Der Kampf für
Toleranz und Freiheit
in der arabischen Welt
Verlag C.H.Beck

In Tunesien, Ägypten, Libyen und anderen arabischen Ländern kämpfen Bürger für die Demokratie – aber für welche? Steht am Ende eine «islamische Republik» oder ein säkularer Staat nach westlichem Muster? Ist ein demokratischer Rechtsstaat auf der Basis der Scharia überhaupt denkbar? Gudrun Krämer beschreibt eindrucksvoll, wie Muslime seit Jahren über Demokratie, Toleranz, Menschenrechte und das Verhältnis von Religion, Recht und Staat diskutieren und welche Bedeutung diese Debatten für die gegenwärtige Entwicklung in den arabischen Ländern haben. Sie zeigt, welche reformistischen Ansätze es im Islam gibt, und macht mit den aktuellen islamistischen Strömungen bekannt. Das Buch ist ein «Muss» für alle, die die Demokratiebewegungen in den arabischen Ländern besser verstehen wollen.
Gudrun Krämer ist Professorin für Islamwissenschaft an der Freien Universität Berlin und Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Sie war von 1982 bis 1994 als Nahost-Referentin bei der Stiftung Wissenschaft und Politik tätig und lehrte u.a. in Hamburg, Bonn, Bologna, Paris, Kairo, Beirut und Jakarta. 2010 wurde sie mit dem Gerda-Henkel-Preis ausgezeichnet. Bei C.H.Beck erschienen von ihr «Geschichte Palästinas» (5. Auflage 2006) sowie «Geschichte des Islam» (2005).
Einleitung
1. Einheit und Vielfalt: Eine Einführung in den Islam
Ausgangspunkte
Das Erbe der Spätantike
Der Eine Gott
Der Koran und seine Auslegung
Die Rolle des Propheten
Die Bedeutung der Scharia
Festes und Dynamisches
Der Reiz der Pluralität
2. Der islamische Staat: Vision und Kritik
Islamische Reform und westliche Hegemonie
Bausteine des islamischen Staates
Der islamische Staat als Alternative?
3. Wettstreit der Werte
Islam als Text
Islamischer Diskurs
Islamische Grundwerte
Gerechtigkeit und Gleichheit
4. Religion, Recht und Politik: Säkularisierung im Islam
Die Trennung von Kirche und Staat
Die Anwendung der Scharia
Religion und individuelle Lebensführung
Muslime im säkularen Staat
5. Islam, Menschenrechte und Demokratie
Islam und Islamismus
Die «islamische Ordnung» und die «Anwendung der Scharia»
Die Frage der Menschenrechte
Kann eine islamische Ordnung demokratisch verfasst sein?
6. «Kein Zwang in der Religion»? Religiöse Toleranz im Islam
Der Status von Nichtmuslimen «im Islam»
Theologie und Recht
Historische Praxis
Formen des Miteinanders
Vom Schutzbefohlenen zum Bürger
7. Antisemitismus in der arabischen Welt
Juden im Islam, Juden unter dem Islam
Theorie und Praxis
Die Entstehung von Stereotypen
Die Islamisierung des Antisemitismus
Die Erinnerung an die Judenvernichtung
8. Kritik und Selbstkritik: Reformistisches Denken im Islam
Der «intellektuelle Ansturm» des Westens oder: Kraft durch Reinheit
Kritik und Krise
Mauerbau
Reform der Fundamente
Tabus und wie man sie umgeht
Selbstkritik
Anmerkungen
Die arabische Welt ist in Bewegung, und niemand kann derzeit sagen, wohin die Bewegung führen wird – zu einer echten Transformation, die nicht nur, was für sich genommen ja schon viel ist, einzelne Diktatoren stürzt, sondern die eigenen Staaten und Gesellschaften umfassend demokratisiert? Zu einer Anpassung der Regime, die einzelne Forderungen der Demonstranten aufgreift, ohne ihre Strukturen grundlegend zu verändern? Beides ist möglich, und nichts spricht dafür, dass die Entwicklung im gesamten arabischen Raum und über diesen hinaus gleichförmig verlaufen wird. Der Funke des Aufbegehrens ist 2011 von Land zu Land übergesprungen. Was er vor Ort entfachte, hing und hängt von den lokalen Bedingungen ab, den gesellschaftlichen Strukturen und der Einbindung der einzelnen Staaten in das regionale und das globale Machtgefüge. Die Querverbindungen zwischen den arabischen Gesellschaften sind offenkundig, die Dominotheorie aber greift heute so wenig wie zur Zeit der Militärputsche, die nach dem Zweiten Weltkrieg und der Gründung des Staates Israel in einer Reihe arabischer Staaten Regime neuen Typs an die Macht brachten, die alle autoritär herrschten, mit Blick auf die Rolle der Religion in Staat, Recht und Gesellschaft aber unterschiedliche Wege einschlugen, von erklärtermaßen säkular bis islamistisch.
So offen die Entwicklung in den einzelnen Ländern und der Region als Ganzer auch ist, drängen sich einige Beobachtungen doch auf: Die Menschen, die in Tunesien und Ägypten, Bahrain und Syrien, Algerien und Jemen den Protest getragen haben und weiterhin tragen, sind mehrheitlich Muslime, ihre Forderungen aber haben nichts spezifisch Islamisches an sich. Sie fordern weder einen islamischen Staat noch die «Anwendung» der Scharia. Sie formulieren überhaupt keinen kulturell oder religiös begründeten Gegenentwurf zu bestehenden Modellen, auch keinen zu westlichen Konzepten. Sie wollen die Werte, Prinzipien und Institutionen verwirklicht sehen, die international als Kernbestand «guter Regierungsführung» gelten: Rechtsstaatlichkeit und eine Verfassung, Partizipation, Transparenz und den Kampf gegen Korruption in all ihren Erscheinungsformen. Auf den einfachsten Punkt gebracht, verlangen sie ein Leben in Sicherheit, Anstand und Würde. Hier handeln Bürger, die ihre Bürgerrechte einklagen. Vielleicht zeigt ja die Selbstverständlichkeit, mit der auf den Straßen von Tunis, Kairo oder Lattakia für Recht und Freiheit demonstriert wurde, den Abschluss der Dekolonisierungsprozesse an?
Natürlich wird sich eine demokratisch-rechtsstaatliche Ordnung, wenn sie denn realisiert werden kann, lokalen Bedingungen und Erwartungen anpassen und in den einzelnen Staaten je eigene Formen annehmen. Nicht anders ist es in Europa, den Vereinigten Staaten von Amerika, Australien oder Neuseeland. Der Ruf nach kultureller Selbstbestimmung, nach Identität und Authentizität wird selbst im Fall einer gelungenen Transformation, ja Revolution nicht mit einem Schlag verstummen. Wie Selbstbestimmung und Authentizität inhaltlich gefüllt werden, darauf wird es ankommen. Jedem, der die arabische Protestbewegung über Wochen und Monate beobachtet hat, muss die nationalistische Sprache und Ikonographie ihrer Träger aufgefallen sein: die Fahnen, die Slogans, die Bilder, die Bekenntnisse zur Nation und zur nationalen Einheit. Der Nationalismus ist im Nahen Osten nicht tot. Er scheint auch durch die islami(sti)schen Bewegungen hindurch, die, nimmt man das transnationale Netzwerk al-Qa’ida aus, von jeher enger mit nationalen Bestrebungen verquickt waren, als der Bezug auf den Islam «an sich» erkennen ließ, der ihre Rhetorik kennzeichnet.
In Ägypten und in Tunesien ruht die Demokratiebewegung auf einer breiten gesellschaftlichen Basis, die alle Schichten der städtischen Gesellschaft umschließt. In beiden Ländern sind und waren Frauen sichtbar an den Protesten beteiligt, in Ägypten neben Muslimen auch Christen. Die nationale Einheit, die hier im wahrsten Sinn des Wortes demonstriert wurde, hat Tradition: In Ägypten kam sie in verblüffend ähnlicher Weise in der sogenannten Nationalen Revolution von 1919 zum Tragen, die sich, kurz nach Ende des Ersten Weltkriegs, gegen die britische Präsenz im Lande richtete und gleichfalls nicht mit religiösen, sondern mit nationalen Forderungen auftrat. Fast überall – der Jemen mit seinen ausgeprägten tribalen Strukturen bildet möglicherweise eine Ausnahme – fällt allerdings auf, dass die ländliche Bevölkerung kaum oder jedenfalls kaum sichtbar in das Geschehen eingebunden war und ist.
Die städtischen Protagonisten der Demokratiebewegung in Ägypten, Tunesien und Syrien treten weitgehend säkular auf, vertreten jedoch, soweit sich das in diesem frühen Stadium erkennen lässt, keine dezidiert säkularistische Linie. In Ägypten wurde im Zuge der Verfassungsrevision, die im März 2011 per Referendum angenommen wurde, Artikel 2 der Verfassung nicht aufgehoben, der den Islam zur Staatsreligion erklärt und die «Prinzipien der Scharia» zur «Hauptquelle» der Gesetzgebung. Den Vorsitz der Kommission führte mit Tariq al-Bishri ein in allen Lagern respektierter Jurist, der in den Jahren nach der arabischen Niederlage im Junikrieg von 1967 seine nationalistische Orientierung gegen eine moderat-islamistische eingetauscht hatte und seitdem für beides einstand – den modernen Rechtsstaat und die Anwendung der Scharia. Der Islam wird in der arabischen Welt wohl auch weiterhin als Referenz dienen. Viel wird davon abhängen, wie er von den maßgeblichen Kreisen definiert wird. Dabei steht nicht die Reformfähigkeit des Islam zur Debatte, sondern der Reformwille gesellschaftlicher und politischer Eliten. Entscheidend wird sein, ob es gelingt, die Dynamik der ersten Wochen und Monate aufrechtzuerhalten und auf zentralen Feldern über (konservative) Positionen hinauszugehen, die bislang unter Berufung auf Tradition und Religion legitimiert wurden – und dies nicht nur von Islamisten. Die Gleichberechtigung von Mann und Frau und von Muslimen und Nichtmuslimen steht ganz oben auf der Agenda.
Moderate islami(sti)sche Kräfte haben sich, wie nicht nur der genannte Jurist belegt, in Tunesien und Ägypten hinter die Demokratiebewegung gestellt, und sie können sich bei freien Wahlen beachtliche Chancen ausrechnen. Die Nahda-Partei in Tunesien und die Muslimbruderschaft in Ägypten propagieren seit Jahren eine rechtsstaatliche, republikanische Ordnung, wobei die Muslimbruderschaft stärker auf die Durchsetzung der Scharia abzielt, als dies an-Nahda tut. Was mit «Scharia» im Einzelnen gemeint ist, bleibt abzuwarten. Die Debatte um Form, Funktion und Inhalt der Scharia wird seit Jahren nicht nur in religiösen, sondern in weiten Kreisen einer politisch engagierten Öffentlichkeit geführt. Noch geht die Demokratiebewegung nicht mit einer reflektierten Traditionskritik einher, die manche unter den Schlagworten Reformation und Aufklärung erhoffen. Aber auch auf diesem Feld könnte eine Dynamik entstehen, die sich unter autoritären Vorzeichen nicht entfalten konnte, die der Meinungs- und Redefreiheit sehr enge Grenzen setzten.
Der Sieg der Demokratiebewegung ist zu diesem Zeitpunkt nicht ausgemacht. Viele Faktoren erschweren den Übergang zu einer rechtsstaatlich-demokratischen Ordnung: die Fortdauer von Institutionen und Repräsentanten der alten Regime, die mangelnde Vorbereitungszeit freiheitlich-demokratischer, womöglich säkular ausgerichteter Kräfte auf Wahlen und nicht zuletzt die hohen Erwartungen breiter Bevölkerungskreise auf eine rasche Befriedigung ihrer – vorwiegend, aber nicht ausschließlich materiellen – Ansprüche und Interessen. Aber die Erfahrung, mit Mut und Beharrlichkeit autoritäre Führer zum Rückzug gezwungen zu haben, die ihre Macht über Jahrzehnte mit allen Mitteln verteidigt hatten, kann den Demonstranten niemand mehr nehmen: Das «Könnensbewusstsein», das ihnen als Arabern und Muslimen verschiedentlich abgesprochen worden ist, haben sie unter Beweis gestellt und zugleich den Nachweis erbracht, dass es nicht der Islam ist, der sie in ihrem Freiheitsstreben behinderte und weiterhin behindert, sondern repressive Regime und deren internationale Verbündete.
Berlin, 1. Mai 2011 |
Gudrun Krämer |
«Es gibt keinen Gott außer Gott und Muhammad ist sein Prophet.» Diese knappen, klaren Worte umreißen das Glaubensbekenntnis aller Musliminnen und Muslime. Deutlich zeigt es die Selbstverortung in einer monotheistischen Tradition, die weit vor den Islam zurückreicht, ebenso deutlich aber die Absage an die anderen Repräsentanten dieser monotheistischen Tradition – die Christen auf der einen Seite («es gibt keinen Gott außer Gott»), die Juden auf der anderen («und Muhammad ist sein Prophet»). Bereits im Glaubensbekenntnis findet sich das Nebeneinander von bewusster und reflektierter Einordnung in ein religiöses Erbe und die Abgrenzung gegenüber seinen Trägern, die an einen bestimmten Platz verwiesen und, wie eine genauere Betrachtung des Verhältnisses von Muslimen und Nichtmuslimen, Gläubigen und Ungläubigen zeigt, in bestimmten Punkten auch aus diesem geteilten Erbe ausgeschlossen werden. Dieses Muster von Anknüpfen und Abgrenzen ist charakteristisch für das muslimische Selbstverständnis – ebenso aber auch für das christliche, das sich in vergleichbarer Weise in die ältere, israelitisch-jüdische Tradition einordnet, von ihr absetzt und ihre Träger, die Juden, in wichtigen Punkten ausgrenzt.
Der Islam als dritter und jüngster Vertreter der breiten monotheistischen Strömung unterhält ein Netz von Referenzen auf Judentum und Christentum, das dicht ist, aber nicht immer eindeutig, in vielem sogar ausgesprochen uneindeutig. Aus dieser Vielschichtigkeit der Hinweise und Bezüge erwächst die Möglichkeit, ja Notwendigkeit der Auswahl und damit unausweichlich die Vielzahl der Deutungen. Das Gegenüber von (scheinbarer, von vielen Muslimen postulierter und erstrebter) Einheit und Eindeutigkeit islamischer Lehren und der Pluralität muslimischer Denk- und Lebensformen mit all den Spannungen, die jeglicher Pluralität innewohnen, wird als Leitmotiv dieses Buch durchziehen.
Von welchem Islam ist hier die Rede? Das arabische Wort islam bedeutet ganz allgemein Hingabe, gemeint ist die Hingabe an Gott. Wie diese Hingabe erfolgt, was sie erlaubt und erfordert, in welchen Formen religiösen Denkens und Handelns sie sich manifestiert, bleibt zunächst offen. Wer in dieser Weise nach dem Islambegriff fragt, macht sich bereits als Vertreter oder Vertreterin einer («kritischen») Islamwissenschaft kenntlich. Die Frage stellt sich für viele bekennende Musliminnen und Muslime nicht, für die es (nur) den einen wahren und authentischen Islam gibt, der sich aus seinen Textfundamenten erschließt – dem Koran, der nach ihrer Überzeugung Gottes Wort direkt und unverfälscht wiedergibt, und der Sunna als Überlieferung dessen, was Muhammad in seiner Eigenschaft als Prophet, inspiriert durch die koranische Botschaft, für alle Muslime vorbildlich und verbindlich gesagt und getan hat. Es ist dies eine in der islamischen Tradition gut verankerte und zugleich spezifisch moderne Position.
Neben diesem textorientierten Islamverständnis haben sich in Vergangenheit und Gegenwart aber immer auch andere Formen des religiösen Denkens und der religiösen Praxis behauptet, die zwar ebenso den Koran als Gottes Wort und den Propheten Muhammad als Rollenvorbild der Gläubigen anerkennen, bei der Vermittlung religiösen Heils und Wissens jedoch auf charismatische Persönlichkeiten setzen – Sufimeister vor allem als Vertreter der islamischen Mystik und heilige Männer und Frauen ganz allgemein, die gewissermaßen neben die Schrift treten, an manchen Orten sogar an die Stelle der Schrift. Von früher Stunde an lässt sich eine Vielfalt muslimischer Lebensweisen, Denkschulen und Sensibilitäten nachweisen, die sich nicht auf die großen Strömungen der Sunniten und Schiiten beschränken. Dennoch soll im Folgenden Islam nicht in den Plural gesetzt und von den Islamen oder Islams gesprochen werden, wie manche von den Christentümern reden. Islam soll im Singular stehen, ohne immer und immer wieder zu betonen, dass es nicht nur eine einzige Art und Weise gibt, den Islam zu verstehen und zu leben, und dass es gerade für Musliminnen und Muslime, die ihre Religion ernst nehmen, stets unterschiedliche Möglichkeiten gegeben hat, über den Islam zu sprechen und ihn zu praktizieren.
Der Islam ist eine der wenigen Weltreligionen, die sich gleichsam im Lichte der Geschichte entwickelt haben und deren Ursprünge wir halbwegs genau bestimmen können, wenngleich auch darüber in der Wissenschaft gestritten wird – weit weniger freilich unter gläubigen Musliminnen und Muslimen. Die Mehrheit der Muslime und die Mehrheit der Islamwissenschaftler, gleichgültig welcher Religionszugehörigkeit, geht davon aus, dass um 610 n. Chr. ein Mann namens Muhammad b. ‘Abdallah («der Gepriesene, Sohn des Gottesknechtes» – beides in ihrer Zeit etablierte arabische Eigennamen) in seiner Heimatstadt Mekka mit einer Botschaft auftrat, die seinen paganen Zeitgenossen Neues bot, Aufrüttelndes, für sie Provozierendes, wenn nicht gar Schockierendes – der Botschaft, dass sie ihre auf Tradition und Ahnenbindung gegründete Religion aufgeben, an den Einen Gott als allmächtigen Schöpfer dieser Welt glauben und aus diesem Glauben heraus ihr Leben umgestalten und auf diesen Einen Gott hin ausrichten sollten.[1]
Was hier «Botschaft» genannt wurde, erlebte Muhammad, wenn man hierfür den Koran als Zeugnis nimmt, als Abfolge von Auditionen und Visionen, die er nach anfänglichem Zögern als Offenbarungen deutete. Über einen Zeitraum von rund zwei Jahrzehnten wurden diese Offenbarungen auf ihn «herabgesandt», wie es im Arabischen heißt; er trug sie der wachsenden Schar von Gläubigen vor. Der arabische Begriff für diese offenbarten Texte lautet qur’an (Koran), wörtlich Lesung oder Rezitation. Das unterstreicht den Charakter des mündlichen Vortrags. Einzelne dieser Texte wurden möglicherweise schon zu Lebzeiten Muhammads niedergeschrieben; in einem Buch gesammelt und – analog zur Bibel der Juden und Christen – als verbindlicher Text kanonisiert wurde der Koran erst einige Zeit nach dem Tod Muhammads (632 n. Chr).
Sehr früh – noch zu Lebzeiten Muhammads und seiner unmittelbaren Nachfolger an der Spitze der muslimischen Gemeinschaft, der sogenannten rechtgeleiteten Kalifen – wurde der Islam in einer Verbindung von religiöser Verkündigung, politischem Handeln und militärischer Gewalt über die Grenzen von Mekka und Medina hinausgetragen. Er brach sich gewissermaßen aus seinen engen Anfängen frei. Innerhalb weniger Generationen entstand ein Reich, das zu Beginn des 8. Jahrhunderts, unter dem Kalifat der Umayyaden, vom heutigen Spanien am einen Ende bis zum heutigen Pakistan am anderen reichte und die Eroberer – in ihrer Mehrzahl arabische Muslime – an Horizonte führte, von deren Existenz sie vorher nicht einmal gewusst hatten. Die Expansion verlief rasant und sie beruhte, wie jede Eroberung, auf Gewalt oder der Androhung von Gewalt. Aber sie war, von Ausnahmen abgesehen, nicht mit Zwangsbekehrungen verbunden, sondern zielte auf die Etablierung einer islamischen Herrschaft. Die Mehrzahl der Untertanen der Kalifen waren zu dieser Zeit Nichtmuslime. Erst in einem langsamen Prozess, den wir im Einzelnen nicht dokumentieren können, traten sie mehrheitlich zum Islam über; in Ägypten beispielsweise erstreckte sich dieser Prozess bis ins 14. Jahrhundert.[2]
Die weitere Ausbreitung des Islam auf das subsaharische Afrika, den Kaukasus, Zentralasien, den Indischen Subkontinent und Südostasien ging nicht mehr von den arabischen Kernlanden aus und stand auch nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit den frühen Eroberungen. Ihre Träger waren in der Regel Kaufleute, Prediger, Sufis und «Heilige», die in vielen Fällen aus eigenem Antrieb handelten, gelegentlich aber auch im Dienst lokaler Mächte standen, die sich des Islam bedienten, um ihre Stellung zu festigen. Muslime aus dem Maghreb trugen den Islam ins subsaharische Afrika, Muslime aus Iran und Anatolien missionierten in Zentralasien, indische in Südostasien. Dieser hochkomplexe Prozess der Mission und Konversion intensivierte sich unter kolonialen Vorzeichen im 19. Jahrhundert und wurde durch die Migrationsbewegungen des 20. Jahrhunderts noch einmal beschleunigt. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts bekennt sich weit über eine Milliarde Menschen zum Islam, und zwar überall auf der Welt und nicht nur in dem Teil, den wir als islamische Welt bezeichnen. Umso wichtiger die Frage, wie sich bei dieser Vielfalt der Lebenswelten verbindliche Grundelemente identifizieren lassen, die über alle Unterschiede hinweg das konstituieren, was, jedenfalls von der Mehrheit der Muslime, als Islam anerkannt wird.
Dass der Islam in der Spätantike entstand, ist seit langem bekannt. Die weitreichende Bedeutung dieser Tatsache wird von der (westlichen) Wissenschaft aber eigentlich erst in den letzten Jahren richtig zum Tragen gebracht.[3] Für die Entwicklung islamischer Lehren und Praktiken war die spätantike Welt so prägend wie der Hellenismus für das frühe Christentum.
Muhammad und der Koran sind – davon geht zumindest die Mehrzahl der Forscher aus – in das spätantike nordwestliche Arabien einzuordnen, in eine Gesellschaft, die in Teilen sesshaft, ganz überwiegend aber nomadisch war und vor allem über den Handel mit Regionen jenseits der Arabischen Halbinsel in Kontakt stand, von Äthiopien (Abessinien) und Südarabien bis zu den von Byzanz und den persischen Sassaniden beherrschten Gebieten Palästina, Syrien, Ägypten, Irak und Iran. In dem lebendigen, kreativen, in vieler Hinsicht offenen religiös-kulturellen Umfeld des spätantiken Vorderen Orients musste der Islam seinen Platz erst finden.
Die Interaktion, die diese Selbstverortung voraussetzt, lässt sich bereits im Koran nachweisen.[4] Der Koran umfasst Elemente unterschiedlicher Struktur – poetisch verdichtete Erzählungen von Schöpfung und Gericht, Paradies und Hölle, Prophetengeschichten, moralische Regeln, alltagspraktische Weisungen und rechtliche Vorschriften. Er greift dabei ganz offen auf biblische Erzählungen zurück, die Muhammads Zeitgenossen – im koranischen Sprachgebrauch «Polytheisten» (mushrikun) oder «Heiden» – so vertraut gewesen sein müssen, dass sie auch knappe Andeutungen verstanden. Über die im Umfeld Mekkas und in Medina lebenden Juden und Christen hinaus müssen sie also einer breiteren Bevölkerung bekannt gewesen sein, die nicht an den biblischen Gott glaubte und die Schriften der Juden und Christen nicht lesen konnte. Dass der Koran dabei nicht nur auf Erzählungen des Alten Testaments/der Hebräischen Bibel und des Neuen Testaments verweist, sondern auch auf apokryphe Schriften, ist bemerkenswert und in der Wissenschaft noch nicht erschöpfend ausgeleuchtet worden.
Im Zuge der Eroberungen bildete sich innerhalb des islamischen Machtbereichs eine spezifisch islamische Gelehrsamkeit heraus, die es zu Lebzeiten Muhammads nicht gegeben hatte und nicht geben konnte. Die Gelehrten entwickelten die Grundzüge dessen, was wir heute als Islam kennen: islamische Theologie, islamisches Recht, islamische Wirtschaft und Verwaltung, islamische Vorstellungen vom richtigen Verhältnis zwischen Politik, Recht und Religion. Viele dieser Männer waren Konvertiten oder die Söhne von Konvertiten. Selbstverständlich brachten sie ihre bisherigen Erfahrungen in ihr neues Umfeld ein – und sei es, indem sie islamische Lehren als Widerlegung christlicher, jüdischer, manichäischer oder zoroastrischer Doktrinen formulierten. Die Polemik ist ja ebenso Teil der interreligiösen und interkulturellen Begegnung wie der um Verstehen bemühte Dialog.
Der Islam kann mithin nicht länger als Religion gedeutet werden, die auf der Arabischen Halbinsel unter heidnischen Kriegernomaden geformt wurde (so hatte es zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch Max Weber verstanden).[5] Er wurde, auf dieser arabischen Grundlage aufbauend, in den städtischen Zentren Syriens, des Irak und Ägyptens im steten Austausch mit Vertretern spätantiker Traditionen entwickelt und verfeinert. Islamische Lehren sind – nicht anders als jüdische und christliche – das Ergebnis komplizierter Austauschprozesse und damit ein Musterbeispiel für die in so vielen Kontexten wichtige Beziehungsgeschichte.
Das kompromisslose Bekenntnis, «Es gibt keinen Gott außer Gott», findet sich viele Male im Koran. Sure 112,3–4 fasst es knapp zusammen: «Er hat nicht gezeugt und er wurde nicht gezeugt. Keiner ist ihm ebenbürtig». Eine der frühesten islamischen Inschriften, an der Außenwand des um 692 n. Chr. erbauten Felsendoms in Jerusalem angebracht, zitiert Sure 17,111, «Er hat sich kein Kind genommen». Die Stoßrichtung ist unverkennbar: Sie zielt auf die Christen, deren Dogma von der Gottessohnschaft Jesu der Koran entschieden ablehnt. Für die Muslime gibt es nur den Einen Gott mit Namen Allah. Sprachlich gesehen, so lautet zumindest die vorherrschende Auffassung, heißt Allah einfach «der Gott» (al-ilah). Theophore Namen wie etwa ‘Abdallah (so hieß der muslimischen Überlieferung zufolge Muhammads Vater) legen nahe, dass eine Gottheit dieses Namens bereits in vorislamischer Zeit auf der Arabischen Halbinsel bekannt war und dort möglicherweise als eine Art Hochgott verehrt wurde. Im Einzelnen liegt hier mangels unabhängiger zeitgenössischer Zeugnisse vieles im Dunkeln. Allah ist auf jeden Fall die Selbstbezeichnung Gottes im Koran, der wiederum, modern gesprochen, ein Selbstzeugnis ist, Gottes Rede, mit der er zu den Menschen über sich und die Schöpfung spricht.
Das islamische Glaubensbekenntnis enthält eine strikte Absage an all das, was man im Arabischen shirk nennt, etwas schwerfällig ins Deutsche übersetzt als «Beigesellung», soll heißen, jegliche Vorstellung, die davon ausgeht, dass es eine oder mehrere Kräfte gibt, die neben Gott oder gar unabhängig von Gott Macht haben. Das können andere Gottheiten sein – in der altarabischen Gesellschaft etwa wurden drei «Töchter Allahs», al-Lat, Manat und al-‘Uzza, verehrt; es kann die christliche Trinitätslehre sein. Im modernen Kontext fallen darunter aber auch politische Ideologien, die Normen vorgeben, die nicht auf Gott zurückgeführt werden. Für manche zeitgenössischen Musliminnen und Muslime, gerade solche islamistischer Couleur, ist es shirk, «Beigesellung», marxistische Ideen zu vertreten, den Konsum zu vergötzen oder der Verwirklichung von Demokratie und Menschenrechten höheren Rang zuzuweisen als der Durchsetzung der Scharia.
Gott ist nach islamischer Lehre transzendent, nicht zu begreifen und auch nicht adäquat zu beschreiben und doch unmittelbar präsent; in einem eindringlichen Bild gesprochen ist er dem Menschen «näher als seine Halsschlagader» (Sure 50,16). Wenn aber Gott ganz und gar anders und für den Menschen schlechterdings nicht fassbar ist, wie kann dann menschliche Sprache in ihrer Begrenztheit überhaupt Begriffe finden, die das Unsagbare benennen?[6] Muslime gehen davon aus, dass der Koran das Vokabular zur Verfügung stellt, dass Gott selbst über sich Aussagen trifft, die den Menschen verständlich sind. Gott stattet sich mit Beiwörtern aus (die Theologie spricht von Attributen), er nennt sich gerecht, barmherzig, allmächtig, gnädig usw. Aus diesen Selbstbezeichnungen wurden in der muslimischen Tradition die sogenannten 99 schönen Namen Gottes (asma’ allah al-husna) entwickelt. Zugleich verwendet der Koran Bilder, die fassbar machen sollen, was an sich nicht fassbar ist. Sie sprechen zum Beispiel davon, er – Gott ist im Koran immer Er, der König, der Herr – habe Augen und Hände, sein Thron umfasse alles, was in den Himmeln und auf Erden ist. Die Bilder waren den Hörern der Spätantike verständlich, und sie sind es auch heutigen Hörern noch.
Dennoch sahen Muslime von früher Stunde an die Gefahr des Anthropomorphismus, die Gefahr also, dass Gott in körperlicher Gestalt gedacht wird und, noch konkreter, in menschlicher Gestalt. Über die Frage, welchen Status die im Koran verwandten Bilder besitzen, ob den einer Metapher, Allegorie oder reiner Beschreibung, gab es in der islamischen Theologie heftige Debatten, von denen wir heute nur noch einen Abglanz sehen. In der heutigen muslimischen Welt stehen theologische Debatten im weitesten Sinn nicht mehr im Zentrum der Auseinandersetzung. Eine Möglichkeit, den Konflikt um die Bildersprache zu lösen, formulierte im 10. Jahrhundert der Theologe Abu l-Hasan al-Ash‘ari (gest. 935/36). Er empfahl, einfach hinzunehmen, wie Gott über sich spricht, ohne nach dem «Wie» zu fragen, ohne also den Versuch zu unternehmen, gleichsam hinter die Worte und Bilder zu gehen und ihren wahren Sinn entschlüsseln zu wollen, wie es philosophische oder mystische Koranauslegungen tun. Das Diktum Ludwig Wittgensteins «Was sich überhaupt sagen läßt, läßt sich klar sagen, und wovon man nicht reden kann, darüber muß man schweigen» (Tractatus logico-philosophicus) kommt dieser Position bemerkenswert nahe. Die ash‘aritische Formel konnte allerdings nicht verhindern, dass Musliminnen und Muslime genau das taten, wovor sie gewarnt wurden, nämlich den tieferen Sinn des Gemeinten zu ergründen, um herauszufinden, was Gott meint, wenn er sagt, sein Thron umfasse die Himmel und die Erde, und sich auszudenken, wie diese Himmel und die Erde beschaffen sind und in welchem Verhältnis sie zueinander stehen.
Gott ist dem Koran zufolge sich selbst genug und doch dem Menschen zugewandt. Eine zentrale Rolle spielt in diesem Zusammenhang die Erzählung von dem Urbund, den Gott noch vor der Schöpfung mit den Menschen schloss: Er sammelte sie um sich, fragte sie, ob sie ihn als Herrn anerkannten, und sie bezeugten es (Sure 7,172). Die muslimische Theologie leitet daraus die Annahme ab, alle Menschen seien von ihrer natürlichen Veranlagung (fitra) her Muslime (Sure 30,30). Islam dient hier nicht als Bezeichnung für eine bestimmte Religionsgemeinschaft, sondern für die Hingabe an Gott schlechthin. Der Islam ist demnach die ursprüngliche Religion aller Menschen, die erst durch ihre Umwelt in eine andere Richtung gebogen, ja regelrecht verbogen werden. Konversion zum Islam bedeutet in diesem Sinn eine Rückkehr, der Kon-Vertit ist in Wahrheit Re-Vertit.
Gott teilt sich den Menschen mit. Über die Zeiten hinweg hat er nach koranischer Lehre immer wieder Männer ausgewählt und zu ihren Völkern gesandt, um ihnen sein Wort zu überbringen – in unterschiedlichen Sprachen, wie der Koran berichtet, übernommen aus einer Urschrift (der «Mutter aller Bücher», umm al-kitab), wobei die letzte der Offenbarungen Muhammad anvertraut wurde, der den Koran seinem Volk überbrachte, und zwar «in klarer arabischer Sprache» (Sure 16,103; 26,195). Das wirft eine Vielzahl von Fragen auf. Zunächst die große Frage, was aus der Existenz einer Urschrift folgt, in der bereits alles, was sein wird, festgehalten ist und aus der dann gewissermaßen verschiedensprachige Abschriften an bestimmte Völker gesandt werden. Was sagt das über Vorbestimmung, Willens- und Handlungsfreiheit aus – eines der großen Themen nicht nur der islamischen Theologie. Was sagt es über das Verhältnis zwischen historischer Einbettung und immerwährender Gültigkeit der Offenbarung?
Was bedeutet es, dass die letztgültige Offenbarung in «klarer arabischer Sprache» erfolgte? Kultur- und religionshistorisch bedeutsam ist die Lehre von der unnachahmlichen (sprachlichen) Schönheit des arabischen Koran, die in der islamischen Tradition geradezu als Beglaubigungswunder Muhammads gewertet wurde.[7] Kulturgeschichtlich ebenso bedeutsam ist die Folgerung, die Offenbarung sei nur in arabischer Sprache authentisch, es dürfe daher keine Koranübertragungen in andere Sprachen geben; vorstellbar seien allenfalls «Annäherungen» an die Bedeutung des allein verbindlichen arabischen Textes. Was bedeutet das aber, wenn – und dies ist nicht erst im Zeichen der Globalisierung der Fall – die Mehrheit der Musliminnen und Muslime gar nicht Arabisch spricht? Gelegentlich kommt hier eine besondere Form des Arabozentrismus zum Ausdruck, die arabische Muslime mit einer gewissen Geringschätzung auf anderssprachige Gläubige blicken lässt, die keinen direkten Zugang zum Korantext haben und aus diesem Grund möglicherweise nicht alles verstehen, was dem Muttersprachler unmittelbar verständlich ist. Die Scheu vor Übersetzungen ist mittlerweile weitgehend überwunden, wobei die Übersetzer ihr Werk in der Regel tatsächlich nicht Übersetzung nennen, sondern Annäherung an den Wortlaut des Koran, wohl wissend, dass das Arabische eine überaus reiche Sprache ist, die einsinnige Übersetzungen nicht zulässt.
Aber was heißt «klare» arabische Sprache? Die Überzeugung vieler Muslime, «klar» bedeute an dieser Stelle «ausschließlich und rein» und daher gebe es im Koran keine Fremdwörter, ist von der Wissenschaft widerlegt worden, ohne dass dies den Glauben der Muslime erschüttern müsste. Wichtiger ist die Annahme, der Text des Koran sei ganz klar und einfach und jedem, auch dem ungebildeten Menschen ohne die Vermittlung religiöser oder politischer Autoritäten zugänglich. Die Aussage ist von großer Tragweite. Sie lässt sich zunächst einmal als Widerspruch gegen diejenigen interpretieren, die glauben, dass es besonderer Kenntnis und Gelehrsamkeit bedürfe, um den Koran auszulegen. In der Gegenwart ist aus dieser Ablehnung verschiedentlich die Nähe zu einem protestantischen Schriftverständnis abgeleitet worden und weitergehend noch ein egalitär-demokratisches Religionsverständnis, das jedem Muslim und jeder Muslima, die guten Willens sind und mit einem gewissen Maß an Intelligenz ausgestattet, nicht nur die Befähigung, sondern die Berechtigung zur eigenständigen Koranauslegung zuerkennt; religiöser oder sonstiger Instanzen der Rechtleitung bedürften sie nicht.
Die Bedeutung, ja Sprengkraft dieser Auffassung erweist sich heute mehr denn je. Unter dem Eindruck islami(sti)scher Kräfte, die ihre radikale Koranlektüre in eine militante Praxis umsetzen und mit dem Koran selbst den jihad gegen Muslime rechtfertigen, gewinnt die Frage nach Qualifikation und Autorität bei der Koranauslegung an Gewicht. Sayyid Qutb (1906–1966), der Mentor des radikalen Islamismus, war Lehrer und Literaturkritiker, Usama bin Laden Ingenieur und Bauunternehmer. (Ingenieur ist im Übrigen auch der Syrer Muhammad Shahrur, der in bestimmten Kreisen als moderate, ja liberale Stimme geschätzt wird.[8]) Müssten vor allem die Extremisten nicht doch von qualifizierten Rechtsgelehrten angeleitet werden, die ihnen zeigen, was Islam ist und was er nicht ist? Gerade im Widerstand gegen einen militanten Islam wird der Ruf nach einer im weitesten Sinne klerikalen Autorität laut – nicht einer kirchlichen Organisation, denn eine Kirche gibt es im Islam nicht, nicht einmal in seiner zwölferschiitischen Variante, die in Iran dominiert, wohl aber nach einer Leitung durch qualifizierte Religions- und Rechtsgelehrte. Wie diese Autorität institutionalisiert und auf breiter Ebene durchgesetzt werden könnte, bleibt vorerst freilich unklar.[9]
Es ist immer wieder betont worden, dass im Islam – anders als im Christentum – die Botschaft im Mittelpunkt steht und nicht ihr Überbringer; der Koran als göttliche Rede (kalam allah), nicht Muhammad als Gesandter Gottes (nabi oder rasul allah); der Text, nicht die Person. Muhammad genießt in der islamischen Tradition – und zwar keineswegs nur in der sogenannten Volksfrömmigkeit – hohe Wertschätzung, die in Vergangenheit und Gegenwart durchaus den Charakter der Prophetenverehrung annehmen konnte.[10] Muhammad ist nach muslimischer Lehre vorbildlich, und was er gesagt und getan hat, ist – soweit er es als Prophet getan hat – über alle Zeiten hinweg und an allen Orten verbindlich für die Muslime. Er stiftet die rechte Art, etwas zu tun; der arabische Begriff hierfür ist sunna («gebahnter Pfad», «normatives Beispiel»). Die Gesamtheit dessen, was Muhammad gesagt und getan hat, heißt dementsprechend Sunna (hier: Prophetentradition), die in Einzelberichten, arabisch hadith, überliefert und in einer Anzahl von Sammlungen kanonisiert ist. Hadith-Studien bilden noch immer einen der wichtigsten Zweige islamischer Gelehrsamkeit.[11]
Hochachtung vor dem Propheten ist das eine, ein regelrechter Prophetenkult etwas anderes. Die Theologen haben in ihrer Mehrheit versucht, der Prophetenverehrung Grenzen zu setzen. Gott, so berichtet der Koran, hat Muhammad als seinen Gesandten erwählt und vor den Menschen ausgezeichnet (sein Beiname Mustafa, ein gebräuchlicher muslimischer Eigenname, heißt «der Auserwählte», «Ausgezeichnete») – aber Muhammad ist ein Mensch wie alle anderen: Er isst, er trinkt, er tut recht und er macht Fehler, er wirkt nicht durch Wunder, und er stirbt wie alle Menschen auch. Er ist der Bote, auf den die Offenbarung «herabgesandt» wurde; vielleicht ließe sich sogar sagen, dass sie durch ihn gefiltert wurde. Der Koran ist von ihm verkündet, aber nicht von ihm verfasst worden.
Gott hat den Menschen nach islamischer Lehre seine Offenbarung zukommen lassen und als Überbringer der letztgültigen Botschaft Muhammad gewählt, das «Siegel der Propheten» (Sure 33,40). Aber Gott hat sich aus der Welt nicht zurückgezogen. Er greift kontinuierlich in die Schöpfung ein, die durch sein Wirken am Leben erhalten und unaufhörlich erneuert wird. Gott hat den Menschen aus Ton und Erde geschaffen, und er wird ihn am Jüngsten Tag wieder auferstehen lassen oder, genauer gesagt, ihm einen neuen Leib erschaffen, nachdem der irdische im Grab verwest ist. Die Mekkaner, so berichtet der Koran, haben über Muhammads Erzählung von der Auferweckung der Toten gelacht, deren Knochen sie im Sand liegen sahen. Der Koran lehrte sie, dass Gott, anders als die Juden und Christen glauben, von der Schöpfung nicht ermüdet war, dass er am siebten Tage nicht ruhen musste und auch nicht zu erschöpft ist, um die gesamte Menschheit am Jüngsten Tage körperlich neu zu erschaffen und zum Jüngsten Gericht zu versammeln.
Der Mensch ist das Geschöpf Gottes, wie alles, was den Menschen umgibt, Gottes Schöpfung ist, wobei dem Menschen die Fähigkeit gegeben ist, mit seinen Sinnesorganen die Schöpfung wahrzunehmen und durch den Verstand, den Gott ihm verliehen hat, als solche zu erkennen. Der Koran enthält zahlreiche Aufforderungen an seine Hörer und Leser, zu denken und zu erkennen – in den Bahnen der Offenbarung, nicht über sie hinausgehend. Die Schöpfung ist den Theologen der Beweis für die notwendige Existenz des Schöpfers, und das Geschöpf ist seinem Schöpfer zu Dankbarkeit und Gehorsam verpflichtet – das ist islam. Gehorsam zieht die Verpflichtung zum rechten Handeln nach sich. Was das für das Verhältnis von Glauben und Handeln, Gnade und Heil bedeutet (sola fide? sola gratia?), war und ist dennoch umstritten.
Dem Koran zufolge ist Gott barmherzig, gnädig und gerecht, doch zugleich ganz frei rechtzuleiten, wen er will, und in die Irre zu führen, wen er will. Die Theodizee, die Frage nach der göttlichen Gerechtigkeit, hat auch muslimische Theologen intensiv beschäftigt; vom Problem der Handlungsfreiheit und Vorbestimmung war oben schon kurz die Rede. Man wird nicht sagen können, dass diese Fragen gelöst wären. Das gilt auch für das Verhältnis von Glauben und Handeln: Nach vorherrschender Theologenmeinung ist der Muslim dadurch Muslim, dass er das Glaubensbekenntnis, die shahada,