Über den Autor

Björn Kern, 1978 in Lörrach geboren, leistete seinen Zivildienst in Dieulefit, Südfrankreich. Studium in Tübingen, Leipzig, Passau und Aix-en-Provence. Im Verlag C.H.Beck erschienen «Einmal noch Marseille» (3. Auflage 2009) und «Die Erlöser AG» (2007). Für beide Romane erhielt er zahlreiche Auszeichnungen, unter anderem den Brüder-Grimm-Preis (2007), das London-Stipendium des Deutschen Literaturfonds (2008), das Heinrich-Heine-Stipendium (2008) und das Casa-Baldi-Stipendium der Villa Massimo (2010). Er lebt in Südbaden und in Berlin.

 

 

 

 

 

 

 

Der Autor dankt dem Literaturbüro Lüneburg, dem Deutschen Literaturfonds Darmstadt sowie dem Literarischen Colloquium Berlin für die Unterstützung der Arbeit an diesem Buch.

 

 

 

Er holte mich nicht ab.

Er hatte mich auch im letzten Jahr nicht abgeholt, wohl aber zwei Jahre zuvor, und ich hatte eine Gesetzmäßigkeit darin erkennen wollen und durch die verdreckte Plexiglasscheibe der Zugtür nach seinen schwarzen Locken gespäht, aber der Bahnsteig blieb menschenleer.

Ich nahm an, dass er noch Kartoffeln halbierte und auf dem Backblech auslegte oder über der Vorbereitung des Rotweins die Zeit vergessen hatte, ein Wein musste atmen, ein Wein musste zur Ruhe kommen, ein Wein musste dekantiert und geschwenkt werden, ich nahm an, dass er bereits den Feldweg entlanglief, die Schürze um den Leib gebunden.

Als ich die Trittstufe hinunterstieg, empfing mich warme, stehende Luft, mit dem Geruch nach Schotter und Flieder. Statt der Leitrillen für Blinde zog sich noch immer eine weiße Linie die Bahnsteigkante entlang, wie man es allenfalls weiter im Osten erwartet hätte, auf dem Gleis wehte ein zerschlissenes Stück Stoff dem Zug hinterher und sank bald zurück auf die Schienen.

Ich kletterte ins Gleisbett hinab, der Rucksack stauchte meine Wirbelsäule zusammen, mein Besuch würde größere Opfer fordern, die Schienen vibrierten noch schwach. Auf der Verladerampe tranken Jugendliche still ihre zuckrigen Schnäpse; die Spedition war längst pleite, in dem Backsteinblock öffnete mal ein Sonnenstudio, schloss mal ein Nachtclub, meist stand er leer.

Es war deutlich wärmer als in Berlin. Wo der Rucksack mein Hemd auf die Haut presste, begann ich zu schwitzen. Endlich fand ich die Lücke in der Fliederhecke und zwängte mich hindurch, einer der Jugendlichen warf mir einen Kieselstein hinterher, der mehrere Meter entfernt in die Hecke flog, es folgte nicht einmal Gelächter.

Die Straße führte in starkem Gefälle zum See hinab, der so sauber und glatt in den Obstwiesen lag, dass ich mich umgehend schmutzig fühlte. Die Last meines Gepäcks schmerzte in den Knien. Leichter Holzrauch lag in der Luft, durchzogen von Seeböen, die mir den schweren Geruch der Heimflure aus den Lungen bliesen.

Er lief nicht das Feld entlang und nicht den Weinberg hinauf, Ähren und Reben lagen verlassen im Nachmittagslicht. Die Gerste wuchs satt, der Riesling aber war erneut befallen, ölige Löcher hatten sich in die Blätter gefressen, Grauschimmel überzog fast jeden Stamm. Unwahrscheinlich, dass die Genossenschaft nicht erlaubt hatte zu spritzen, auch für diesen Jahrgang waren die Trauben verloren.

Ich ließ den Weinberg hinter mir und bog in den Feldweg ein. Über dem Betonquader, den wir noch immer als Villa bezeichneten, kreiste ein Bussard in der Thermik, es ging auf fünf Uhr zu, und die Luft über dem Uferstreifen begann zu tragen. Ich stieg weiter bergab. Bald erreichte ich das Eisentor und stellte meinen Rucksack in den Kies, das Tor war geschlossen, die Villa selbst nicht zu sehen von hier, nur die großen, weißfleckigen Stämme der Platanen. Auf dem Nachbargrundstück schlug kraftlos der Rüde an, dann hörte ich nichts mehr, dann landete ein Kastanienblatt mit einem trockenen Rascheln im Kies.

Auf dem Eisentor thronten zwei gusseiserne Greifvögel, die ihr erstarrtes Gefieder spreizten und jeden Eindringling unbesehen anfauchten. Sie waren so meisterhaft gegossen, dass sie auch die Haube eines Bentleys geschmückt hätten, zwischen ihnen aber saß ein blechernes und schlecht lackiertes Seepferdchen, das den Vögeln ihre hochmütige Würde nahm.

Die Raubvögel schienen auf ein prächtiges Anwesen zu verweisen, zumindest aber auf ein verstecktes Kleinod, während das nachträglich aufgelötete Seepferdchen schon eher verriet, was einen hinter dem Tor tatsächlich erwartete. Ich wollte den rechten Flügel aufstoßen, eine Eisenkette spannte sich, allenfalls eine Katze hatte nun Platz zu passieren. Die Kette wirkte lächerlich schmal und doch ließ sie sich ohne Schlüssel nicht abnehmen.

Schloss er sich ein oder schloss er mich aus?

Links ging das Tor in einen Hartmaschenzaun über, rechts aber wucherte nur loses Brombeergestrüpp, einige Ranken waren bereits abgeknickt, selbst mit dem Rucksack kam ich problemlos am Torpfosten vorbei. Im Park hatten wieder Wildschweine die Krume durchpflügt, dicke Wurzelstränge ragten aus der aufgeworfenen Erde. Die Fassade der Villa war knöchelhoch mit Moos bewachsen, weiter oben hatte sich eine Mauerflechte ausgebreitet, der Beton schien an manchen Stellen fast schwarz. Neben dem Eingang stand der Citroën im Carport, der Motor knisterte noch.

Ich stieg die beiden Stufen zum Foyer hinauf und wollte gerade klingeln, als sich die Haustür öffnete, erst nach einem zweiten Blick war ich mir sicher, nicht vor einem Tier, sondern vor meinem Vater zu stehen, nur langsam beruhigte sich mein Puls.

«Stehst du da schon die ganze Zeit?»

«Ach, hallo», sagte er.

Es war nicht klar, ob er mich gleich erkannte; er wirkte nüchtern, vielleicht wusste er seine Trunkenheit zu verbergen. Er ging nicht auf mich zu, er winkte mich nicht herein, er schien abzuwägen, ob er dem Menschen vor seiner Tür trauen sollte, im Foyer schaltete sich das Licht aus; ich sah ihn nur noch als Schatten. Umso deutlicher erreichte mich sein Mentholparfüm, das angeblich den Kreislauf ankurbelte und vage an Lösungsmittel erinnerte, er gab eine Summe dafür aus, die dem Drittel meiner Monatsmiete entsprach.

«Hab ich die Kette vergessen?»

Er schob mich zur Seite, lief zum Tor und justierte die Eisenkette, ich warf den Rucksack ins Haus, streckte meinen verspannten Rücken, in Gedanken bereits auf der Fahrt zurück nach Berlin. Wenig später schnellte er mit einem Satz die beiden Stufen zu mir herauf und fiel mir um den Hals.

«Mensch, Mensch, Mensch, schön dich zu sehen!»

«Hallo Jakob.»

Er zerrte mich in die Villa, hinter uns sog der mechanische Türschließer die Eisentür in den Rahmen, Jakob schloss ab. Der Salon lag im Halbdunkel, ein quadratisches Zimmer mit tiefen Decken, das eher einer Abstellkammer glich; Jakob hatte kein Abendessen, wohl aber Crémant gerichtet, den er nun zur Hälfte auf zwei Biergläser verteilte, wir stießen an. Ich wusste, dass er nicht nach meiner Fahrt fragen würde, dass ihn mein Leben da oben kaum und meine Arbeit mit den Wunderlichen schon gar nicht interessierte, ich kippte ein halbes Glas auf Ex, nun kam er mir vor wie mein Vater.

«Wo warst du?»

«Kleine Spritztour.»

«Und danach schließt du dich ein?»

Er senkte den lockigen Kopf, sah mich von unten an, wie über den Rand einer dicken Brille hinweg, seine Handgelenke ragten aus den heruntergerutschten Anzugärmeln hervor, nach einigen unverständlichen Silben musste er sich räuspern, er begann noch einmal von vorn.

«Ich werde verfolgt!»

Er untersuchte mein Gesicht auf einen Anflug von Interesse, ich war müde, mein Rücken schmerzte, ich tat ihm den Gefallen, fragte nach.

Diesmal erfolgte die Antwort prompt.

«Von der Damenwelt –»

Seine Stimme war rau, noch tiefer als sonst, als wolle er nicht so sehr vor der Damenwelt warnen, sondern die Damenwelt vielmehr beeindrucken. Seit er die Sechzig überschritten hatte, schien sein Alterungsprozess zu stagnieren, und seit meinem vorletzten Besuch wirkte er, als würde er gar wieder jünger werden. Auch dieses Jahr bildete ich mir ein, noch mehr Locken auf seinem Kopf ausmachen zu können, noch größere Spannkraft in seinen Muskeln und Sehnen. Ich wusste, dass er mit dem Einer trainierte, ich wusste, dass er sich gesund ernährte, aber ich wusste nicht, ob das alles war.

«Nimmst du eigentlich was?»

Ich griff ihm ins Haar.

«Ich, ach was – noch einen Schluck?»

Er goss sein Glas randvoll, bis erste, schäumende Bläschen die Glaswand hinab auf die Terrakottafliesen tropften.

«Prost!»

«Kannst du nicht endlich mal Licht anmachen?»

Hinter den lichtfeindlichen Bullaugen, die er nicht müde wurde, Panoramafenster zu nennen, war der Frühsommer nur noch zu vermuten, draußen auf der Terrasse, draußen im Park. Die Energiesparbirne in der Tiffanylampe kam widerwillig auf Touren, bald erkannte ich die honiggelbe Maserung im sonst schwarzen Ebenholz des Esstischs, die Fischgratbindung von Jakobs Anzug und das gespannte Lächeln in seinem Gesicht.

Er beobachtete, wie sein Crémant im Bierglas perlte, als hätten wir uns seit mehreren Stunden ausgesprochen, als wäre die Stille zwischen uns durch vorangegangene Nähe legitimiert, als genieße er nun seine wohlverdiente Ruhe.

Ich musste lachen.

«Also gut, also gut: erzähl!»

«Vor allem Alma», begann er. «Du kennst doch Alma?»

«Du hast sie mir letztes Jahr vorgestellt. Wir waren sogar bei ihr im Turm.»

«Aber auch Karen. Also, eigentlich alle.»

Er knetete seine Finger, schüttelte die letzten Tropfen Crémant aus der umgedrehten Flasche in unsere Gläser und auch ein paar dazwischen, strich sein Jackett glatt, auf dem nicht einmal eine Miniaturfalte zu sehen war, er striegelte sein Haar mit den Händen, und dann rückte er endlich damit heraus, dass die Damen Angelhaken nach ihm auswürfen, dass sie ihn zu sich zerrten, dass er Angst habe, zappelnd zu ersticken; er rückte damit heraus, dass die Damen ihn mit Kuchen überhäuften, um ihn satt und träge zu machen, in der Hoffnung, dass er sich schmatzend ergebe. Er fühle sich wie einer dieser neumodischen Popstars, die auf der Bühne mit Unterwäsche beworfen würden, vor einigen Tagen habe er die Kette angebracht, seitdem hätten sie es hoffentlich kapiert.

Jakob war bekannt für die brachiale Lösung filigraner Probleme, dennoch glaubte ich ihm kein Wort.

«Was für neumodische Popstars?»

«Na, du weißt schon», sagte er und nannte eine Band, deren Namen ich von der Rückseite eines seiner Flower-Power-Sampler kannte, ich glaube, es war der des Jahres 1972, wenige Jahre später brach die Sammlung dann ab.

«Und du? Willst du die Damen denn nicht?»

«Ich hab einmal im Leben geheiratet, das reicht.»

«Wer spricht denn von heiraten?»

Iris hatte ihm lange Jahre bewiesen, dass zwischen Heiraten und Singledasein ein breites Spektrum an amourösen Spielarten lag, das es virtuos auszuleben galt. Sie kannte sich aus mit den Sammlern und auch mit den Amateuren, die auf ihren Kunstflohmärkten eintrafen, wenn sie selbst bereits wieder aufgebrochen war, und die auch sonst ein schlechtes Timing besaßen. Es hatte Zeiten gegeben, zu denen jede Woche ein neues Blumenbouquet in der Villa aufgetaucht war oder ein handversiegelter Briefumschlag; inzwischen war sie nach Hamburg durchgestartet, was aus der Perspektive des südlichen Landstrichs, in dem Jakob noch immer lebte, einem Verrat gleichkam.

«Ich werd doch nicht wie deine Mutter!»

Er verschränkte die Arme vor der Brust und stülpte die Lippen vor, als wolle er auf einer Theaterbühne noch den hintersten Reihen verdeutlichen, dass er verletzt war und schmollte. Ich dachte an seine Begrüßung, an sein Mentholparfüm, das wohl doch eine leichte Alkoholfahne kaschierte, ich dachte an ihn in dem verfallenden Haus.

«Eine Frau würd dir vielleicht langsam auch mal –»

«Ist sie immer noch bei den Muselmanen?»

Ich schüttelte den Kopf.

«Komm schon, mit dem Klempner?»

«Sie ist wieder in Deutschland. Und der Klempner war diesmal nicht dabei.»

Er tätschelte meine Schultern, eher schwerfällig als grob, ich kämpfte gegen ein Kitzeln im Nacken oder auch nur mit dem Gleichgewicht, entwand mich ihm und setzte mich an den Ebenholztisch.

Er blieb stehen.

«Zwei Jahre hatte ich Ruhe», lamentierte er nach einer Weile, «zwei Jahre konnte ich die Tür öffnen, hinter der immer nur der Postbote stand oder an schlechten Tagen die Zeugen Jehovas, ich konnte ans Telefon gehen, ohne Vorwürfe zu hören und trösten zu müssen und Verständnis zu zeigen, zwei Jahre Ruhe, und jetzt das!»

Er setzte sich an den Tisch und nickte mir zu, ich wusste nicht, ob er das als Aufforderung verstand, bis ich begriff, dass sein Nicken weniger mir als seinem Leben, seiner Vergangenheit oder auch seiner Damenwelt galt, die er vor seinem inneren Auge ergriffen zu betrachten schien.

«Dann bist du also auch durch diese Lücke im Zaun geschlüpft», sagte er in einem Ton, als sei er nach schwieriger Analyse endlich zu einem Ergebnis gelangt, «da müssen wir was tun!»

Er verließ den Salon, hantierte lautstark in der Besenkammer und kam mit der schweren Werkzeugkiste aus metallblauem Falzblech zurück, die mir Iris vor einigen Jahren in der Hoffnung geschenkt hatte, ich würde damit ein ebenso prächtiges Bild abgeben wie ihr damaliger Kunsthandwerker, dem sie einige Wochen die Schraubenschlüssel gereicht und den Engländer gehalten hatte.

Nach zehn Stunden in Zügen und Bussen wollte ich mich einfach nur hinlegen, es war keine Frage, dass ich Jakob in den Park folgte und ihm dabei half, die Lücke zwischen Eisentor und Brombeerbusch mit Blumendraht zu verschließen. Jakob war eine Handbreit größer als ich, knotete auf Brusthöhe ein Drahtende ans Tor, rollte einen langen Strang ab, wickelte ihn am anderen Ende um eine Astgabel und wieder zurück um den Torpfosten, bis mehrere Lagen Blumendraht die Lücke weniger verschlossen als verzierten. Meine Hilfe beschränkte sich darauf, das überstehende Ende abzuzwacken und das Ergebnis auf Nachfrage als hilfreiche Stolperfalle abzunicken, auch wenn man eher Gefahr lief, sich mit dem Draht zu erwürgen, als darüber zu stolpern, gebückt konnte man weiterhin passieren.

«Philip, das haben wir gut gemacht!»

«Jetzt kehrt hier endlich wieder Ruhe ein», bekräftigte ich. Mein Magen war leer.

 

 

Am Abend brachte der Dottore eine durchsichtige Tüte voll roher Organe, um für sich und meinen Vater Spanische Nieren zu braten. «Ich wusste gar nicht, dass du hier bist, Philip, macht aber immer noch zwei Testikelchen für jeden!» Neben Spanischen Nieren zählten Ochsenzungensuppe und gebratene Froschschenkel zu Dottos Leibspeisen, die allesamt in Olivenöl geschwenkt und mit Knoblauch durchsetzt zu sein hatten, er nannte das: «Meine Kleinen Schweinereien.»

Dotto aß das fragwürdige Stück Rind, bei dem es sich keinesfalls um eine Niere handelte, nicht in derselben Absicht, in der andere Männer Ginsengwurzel, Nashornhorn oder Walfischmehl zu sich nehmen, wobei ich bis heute bezweifle, dass aus Walfischen Mehl werden kann, er aß das Stück einfach als mediterrane Spezialität: «Am Mittelmeer essen das alle.»

Der Dottore behauptete gern, keine Heimat zu haben, Weltbürger zu sein, mit kultureller Verwurzelung im Mittelmeerraum, er sagte das wirklich so: «kulturelle Verwurzelung», und sein Akzent machte das durchaus charmant. In langen Nächten hatte er nicht nur sich selbst, sondern ganz Deutschland im Mittelmeerraum verwurzelt, an der Mentalität müsse man noch etwas arbeiten, der Wille aber sei gegeben, und in so mancher früher Morgenstunde hatte er statt der Sieben Weltmeere nur noch eines gelten lassen: «Die Wiege unser aller Kultur, der Handel, die Phönizier, mit kulturellem Einfluss bis in den Westen der USA.»

Als Jakob und er bunten Pfeffer und gerebelten Thymian in die Pfanne streuten, extra natives und selbstimportiertes Olivenöl großzügig darübergossen und gleichzeitig einen schweren Barbera zum Anstoßen und einen leichteren zum Kochen entkorkten, als stünden ihnen alle acht Arme eines Tintenfischs zur Verfügung, war ich mir nicht sicher, ob ich wirklich die beiden so sah oder eher ihr Trugbild vom Jahr zuvor.

«Mehr Rosmarin!», rief Dotto gegen das zischende Öl an, «Wo sind die Knoblauchzehen, wo ist mein Majoran?», und die Artikulation gab seine Herkunft dann doch recht genau preis, «Mehr Salz!» Seine Konsonanten waren nicht stakkatohaft angestoßen wie die mancher Spanier, er verkürzte die Silben nicht zu unverständlichen Reihen von Reibelauten, wie es slawische Muttersprachler gelegentlich taten, er zog seine Vokale vielmehr in die Länge und rollte ein italienisches R, sprach ein bisschen singend, die Stimme nicht immer ganz tief.

«Reichst du mir noch mal meine Kleinen Schweinereien?», bat er wenig später am Ebenholztisch, sobald er eine weiße Stoffserviette umgebunden und Jakob seine Plastikschürze abgelegt hatte; alle Bemühungen, nicht ins Lachen zu geraten, scheiterten, entluden sich in kurzen Luftstößen, die gegen Dottos Willen aus seinem Mund herauszuplatzen schienen, er freute sich auf die nahende Pointe wie ein junger Liebhaber auf seinen Schatz.

Jakob lachte nicht so sehr jugendlich, er lachte eher trocken und aus dem Bauch heraus und reichte die Aluminiumschale vom Durchmesser eines Tortenbodens über den Tisch, eine Schale, die nur zu diesem einen Anlass aus dem eingestaubten Küchengeschirr gezerrt wurde. Auf dem edel anmutenden Silber tummelten sich die Organe, in verräterischen Zweierhügeln drapiert, mit einer hautartigen Ummantelung und haarigem Gestrüpp darauf.

Natürlich werden Spanische Nieren nicht als Ganzes und schon gar nicht im von der Natur bereitgestellten Säckchen gekocht, man schneidet sie in Scheiben, blanchiert sie in Brühe und brät sie dann in der Pfanne, Dotto aber hatte einen besonderen Spaß daran, möglichst naturgetreu nachzustellen, was seine Kochkultur auseinandergetrieben hatte; statt Haut ummantelten hauchdünne Fenchelschalen die Kleinen Schweinereien, und was nach Haaren aussah, entpuppte sich als ein Nest aus Rosmarinnadeln, knusprig frittiert.

Er schnupperte an dem frisch aufgetürmten Arrangement auf seinem Glasteller, lobte Geruch und Ästhetik mit barocken Worten und einer fingerwedelnden Gestik, und wünschte sich einen guten Appetit, Jakob schlitzte bereits erwartungsvoll seine Hügelchen auf. Mit jedem Messerschnitt, mit jedem Gabelstich mischte sich Schmerz in Dottos Miene, als wäre seinem eigenen Schoß entnommen, was soeben verspeist wurde, Jakob schnitt unbeirrt vor sich hin.

Ich fragte mich, warum ich von diesem abermals aufgeführten Schauspiel noch immer nicht gelangweilt war, warum ich vielmehr hoffte, dass weder Dotto noch Jakob ihre Einsätze verpassten, ich hätte sogar souffliert und letzte Regieanweisungen gegeben – Jetzt das Messer in den Fenchel! Jetzt die Rosmarinnummer! Jetzt die ersten Lachtränen! –, aber die beiden waren in einer Form, die ihrem Alter nur spottete, ich lehnte mich zurück.

Jakob schob sich eine weitere fettgetränkte Scheibe in den Mund und zerkaute sie zwischen den Backenzähnen, Dottos Bewegungen wurden ungehaltener und ungelenker, er spielte so treffend, als habe er sein Berufsleben nicht in Stadtplanungsbüros, sondern auf Theaterbühnen verbracht, kurz vor dem Höhepunkt schloss er die Augen.

«Köstlich», rief mein Vater.

«Aah», rief Dotto.

Jakob näherte nun Daumen und Zeigefinger pinzettengleich den Rosmarinnadeln und zupfte sie mit schnellen Bewegungen vom Teller wie unliebsame Haare aus bestimmten Körperöffnungen, Dotto stöhnte auf, griff sich bei jeder entfernten Nadel in den Schoß, was er letztes Jahr erst eine Weinflasche später getan hatte, hielt sich bald nur noch auf den Hinterbeinen seines Stuhls.

Die Rosmarinnummer führte auch dieses Jahr wieder dazu, dass selbst ich mich eines Anflugs von Phantomschmerz nicht erwehren konnte, beiden Männern traten Tränen in die geröteten Augen, Dotto weinte, Jakob lachte, Tränen, die der eine mit dem Handrücken trocken wischte, wenn er glaubte, dass der andere gerade nicht hinsehe, kurz vor dem Moment, in dem sie über die unteren Lider treten und die Wangen hinabrollen würden.

Mit einem unerwartet heftigen Anfall fiel Dotto aus der Rolle, er lachte nicht, er schnaubte, eine Rosmarinnadel stieg von seinen Lippen auf und landete auf meinem leeren Porzellanteller, er versuchte sich Rotwein einzuschenken, tränkte stattdessen mehrere gedünstete Knoblauchzehen, die sofort einen rötlichen Farbton annahmen, Jakob leitete das Finale ein. Er nahm Dotto die Flasche aus der Hand und stand auf, auch der Dottore erhob sich aus dem Stuhl, die beiden stützten sich mit der Linken an der Schulter des anderen ab, während sie mit der Rechten Brüderschaft tranken, die Armbeugen ineinander verhakt.

Ich selbst verspürte bei Dottos Gerichten den gleichen gustatorischen Tiefgang wie beim Verzehr einer verbrannten Tiefkühlpizza, und als beide Männer sich erneut bedient und mir ihre Delikatesse wiederholt erfolglos angeboten hatten, streichelte Jakob die Luft über den verbliebenen Kugeln, die unter seiner gewölbten Handfläche nun eher weiblicher als männlicher Anatomie zu ähneln schienen; augenblicklich imaginierte ich Frauenkörper um die Miniaturbusen herum, gebratene Miniaturfrauen auf den Tellern zweier alter Männer und musste lächeln, Jakob fasste sich an die Brust.

Er zog sein Telefon aus der Jacketttasche, überflog die eingegangene Nachricht und ließ das Gerät auf der Tischplatte kreiseln, seine Augen wirkten, als habe er bis soeben eine Sonnenbrille getragen und nun Probleme mit dem Licht.

«Er wird verfolgt!», sagte Dotto geheimnisvoll.

Der Dottore hatte nach seiner Pensionierung Schraubenziegen in den Abruzzen gehütet, ihre Hörner seien wie riesige Korkenzieher, hatte er auch heute wieder erklärt, ich vertrieb die schillernde Vorstellung, die ich mir von derart gewickelten Paarhufern gemacht hatte, und dachte an die noch verwickeltere Damenwelt meines Vaters. Seinen Augen war anzusehen, dass er ebenfalls an sie dachte, er stieß beim Atmen die Luft aus wie Rauch.

«Von der Damenwelt, ich weiß.»

Jakob genoss unsere fragenden Blicke und schwenkte sein Rotweinglas, bis Weinstein durch die Fliehkraft nach außen geschwemmt wurde und sich am Glasrand festsetzte. Dann stürzte er den Barbera nicht etwa theatralisch herunter, immerhin war sein Auftritt beendet, der Vorhang gefallen; er benetzte nur seine Lippen, als handle es sich um aufgezwungenen Rote-Beete-Saft, schließlich drückte er seinen Mund auf die Serviette und zeigte Dotto und mir den überraschend perfekt ausgeprägten Abdruck, als erwarte er nun doch wieder Applaus.

Die Stille brachte mich aus der Ruhe. Ich entkorkte die dritte Flasche Wein. Jakob bekam eine neue Nachricht, er las den Text, der ihm augenscheinlich nicht gefiel.

«Wer war das?»

«Ach, irgendwer –»

Seit nun schon zwei Jahren antwortete er nur ungern auf konkrete Fragen und versteckte sich hinter einem trotzig aufgeschichteten Wall der Wunderlichkeit, der sich mit dem meiner Patienten messen lassen konnte; als Teenager hatte ich ihm diese Phase erspart, soweit ich mich erinnerte, die letzten weißlichen Scheiben erkalteten auf dem silberfarbenen Blech.

Jakob gähnte hinter vorgehaltener Hand. Nur die Hülle seines Körpers erinnerte noch an den kauenden, schlingenden, prassenden Mann, der vor einer halben Stunde seinem besten Freund um den Hals gefallen war, um mit ihm Brüderschaft zu trinken; der Geist, der in dieser Hülle beheimatet war, hatte sich unauffällig davongemacht.

Draußen versteckte sich der Park in einem schwarzen Raum ohne oben und unten, als ob keine Dämmerung je dagegen ankäme. Den Esstisch erhellte lediglich die Energiesparbirne der Tiffanylampe, der mattgelbe See aus Glas und das Seepferdchen im roten Schilfgras, vor Jahren von Iris ins Zinn gelassen.

Ich kippte das Bullauge, das zum See ging; Föhnwind strömte herein, packte mich am Hals und an den Schläfen, ich schüttelte mich, auf den Unterarmen stellten sich erste Haare auf. War nicht das Schilfrohr draußen zu hören, das Reiben von Bast und von Rispen, eine Böe am Ufer vielleicht?

Jakob drehte den Kopf zum mittleren der Panoramafenster, statt Gardinen säumten es Silberlamellen, die nun in der Zugluft flatterten; er schnupperte die feuchtwarme Luft, die über die Nierenreste und um die Weingläser strich, wirkte weder versunken noch sonderlich präsent, sein Gesicht war einfach nur leer.

«Und, wie war deine Fahrt?»

Mein Mund schmeckte modrig, es fiel mir schwer, ihn zu öffnen, Artikulieren schien plötzlich anstrengender als Kopfrechnen. Ich berichtete von schläfrigen Punks und überdrehten Rentnern und nicht von Iris, Dotto fiel mir ins Wort. Man erlebe dieser Tage ja ohnehin nichts mehr, ob wir uns wirklich mit Punks und Rentnern beschäftigen wollten, ob er uns schon von Tauban-Süd berichtet habe? «Vierzig Bauarbeiter», ich glaubte mich zu erinnern, dass es letztes Jahr nicht halb so viele gewesen waren, «vierzehn Handwerksbetriebe, sieben Bauleiter, neun Architekten und fünf Stadtplaner, und einer von denen war ich!»

Diesmal meldete sich das Telefon mit einem Anruf, Jakob war zu langsam, den aufleuchtenden Schriftzug zu verdecken: Karen ruft an. Er lächelte knapp, ich wusste nicht, ob er das Schmunzeln inszenierte oder ob vielmehr das Schmunzeln ihn im Griff hatte, mit einem gezielten Stoß seines Zeigefingers stellte er das Gerät aus, ließ es in seine innere Jacketttasche gleiten.

«Tauban-Süd?», fragte er, als habe er die letzten Sekunden suchend über einer Landkarte verbracht, Dotto ließ sich nicht bitten. Er zerschnitt mit seinem Messer die Luft über dem Esstisch, indem er uns die groben Umrisse des Stadtviertels skizzierte, den Südteil, die Biotope und Grünspangen, bis ein glockenhelles, gläsernes Klirren erklang. Jakobs Lächeln verschwand aus seinem Gesicht wie von einer Hologrammkarte, die man in einem veränderten Winkel gegen das Licht hält, die Tiffanylampe schaukelte auf und ab.

Er strich über den Lampenschirm, auf der Suche nach einem Kratzer im Tiffanyglas oder nach einer Delle im Zinn, seine Fingerkuppe färbte sich grau. Dann nahm er die Hand von der Lampe und kreiste mit dem Zeigefinger auf der Serviette, als gelte es weit mehr als nur Staub dabei abzustreifen, der Weinmund auf der Serviette verwischte, wurde schwarzrot, dann violett.

 

 

Karen brachte eine Wolke aus frischem Sauerstoff und nicht ganz so frischem, etwas mandel- oder gar muskatnusslastigem Parfüm mit herein. Gerade wollte ich mich erheben, um unauffällig an ihrem Mantel zu riechen, einen weiteren Rotweinschwenker zu decken, nach dem Befinden ihrer Lungen zu fragen, als ich sah, dass Dotto längst stand, Karen umkreiste, Stühle rückte und Küsse verteilte, den roten Seidenmantel knapp unter seiner Nase hindurchzog und anerkennend nickte, Karen nahm den Mantel wieder an sich.

Jakob blieb sitzen.

Sie beugte sich über den Tisch, fasste mir ans Kinn, als wolle sie meinen Kiefer vermessen, eine Form der Begrüßung, die ausschließlich einer Frau zustand, die einen bereits in den Kindergarten gebracht hatte. Ich wartete, dass sie «Alles klar bei den Wunderlichen?» fragen und sich damit weniger nach der Tischrunde, als nach meinen Patienten erkundigen würde, sie hatte das Wort bei Jakob entlehnt.

Durch den Stoff ihres grauen Cardigans hindurch massierte sie ihre rechte Armbeuge, vielleicht hatte man ihr Blut abgenommen, war der Arzt übermüdet gewesen, hatte die Nadel ihre Vene geschädigt; mit herabgezogenen Mundwinkeln musterte Karen die letzten Fettinseln und Fleischstücke, wies mit dem Zeigefinger auf Dotto und dann auf meinen Vater, als habe sie vor einer meuternden Schulklasse die größten Störenfriede ausgemacht, endlich setzte sie sich und tätschelte etwas abwesend Dottos Hand.

«Hallo Jakob, wir haben uns gar nicht begrüßt.»

«Ich wünsche einen guten Tag!»

«Wie war die Rosmarinnummer, Philip?»

«Schmerzhaft.»