Norbert Scheuer
Am Grund des Universums
Roman
C.H.Beck
Ein Stausee soll vergrößert und ein Ferienpark errichtet werden: Vor diesem Hintergrund wird ein fantastischer Reigen abenteuerlicher Geschichten erzählt, deren Kristallisationspunkt die Cafeteria eines Supermarktes in Kall, einem imaginären, aber doch realen Städtchen ist.
Es geht um die erste Liebe zwischen Nina und Paul, den Liebesverrat von Sophia und Eugen und eine späte, glückverheißende Leidenschaft zwischen Herrn Vallentin und Isabell. Daneben begegnet den Lesern in dramatisch-poetischen Episoden die Wirkkraft menschlicher Schwächen und enttäuschter Hoffnungen, und wir erfahren, welche Folgen Betrug, Intrigen und das Streben nach Bereicherung freisetzen können. Die Grauköpfe, eine Gruppe alter Männer, versuchen von ihrem Stammplatz in der Cafeteria aus hinter all die Geheimnisse des Alltags im «Urftland» zu kommen und die verborgenen Mechanismen dieses Universums zu begreifen. Aber auch sie sind verstrickt und können den wahren Grund der Dinge nicht erkennen. Aber wir vielleicht?
Raffiniert und spannend, suggestiv und poetisch erzählt Norbert Scheuer in seinem neuen Roman vom Glück des Alltags, unerfüllten und erfüllten Sehnsüchten, von einer Welt verschollener Dinge und ihrer großen und kleinen Geheimnisse.
Norbert Scheuer, geboren 1951, arbeitete als Systemprogrammierer. Er erhielt zahlreiche Literaturpreise und veröffentlichte zuletzt die Romane «Peehs Liebe» (2012) und «Die Sprache der Vögel» (2015), der für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert war. Sein Roman «Überm Rauschen» (2009) stand auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises und war 2010 «Buch für die Stadt» in Köln und der Region. Norbert Scheuer lebt in der Eifel.
Vorbemerkung
Lünebachs Reise
Spätsommer 2014: Zurück aus Brasilien
I: Böschung
Anfang 2006
CAFETERIA
Stausee
CAFETERIA
Hinterm Filzvorhang
CAFETERIA
Glasauge
CAFETERIA
Uferschwalben
CAFETERIA
Zeitungen
Roussels Chronik
Sandhalden und Silberbarren
Krähenloch
CAFETERIA
Küstennähe
CAFETERIA
II: Dammkrone
Mansarde
CAFETERIA
Perseus
CAFETERIA
Bollerwagen
CAFETERIA
Seeufer
CAFETERIA
Im Fass
CAFETERIA
Seidenkleid und Lotusschuhe
CAFETERIA
Herbstausflug
CAFETERIA
Schulhefte
CAFETERIA
Lünebachs Rückkehr
Jahresende 2006
III: Dammsohle
Wasserspiegel
Seeboden
CAFETERIA
Altenheim
Anrufe
CAFETERIA
Jadearmreif
CAFETERIA
Hirngespinste
CAFETERIA
Glücksvogel
CAFETERIA
Parterre
CAFETERIA
Seidenfäden
CAFETERIA
Pfändung
CAFETERIA
Chinesische Liebesbriefe
Frühjahr 2008: Überschwemmung
2010/2014: Abschied
Danksagung
Literaturverzeichnis
Für Elvira
Glücklich, wem es gelang,
das Wissen des Alls zu ergründen
Und der jegliche Angst und das
unbarmherzige Schicksal
Unter die Füße sich warf und
des gierigen Acheron Toben!
Vergil, Georgica II
Sein und Nicht-Sein sind eins im Ursprung
und unterscheiden sich nur im Namen.
Jedes für sich ist ein unfassbares Geheimnis.
Laozi, Daodejing, Vers 1
Staudämme dienen unter anderem dem Hochwasserschutz. Sie haben zumeist einen trapezförmigen Querschnitt. Die geneigte, seeabgewandte Fläche des Damms bezeichnet man als Böschung. Die Oberseite wird Dammkrone genannt. Auf ihr können sich eine Promenade oder ein Betriebsgebäude befinden. Der ganze Staudamm ist auf eine Dammsohle gebaut, die seeseitig in den Grund des anzustauenden Gewässers übergeht.
Der Betriebselektriker Lünebach hatte lange Zeit im Lafarge Zementwerk alle technischen Anlagen gewartet, arbeitete danach einige Jahre auf Montage, bis er, schwer erkrankt und von seltsamen Ideen besessen, nach Kall zurückkehrte. Er musste in Frührente gehen und begann auf dem verwahrlosten Siedlungshof seiner inzwischen verstorbenen Eltern mit der Konstruktion und dem Bau eines Raumschiffs, das, alle technischen Ausfälle überstehend, bis zum Ende des Universums fliegen sollte. Gefunden hatte Lünebach seine Raumkapsel in einem stillgelegten Steinbruch am Dorfrand von Keldenich; es war ein rostiger zylindrischer Bunker, in dem die Arbeiter während der Sprengungen Schutz vor Steinschlag gesucht hatten. Lünebach hatte mit einem Schneidbrenner zwei Löcher als Bullaugen in den Eisenmantel geschnitten, verkleidete ihn mit hitzebeständigen Kacheln, die als Schutzschild beim Eintritt in die Lichtjahre entfernten Atmosphären dienen sollten. Jahrelang hatte er in der Scheune an seinem Fluggerät gearbeitet, es schließlich mit einem Hubwagen in den Hof bugsiert und mühsam auf ein Triebwerk montiert, dessen rätselhafte Antriebsenergie ihn in eine Welt außerhalb von Raum und Zeit bringen sollte. Der Start erfolgte, so erzählen die Grauköpfe, vor Jahrzehnten in einer sternklaren Sommernacht auf der Anhöhe in der Nähe des Stausees. Bekritzelte Zettel, die er damals aus einem Bullauge geworfen hatte, beschrieben die Felder und Wiesen des Urftlandes, das Bergschadensgebiet, den Stausee, die Bahnlinie und einen Regionalzug, der aus Köln kam und bald in Kall halten würde. Lünebach sah eine junge Frau am Bahnhof auf die Ankunft des Zugs warten, der noch am Fluss entlangfuhr. Das Tal verengt sich kurz vor Kall, sodass sich die Gleise dicht neben Urft und Landstraße drängen. An die Sandsteinfelsen krallen sich Kiefern und Erlen, deren Zweige bis zur Flussmitte reichen. Aus den Bullaugen der Raumkapsel erblickte Lünebach Myriaden funkelnder Sterne, die über dem Stausee schwebten. Je höher er stieg, umso mehr erschienen ihm das Urftland und der See als Universum, das zu erkunden vielleicht ebenso reizvoll gewesen wäre wie Lichtjahre entfernte Welten. Durch eine Art Raum-Zeit-Krümmung konnte er den See zugleich in Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft wahrnehmen. Seinen Berechnungen zufolge würde er am Ende seiner Reise im Stausee landen. Er erkannte eine Frau mit Pelzmütze und einem kurzen Mäntelchen, die auf dem zugefrorenen See elegante Pirouetten drehte, während ihr Begleiter, der nicht ihr Verlobter war, sich ungeschickt anstellte und immer wieder auf dem Hosenboden landete. Bergleute, die in den Bergwerksstollen unter dem Urftland gearbeitet hatten, wuschen sich am Fluss Dreck und Schweiß aus den Gesichtern. Ein Mädchen trug Zeitungen aus, ihr Bruder paddelte in einem Faltboot den Fluss hinunter bis zum Meer und saß doch gleichzeitig in ihrem Bollerwagen. Und er beobachtete seine alten Kumpane, die Grauköpfe, in der Cafeteria des Supermarkts, hörte zu, wie sie sich Geschichten erzählten und über den Stausee spekulierten, der ausgetrocknet und eine öde Wüste geworden war. Lünebach entfernte sich rasend schnell von seiner Heimat, während er jedes Detail seines Zuhauses deutlich wie durch ein Teleskop wahrzunehmen glaubte. Selbst große Städte erscheinen winzig, und die Menschen sind zu lächerlichen Mikroben geworden kritzelte er auf einen der vielen Zettel, die er als Bulletins seiner Reise nach draußen warf. Vom Cockpit aus, auf einem ausrangierten Zahnarztstuhl liegend, sah er auf unbekannte Galaxien, reiste durch endlose Nebelschleier fremder, weit entfernter Milchstraßen hin zu verglühenden Planeten und erblickte die Schönheit erlöschender und neu entstehender Welten. Auf einem der Zettel stand, er werde eines fernen Tages zurückkehren.
Bevor der Regionalzug das Urftland und den Kaller Bahnhof erreichte, fuhr er durch die Sandhalden des Bergschadensgebiets, wo nach den Erzählungen der Grauköpfe in einem der alten Bleibergstollen noch immer Strohwangs Silberschatz versteckt liegen soll. Grauköpfe, so hatte Nina in ihren Briefen an Paul die alten Männer genannt, die täglich ins Supermarktcafé kamen. Sie schrieb, bei den Alten wüchsen nur noch Nasen und Ohren, alles andere schrumpfe stetig, vor allen Dingen ihr Verstand. Paul hatte lächeln müssen. Ihre Beschreibung erinnerte ihn an eine exotische Papageienart mit flauschigem Ohrgefieder und Knopfaugen, der er den Namen Psittacus erithacus gab. Seit er vor einem Jahr zu Feldforschungen nach Brasilien aufgebrochen war, hatte Paul Nina nicht mehr gesehen. Im Regenwald hatte er die Stimmen von Kolibris aufgenommen, um herauszufinden, wie sie ihre Gesänge erlernen. Anders als bei den meisten anderen Vogelarten sind die Laute des Kolibris kein instinktives, sondern ein erlerntes Verhalten. Auf Brasilien leben Kolibris, die Flügel- oder Schweifgeräusche einsetzen, und es gibt Arten, deren Männchen die Weibchen mit ausgefeilten melodischen Liedern in einem regelrechten Gesangswettbewerb bezirzen. Seit dem Wintersemester 2013/14 arbeitete Paul als Biologe an der Albertus-Magnus-Universität zu Köln. Im vergangenen Jahr war ihm klar geworden, dass ihm Nina sehr viel bedeutete.
Sophia Molitor war inzwischen gestorben. Die alte Dame hatte ihm ihre Bibliothek vermacht, ihre philosophischen und chinesischen Schriften, einige antiquarische Schätze, kostbare Einzelausgaben seltener taoistischer Schriftstücke, außerdem ihre Übersetzungen des Daodejing und ihre Kommentare zu den Versen dieses rätselhaften Werkes, die sie in Form von Briefen verfasst hatte; auch Ninas Hefte waren darunter. Sophias Bücherkisten hatte er in seiner Wohnung vorgefunden, als er aus Brasilien zurückgekehrt war. Sofort hatte er mit Nina telefoniert. Am ersten vorlesungsfreien Nachmittag war er in den Regionalzug nach Kall gestiegen. Es war ein schöner Herbsttag, das Ende der großen Hitze, Chǔshǔ (處暑/处暑). Sophia Molitor hatte das Jahr nach dem chinesischen Kalender in vierundzwanzig Mondphasen eingeteilt, die so poetische Namen trugen wie die Zeit der Klarheit und des hellen Lichts (清明, Qīngmíng), Sommerankunft (夏至, XiàzhÌ) und Zeit des fallenden Reifs (霜降, Shuāngjiàng). Auch Nina hatte diese Zeitangaben in ihren Heften benutzt. Paul fragte sich beunruhigt, was sie ihm denn so Wichtiges sagen wollte, jetzt, nach Sophias Tod. Er saß am Zugfenster, eingezwängt zwischen Studenten und Pendlern, die von der Arbeit nach Hause fuhren; er blickte gegen die Fahrtrichtung und dachte daran, dass die Menschen im antiken Griechenland angenommen hatten, den Hades rückwärts betreten zu müssen. Vor ihnen lag nur noch ihre Vergangenheit. Der Zug fuhr durchs Land, an kleinen Gehöften, Reitställen und an einem Schrottplatz vorbei. Paul glaubte, dort Lünebachs ausgeschlachtete Raumkapsel zu sehen, sie lag inmitten aufeinandergestapelter Autowracks. Ein roter Ascona erinnerte ihn an das Supermarktcafé, an die Grauköpfe und die Gäste, die dort aus und ein gingen, an die Zeit, in der er mit Nina in Kall zusammengelebt hatte. Paul erinnerte sich, wie er mit ihr am Stausee gewesen war, wie er, damals noch im Rollstuhl, zugesehen hatte, wie sie durch den See bis ans andere Ufer geschwommen war. Der Zug fuhr weiter in die Eifel hinein, an der Mülldeponie vorbei, verschwand vor Kall im Stiftsbergtunnel, ließ Billigläden, Autowerkstätten, Handwerksbetriebe und ein großes Möbelzentrum zurück und glitt schließlich auf dem höher gelegenen Bahndamm langsam ins Städtchen hinein. Paul erblickte Antonios Pizzeria, in der früher Delamots Friseursalon gewesen war. Man erzählte sich, im Kellergewölbe unter dem ehemaligen Geschäft ruhe Delamot inmitten der Haare seiner Kunden wie eine Raupe in ihrem Kokon. Während sich der Zug dem Zentrum Kalls näherte, dachte Paul an all das, was Nina ihm im letzten Jahr geschrieben hatte. Es schien sich nichts wesentlich verändert zu haben. Die Fassade von Antonios Pizzeria schmückte nach wie vor das großflächige Mosaik Italiens – Antonios Heimatdorf lag am Stiefelspann, in der Nähe einer kleinen Bucht aus Glitzersteinchen. In der Fußgängerzone am Stiftsberg, wo Sophia Molitor fast ihr ganzes Leben gewohnt hatte, verstaubten in den großen Schaufenstern der Geschäftshäuser längst aus der Mode gekommene Auslagen, in denen noch Kurzwaren, Häkelarbeiten sowie Hüte mit Pfauen- und Fasanenfedern drapiert waren. An den Hang, der zum Fluss hin steil abfiel, schmiegten sich einige Gründerzeitvillen, die das Bombardement gegen Kriegsende ohne große Blessuren überstanden hatten; ihre Fassaden waren kunstvoll verziert, aber im Inneren verrotteten die Häuser. Die alten Männer wussten noch, wie schön Kall einst gewesen war. Sie erzählten oft, wie man durch die belebten Einkaufsstraßen flaniert sei, dass Gäste von weit her im prächtigen Kaiser-Pavillon am Stiftsberg getanzt und gespeist, von der Hotelterrasse bei Kaffee und Kuchen zum Urfttal hinuntergeblickt hätten, zu den Auenwiesen, zu Zehners Futtermühle, den Silotürmen, zu den alten Schwarzerlen am Flussufer. Sie behaupteten, Kall sei einst das Zentrum des Urftlandes gewesen, die kleine Hauptstadt einer verlassenen Gegend mit Seen, mäandernden Flüssen, Wäldern und Dörfern, die nun aber mitsamt den Bewohnern gefangen wären wie Fliegen im staubigen Spinnweb eines Gerümpelschuppens. Paul sah vom Zugfenster aus in Hinterhöfe, auf Brennholzstapel, Ziegelsteinhaufen, gesprungene Toilettenschüsseln, Elektroschrott, Graffiti, überquellende Mülltonnen, er sah Li Zhans Restaurant, wo man Schweinefleisch in süßsaurer Soße, gebackene Bananen, gebratene Heuschrecken und glitschige Litschis serviert bekam. Als er zum ersten Mal mit Nina dort gegessen hatte, war ihr mitten in der Nacht übel geworden. Er stellte sich vor, wie Nina in diesem Moment über den Parkplatz zum Bahnhof lief. Seit einem Jahr trug sie keine Zeitungen mehr aus, sondern arbeitete mit Otti hinter der Bäckereitheke des Supermarkts. Als der Zug über die Straßenüberführung am Kreisverkehr ratterte, sich dem Bahnhof näherte, stand Paul ungeduldig auf und ging mit seinem Rucksack zum Ausstieg. Wenn er längere Zeit gesessen hatte, verspürte er beim Aufstehen und während der ersten Schritte noch leichte Schmerzen, aber irgendwann, so hoffte er, würden auch sie verschwinden.
I
Als Paul im Frühjahr 2006, zur Zeit des Erwachens der Insekten und bunt flatternden Schmetterlinge (春分, Chūnfēn), schwer verletzt und an den Rollstuhl gefesselt, aus Afghanistan nach Kall zurückkehrte, war Nina Plission sechzehn Jahre alt. Sie galt als sonderbar, schon wegen ihrer bronzefarbenen Haut und der krausen Haare. Mit vierzehn war sie ohne Abschluss von der Hauptschule abgegangen und trug seither Zeitungen in Kall aus. Ihre Großeltern, die sie adoptiert und aufgezogen hatten, waren vor einigen Jahren gestorben. Das Haus der Großeltern gehörte mittlerweile der Gemeinde, die Nina allerdings weiterhin in ihrem alten Mansardenzimmer wohnen ließ. Eine Frau vom Sozialamt hatte Ninas Vormundschaft übernommen, kümmerte sich um sie, achtete darauf, dass sie keine Dummheiten anstellte. Paul konnte sich zunächst nicht an das Mädchen erinnern, was vielleicht mit seinen Kopfverletzungen zusammenhing, viele Dinge waren ihm damals entfallen und kamen erst allmählich wieder zurück. Er saß in jener Zeit hin und wieder im Supermarktcafé. Dort war Nina ihm begegnet und tat so, als seien sie schon immer Freunde gewesen. Sie begann ein Gespräch und erzählte von ihrem Bruder Gregor. Während sie redete, erinnerte er sich wieder dunkel an ihren Bruder, an sie und ihre Familie. Ninas Großeltern gehörte der Eisen- und Werkzeugladen an der Sötenicher Straße, in dem sein Vater für den Bau ihres Hauses Material gekauft hatte. Er selbst war sogar mehrmals im Hof hinter dem Geschäft gewesen, der an die Sandsteinfelsen grenzte, und hatte von dort aus die in der Eifel selten gewordenen Uferschwalben beobachtet, die in den Felswänden ihre Bruthöhlen hatten. Darius, Ninas Großvater, hatte in seinem Laden alles, was man als Handwerker benötigte: Schrauben jeder Art und Größe, Dübel, Ofenrohre, Befestigungsschellen, Werkzeuge, Bleche und vieles mehr. Als im Industriegebiet ein großer Baumarkt eröffnet worden war, kauften die Leute jedoch höchstens noch einzelne Schrauben oder ein Stück Blech bei ihm. Darius begann, gemeinsam mit seiner Frau Zeitungen auszutragen, um irgendwie über die Runden zu kommen. Morgens um zwei Uhr standen sie auf, holten Rundschau und Stadtanzeiger am Depot beim Tabakladen ab, sortierten die Zeitungspacken nach Straßen und Hausnummern, legten sie auf den Bollerwagen und zogen los. Jeden Morgen die Gemünder Straße, die Kleinkölner, die Hüttenstraße entlang, zum Industriegebiet, den steilen Stiftsberg hinauf, egal, ob es regnete oder schneite. Paul hatte manchmal, wenn er frühmorgens wach lag, den Wagen über die Pflastersteine ihrer Hofeinfahrt rollen gehört, hatte genau mitbekommen, wie Darius die Zeitung in ihren Briefkasten steckte. Sobald die kleine Nina laufen konnte, hatte sie die Großeltern beim Austragen der Zeitungen begleitet. Im Café erzählte sie Paul, ihr Vater sei der erstgeborene Sohn des Königs eines großen Südseestamms und ihr verschwundener Bruder Gregor würde mit einem Faltboot den Atlantik überqueren, um nach ihrem Vater und ihrer Mutter zu suchen. Schon als kleines Mädchen hatte sie ihm stolz von ihrem Bruder erzählt, der angeblich bei Hochwasser den Fluss hinuntergepaddelt war. Er wollte im alten Klepper-Faltboot von Darius bis zum Meer fahren, glaubte, seine Mutter unterhalte auf einem Kreuzfahrtschiff wohlhabende Reisende mit ihrer Musik, weil Darius ihnen solche Geschichten erzählt hatte. Nachdem das Hochwasser zurückgegangen war, hatte man wochenlang nach Gregor gesucht, ohne ihn zu finden; schließlich nahm man an, er sei ertrunken. Während Pauls Zeit bei der Bundeswehr war Nina noch ein kleines Mädchen gewesen, nun war sie lang und dürr, ihr Gesicht übersät mit Pickeln. Morgens, nachdem sie die Zeitungen ausgetragen hatte, schlief sie oft am Cafétisch ein. Den Kopf auf ihre Arme gelegt, träumte sie, ihr Bruder steuere sein Boot über die Flüsse und Kanäle bis zur Donau und zum Schwarzen Meer und paddele an den Küsten der Türkei, Griechenlands, Italiens, Frankreichs, Spaniens bis zur Atlantikküste, zum Kap Finisterre. Nina erzählte Paul, in den Jahren, die ihr Bruder nun schon unterwegs sei, habe er als Schweißer auf einer Werft gearbeitet, als Kellner in einer Bar, zuletzt in einer Konservenfabrik am Band. Vor Kurzem sei er vierundzwanzig Jahre alt geworden. «Ungefähr so alt wie du, Paul», sagte Nina. Sie schwärmte von Gregor; er sei ein großer, kräftiger Mann, von der Idee besessen, mit seinem Faltboot allein den Atlantik zu überqueren, von Punta del Roque auf den Kanarischen Inseln zum Cap Haïtien. Zurzeit arbeite er noch in Las Palmas in einer Fischfabrik und bereite sich intensiv auf sein Abenteuer vor, bestimmt habe er dort ein schönes Mädchen kennengelernt. Er verdiene Geld für ein schlankes, seetüchtiges Boot mit Treibsegeln und genügend Stauraum für Wasservorräte und Proviant, wie Konservendosen mit Gemüse, Thunfisch und Fruchtsalat. In einem billigen Hotelzimmer in der Hafenstadt plane er seine Reise, gehe eine Liste mit Erledigungen durch, lege seine genaue Route fest, kaufe noch Bier, Schokolade, Müsliriegel und evaporierte Milch. Seine Reise würde ihn Tausende Kilometer über den Ozean führen. Sie fantasierte von glitzernden Wellen, von Unterwasservulkanen, deren Lava glühend über den Meeresboden fließt, von der gelben Sargassosee, vom Auftauchen der Blauwale, ihren gewaltigen schwarz glänzenden Rücken, ihren riesigen Schwanzflossen und kleinen gutmütigen Augen. Sie träumte von fliegenden Fischen, von Stürmen, die das Meer aufwühlen, Stürmen, in denen er mit seinem kleinen Boot hilflos und verloren trieb, von der unendlichen Stille auf dem Meer, das den ganzen Himmel am endlosen Rand unserer Welt spiegelte. Sie war überzeugt, Gregor laufe nach der Arbeit in der Fischfabrik am Strand entlang und blicke von der Mole aufs Meer hinaus, wo die Sonne hinter dem Horizont versank. Nachts in der Herberge auf einer durchgelegenen Matratze liegend beschäftige er sich mit Nautik und dem Überleben auf hoher See, lese Bücher von Hannes Lindemann und Alain Bombard und erlerne Fremdsprachen – überhaupt sei ihr Bruder sehr klug, nicht so dumm wie sie. Bald würde er alles Notwendige zusammenhaben und in seinem neuen Boot verstauen. Wahrscheinlich reiche der Stauraum nicht, denn das Boot sei gerade so groß, dass er selbst ausreichend Platz darin finde. Während der Reise sammele er Regenwasser und fange Fische und ernähre sich zum größten Teil davon.
Jeden Morgen treffen sich die Grauköpfe gegen zehn Uhr in der Cafeteria des Supermarkts am Bahnhof, um Domino zu spielen, den neuesten Klatsch auszutauschen und dabei die Nachrichten auf n-tv zu schauen. Neben den Fußballergebnissen vom Samstag und den Champions-League-Spielen am Dienstag und Mittwoch handeln sie auch politische Themen ab. Hier sitzen sie wie in ihren Wohnzimmern. In Kall gibt es wenige Orte, an denen man jemanden treffen kann, im Sommer vielleicht noch die Cortina-Eisdiele am Kreisverkehr gegenüber der Sparkasse, eventuell das Restaurant des Sportklubs außerhalb von Kall oder die Gaststätte von Evros in der Bahnhofstraße. Die alten Männer ziehen jedoch seit einigen Jahren das Café allen anderen Treffpunkten vor. Wegen der Medikamente, die sie nehmen müssen, vertragen sie keinen Alkohol mehr und gehen daher nur noch selten zu Evros. Wenn sie morgens kommen, fragen sie einander zunächst, ob sie auch ihre Pillen genommen hätten. Ihr Treffpunkt sieht aus wie ein Starbucks-Café, mit Sesseln, Tischchen und einem Flachbildschirm, auf dem den ganzen Tag über die stumm geschalteten Nachrichten ihre Welt erreichen. Schräg gegenüber der Bäckereitheke, im großen Vorraum vor den Kassen, befindet sich Mehmets Imbiss. Man bekommt daher neben Kaffee und Kuchen auch Schwarztee, Hammelfleisch und andere türkische Speisen. Wenn sich morgens der Grillspieß zu drehen beginnt, hieven sich die Alten schwerfällig aus ihren Autos, inspizieren den Lack, streicheln liebevoll über die Kotflügel, bevor sie den Einkaufsmarkt betreten. Ihre Wagen stellen sie immer vorsorglich in Sichtweite ab, weil sie befürchten, jemand könne beim Ausparken ihr Gefährt beschädigen und sich aus dem Staub machen. Die alten Männer tragen Cordhosen, karierte Kurzarmhemden, Strickjacken, Kappen mit dem Emblem des Kaller FC oder der Firma, bei der sie früher gearbeitet haben. Die meisten sind ihr ganzes Arbeitsleben bei einer einzigen Firma angestellt gewesen, entweder im Fertigbetonwerk von Milz, dem schon seit einigen Jahren geschlossenen Lafarge Zementwerk oder bei der Gemeinde. Seit sie in Rente sind, arbeiten sie zu Hause im Garten, besuchen die Spiele ihres Fußballvereins oder sitzen hier, um den Problemen und wichtigen Angelegenheiten ihrer Welt auf den Grund zu gehen. Wenn sie an der Theke vorbeikommen, bestellen sie bei Otti einen Cappuccino oder einen koffeinfreien Kaffee und schlurfen dann zu ihrem Stammtisch unter dem großen Wandspiegel mit dem goldfarbenen barocken Rahmen. Von hier aus haben sie die Kassiererinnen im Blick, die Kunden, überhaupt jeden, der den Laden betritt oder verlässt. Die Grauköpfe sind eine fünf- bis zehnköpfige Hydra, der nichts entgeht, die immer dort ist, wo in Kall und Umgebung gerade etwas abgerissen oder gebaut wird, sie wissen über alles Bescheid. In letzter Zeit halten sie sich oft am Staudamm auf und begutachten, wie die alte Staumauer vermessen wird. Es werden Berechnungen angestellt, wie man sie verstärken und den See vergrößern kann. Im Gemeindeamt ist anhand eines Modells bereits ein erster Eindruck davon zu gewinnen, wie der kleine See nach dem Bau der neuen Mauer aussehen wird. Caspary und Raimund Molitor wurden im Rathaus gesehen, und die Alten spekulieren über das Staudamm-Projekt der beiden. Caspary will schon seit längerer Zeit zusammen mit Sophias Sohn Raimund einen Ferienpark errichten. Raimund Molitor ist als stellvertretender Sparkassendirektor für die Finanzierung zuständig, Caspary hat die Bauleitung übernommen. Die Alten scheinen ein magisches Zentrum zu sein, in dem alle Informationen aus dem Urftland zusammenfließen. Einer von ihnen ist immer zugegen und berichtet, wenn etwas Interessantes in der Gegend passiert ist. Ihnen scheint die göttliche Gabe der Bilokalität eigen, wie sie einst die keltischen Zauberer im Urftland besessen haben. Als Ninas Großvater Darius noch lebte, saß das kleine Mädchen oft auf seinem Schoß und hörte den Geschichten der Alten zu, ohne sie richtig zu verstehen. Schon damals haben sie von Strohwangs Schatz erzählt, den vielen Bergwerksstollen unter dem Urftland, von Lünebach und seinem Raumschiff, von Menschen, die nach Kall und ins Urftland gezogen waren, sich niedergelassen oder es, wie Ninas Bruder, für immer verlassen haben. Nina stellt sich vor, dass die Alten ihre Geschichten nachts träumen, dass sie ihnen aber doch realer erscheinen als die Wirklichkeit. Sie erzählen und erzählen, Haare sprießen dabei wie Pinselquasten aus ihren Nasen und Ohren, meist sind sie unrasiert und riechen nach Alter. Ihre Frauen sind bereits gestorben, sie leben allein und haben niemanden mehr, der sich um sie kümmert.
Der Stausee lag in nordwestlicher Richtung, ungefähr dreieinhalb Kilometer von Kall entfernt am Rande des Bergschadensgebiets. Er war Ende des 19. Jahrhunderts durch ein Senkloch entstanden. Große Teile der unterirdischen Hohlräume und Hallen, die sich binnen eines Monats mit Wasser aus der Urft und einer Vielzahl von kleinen Bächen gefüllt hatten, waren eingestürzt. Der See in der Größe von drei Fußballfeldern hatte die Form einer Birnenhälfte, wobei sich am Birnenstiel der Zulauf der Urft befand, ein sumpfiges, mit hohem Schilf bewachsenes Gelände, wo Rohrdommeln, Haubentaucher und andere Vogelarten brüteten. Ins Schilf führte ein Steg, auf dem Paul Arimond, bevor er nach Afghanistan gegangen war, oft gesessen hatte, um Vögel zu beobachten. Nina war manchmal vorbeigekommen; er hatte ihr von Uferschwalben und Kormoranen erzählt und sie durch sein Fernglas blicken lassen, zeigte ihr einen Kormoran mit schwarz-weißem Gefieder, eine Laune der Natur, die Paul als Leuzismus bezeichnet hatte. Damals hatte sich Nina schon in ihn verliebt. Seit Paul schwer verletzt zurückgekommen war, benahm er sich seltsam und wirkte verschlossen; dennoch fühlte sie sich zu ihm hingezogen, auch wenn er sich meist ablehnend verhielt. Er fuhr oft in seinem Rollstuhl die Landstraße entlang zum Stausee, wo er vom Steg aus seine Vögel beobachtete. Manchmal wurde er plötzlich ohnmächtig, sein Kopf fiel dann zur Seite, und Speichel lief aus seinem Mundwinkel. Wenn er wieder zu Bewusstsein gekommen war, erkannte er niemanden und erinnerte sich an nichts. Obwohl Stunden vergangen sein konnten, kam es ihm vor, als habe er gerade erst die Augen geschlossen. Vom Steg blickte er auf den See und sah, wie sich ein Vogelschwarm im Glitzern dicht über dem Wasser auflöste; in diesen Momenten wusste er oft nicht einmal mehr, wo er sich befand. Paul wohnte, seit er aus dem Militärkrankenhaus entlassen worden war, im Pflegeheim am Sportplatz. Eine schmerzende, eiternde und nur langsam heilende Wunde am Oberschenkel sowie eine Fraktur des Schienbeins zwangen ihn in den Rollstuhl. Der eigentliche Grund für seine Lähmungserscheinungen war allerdings eine Kopfverletzung. Auf dem Weg vom Militärlager zum Flugplatz wurde der Mannschaftsbus, in dem Paul mit Kameraden gesessen hatte, in die Luft gesprengt. Taliban hatten den Bus mit einem Jeep voller TNT gerammt. Wie durch ein Wunder war Paul bei dem Anschlag nicht umgekommen. Er hatte den Moment der Explosion erlebt, als würde er auf einem Feuerball hochgeschleudert; es war gleißend hell und vollkommen still dort oben. Monate brachte er in diesem hellen Nichts zu; dann hörte er leise Musik und sank wie mit einem Fallschirm zur Erde. Er landete mitten im Stausee, und ihm war, als würde er im Wasser treiben und langsam versinken.
Otti arbeitet seit Jahren im Supermarkt hinter der Theke der Cafeteria. Eigentlich heißt sie Ottilie, hat gelbbraune Augen, funkelnd wie Katzenpupillen im Dunkeln, und kurze Haare mit hellen Strähnchen. Sie trägt gerne indianische Ohrringe, große silberne Federn mit türkisfarbenen Perlen. Es erscheint so, als liebe Otti ihre Kunden, als betrachte sie sie als Teil ihrer Familie. Allerdings kann sie böse werden, ja sogar schreien, wenn jemand sein Geschirr auf dem Tisch stehen lässt und es nicht, wie es sich gehört, in den Regalwagen stellt. Meist jedoch ist sie gut gelaunt und strahlt jeden Kunden an, auch Nina begrüßt sie immer freundlich. Der ganze Raum duftet nach den Brötchen, die Otti gerade aus dem Ofen holt und vom Backblech in einen Korb schüttet. Um diese Zeit füllt sich das Café allmählich mit Leuten, die im Anschluss an ihren Einkauf frühstücken; Vertreter, Bauarbeiter, Schüler, Angestellte aus den umliegenden Betrieben, Reisende, die auf einen Anschlusszug warten, und Hausfrauen, die ihre Kinder später von der Schule abholen werden. Einer der Alten humpelt schnurstracks zur Runde der Grauköpfe, ruft im Vorbeigehen Otti zu, er habe gerade einen Engel gesehen, einen wahrhaftigen Engel, der auf die Erde gekommen sei. Otti kennt seine Sprüche und reagiert nicht darauf. «Ja, ein Engel, der auf die Erde gekommen ist», wiederholt er, nun so laut, dass man es überall im Café hört, und zwinkert seinen Kumpanen zu. Eine Frau, die am Tisch am Fenster sitzt, blickt sich um, die Alten sehen verstohlen zu ihr hin und lächeln.