, demografischer Übergang, Säkularisierung und Ideologien – miteinander verbunden habe, bin ich zu einem historischen Modell gelangt, das einer bestimmten deutschen Tradition sehr ähnlich ist. Die Logik, die meinem Modell zugrunde liegt, grenzt die Regionen und Nationen nach ihren unterschiedlichen Beiträgen zur Geschichte der Menschheit voneinander ab und schließt damit – vorwiegend in der sehr nüchternen und wenig gefühlvollen Sprache der Statistik – ein wenig an Hegels Vorlesungen zur Philosophie der Geschichte an. Vor allem aber stimme ich mit dem methodischen Ansatz der deutschen «Historischen Schule der Nationalökonomie» überein, wenn ich in den Tiefenschichten des sozialen Lebens nach den Ursachen unserer ökonomischen Schwierigkeiten forsche und den ökonomischen Sektor als bewusst, den Bildungsbereich als unterbewusst und die religiöse und familiäre Dimension als unbewusst bezeichne.
Die Historische Schule lehnte den abstrakten Homo oeconomicus der britischen Nationalökonomen ab und trat dafür ein, auch die kulturellen und ethischen Rahmenbedingungen des ökonomischen Handelns in den einzelnen Nationen zu berücksichtigen. Sie sind die entscheidenden Faktoren der ökonomischen Entwicklung, und die Ökonomie muss historisch und empirisch erforscht werden und nicht von universell gültigen Axiomen aus. Diese differenzierte Auffassung von Ökonomie und Geschichte herrschte in Deutschland vor, bis der Nationalsozialismus das intellektuelle Leben zerstörte. Von den vielen Repräsentanten dieser Schule seien hier Wilhelm Roscher, Karl Knies, Gustav von Schmoller, Georg Friedrich Knapp und Werner Sombart genannt; in ihr Umfeld gehören der ungarisch-österreichische Wirtschaftshistoriker Karl Polanyi und der österreichisch-deutsch-amerikanische Ökonom Joseph Schumpeter; zu ihren Vorläufern zählen Adam Müller von Nitterdorf und Friedrich List.
Ich gehe methodisch ähnlich vor, aber in meinem Modell spielen die Familienstrukturen die zentrale Rolle. Max Weber, der die Tradition der deutschen Nationalökonomie vollendet und überwunden hat, wollte ebenfalls die tieferen mentalen Schichten des ökonomischen Handelns ergründen, blieb dabei aber bei der Religion stehen. Immerhin enthält sein gewaltiges Werk einige wesentliche Überlegungen zur Familie. Aber die Historische Schule der Nationalökonomie berücksichtigte nicht nur die unterschiedlichen Rahmenbedingungen, sondern dachte zugleich universalistisch, weil sie die Eigentümlichkeiten bestimmter Bevölkerungsgruppen immer weltgeschichtlich verortete.
Die Vereinbarkeit meines Modells mit der klassischen deutschen Auffassung von der Geschichte – insbesondere im Verständnis der Ökonomie – ist kein Zufall. Während der Vorarbeiten zu meinem Buch Die neoliberale Illusion: über die Stagnation der entwickelten Gesellschaften (1999) war ich tief beeindruckt von Friedrich List und seinem Werk Das nationale System der politischen Ökonomie aus dem Jahr 1841. Ich sorgte für eine französische Neuausgabe dieses Klassikers und verfasste ein ausführliches Nachwort dazu. List beschreibt zu Beginn konkrete Bevölkerungsgruppen – Italiener, Hanseaten, Flamen und Holländer, Engländer, Spanier, Portugiesen, Franzosen, Deutsche, Russen und Nordamerikaner – und nimmt erst dann eine ökonomische Analyse vor, die die kulturelle Infrastruktur der Nationen berücksichtigt. Von hier aus legt er dar, welche Maßnahmen im Interesse der einzelnen Bevölkerungen sind und vom jeweiligen Staat wirtschaftspolitisch umgesetzt werden sollen. Ein vernünftiger Protektionismus etwa sollte es Amerika, Frankreich und Deutschland ermöglichen, wirtschaftlich zu Großbritannien aufzuschließen. Ich bin ein Bewunderer von Friedrich List, dessen Modell mir dabei geholfen hat, meine eigene Konzeption der Ökonomie als einer bewussten Superstruktur auszuarbeiten, die von unterbewussten und unbewussten Vorgängen abhängig ist.
Ein Problem der Historischen Schule in Deutschland ist allerdings die Tendenz, die Nationen, die Volksseele oder sogar die Rasse zu essentialisieren. Friedrich List wurde deshalb eine gewisse Mitverantwortung für das Aufkommen des Nationalsozialismus zugeschrieben. Dadurch war nach dem Zweiten Weltkrieg in der Bundesrepublik Deutschland mit ihrer liberalen Grundordnung die differenzielle historische Darstellung von Bevölkerungsgruppen mit einem Tabu belegt. Im Bereich der Ökonomie ging man wieder von universell gültigen Gesetzen aus, schwächte den westlichen Liberalismus aber durch das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft ab. Es ist noch spürbar von den ethischen Überlegungen der Historischen Schule geprägt und betont die soziale Einbindung der Ökonomie.
Mein Modell bedeutet keinen Verzicht auf eine Betrachtungsweise der Geschichte, die universal und differenziell zugleich ist. Doch seine Verankerung in der Analyse von Familienstrukturen befreit es in der Wahrnehmung der Nationen und Völker von jeder essentialistischen Versuchung. Ich unterscheide lediglich drei, vier, sieben, acht oder auch mal fünfzehn Familientypen voneinander, wenn es die typologische Feinjustierung erfordert. Durch einfache algebraische Operationen kristallisieren sich damit soziale und historische Typen heraus, die keinerlei Mythen oder romantische Träumereien über die Nation oder das Volk zulassen. Die Typologie der Familie trennt natürlich Deutschland von England und Russland, sie unterscheidet Schweden von den USA. Da aber ein Familientyp zu mehreren Nationen gehören kann, isoliert dieses Modell keine von ihnen durch eine besondere Wesenszuschreibung. Vielmehr nähert es manchmal überraschend Länder einander an und beseitigt die Mauern, die sonst die Weltgeschichte zu bestimmen scheinen.
Die Stammfamilie ist dafür das wichtigste Beispiel, denn gerade dieser Familientyp führt in den Regionen, wo sie verbreitet war und ist, zu einer Selbstwahrnehmung der ansässigen Bevölkerung als verschieden von anderen und einzigartig. Die Stammfamilie verkörpert in Japan, in Katalonien und dem Baskenland ebenso wie in Deutschland und der alemannischen Schweiz eine autoritäre und inegalitäre soziale Ordnung mit einer starken Integration der Individuen. Wir finden 2018 in diesen fünf Regionen immer noch dieselben Kompetenzen vor, was Organisation und ökonomische Dynamik betrifft, und dieselbe Neigung zum Ethnozentrismus. Die Stammfamilie kurz vor der Modernisierung: Das ist ganz ohne transzendente Wesensmerkmale die Eigentümlichkeit dieser Regionen. Um jede rassistische Anwandlung im Keim zu ersticken, könnte man noch die polygynen Stammfamilienformen der Bamileke in Kamerun oder der Hutu und Tutsi in Ruanda erwähnen, um für Afrika zu zeigen, dass es eine enge Verbindung zwischen diesem Familientyp und einer spezifischen kulturellen und ökonomischen Dynamik gibt. Auch hier findet sich eine ethnozentrische Einseitigkeit, die in Ruanda bis zum Völkermord aus rassischen Gründen geführt hat.
Im Hinblick auf Deutschland ermöglicht dieser Ansatz eine realistische Einschätzung seiner Rolle in der Geschichte und seiner ungeheuren Leistung, im Guten wie im Bösen, ohne das Land durch die unnötige Hypothese von einem deutschen Wesen von der übrigen Welt zu isolieren. Deutschland ist wie Japan nur ein demografisch besonders markantes Beispiel für die Stammfamilie. Ein Vergleich der beiden Nationen in Kapitel 16 stellt gleichwohl fest, wie sich die Länder trotz ihrer anthropologischen Ähnlichkeit geopolitisch voneinander unterscheiden.
Alle meine Bücher wurden ins Japanische übersetzt, wahrscheinlich weil mein Familienmodell es Japan ermöglicht, sich in seiner Eigentümlichkeit zu verstehen, ohne isoliert zu werden. Mit seiner Stammfamilie nähert es sich mehreren europäischen Ländern an. Vor allem erklärt ein solches Modell den Japanern ihre eigene Affinität zu Deutschland. Die Japaner haben nichts erlebt, was mit dem Nationalsozialismus vergleichbar ist, und bestehen anders als die Deutschen auf ihrem Recht, sich als «verschieden» zu betrachten. In Japan gibt es nach Ansicht von Yuichi Shionoya immer noch ein wohlwollendes Interesse an der deutschen Historischen Schule der Nationalökonomie. Deutschland dagegen ist gezwungen, sich mit einem abstrakten Westen zu identifizieren, der das Dogma des Individualismus verteidigt und an universell gültige ökonomische Gesetze und Rezepte glaubt.[1]
Die universalistische Abstraktion hatte katastrophale Folgen für Europa. Die plötzlich zunehmende Bedeutung Deutschlands, die nicht das Ergebnis eines bewussten Projekts war, sondern die automatische Folge seiner ökonomischen Effizienz, brachte einem Land, das sich selbst nicht mehr verstand, die Führungsrolle in der Europäischen Union ein. Deutschland war gleichzeitig von zwei abstrakten Vorstellungen geblendet, dem angloamerikanischen ökonomischen Universalismus und dem französischen politischen Universalismus. So konnte es seinen europäischen Partnern nichts anderes vorschlagen als seine eigenen ökonomischen Maßnahmen. Aber in Italien und Griechenland ergibt die «Soziale Marktwirtschaft» keinen Sinn. In Frankreich wird das Wort Ordoliberalismus mit der deutschen Wirtschaftspolitik in Verbindung gebracht und ist jetzt so negativ besetzt wie das mit Amerika verknüpfte Wort Ultraliberalismus. Der Versuch, das in Deutschland erfolgreiche Wirtschaftskonzept Ländern mit anderen anthropologischen Grundlagen aufzuzwingen, konnte die Unterschiede zwischen den Nationen nur vergrößern. Ich habe diese Mechanismen mit schonungsloser Offenheit in Kapitel 17 analysiert. Es wäre für alle besser gewesen, wenn Deutschland, gestützt auf seine eigene intellektuelle Tradition, die zugleich differenziell und universell ist, in maßvoller Form eine vernünftige Perspektive für die unterschiedlichen Nationen entwickelt und eine flexible Führungsrolle übernommen hätte, welche die anthropologischen und kulturellen Unterschiede auf dem Kontinent berücksichtigt. Für alle die gleiche juristische und ökonomische Norm festzulegen ist von einem moralischen Standpunkt aus sicher untadelig, mündet aber in der Praxis in einen Alptraum für alle. Die Herrschaft einer universellen Norm führt zu Konflikten, die uns letzten Endes an jene Konflikte denken lassen, die der abstrakte Universalismus der Französischen Revolution hervorgebracht hat.
Traurige Moderne ist ein wissenschaftliches Buch, das die Entwicklung der Menschheitsgeschichte beschreiben und besser verstehen will. Gelegentlich ist es ironisch, aber es handelt sich keinesfalls um ein partei- oder sozialpolitisch engagiertes Werk. Auch wenn man die Fähigkeit von Intellektuellen, den Gang der Geschichte zu beeinflussen, nicht überschätzen darf, so hoffe ich dennoch, dass dieses Buch auf seine bescheidene Weise Deutschland wieder zu einem stärkeren Selbstbewusstsein verhilft. Was wir nämlich brauchen, ist ein luzides Deutschland.
Einführung
In der westlichen Welt hat sich ein seltsames Gefühl der Ohnmacht ausgebreitet angesichts einer technologischen Revolution, die dem Einzelnen doch eigentlich alle Möglichkeiten in die Hand zu geben scheint. Worte, Bilder und Waren zirkulieren frei und in rasantem Tempo. Wir sehen eine medizinische Revolution, die eine fortschreitende Verlängerung des Lebens verheißt. Die Prometheusträume setzen sich fort. Zwischen 1999 und 2014 stieg der Anteil der Internetnutzer in der Welt von 5 auf 50 Prozent. Länder verwandelten sich in Dörfer, Kontinente in Kantone. In den hochentwickelten Ländern macht sich indes das Gefühl eines unaufhaltsamen Niedergangs breit. So sank im gleichen Zeitraum in den USA das Durchschnittseinkommen von 57.909 auf 53.718 Dollar.[1] Die Sterblichkeit der weißen Amerikaner zwischen 45 und 54 Jahren ist gestiegen.[2] Weiße amerikanische Wähler probten den Aufstand und wählten 2016 einen beunruhigenden Kandidaten: Donald Trump.
In unterschiedlicher Weise scheinen die anderen Demokratien Amerika auf dieser Bahn wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Rückschritte zu folgen. Dass die Ungleichheit wächst und der Lebensstandard der jungen Generation sinkt, sind quasi universelle Phänomene. Neuartige Formen des politischen Populismus machen fast überall gegen den Elitismus der oberen Schichten mobil. In der jeweiligen Nachahmung sind jedoch Unterschiede erkennbar. Während Japan den Rückzug auf sich selbst zu proben scheint, verwandelt sich Europa, inzwischen von Deutschland gesteuert, in ein gewaltiges hierarchisches System, das noch fanatischer als die USA auf wirtschaftliche Globalisierung setzt.
Für diese Phänomene steht eine bequeme wirtschaftliche Erklärung bereit, von der die kritische Analyse seit Anfang der 1990er-Jahre gern Gebrauch gemacht hat. Der Freihandel und die freien Kapitalflüsse ermöglichen höhere Gewinne, führen aber zugleich dazu, dass die gewöhnlichen Einkommen sinken, die Ungleichheiten wachsen, die Nachfrage, hier im weltweiten Maßstab, hinter dem Notwendigen zurückbleibt und am Ende eines wahnwitzigen Rennens die Wirtschaftskrisen zurückkehren. Weit entfernt davon, dank der Technik emanzipiert zu sein, gerät der Mensch der hochentwickelten Welt erneut unter das Joch der Abhängigkeit: Arbeitsplatzunsicherheit und sinkender Lebensstandard, zuweilen bis an den Punkt, ab dem auch die Lebenserwartung sinkt – unsere Moderne ähnelt einem Marsch in die Knechtschaft. Jeder, der den Traum der Emanzipation der 1960er-Jahre erlebt hat, kann über den Umbruch, der in knapp einer Generation erfolgt ist, nur staunen.
Wer sich für die ökonomische Mechanik dieser Phänomene interessiert, kann auf eine Fülle von Literatur zurückgreifen. Erwähnt seien beispielsweise die Werke von Joseph Stiglitz, Paul Krugman und Thomas Picketty zur Entwicklung der Ungleichheit und ihren wachstumshemmenden Auswirkungen.[3] Halten wir fest, dass manche Volkswirtschaftler ihre Disziplin bis an ihre Grenzen geführt haben: James Galbraith hat dargelegt, dass die Ultraliberalen inzwischen stark auf den Staat setzen, um sich selbst zu bereichern. Pierre-Noël Giraud hat bewiesen, dass die Logik des Homo oeconomicus dazu führen kann, einzelne Menschen für «nutzlos» zu erklären.[4] Wenn es jedoch um Kritik am Freihandel geht, halten sich die meisten Ökonomen aus dem Establishment zurück. Sie scheuen sich vor Ratschlägen, ihn durch Kontrollmechanismen an die Kandare zu nehmen. Zu viel Wagemut könnte ihre Stellung an der Universität gefährden, oder, noch schlimmer, ihre Chancen auf berufliche Auszeichnungen verbauen.[5] Dabei bedeutet ihre Zurückhaltung für die Theorie nicht einmal einen großen Verlust. Zu den realen Auswirkungen des Freihandels finden wir alles Notwendige bereits in Friedrich Lists Werk Das nationale System der Politischen Ökonomie – erschienen 1841. Diesem Klassiker können wir einige Artikel von John Maynard Keynes und ein neueres Buch des Koreaners Ha-Joon Chang hinzufügen, der im englischen Cambridge lehrt.[6] Ich habe schon 1997 in Die neoliberale Illusion die Wirkungsweise des deregulierten Handels hervorgehoben, der eine globalisierte Wirtschaft in die Depression führt.[7] Zu erinnern wäre schlicht auch daran, dass Adam Smith in Der Reichtum der Nationen nicht auf einen entfesselten freien Warentausch zielte, mit dem die Realität der Nationen und ihre übergeordneten Interessen verleugnet würden.
Trotz der Qualität all dieser Forschungsarbeiten ist einzuräumen, dass der Rückschritt der entwickelten Welt – rein ökonomisch gesehen – als Studienobjekt eher uninteressant ist. Was mich dagegen nicht loslässt, ist das Gefühl der Ohnmacht, das sich auch dann hält, wenn man sich um ein Verständnis der Verhältnisse bemüht: Wir haben die Diagnose, greifen aber nicht ein, sondern schauen den wirtschaftlichen Abläufen untätig zu.
Angesichts der großen Rezession ist 2008/09 der Eindruck entstanden, dass es notwendig sei, zu einer Aktionsart keynesianischen Typs zurückzukehren und wieder Zollschranken zu errichten. Tatsächlich gilt der unzulänglichen Nachfrage die Hauptsorge der berühmten Allgemeinen Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes. Und schon ein wenig gesunder Menschenverstand gelangt zu der Schlussfolgerung, dass ohne geschützte Märkte innerer Aufschwung am Ende dazu führt, Nachfrage eher für Nachbarn als für das Inland zu erzeugen. Die amerikanischen, englischen oder französischen Zeitungen feierten kurzzeitig unisono ein Comeback von Keynes. Robert Skidelsky, dessen bedeutendster Biograf, gab seinem Buch sogar den Titel Die Rückkehr des Meisters: Keynes für das 21. Jahrhundert.[8]
Allerdings war schon in den Jahren 2010 bis 2015 festzustellen, dass sich der klare Blick wieder eingetrübt hatte. Folglich überrumpelte die Debatte um Freihandel und Protektionismus, die Bernie Sanders und Donald Trump im amerikanischen Wahlkampf 2016 lostraten, die Journalisten und etablierten Politiker und versetzte die mit Gütesiegel versehenen Wirtschaftswissenschaftler in Rage. So votierten sechzehn Nobelpreisträger und zweihundert Angehörige der angesehensten amerikanischen Universitäten gegen Trump und für den Freihandel, ohne indes das amerikanische Volk zu überzeugen, dessen Lebensbedingungen sich ungeachtet der schönen Theorie verschlechtern. Wie ist der sich hartnäckig haltende geistige Rückstand der Eliteexperten zu erklären, die in den USA und in Europa erst die verheerenden Auswirkungen des Freihandels leugneten und jetzt die Wahl Trumps nicht wahrhaben wollen? Wie ist diese mehrdimensionale Realitätsverweigerung seriöser Leute zu erklären, die hervorragende Studien durchgeführt haben? Das ist das eigentliche Mysterium.
Zwischen 2010 und 2016 setzte sich der Marsch in Richtung Ungleichheit fort, und die weltweite Unzulänglichkeit der Nachfrage nimmt immer bedrohlichere Ausmaße an. In den Schwellenländern sind die Wachstumsraten gesunken, in Brasilien inzwischen bis auf den Nullpunkt. China, die Werkbank der Welt, erstickt in einer von der Industrie verursachten Umweltverschmutzung, die an das Ausmaß des 19. Jahrhunderts heranreicht, schlingert am Rande des Abgrunds und droht in eine Krise mit unkalkulierbaren geopolitischen Folgen zu geraten. Angesichts der strauchelnden Wirtschaft dieser Welt, deren politische Systeme in Auflösung begriffen sind, werden von Tag zu Tag die Warnungen lauter, dass der Populismus unsere «Werte» bedrohe und wir sie verteidigen müssten. Aber welche Werte denn? Gleichheit? Armut? Unsicherheit? Aber nein, pardon: die «liberale Demokratie», ein inzwischen hohles Konzept, bar seiner Grundwerte, die einst in der Volkssouveränität, der Gleichheit der Menschen und deren Recht auf Glück bestanden.
Erklären müssen wir also nicht die Wirtschaftsordnung im engeren Sinne. Was der heutige Historiker vielmehr verstehen muss, ist die Unmöglichkeit einer realen Bewusstwerdung, also einer, auf die auch Taten folgen. Aber dazu müssen wir zunächst einmal einräumen, dass sich der Lauf der Geschichte nicht auf die wirtschaftliche Sphäre beschränkt und dass sich bestimmte entscheidende Veränderungen in tieferen Schichten des sozialen Lebens vollziehen.
Auch wenn die Strukturen, die ich aufzeigen möchte, alltäglich, ja offensichtlich sind, müssen wir erkennen, dass sie das Handeln der Menschen noch stärker bestimmen als die Wirtschaft: nämlich Bildung, Religion, Familie und schließlich Nation, die nur die spät entstandene gegenwärtige Form der Einbindung in eine Gruppe ist, eine Zugehörigkeit, ohne die das Leben des Homo sapiens keinen Sinn ergibt.
Im Folgenden schlage ich eine anthropologische Betrachtungsweise der Geschichte vor, allerdings, so betone ich vorab, ohne jede Geringschätzung für die Ökonomie: Die Unfähigkeit der etablierten Wirtschaftswissenschaftler, Hochschullehrer oder Lobbyisten des Bankenwesens darf nicht dazu verleiten, die ökonomische Analyse zu verwerfen. Behalten wir das so nützliche Postulat vom rational denkenden Individuum, dem egoistischen Homo oeconomicus, unbedingt im Kopf, aber ohne je zu vergessen, dass dieser nicht im luftleeren Raum agiert, sondern mit Fähigkeiten ausgestattet ist und Ziele verfolgt, die von der Gruppe, der Familie, der Religion und der Bildung festgelegt werden. Eine Logik der Märkte gibt es durchaus. Richtig ist sogar, dass der Kapitalismus, wie Bernard Mandeville 1714 in The Fable of the Bees: Or, Private Vices, Public Benefits behauptete, die egoistischsten, die moralisch verwerflichsten menschlichen Antriebe dazu nutzt, um das leistungsstärkste Produktivsystem am Laufen zu halten. Diese Sichtweise, wonach gebündelte egoistische Einzelinteressen die Wirtschaft optimierten, stellte Adam Smith – weniger aggressiv – 1776 in Der Reichtum der Nationen dar. Aber gerade seine moralische Problemstellung muss dazu anregen, die Tiefen eines sozialen Lebens auszuloten, das über das reine Eingebundensein in das Wirtschaftssystem hinausgeht. Interessant ist, wo sich der mentale Wandel vollzieht, der die Voraussetzungen für die wirtschaftliche Entwicklung bestimmt.
Heute lässt sich ganz leicht zeigen, dass die politische Ökonomie nicht in der Lage ist, die sich vor unseren Augen abspielende gewaltige Umwälzung in der Welt zu erfassen. Um dies zu erkennen, halten wir uns an die am weitesten entwickelten Länder. Die gegenwärtigen Schwierigkeiten Brasiliens und Chinas räumen mit der Illusion auf, die Geschichte werde fortan maßgeblich durch die Schwellenländer geprägt. Die Spielregeln der wirtschaftlichen Globalisierung wurden in den Vereinigten Staaten, Europa und Japan festgelegt. Diese «Triade» hat seit 1980 die jüngst alphabetisierten Erwerbsbevölkerungen der Dritten Welt in Arbeit gebracht, dadurch die inländischen Arbeitseinkommen gewaltig unter Druck gesetzt und – wie man sagen muss – auf diese Art weltweit die Profitraten erhöht. Wohl noch besser drückt sich die Vorherrschaft der alternden entwickelten Welt in ihrer Fähigkeit aus, anderswo ausgebildete Erwerbsfähige anzulocken, je nach Bedarf von der Peripherie Arbeiter, Techniker, Informatiker, Pflegepersonal, Künstler und Ärzte abzusaugen, um sich durch ein regelrechtes demografisches Raubrittertum das eigene Überleben zu sichern. Diese Ausplünderung von Humanressourcen ist deutlich gravierender als die von natürlichen Ressourcen, weil sie ab einer gewissen Größenordnung die Entwicklung der aufstrebenden Länder gefährdet, indem sie sie ihrer Führungs- und Fachkräfte und damit auch ihrer Mittelschicht beraubt.
Die Machtzentren der Welt haben sich folglich keineswegs verlagert. Im Übrigen hat sich mit Russland, einer alten europäischen Macht, die einzige Kraft behaupten können, die vom globalisierten System unabhängig geblieben ist. Die alten Akteure des Zweiten Weltkriegs sitzen immer noch an den Schalthebeln der Macht in der Weltgeschichte. Aber sie erleben ihrerseits eine Umwälzung, die angesichts ihres Ausmaßes als ein anthropologischer Umbruch gelten muss, der eher mit der Neolithischen als der Industriellen Revolution vergleichbar ist. Wie einst Sesshaftwerdung und Landwirtschaft wälzt der derzeitige Wandel die Lebensweise der Spezies Mensch in all ihren Dimensionen um. Seine wichtigsten Elemente:
Zwischen 1920 und 1960 stieg in den USA der Wohlstand aller, aber insbesondere der Mittelschicht und der breiten Volksschichten, massiv an. Zwischen 1950 und 1990 erhöhte sich in Europa und Japan schlagartig der Lebensstandard – mit zahllosen psychologischen Effekten.
Zwischen 1960 und 1980 gingen die Geburtenraten drastisch zurück.
Die Langlebigkeit stieg, einhergehend mit einer Alterung der Bevölkerungen in einem historisch einmaligen Ausmaß. Schwankte das Medianalter[9] der Europäer bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts zwischen 20 und 25 Jahren, so lag es 2015 bei 41,7 Jahren. Im England der Revolution von 1688 hatte es noch bei rund 25 Jahren gelegen.[10] Durch die Industrielle Revolution sank es bis 1821 auf 20 Jahre ab, stieg bis 1871 auf nur 22 Jahre und betrug 2015 schließlich 40 Jahre. Das Medianalter der Amerikaner hatte um 1900 bei 22,9 und 1950 bei 30,2 Jahren gelegen. Durch steigende Geburtenraten in der Nachkriegszeit sank es um 1970 vorübergehend wieder auf 28,1 Jahre, lag aber 2015 bei 38 Jahren – ein Anstieg um 10 Jahre in knapp 45 Jahren.
Der Bildungsstand stieg auf spektakuläre Weise. Die Entwicklung der sekundären und der höheren Bildungssysteme – seit der Zeit zwischen den Weltkriegen in den Vereinigten Staaten und nach 1950 in Europa und Japan – führte zu einer neuen kulturellen Schichtung, tendenziell mit einem Anteil von 40 Prozent an höher Gebildeten, 40 Prozent mit Sekundarabschluss und 20 Prozent eines «Rests», der in einem Bereich zwischen «ohne Schulabschluss» und «funktionalem Analphabetentum» anzusiedeln ist. Dabei bestehen allerdings zwischen den Nationen bedeutende Unterschiede.
Bei der Bildung überholen die Frauen die Männer, auch hier mit wichtigen Unterschieden im Kreis der entwickelten Nationen. Dies ist aus der Sicht des Experten für Familienstrukturen die eindrucksvollste Veränderung.
Die Religiosität erlischt endgültig, wahrscheinlich auch in den USA.
Das aus den Zeiten der Religiosität überkommene Heiratsmuster verliert an Gültigkeit.
Diese Liste ließe sich um zahlreiche weitere Beispiele für grundlegende Veränderungen verlängern.