Cover

Jürgen Osterhammel

Niels P. Petersson

GESCHICHTE DER
GLOBALISIERUNG

Dimensionen, Prozesse, Epochen

C.H.Beck


Zum Buch

«Globalisierung» wird häufiger als jeder andere Begriff benutzt, um die gegenwärtige Epoche zu charakterisieren. Welche langfristigen Prozesse haben aber den gegenwärtigen Zustand herbeigeführt? Solche Prozesse waren bereits wirksam, als es den Begriff «Globalisierung» noch nicht gab. Die Zeitgenossen sprachen von der europäischen Expansion, der Entstehung der Weltwirtschaft, der Verknüpfung der Kontinente durch massenhafte Wanderungen, der planetarischen Ausweitung internationaler Beziehungen und der Herausbildung kosmopolitischer Strömungen auf kulturellem Gebiet. Alle diese Prozesse, von denen keiner stetig und krisenfrei verlief, werden in einen interpretierenden Zusammenhang zueinander gesetzt. Das Buch verleiht einem der wichtigsten Begriffe heutiger Zeitdiagnose historische Tiefenschärfe.

Über die Autoren

Jürgen Osterhammel war bis 2018 Professor für Neuere Geschichte an der Universität Konstanz. Bei C.H.Beck ist von ihm lieferbar: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts (52010), Die Entzauberung Asiens. Europa und die asiatischen Reiche im 18. Jahrhundert (bsr, 2010) und Die Flughöhe der Adler. Historische Essays zur globalen Gegenwart (2017).

Niels P. Petersson ist Professor für Geschichte an der Sheffield Hallam University. Von ihm ist lieferbar: Anarchie und Weltrecht. Das Deutsche Reich und die Institutionen der Weltwirtschaft (Göttingen 2009), Globalgeschichten. Bestandsaufnahme und Perspektiven (Hg. mit B. Barth und S. Gänger, Frankfurt a.M. 2014), Shipping and Globalization in the Postwar Era: Contexts, Companies, Connections (Hg. mit S. Tenold und N. J. White (Cham 2019).

Inhalt

I. «Globalisierung»:
Umkreisung eines Begriffs

1. Gegenwartsdiagnose und historischer Prozessbegriff

2. Bedeutungskern und Kontroversen

II. Dimensionen von Globalisierung

1. Weltsystem – Imperialismus – «global history»

2. Netzwerke und Interaktionsräume

3. Perioden

III. Bis 1750: Aufbau und Verfestigung
weltweiter Verbindungen

1. Fernhandel, Großreiche, Ökumenen

2. Schießpulverimperien und maritime Räume

3. Löcher in den Netzen

IV. 1750–​1880: Imperialismus, Industrialisierung
und Freihandel

1. Frühe Weltpolitik und atlantische Revolutionen

2. Fernwirkungen der Industriellen Revolution

3. Imperien und Nationalstaaten

4. Die Entstehung der Weltwirtschaft

V. Weltkapitalismus und Weltkrisen,
1880–​1945

1. Globalitätserfahrungen, Weltwirtschaft und Weltpolitik um die Jahrhundertwende

2. Imperialismus und Weltkrieg

3. 1918–​1945: Globale Krisen und Konflikte

4. Das «Jahrhundert Amerikas»

VI. 1945 bis Mitte der 1970er Jahre:
Die halbierte Globalisierung

1. Räume des Politischen: Machtblöcke, Nationalstaaten
und transnationale Bewegungen

2. Institutionen der Weltwirtschaft

3. Soziokulturelle Globalisierung?

VII. Schluss

1. An der Jahrhundertwende

2. Auf dem Weg in ein globales Zeitalter?

3. Globalisierung: Für die Normalisierung des Begriffs

Anmerkungen

I. «Globalisierung»: Umkreisung eines Begriffs

II. Dimensionen von Globalisierung

III. Bis 1750: Aufbau und Verfestigung weltweiter Verbindungen

IV. 1750–​1880: Imperialismus, Industrialisierung und Freihandel

V. Weltkapitalismus und Weltkrisen, 1880–​1945

VI. 1945 bis Mitte der 1970er Jahre: Die halbierte Globalisierung

VII. Schluss

Literaturempfehlungen

1. Theorie

2. Geschichte

Sachregister

I. «Globalisierung»:
Umkreisung eines Begriffs

1. Gegenwartsdiagnose und historischer Prozessbegriff

«Globalisierung» war lange ausschließlich ein Begriff der Gegenwartsdiagnose. Anfangs wenig beachtet und auf Spezialveröffentlichungen von Wirtschaftswissenschaftlern beschränkt, hat dieser Begriff seit den 1990er Jahren eine erstaunliche Karriere erlebt. In zahlreichen Sprachen ist er heimisch geworden. Verschiedene Wissenschaftsdisziplinen haben ihn zur Leitkategorie erkoren. Täglich wächst die Literatur, bei der es um Globalisierung oder Globalität, Globalgeschichte oder globalen Kapitalismus geht. Bereits ist Pfadfinderschrifttum erforderlich, um Schneisen durch das semantische Dickicht zu schlagen.[1] Allerdings droht der Begriff zu sprachlichem Imponiermaterial zu werden, um dessen genaue Bedeutung man sich wenig zu sorgen braucht, solange der Anschein des Tiefsinns skeptische Rückfragen abwehrt.

Nun ist die allgemeine Beliebtheit von «Globalisierung» jedoch mehr als das Symptom einer kollektiven Denkschwäche. Der Begriff füllt konkurrenzlos einen legitimen Platz: Er gibt der Epoche einen Namen. Es war in den letzten Jahrzehnten nicht einfach, die Signatur des gegenwärtigen Zeitalters prägnant zum Ausdruck zu bringen. In den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts schwärmten manche vom «Atomzeitalter». In den sechziger und siebziger Jahren redeten die einen von der reifen «Industriegesellschaft», die anderen vom «Spätkapitalismus», in den Achtzigern fand die «Risikogesellschaft» viel Anklang, und die «Postmoderne» kam in Mode, drang allerdings nicht ins allgemeine gesellschaftliche Bewusstsein ein, weil man sich nichts Konkretes darunter vorstellen konnte. «Globalisierung» war da ein Begriff von anderem Kaliber. Er schloss an Erfahrungen an, die viele Menschen machten: Zum einen brachten Konsum und Kommunikation den Bewohnern der reichen Länder tatsächlich (fast) den ganzen Globus ins Haus. Zum anderen schien durch die Auflösung der abgeschotteten Sonderwelt des Sowjetblocks der Planet insgesamt von einheitlichen Prinzipien westlich-moderner Lebensgestaltung durchwirkt zu werden. Unter ökonomischem Gesichtspunkt schienen durch die Befreiung der Marktkräfte von staatlicher Regulierung und durch technologische Neuerungen im Bereich von Datenverarbeitung und Kommunikation Märkte zu entstehen, auf denen Angebot und Nachfrage weltweit wirksam werden konnten. So tief auch die Kluft zwischen den schwer durchschaubaren Zusammenhängen weltweiter wirtschaftlicher Verflechtung und den leicht zugänglichen Alltagserfahrungen von Entgrenzung sein mag – der Begriff der Globalisierung hat den großen Vorzug, beiden Seiten gerecht zu werden, Verstand und Gemüt auf einen Nenner zu bringen. Immer wieder bestätigt sich auch der triviale Kern, der sich im Inneren des Begriffs verbirgt: Die Welt wird zusehends «kleiner», und Entferntes wird immer stärker miteinander verknüpft. Zugleich wird sie «größer», weil wir noch niemals weitere Horizonte überschauen konnten.[2] Wenn man daher den Zeitgeist der letzten Jahrhundertwende «auf den Begriff» bringen will, dann bleibt tatsächlich kaum eine Alternative zu der Versicherung, wir seien in die Epoche der Globalisierung eingetreten.

An diesem Punkt drängt es Historiker, sich in die Diskussion einzumischen. Auf der einen Seite kommt ihnen manches bekannt vor, das in der soziologischen Literatur als neue Erkenntnis angepriesen wird. So haben zum Beispiel Wirtschaftshistoriker schon lange, bevor es das Wort «Globalisierung» überhaupt gab, den Prozess der Herausbildung und allmählichen Integration einer Weltwirtschaft ziemlich genau beschrieben. Dabei geht es Historikern um Präzision sowohl bei der Deskription von Sachverhalten als auch bei der Zurechnung von Wirkungen und Ursachen.

Während in dieser Hinsicht Historiker ihrem Ruf gerecht werden, besonders genau hinzuschauen und im Zweifelsfall dem begründeten Nachweis den Vorzug vor der glitzernden Pointe zu geben, folgen bei anderen Fragestellungen auch sie dem Zug ins Große. Seit langem deutet die Geschichtswissenschaft die Veränderungen, welche die Welt seit etwa zweieinhalb Jahrhunderten erlebt hat, mit Hilfe sehr weit gefasster Prozessbegriffe, die man – analog zu den bekannten «Ismen» (Liberalismus, Sozialismus usw.) – als «Ierungen» bezeichnen könnte: Rationalisierung, Industrialisierung, Urbanisierung, Bürokratisierung, Demokratisierung, Individualisierung, Säkularisierung, Alphabetisierung u.a.m. Alle diese Vorgänge, die jeweils eigenen Zeitmustern folgen und auf eine sehr komplizierte Weise miteinander zusammenhängen, haben gemeinsam, dass sie langfristig ablaufen, sich in unterschiedlichen Formen und Intensitäten auf allen Kontinenten abspielen und eine verändernde Kraft freisetzen, wie sie in der älteren, der vormodernen Geschichte selten anzutreffen ist. Der Metabegriff der «Modernisierung» versucht, die genannten Einzelprozesse zu einer Gesamtentwicklung zu bündeln.

«Globalisierung» scheint sich schon von der Wortform her für einen Platz unter den Makroprozessen der modernen Welt zu qualifizieren. Man muss den Begriff nicht gleich auf die oberste Ebene, also direkt neben (oder gar über) «Modernisierung», stellen und in der zunehmenden Verdichtung ferner Zusammenhänge das Hauptmerkmal der Weltentwicklung sehen. Es genügt zu fragen, ob «Globalisierung» möglicherweise so aussagekräftig und so wichtig sein könnte wie etwa «Industrialisierung». Das wäre schon eine ganze Menge und würde das Deutungsrepertoire der Geschichtswissenschaft erfreulich bereichern. Es wäre um so willkommener, als sich keine der oben genannten «Ierungen» auf Zusammenhänge zwischen Völkern, Staaten und Zivilisationen bezieht. Sie alle machen sich im nationalen und regionalen Rahmen bemerkbar und werden auch auf diese Weise wissenschaftlich untersucht. Insoweit «Globalisierung» sich einen Rang unter den großen Entwicklungsbegriffen verdient hat, ist eine breite Lücke gefüllt – hier kann alles Inter-Kontinentale, Inter-Nationale, Inter-Kulturelle (usw.) untergebracht werden, das lange zwischen den etablierten «Diskursen» der Historiker heimatlos herumvagabundierte.

Wir hüten uns vor dem albernen Anspruch, die gesamte Geschichte der Neuzeit als eine der Globalisierung neu schreiben zu wollen. Wir werden vielmehr versuchen, aus der Perspektive von Globalisierung einen neuen Blick auf die Vergangenheit zu werfen. Man kann es auch anders sagen: Dass viele Aspekte des heutigen Daseins nur noch im Zusammenhang weltweiter Verflechtungen verstanden werden können, ist ein Gemeinplatz. Haben solche Verflechtungen aber nicht auch in der Vergangenheit eine größere Rolle gespielt, als es im gängigen Geschichtsbild zum Ausdruck kommt? Welcher Art waren diese Verflechtungen, wie funktionierten sie, und summierten sie sich wirklich zu einem Prozess eigenen Charakters, der es rechtfertigt, den Begriff der «Globalisierung» dafür zu verwenden? Schließlich: Wenn sich die letzte Frage bejahen lässt – kann man dann eine Zeitenwende gegen Ende des 20. Jahrhunderts identifizieren, an der Globalisierungstendenzen so dramatisch und dominant wurden, dass man es wagen kann, von einer tiefen Zäsur, also dem Beginn einer neuen Epoche zu sprechen, eines «globalen Zeitalters» (Martin Albrow), einer «Zweiten Moderne» (Ulrich Beck, Anthony Giddens), «Cosmopolis» (Timothy Garton Ash) oder welches Etikett man auch immer wählen mag?

2. Bedeutungskern und Kontroversen

In den meisten Definitionsangeboten spielen die Ausweitung, Verdichtung und Beschleunigung weltweiter Beziehungen eine zentrale Rolle. Definitionen werden dabei oft bereits mit gegenwartsdiagnostischen Aussagen verbunden. Dabei geht es etwa darum, ob Globalisierung den Untergang des Nationalstaats bedeutet, ob sie eine kulturelle Vereinheitlichung der Welt mit sich bringt oder ob sie den Konzepten von Raum und Zeit einen neuartigen Sinn verleiht. Hinter solchen Diskussionen über die Bedeutung von Globalisierung verbergen sich nicht selten auch krass formulierte Werturteile. Die Pole eines breit ausgefächerten Spektrums werden durch Globalisierungseuphoriker und Globalisierungsgegner markiert. Begrüßen die einen den Beginn einer neuen Ära von Wachstum und Wohlstand, so erkennen die anderen eine heraufziehende globale Herrschaft der westlichen kapitalistischen Länder und Chinas zum Nachteil von Demokratie, Arbeitnehmerrechten, armen Ländern überhaupt und des globalen Ökosystems.

Wenn es ein allgemeines Einverständnis unter den Autoren der unterschiedlichsten Richtungen gibt, dann liegt es in der Annahme, Globalisierung stelle die Bedeutung des Nationalstaates in Frage und verschiebe das Machtverhältnis zwischen Staaten und Märkten zugunsten Letzterer.[3] Die Nutznießer dieser Entwicklung, von den nationalen Regierungen durch die Erleichterung des Freihandels gefördert, seien multinationale Konzerne, die sich für ihre Aktivitäten ohne Loyalität zu ihrem jeweiligen Ursprungsland weltweit die kostengünstigsten Standorte aussuchen könnten. Die wirtschaftspolitischen Einflussmöglichkeiten nationalstaatlicher Regierungen würden dadurch ebenso beeinträchtigt wie deren Zugang zu Ressourcen, vor allem Steuern. Auch würde die sozialstaatliche Daseinsvorsorge abgebaut und damit zugleich die Legitimität des Staates gemindert – in den Augen neoliberaler Globalisierungsenthusiasten ein Zugewinn an persönlicher Freiheit, für Globalisierungsgegner der Einbruch der Anarchie, von dem nur die Starken profitieren. Die Untergrabung der äußeren Souveränität des Nationalstaates und seines inneren Gewaltmonopols und Steuerungsvermögens ist eines der zentralen Themen der heutigen Sozialwissenschaften.[4]

Ein zweites Merkmal von Globalisierung, über das Einigkeit herrscht, ist ihr Einfluss auf all das, was man unter «Kultur» zusammenfasst. Kulturelle Globalisierung, angetrieben durch Kommunikationstechnologie und die weltweit operierende Kulturindustrie des Westens, wurde zunächst als Homogenisierung verstanden, als die planetarische Vorherrschaft der amerikanischen Massenkultur auf Kosten tradierter Vielfalt. Schon bald wurde aber auf eine gegenläufige Tendenz hingewiesen: das Aufkommen von Bewegungen, die aus dem Protest gegen Globalisierung neuen Antrieb für die Verteidigung lokaler Eigenart und Identität beziehen, sich zugleich aber auch selbst der neuen Technologien bedienen, um ihre Ziele effizienter zu verfolgen und an die Unterstützung der Weltöffentlichkeit zu appellieren. Roland Robertson hat diese Gleichzeitigkeit von Homogenisierung und Heterogenisierung als eine simultane «Universalisierung des Partikularen und Partikularisierung des Universalen» bezeichnet. Gleichzeitig führte er den Begriff der «Glokalisierung» ein, um zu betonen, dass globale Tendenzen stets lokal wirksam werden und jeweils besonderer «Aneignung» bedürfen.[5] Die Ergebnisse kulturellen Wandels durch Globalisierung werden häufig auch als «Hybridisierung» interpretiert, also als Vermischung kreativ angeeigneter neuer Kulturelemente mit schon vorhandenen.[6] Massenmedien, Fernreisen und global nachgefragte Konsumgüter waren hochwirksame Mechanismen der «Glokalisierung» lange vor dem Aufkommen der «sozialen Medien».

Angesichts der Leichtigkeit und Häufigkeit, mit der Menschen, Waren und vor allem Informationen große Distanzen überwinden, haben zahlreiche Autoren Globalisierung als grundlegende Veränderung der Kategorien von Raum und Zeit beschrieben, als «space-time compression», wie der Geograph David Harvey es nennt, als Verdichtung von Raum und Zeit.[7] Dies kann als drittes Grundmerkmal des sozialwissenschaftlichen Verständnisses von Globalisierung gelten. «Space-time compression», wie sie bereits mit einer radikalen Verbilligung des Telefonierens und der Verbreitung elektronischer Post beginnt, schafft gemeinsame Gegenwart und ein «virtuelles» Miteinander und bildet damit die Voraussetzung für weltweite soziale Beziehungen, Netze und Systeme, innerhalb derer die effektive Distanz wesentlich geringer ist als die geographische. Die wichtigste Ursache dafür ist die erhöhte Geschwindigkeit von Kommunikation.

Eine etwas andere Weise, dies auszudrücken, ist, von «Entterritorialisierung» oder «Supraterritorialität» zu sprechen.[8] Für zahlreiche soziale Beziehungen spielen Orte, Entfernung und Grenzen keine Rolle mehr. Globalisierung wird – und auch darüber scheint Einvernehmen zu bestehen – nicht als die verdichtete Interaktion zwischen weiterhin national verfassten Gesellschaften verstanden, sondern als eine Tendenz zur Auflösung von Territorialität und räumlich gebundener Staatlichkeit überhaupt – das geographische Pendant zur These vom Funktionsverlust des Staates zugunsten sich selbst regulierender Marktkräfte.

Von den weitergehenden Interpretationen und Prognosen, die die einzelnen Wortführer der Globalisierungsdiskussion an ein solches gemeinsames Grundverständnis knüpfen, seien zwei erwähnt: Martin Albrows Konzept der «Globalität» und Manuel Castells’ Idee der «Netzwerkgesellschaft». Für Albrow bezeichnet «Globalität» einen neuartigen Orientierungsrahmen, der die Gegenwart von aller früheren Geschichte abhebt. Er benennt folgende Dimensionen von Globalität: Umweltfragen stellen sich im Rahmen eines globalen Ökosystems; Massenvernichtungswaffen bringen die Gefahr der Zerstörung der ganzen Erde mit sich; Kommunikationssysteme und Märkte erstrecken sich über die ganze Welt; schließlich ist Globalität reflexiv geworden, d.h. für immer mehr Menschen bildet das Wissen um solche planetarischen Zusammenhänge den Bezugsmaßstab ihres Handelns und Denkens. Manuel Castells wiederum beschreibt Globalisierung als die Entstehung der «Netzwerkgesellschaft», einer historisch beispiellosen Gesellschaftsform. Computertechnik mache es erstmals möglich, flexible soziale Beziehungen unabhängig von Territorien zu organisieren. Nicht mehr die hierarchische, bürokratisierte Großorganisation, sondern das locker gefügte horizontale Netzwerk sei die Organisationsform von Wirtschaft und Politik im «Informationszeitalter». Damit veränderten sich die Grundlagen der Ausübung von Macht und der Verteilung von Ressourcen: Macht zeige sich nicht mehr in Befehl und Gehorsam, sondern sei in der Existenz einer auf einen jeweils bestimmten Zweck ausgerichteten Netzwerkorganisation verankert. An die Stelle von Unterdrückung und Ausbeutung, von sozialem «Oben» und «Unten» und geographischen «Zentren» und «Peripherien» trete in der Netzwerkgesellschaft das Prinzip von Zugehörigkeit zum und Ausschluss aus dem Verbund. Die große Kluft in Castells’ neuer Welt verläuft zwischen den Vernetzten und den Unvernetzten.

Neben solchen ehrgeizigen Deutungsentwürfen von zuweilen prophetischem Zuschnitt stehen bescheidenere Ansätze, bei denen «Globalisierung» nicht zu einer selbst historisch wirksamen Kraft mystifiziert,[9] sondern eher als deskriptiver Sammelbegriff für eine Reihe konkreter Transformationsprozesse aufgefasst wird. Bei David Held (und seinen Mitautoren) etwa erscheint Globalisierung als das Ergebnis von bereits länger andauernden, nicht notwendigerweise kontinuierlich verlaufenden Prozessen. Wirtschaftliche, politische, kulturelle und militärische Verflechtungen folgen weiterhin ihrer jeweils eigenen Dynamik und unterschiedlichen Antrieben; auch ihre Reichweite muss durchaus nicht deckungsgleich sein. Die Auswirkungen dieser Prozesse sind nach Ort, Zeit und sozialer Schicht verschieden. Globalisierung ist in dieser Sicht ein nicht determinierter (alltagssprachlich: «vorprogrammierter») Prozess, der die bekannten Einrichtungen menschlicher Kollektivorganisation wie Staaten, Unternehmen, Kirchen, die Familie (usw.) nicht abschafft, sie aber tiefgreifend umformt. Unweigerlich bringt er fragmentierende Gegenkräfte hervor. Ähnliche Gedanken entwickeln James N. Rosenau und Ian Clark, zwei historisch interessierte Vertreter der Lehre von den internationalen Beziehungen. Diese sogenannten «Transformationalisten» sehen Globalisierung als ein Phänomen der jüngsten Vergangenheit, das allerdings auf Prozessen großräumiger politischer, wirtschaftlicher, kultureller und militärischer Interaktion beruht, die eine lange Geschichte haben.

Schließlich fehlt es auch nicht an Globalisierungsskeptikern. Sie dürfen nicht mit den zuweilen sehr militanten Globalisierungsgegnern verwechselt werden. Diese teilen mit ihren Widersachern, den Aposteln der Globalisierung, den Glauben, Zeugen einer fundamentalen Umwälzung der gesellschaftlich-politischen Welt zu sein. Die Skeptiker hingegen halten dies für eine Übertreibung und zuweilen sogar das gesamte Reden über Globalisierung für eine ideologische Verschleierung amerikanischer Strategien ökonomischer Kontrolle oder für einen Propagandatrick neoliberal gesinnter Geschäftseliten und Technokraten. So sehen Paul Hirst und Grahame Thompson in der üblichen Globalisierungsliteratur wenig mehr als eine Sammlung von Anekdoten, Impressionen und aus dem Zusammenhang gerissenen Einzeltatsachen. Es werde suggeriert, aus deren Addition ergebe sich das geschlossene «Phänomen» der Globalisierung. Hirst und Thompson, die sich auf die wirtschaftlichen Aspekte konzentrieren, vermögen hinter den zahlreichen Beispielen einen solchen Zusammenhang nicht zu sehen.

Dies verweist noch einmal auf die Bedeutung der Begriffsbildung. Wer einen funktionierenden Weltmarkt, freien Welthandel und ungehinderten Kapitalverkehr, Wanderungsbewegungen, multinationale Konzerne, internationale Arbeitsteilung und ein Weltwährungssystem als Anzeichen für Globalisierung gelten lässt, wird all dies schon in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts finden. Wer dagegen nach einer weltweiten Totalvernetzung «in Echtzeit» sucht, wird je nach Temperament die Gegenwart als Anfang eines heraufziehenden neuen Zeitalters feiern oder sich entrüstet von der Zumutung abwenden, in einer solch oberflächlichen Diagnose das neueste «master narrative» der Soziologie zu akzeptieren. Es wäre daher naiv, als Historiker zu fragen, «wann die Globalisierung begann» oder «ob es im 18. Jahrhundert bereits Globalisierung gab». Zuerst müssen wir uns auf ein eigenes, die Mitte zwischen Schwammigkeit und Pedanterie haltendes Konzept von «Globalisierung» verständigen. Ein solcher Begriff muss als «Suchscheinwerfer» in die Vergangenheit hineinleuchten, ohne das Ergebnis der Suche bereits vorwegzunehmen.

II. Dimensionen von Globalisierung

Wird Globalisierung als eine Erscheinung erst der letzten Jahrzehnte, vielleicht sogar als Beginn einer neuen historischen Epoche bezeichnet, so ist eine solche Aussage überhaupt nur möglich, wenn man das Neue dem Bisherigen gegenüberstellt. Wird Globalisierung hingegen als Ergebnis des Zusammenwirkens und der gegenseitigen Verstärkung längerfristiger Prozesse betrachtet, so befinden wir uns erst recht inmitten wichtiger Probleme historischer Analyse. Auf den ersten Blick schien es lange, als hätten sich Historiker wenig mit Globalisierung beschäftigt; nur eine kleine Zahl vor dem Jahr 2000 erschienener historischer Bücher trägt diesen Begriff – oder das Adjektiv «global» – im Titel. Das allerdings wäre ein wenig glaubhafter Befund. Sollte sich einer der großen Entwicklungsprozesse der Neuzeit heimlich und unbemerkt abgespielt haben? Selbstverständlich nicht. Man muss die Literatur also unter anderen Schlagworten und Rubriken suchen. Allein schon deshalb ist es erforderlich, den arg grandiosen Begriff der «Globalisierung» in Teilaspekte zu zerlegen. Dies soll im zweiten Abschnitt dieses Kapitels geschehen. Zuvor aber muss der Globalisierungsbegriff kurz in der Ideen- und Wissenschaftsgeschichte situiert werden.

1. Weltsystem – Imperialismus – «global history»

Trotz des Universalismus ihrer Vorläufer und Gründerväter (von Montesquieu bis Max Weber) hatte sich die Soziologie seit langem darauf eingerichtet, national geschlossene Gesellschaften – die deutsche, die französische, die japanische usw. – so zu untersuchen, als ließen sie sich säuberlich aus größeren Zusammenhängen herauslösen. Kritik daran war weithin ungehört verhallt.[1] Unter dem Motto der Globalisierung wurden nun Erscheinungen wie Migration, weltweite Kommunikation und weltwirtschaftliche Verflechtung nicht länger nur von Spezialisten beachtet. Die Vorstellung von Gesellschaft als einer in sich geschlossenen, kohärenten und klar abgegrenzten Einheit – die «Container-Theorie» der Gesellschaft (Ulrich Beck)[2] – wurde in Frage gestellt.

Langsamer verlief das Umdenken unter Historikern, die in ihrer großen Mehrheit Nationalhistoriker waren und sind, in der Regel Experten für die Geschichte ihrer eigenen Nation. Dennoch haben sich Arbeitsgebiete entwickelt, deren Ergebnisse für die Geschichte der Globalisierung genutzt werden können:

(1) Die Geschichte der «Weltwirtschaft», also hauptsächlich des internationalen Handels, war lange ein Schwerpunkt der deutschen ökonomischen, wirtschaftsgeschichtlichen und wirtschaftsgeographischen Forschung. Im späten 20. Jahrhundert trat er allerdings vorübergehend in den Hintergrund. Der neuerliche Schub der europäischen Kolonialexpansion nach 1880 und die gleichzeitigen Verdichtungsprozesse im internationalen Waren- und Kapitalverkehr waren bereits von Zeitgenossen sachverständig beschrieben worden. Das 1911 in Kiel gegründete (und heute noch bestehende) Institut für Weltwirtschaft war ein Zentrum für solche Forschungen. Die Analysen, die dort und anderswo entstanden, sind heute wertvolle Quellen für die Rekonstruktion weltwirtschaftlicher Zusammenhänge. Ein vor allem in Großbritannien, dem einstigen Zentrum der Weltfinanz, gepflegter Forschungsschwerpunkt betrifft die weltweiten Bewegungen von Kapital und die Geschichte multinationaler Konzerne.

(2) Die Migrationsforschung, die es ebenfalls bereits seit dem späten 19. Jahrhundert gibt, kombiniert die Fragestellungen und Methoden von Demographie und Sozialgeschichte. Sie versucht, Wanderungsbewegungen statistisch und geographisch zu erfassen, kümmert sich um Motive und Anlässe von Auswanderung (ohne gewaltsame Verschleppungen und Vertreibungen zu vergessen) und untersucht die Erfahrungen von Immigranten in ihren neuen Umgebungen. Einer ihrer Schwerpunkte liegt auf Fernwanderungen über die Ozeane hinweg. Dazu gehört als ein besonders gut untersuchter Fall der atlantische Sklavenhandel.[3]

(3) Die Geschichte der internationalen Beziehungen (einschließlich der Kriegs- und Militärgeschichte) ist bisher zumeist eine Geschichte entweder bilateraler zwischenstaatlicher Beziehungen oder interner Entwicklungen im europäischen Großmächtesystem gewesen. Sogar die Weltkriege des 20. Jahrhunderts sind lange Zeit nicht in der Fülle ihrer globalen Zusammenhänge dargestellt worden. Inzwischen mehren sich aber Bücher, deren Autoren systemische Beziehungen über Kontinentalgrenzen hinweg untersuchen.[4]

(4) Die Geschichte von Imperialismus und Kolonialismus ist eine besonders wichtige Grundlage für Globalisierungsgeschichte. Nicht zufällig propagierten einige der international führenden Vertreter dieser Richtung früh eine Erweiterung der «imperial history» zur «global history».[56